Erster Teil Der schwarze Diamant

Erstes Kapitel

Der schwarze Diamant, den Cathérine in der Höhlung ihrer Hand hielt, glühte in seinem ganzen bösen Feuer und sprühte Funken über die Wände des großen Saals der Festung Carlat, in der Cathérine und die Ihren nach der Zerstörung von Montsalvy Zuflucht gefunden hatten. Einen Augenblick ließ sie ihn im Kerzenlicht des Lüsters schillern. Ein Geriesel von Sternen glitt über ihre Hand, untermischt mit blutroten Lichtern. Vor ihr, auf der samtenen Tischdecke, waren die anderen Juwelen aufgehäuft, die einst ihr täglicher Schmuck gewesen waren, als sie noch als allmächtige Mätresse und Angebetete Philippes von Burgund über Brügge und Dijon geherrscht hatte. Sie hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt. Und doch lag da nun das außergewöhnliche Geschmeide aus Amethysten vom Ural, das Garin de Brazey, ihr erster Gatte, ihr zur Verlobung geschenkt hatte, lagen da die Rubine und Saphire, die Diamanten und Aquamarine, die Topase vom Roten Meer und die Karfunkel aus Sibirien, die Opale aus Ungarn und die Lapislazuli von Badaghschan und schließlich das bewundernswerte Kollier aus riesigen Smaragden, die vom Dschebel Sikait stammten, und dazu die indischen Diamanten, die Herzog Philippe ihr unter so vielen anderen Geschenken verehrt hatte. Doch einzig der schwarze Diamant, der einst das kostbarste Kleinod in der Sammlung des Finanzministers von Burgund gewesen war, hatte ihr Interesse erregt, als Pater Etienne Chariot dieses fabelhafte Kleinod aus seiner abgetragenen Kutte gezogen und es nachlässig vor sie hingeworfen hatte.

Garin de Brazey hatte ihn einst von einem venetianischen Seemann gekauft, der ihn von einem indischen Götzenbild gestohlen hatte und nur zu glücklich gewesen war, sich seiner entledigen zu können: Der Diamant brachte Unglück. Anscheinend setzte er seine verruchte Laufbahn fort. Garin, zum Tode verurteilt, hatte sich im Gefängnis vergiftet, um der Schande zu entgehen, durch den Straßenschmutz zum Galgen geschleift zu werden; und hatte nicht über Cathérine, seiner Erbin, derselbe Bannfluch gelegen? Seitdem hatte das Unglück sie verfolgt, sie und diejenigen, die sie liebte. Arnaud de Montsalvy, ihr Gatte, zum Verräter und Treubrüchigen erklärt, weil er versucht hatte, Jehanne, »die Hexe«, zu befreien, war von dem allmächtigen Günstling Karls VII. Georges de La Trémoille, in einen fauligen Kerker geworfen worden. Er war zwar nicht umgekommen, hatte den Kerker aber nur verlassen, um sein Schloß Montsalvy auf Befehl des Königs niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht vorzufinden. Und dann war die Tragödie gekommen, das furchtbare Drama, vor acht Monaten, und wenn Cathérine daran dachte, überwältigte sie von neuem die Verzweiflung: der Aussatz, den er sich im Verlies La Trémoilles zugezogen hatte. Seit acht Monaten siechte Arnaud, auf ewig verdammt, in der Leprastation von Calves dahin, für die Seinen gestorben, tot für die Welt, am Leben nur, um zu leiden.

Cathérines Finger schlossen sich um den Diamanten. Er war durch ihre Körperwärme jetzt warm, beinah lebendig geworden. Welche böse Macht barg er wohl in seiner schwarzen Pracht? In ihrer Hand verborgen, war er nichts weiter als ein harter Kiesel, von dem jedes mögliche Übel ausgehen konnte. Kein Zweifel, für ihn würden die Menschen sich schlagen, für ihn würde Blut fließen, wie viele Jahrhunderte noch? Sie fühlte sich versucht, ihn ins Feuer zu werfen, um ihn zu vernichten, zu zerstören. Wer aber würde diese Geste verstehen? Der treue Mönch, die alte Frau, ihre Schwiegermutter, die in ihrem hohen Sessel saß, stumme Bewunderung in den Augen? Der schwarze Diamant repräsentierte ein solches Vermögen … und Montsalvy, in Schutt und Asche, wartete darauf, wiederaufgebaut zu werden! Cathérine öffnete die Hand und ließ den Diamanten auf den Tisch rollen.

»Welche Pracht!« seufzte Isabelle de Montsalvy. »In meinem ganzen Leben habe ich nichts Ähnliches gesehen! Das wird unser Familienschatz werden.«

»Nein, Mutter«, widersprach Cathérine behutsam. »Ich werde den schwarzen Diamanten nicht behalten. Es liegt ein Fluch auf ihm. Er hat immer nur Unglück gebracht. Und außerdem bedeutet er viel Gold! Dieser schwarze Kiesel wird uns zu einem neuen Schloß, zu Bewaffneten, zu allem verhelfen, was wir brauchen, um aus Montsalvy wieder das zu machen, was es einstmals war, und meinem Sohn den Rang zu verschaffen, den nur Geld und Macht geben können. Jawohl … All dies birgt sich in diesem schwarzen Diamanten!«

»Wie schade!« sagte Madame de Montsalvy. »Er ist so schön!«

»Aber noch furchtbarer!« fiel Bruder Etienne ein. »Wißt Ihr, Madame Cathérine, daß Nicole Son, die Putzmacherin, die Euch in Rouen Asyl gewährte, ebenfalls tot ist?«

»Tot? Wie ist das möglich?«

»Ermordet! Sie war auf dem Weg, der Frau Herzogin von Bedford einen kostbaren Umhang aus Goldspitzen zu liefern. Man hat sie in der Seine wiedergefunden, mit durchgeschnittener Kehle …«

Cathérine erwiderte nichts, aber der entsetzte Blick, den sie auf den Diamanten warf, war deutlich genug. Also tötete der verdammte Stein selbst die, die ihn nur aufbewahrten! Sie mußte sich von ihm trennen, je früher, desto besser.

»Trotz allem«, fügte der Mönch mit leisem Lächeln hinzu, »sollten wir nichts übertreiben und uns vor Aberglauben hüten. Vielleicht handelt es sich nur um eine Reihe von Zufälligkeiten. Ihr werdet mir zugeben, daß ich ihn durch den größten Teil des Königreichs befördert habe, durch Gebiete, in denen Elend herrscht und es von Straßenräubern wimmelt … und daß mir nichts Böses zugestoßen ist!«

Es war wirklich eine Art Wunder, daß es im tiefsten Winter, Anfang des Jahres 1433, dem Franziskaner von Mont Beuvray gelungen war, dieses von Elend heimgesuchte, von Mörderbanden und da und dort verstreuten englischen Garnisonen zum Weißbluten gebrachte Frankreich zu durchqueren, ohne daß jemand ahnte, daß er in einem groben Leinwandsäckchen unter seiner Kutte das Lösegeld eines Kaisers bei sich trug. Damals, als Cathérine und Arnaud de Montsalvy aus Rouen geflohen waren, noch in der Nacht der Hinrichtung der Jungfrau von Orléans, waren die Juwelen der jungen Frau in die Obhut ihres Freundes, des Maurermeisters Jean Son, gegeben worden, bis Bruder Etienne Chariot, der verläßlichste Geheimagent Yolandes, Herzogin von Anjou, Gräfin der Provence und Königin der vier Königreiche Aragon, Sizilien, Neapel und Jerusalem, Gelegenheit haben würde, sie ihrer rechtmäßigen Eigentümerin zurückzugeben.

Seit Jahren trabten die großen, nackt in ihren Franziskanersandalen steckenden Füße Bruder Etiennes über die Landstraßen des Königreichs, trugen die Botschaften und übermittelten die Befehle der Königin Yolande, Schwiegermutter Karls VII., bis in die geheimsten Schlupfwinkel, in die tiefsten Verstecke des Volkes. Niemand mißtraute diesem kleinen, rundlichen Mönch, der immer lächelte und unter dessen freimütiger Liebenswürdigkeit sich wahre Intelligenz verbarg.

Er war bei sinkendem Abend in Carlat eingetroffen. Seine beleibte Silhouette hatte sich vom Schnee abgezeichnet, als Hugh Kennedy, der schottische Gouverneur, eben die Ablösung der Wachen beaufsichtigte, und man hatte ihn unverzüglich zu Cathérine geführt. Den Mönch nach über achtzehn Monaten wiederzusehen war für die junge Gräfin eine wahre, durch ihr Herzeleid doppelt große Freude gewesen. Bruder Etienne war schon immer das vom Schicksal bestimmte Werkzeug gewesen, sie mit Arnaud zusammenzuführen. Seine Anwesenheit ließ die Erinnerung an kostbare Stunden in ihr aufleben, die ihr jetzt, wenn sie sie sich ins Gedächtnis zurückrief, nur das Herz zerrissen. Diesmal jedoch vermochte Bruder Etienne trotz all seines guten Willens nichts für ihre Vereinigung zu tun. Der Aussätzige und die, die auf dieser Welt um ihn trauerte, waren wie durch die Pforten eines Grabmals voneinander getrennt …

Cathérine verließ den Tisch und trat zum Fenster. Jetzt war die Nacht völlig hereingebrochen, hatte sich jenseits des riesigen, kreisförmigen Hofs, auf den die Feuer aus der Küche einen roten Schein warfen, über das Land gesenkt. Aber seit langem brauchten die Augen der jungen Frau das Tageslicht nicht mehr, um die Richtung der Leprastation von Calves zu finden. Quer durch den Raum, durch Finsternis und Nacht, zogen sich die Bande, die sie an Arnaud de Montsalvy, ihren Gatten, ketteten, so stark und so schmerzhaft wie eh und je … Stundenlang konnte sie dort stehen, mit leerem Blick, und die Tränen, die abzuwischen sie sich nicht die Mühe nahm, rollten über ihr schönes Gesicht.

Bruder Etienne hüstelte ein wenig und sagte dann mit leisem Vorwurf:

»Madame … Ihr tut Euch großen Schaden an! Gibt es denn wirklich nichts, was Euren Schmerz lindern könnte?«

»Nichts, Pater! Mein Gemahl war mein ganzes Leben. Ich hörte an dem Tage auf zu existieren, an dem …«

Sie beendete den Satz nicht, schloß die Augen … Auf dem dunklen Grand ihrer Lider rief ihr mitleidsloses Gedächtnis ihr wieder das Bild eines kräftigen Mannes ins Bewußtsein, ganz in Schwarz gekleidet, der in die Sonne schritt, die Hände unter einer wogenden Haarflut vergraben, ihrem Haar, das sie geopfert hatte, um es wie einen fabelhaften Teppich unter die Füße des Mannes zu werfen, der von seinen Brüdern ausgestoßen worden war. Seitdem war das Haar nachgewachsen. Es lockte sich goldschimmernd um ihre Wangen, doch sie zog es erbarmungslos nach hinten, verbarg es unter ihrem schwarzen Witwenschleier oder unter der Haube aus weißem, gestärktem Linnen, die nur das reine Oval ihres Gesichts sehen ließ. Auch hatte sie sehnlichst gewünscht, diesem Gesicht den Glanz zu nehmen, wenn sie den bewundernden Blick Kennedys auffing oder den Ausdruck leidenschaftlicher Ergebenheit in den Augen ihres Knappen Gauthier bemerkte. Darum nahm sie auch nur selten ihren schwarzen Kopfschleier ab … Bruder Etienne musterte mit nachdenklichem Blick die schmale Gestalt, deren Grazie die strenge schwarze Kleidung nicht zu unterdrücken vermochte, das süße Gesicht mit den zärtlichen Lippen, die der Schmerz nur berührt hatte, um sie zu verfeinern und noch erregender zu machen, die großen veilchenblauen Augen, die im Leiden brannten, wie sie in der Leidenschaft gebrannt hatten. Und der gute Mönch ertappte sich beim Grübeln. Hatte Gott solche Schönheit wirklich geschaffen und gewollt, nur um sie verkümmern, ersticken zu lassen unter Trauerschleiern hinter den Mauern eines alten Schlosses in den Bergen der Auvergne? Hätte sie nicht einen zehn Monate alten Sohn gehabt, wäre Cathérine de Montsalvy ohne Zögern, das hatte sie ihm nicht verhohlen, Arnaud zu den Aussätzigen gefolgt und hätte sich freiwillig dem entsetzlichen Schicksal des langsamen Todes geweiht. Und nun suchte Bruder Etienne nach geeigneten Worten, die den Panzer des Kummers, den die junge Frau angelegt hatte, durchdringen konnten. Was sollte er ihr sagen? Von Gott zu sprechen war unnütz. Was bedeutete Gott einer so leidenschaftlich liebenden Frau, der Geliebten eines einzigen Mannes, die ihre Liebe zu einem Idol erhoben, auf einen geheimen Altar gestellt hatte? Für Arnaud, dem sie immer mit Leib und Seele angehören würde, hätte Cathérine freudig und ohne Zögern Satan und Hölle eingetauscht … Daher war er sehr erstaunt, sich sagen zu hören:

»Man darf nie an der Vorsehung verzweifeln, Dame Cathérine. Sehr oft schlägt sie die, welche sie liebt, nur um sie desto höher zu belohnen …«

Der schöne, traurige Mund verzog sich verächtlich. Cathérine hob überdrüssig die Schultern.

»Was bedeutet schon Belohnung? Was gilt mir der Himmel, von dem Ihr mir zweifellos sprechen wollt, Bruder Etienne? Käme Gott, als ein Wunder, zu mir, würde ich zu ihm sagen: ›Seigneur, Ihr seid der allmächtige Gott. Gebt mir meinen Gatten wieder … und nehmt den Rest, selbst meine Unsterblichkeit, aber gebt ihn mir zurück!‹«

Innerlich schalt der Mönch sich einen Idioten, trug aber dennoch eine verdrossene Miene zur Schau.

»Madame, Ihr lästert! ›Nehmt den Rest‹, sagtet Ihr? Schließt Ihr in diesen Rest auch Euren Sohn ein?«

Das schmale, von weißem Linnen umrahmte Gesicht wandte sich ihm mit Entsetzen zu.

»Warum sagt Ihr das? Glaubt Ihr, ich sei noch nicht genügend heimgesucht worden? Seid versichert, ich habe nicht meinen Sohn gemeint, sondern nur so nutzlose Dinge wie Macht, Schönheit … oder das hier!«

Sie deutete mit dem Finger auf den funkelnden Juwelenhaufen auf dem Tisch. Sie trat brüsk heran, nahm die Geschmeide in ihre Hände und hob sie ans Licht.

»Das hier genügte, ganze Provinzen zu kaufen, und vor weniger als einem Jahr wäre ich glücklich gewesen, sie zurückzuerhalten, um sie ihm zu geben … ihm, meinem Gatten! In seinen Händen hätten sie sich in ein Leben des Glücks für uns und für unsere Leute verwandelt. Jetzt aber –«, langsam rollten die Steine in vielfarbigem Feuerregen aus ihren Fingern auf den Tisch, »– jetzt sind sie nicht mehr, als was sie sind, Juwelen, leblose Juwelen.«

»Die Eurem Hause Leben und Macht geben werden. Dame Cathérine, beenden wir diese bittere Philosophie! Ich bin nicht einzig und allein hierhergekommen, um Euch einen Schatz zu bringen. Man hat mich zu Euch geschickt: Die Königin Yolande verlangt nach Euch.«

»Nach mir? Ich glaubte nicht, daß sich die Königin meiner noch erinnert.«

»Sie vergißt nie jemand, Madame … und am wenigsten diejenigen, die ihr treu gedient haben! Eins ist sicher: Sie wünscht Euch zu sehen. Fragt mich nicht, warum, die Königin hat sich nicht darüber ausgelassen … wenn ich auch nicht daran zweifeln kann.«

Die dunklen Augen Cathérines musterten den Mönch. Sein unstetes Wanderleben schien ein erstaunlicher Jungbrunnen zu sein. Er hatte sich nicht verändert. Sein Gesicht war nach wie vor rund, frisch und offen. Doch Cathérine hatte so viel gelitten, daß sie sich angewöhnt hatte, allem zu mißtrauen. Die engelhafteste Gestalt schien ihr eine Drohung zu bergen, selbst die eines alten Freundes wie Bruder Etiennes.

»Was hat die Königin Euch gesagt, als sie Euch zu mir schickte, Bruder Etienne? Könnt Ihr mir ihre Worte wiederholen?«

Er neigte zustimmend den Kopf, doch sein Blick lag weiter auf der jungen Frau.

»Gern. ›Es sind unstillbare Schmerzen‹, hat die Königin zu mir gesagt, ›aber selbst bei äußerstem Leid kann Rache zuweilen Linderung bringen. Geht und holt mir die Dame Cathérine de Montsalvy, und erinnert sie daran, daß sie nie aufgehört hat, dem Kreis meiner Hofdamen anzugehören. Ihr großes Leid sollte sie nicht von mir entfernen.‹«

»Ich weiß ihr Dank, daß sie sich an mich erinnert, aber hat sie vergessen, daß alle Montsalvys verbannt sind, zu Verrätern und Treuebrüchigen erklärt wurden und vom königlichen Profos gesucht werden? Daß man tot oder aussätzig sein muß, um den Häschern zu entwischen? übrigens, die Königin hat mein Leid erwähnt. Weiß sie davon?«

»Sie weiß stets alles. Messire Kennedy hat sie auf dem laufenden gehalten.«

»Das heißt also, daß der gesamte Hof sich daran weidet!« bemerkte Cathérine bitter. »Was für ein Triumph für La Trémoille, den heldenmütigsten der Hauptleute des Königs im Siechenspital zu wissen!«

»Niemand weiß davon außer der Königin! Und die Königin kann schweigen, Madame«, sagte der Mönch tadelnd. »Messire Kennedy hat sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit unterrichtet. Außerdem hat er den Leuten dieser Gegend wie seinen Soldaten angedroht, jedem, wer immer es sei, eigenhändig die Gurgel durchzuschneiden, der das wahre Schicksal Messire Arnauds verraten würde. Für die Welt ist Euer Gatte tot, Madame, selbst für den König! Mir scheint, Ihr wißt wenig davon, was unter Eurem eigenen Dach vorgeht.«

Cathérine errötete. Es stimmte. Seit dem verwünschten Tag, an dem Arnaud zur Leprastation von Calves gebracht worden war, hatte sie sich in ihren Gemächern eingeschlossen, die sie nur bei Einbruch der Nacht verließ, um auf dem Wehrgang ein wenig Luft zu schöpfen. Dort verweilte sie einen langen Augenblick, unbeweglich zwischen zwei Stützbalken, immer in dieselbe Richtung starrend. Gauthier, der Normanne, den sie einst vor dem Galgen gerettet hatte, begleitete sie, hielt sich aber respektvoll zehn Schritte hinter ihr, wagte nicht, sie in ihren Gedanken zu stören. Nur Hugh Kennedy, der Gouverneur von Carlat, hatte den Mut, sich ihr zu nähern, wenn sie wieder hinunterstieg. Die Soldaten betrachteten diese Frau, die, schwarz gekleidet und verschleiert, stets aufrecht und stolz, außerhalb ihrer Gemächer nie ihr Gesicht zeigte, mit einer Mischung aus Mitleid und Besorgnis. Abends, am Feuer, sprachen sie von ihr, riefen sich die blendende Schönheit ins Gedächtnis zurück, die seit sechs Monaten keiner von ihnen wieder gesehen hatte. Die phantastischsten Geschichten machten die Runde. Man erzählte sich sogar, die schöne Gräfin habe sich das Haar abrasiert und sich entstellt, um nie wieder die Liebe eines Mannes erregen zu können. Die Leute im Dorf bekreuzigten sich, wenn sie ihr düsteres Musselintuch sanft im Abendwind gegen den roten Himmel flattern sahen. Und mählich wurde die schöne Gräfin de Montsalvy eine Legende …

»Ihr habt recht«, erwiderte Cathérine nach einer kleinen Pause. »Ich weiß nicht, warum mich nichts mehr interessiert, ausgenommen vielleicht das Wort, das Ihr ausgesprochen habt: Rache … obgleich es im Munde eines Gottesmannes ziemlich seltsam klingt. Doch ich verstehe nicht, weshalb die Königin den Wunsch haben sollte, die Rache einer Geächteten zu unterstützen.«

»Ihr werdet in dem Augenblick nicht mehr geächtet sein, Madame, in dem die Königin Euch zu sich ruft, dann seid Ihr in Sicherheit. Und was Eure Rache betrifft, so fügt es sich, daß sie mit den Wünschen Madame Yolandes übereinstimmt. Ihr überseht, daß die Unverschämtheit La Trémoilles keine Grenzen mehr kennt; daß die Truppen des Spaniers Villa-Andrado, der in seinem Sold steht, letzten Sommer Maine und Anjou, die persönlichen Ländereien der Königin, geplündert, gebrandschatzt und verwüstet haben. Die Stunde ist gekommen, mit dem Günstling Schluß zu machen, Madame. Reist Ihr ab? Ich darf hinzufügen, daß Messire Hugh Kennedy, der ebenfalls von der Königin zurückberufen wurde, Euch zusammen mit Eurem untertänigsten Diener das Geleit geben wird.«

Zum erstenmal sah Bruder Etienne die Augen Cathérines blitzen, während ihr das Blut in die blassen Wangen stieg.

»Wer wird dann Carlat bewachen? Und meinen Sohn und meine Mutter?«

Der Mönch wandte sich zu Isabelle de Montsalvy, die immer noch reglos in ihrem Sessel saß.

»Madame de Montsalvy soll sich mit dem Kind in die Abtei von Montsalvy begeben, wo der neue Abt, der jung und energisch ist, sie erwartet. Dort werden sie in Sicherheit sein, während sie darauf warten, daß Ihr beim König die Rehabilitierung Eures Gatten und die Freigabe seines Vermögens durchsetzt. Ein neuer, vom Grafen d'Armagnac entsandter Gouverneur wird von Carlat Besitz ergreifen. Überdies war Messire Kennedy nur vorübergehend hier. Werdet Ihr kommen?«

Cathérine wandte sich ihrer Schwiegermutter zu, kniete mit einer Geste, die ihr inzwischen vertraut geworden war, vor ihr nieder und nahm die schönen, runzligen Hände in die ihren. Die Trennung von Arnaud hatte sie einander nähergebracht, wie Cathérine es nie für möglich gehalten hätte. Die anfänglich hochmütige Haltung der großen Dame gehörte der Vergangenheit an, war nur noch eine Erinnerung, und eine tiefe Zärtlichkeit, die keiner Worte bedurfte, um sich auszudrücken, vereinte die beiden Frauen.

»Was soll ich tun, Mutter?«

»Gehorchen, meine Tochter! Man sagt nicht nein, wenn die Königin Yolande ruft, und unser Haus kann durch Euren Aufenthalt da unten nur gewinnen.«

»Ich weiß. Aber es fällt mir so schwer, Euch zu verlassen, Euch und Michel, und fern zu sein von …«

Sie drehte sich von neuem zum Fenster, aber Isabelle zwang sie sanft, sich ihr wieder zuzuwenden.

»Ihr liebt ihn zu sehr, als daß die Entfernung etwas bedeutete! Geht und habt keine Furcht. Ich werde doppelt über Michel wachen.«

Cathérine küßte der alten Dame schnell die Finger und erhob sich.

»Gut also, ich werde reisen.« Ihr Blick fiel plötzlich auf den Haufen kostbarer Steine auf dem Tisch. »Einen Teil davon nehme ich mit«, sagte sie, »denn ich werde Gold brauchen. Ihr hütet den Rest, Mutter, und macht nach Belieben davon Gebrauch. Ihr könnt leicht einige Steine gegen Taler tauschen.«

Sie nahm den schwarzen Diamanten wieder in die Hand, preßte ihn zwischen den Fingern, als wollte sie ihn zermalmen.

»Wo soll ich zur Königin stoßen?«

»In Angers, Madame … Die Beziehungen zwischen dem König und seiner Schwiegermutter sind immer noch ziemlich gespannt. Die Königin Yolande ist auf ihren Ländereien sicherer als in Bourges oder in Chinon.«

»Dann nach Angers. Wenn es Euch jedoch nichts ausmacht, reisen wir über Bourges. Ich möchte Maître Jacques Coeur bitten, mir einen Käufer für diesen verfluchten Stein zu finden.«

Die Nachricht von der bevorstehenden Abreise erfüllte drei Personen mit großer Freude: Hugh Kennedy vor allem. Der Schotte fühlte sich in den Bergen der Auvergne nicht wohl, die ihn zwar an sein eigenes Land erinnerten, die er aber sehr schlecht kannte. Außerdem war ihm die Gefängnisluft der Festung, die von Cathérines Schmerz bis zum Ersticken geladene Atmosphäre unerträglich geworden. Er wurde zwischen der heftigen Neigung, die er für die junge Frau empfand, dem tiefen Wunsch, sie ihr Unglück vergessen zu machen, und dem Verlangen nach dem früheren guten Leben, den Schlachten, den Handstreichen, dem ungestümen Lagerleben und der herzhaften Männerkameradschaft von einst hin und her gerissen. Die reizenden, freundlichen Städte des Loiretals zu sehen und die Reise in Begleitung Cathérines zu machen, das war doppelte Freude! Er verlor keine Minute, um seine Vorbereitungen für die Abreise zu treffen.

Auch für Gauthier war es eine gute Nachricht, aber aus einem anderen Grunde. Der riesige Normanne, der ehemalige Holzfäller, war von einer blinden, fanatischen, aber stummen Leidenschaft für die junge Frau durchdrungen. Er kniete im geistigen Sinne vor ihr wie der Gläubige vor einem Heiligenbild, und dieser Mann, der nicht an Gott glaubte, sondern seinen Glauben aus den uralten abergläubischen Bräuchen des Nordens nährte, aus antiken, mit den Drachenschiffen ins Land gebrachten Legenden, hatte aus seiner heidnischen Liebe für Cathérine eine Art Religion gemacht. Seit Arnaud de Montsalvy in die Leprastation gesperrt worden war und Cathérine ihn beweinte, hatte auch Gauthier aufgehört zu leben. Er fand keinen Geschmack an der Jagd und verließ die Festung überhaupt nicht mehr. Es war ihm unerträglich, sich auch nur einen Augenblick von Cathérine zu entfernen, und er hatte den seltsamen Eindruck, daß es um ihr Leben geschehen sei, wenn er aufhörte, über sie zu wachen. Aber wie lang einem die Zeit dabei wurde! Er sah mit an, wie sich die Tage aneinanderreihten, immer dasselbe, ohne daß man damit rechnen konnte, daß der Augenblick einträte, in dem Cathérine bereit wäre, ihren Kummer abzuschütteln. Und nun, wunderbarerweise, war dieser Augenblick gekommen! Man würde abreisen, dieses verfluchte Schloß verlassen, endlich etwas unternehmen! Und Gauthier in seiner simplen Seele war nicht weit davon entfernt, den kleinen Mönch vom Mont Beuvray für einen Wundermann zu halten.

Die dritte Person war Sara, die treue, ins Abendland verschlagene Zigeunerin, die Cathérine aufgezogen hatte und ihr durch alle Stadien ihres bewegten Lebens gefolgt war. Mit mehr als fünfundvierzig Jahren hatte Sara, die Schwarze, sich ihre Jugend und Vitalität bewahrt. Ihr dichtes schwarzes Haar wies kaum graue Fäden auf. Ihre braune Haut, glatt und zart, zeigte kein einziges Fältchen. Nur eine behagliche Körperfülle hatte sie sich angegessen, die sie für lange Ritte untauglich machte; aber die ererbte Liebe für die Landstraßen überwand die Sorge um das eigene Wohlbefinden, und wie Gauthier litt sie Qualen, wenn sie sah, wie Cathérine sich lebendig in der Auvergne begrub und nur noch für den dünnen Faden existierte, der sie mit dem Klausner von Calves verband. Die Ankunft Bruder Etiennes war ein wahrer Segen. Der Ruf der Königin würde die junge Frau aus ihrem Schmerz reißen, würde sie nolens volens zwingen, sich wieder dieser Welt zuzuwenden, die sie ablehnte. Und Sara wünschte im Grunde ihres liebenden Herzens, daß Cathérine sich finge und das Leben wieder liebte. Dabei ging sie nicht so weit, ihr eine neue Liebschaft zu wünschen: Cathérine war eine Frau, die nur eine einzige Leidenschaft kannte. Trotzdem, das Leben renkt die Dinge ein! Oft, in der Stille der Nacht, hatte Sara, die Zigeunerin, das Feuer und das Wasser befragt, um ihnen das Geheimnis der Zukunft zu entlocken. Aber das Feuer verlosch, das Wasser blieb klar, und alle Visionen, die sie bisweilen hatte, bewahrheiteten sich nicht. Das Buch des Schicksals blieb für Sara seit dem Aufbruch Arnauds verschlossen.

Ein einziger Umstand quälte sie: den kleinen Michel verlassen zu müssen, für den sie ein Gefühl empfand, das sehr nahe an Anbetung grenzte. Aber Sara ließ nicht zu, daß Cathérine sich allein in ein Abenteuer stürzte. Der Hof war ein gefährlicher Ort, und die Zigeunerin nahm sich vor, sich persönlich um die junge Frau zu kümmern. Seelisch verwundet und dadurch anfällig geworden, hatte Cathérine es nötig, daß man ein wachsames Auge auf sie hielt. Michel, das wußte Sara wohl, würde vollkommen sicher sein, und es würde ihm bei seiner Großmutter an nichts fehlen, die ihn vergötterte und mit jedem Tag mehr den verlorenen Sohn in ihm wiederfand.

In einigen Wochen würde das Kind ein Jahr alt sein. Groß und kräftig für sein Alter, war es das prächtigste Baby, das Sara je gesehen hatte: Rund und rosig, hatte es hübsche, klare blaue Augen, und kräftige Locken, strahlend wie Goldspäne, bedeckten dicht seinen Kopf. Michel betrachtete alles mit ernster Miene; wenn er aber lachte, erstickte er fast. Er zeigte sich bereits sehr tapfer, und nur die Entzündung seiner Wangen kündigte das Zahnen an, denn das Baby weinte nicht. Wenn es zu sehr litt, liefen ihm große Tränen die Wangen hinunter, aber seinem kleinen, schmerzverzogenen Mund entrang sich kein Laut. Die Garnison wie die Bauern beteten es einhellig an, und Michel, sich seiner Macht schon bewußt, herrschte über seine Umwelt wie ein kleiner Tyrann, wobei seine bevorzugten Sklaven seine Mutter, seine Großmutter, Sara und die alte Donatienne, die als Kammerfrau bei Dame Isabelle dienende Bäuerin aus Montsalvy, waren. Gauthier gegenüber verhielt sich das Kerlchen abwartend. Der blonde Normanne beeindruckte es durch seine ungeheuren Kräfte, und das Kind behandelte ihn auf seine Weise. Anders ausgedrückt: Es ließ an ihm keine seiner Launen aus, die einzig und allein den vier Frauen vorbehalten waren. Bei Gauthier war man unter Männern, und Michel fand immer ein breites Lächeln für seinen riesenhaften Freund.

Ihren Sohn zu verlassen bedeutete für Cathérine ein schweres Opfer. Die ganze Liebe, die sie dem Vater nicht mehr geben konnte, hatte sie auf ihn übertragen und umgab ihn mit einer unruhigen, stets wachsamen Zärtlichkeit. Sie ging mit ihm um wie der Geizhals mit seinen Schätzen. Er war die einzigartige, wunderbare Erinnerung an den Abwesenden, das Kind, das nie Brüder oder Schwestern haben würde. Er war der Letzte der Montsalvy. Ganz gleich um welchen Preis, mußte man ihm eine Zukunft bauen, die seiner Vorfahren und besonders seines Vaters würdig war. Und aus diesem Grunde überwachte die junge Frau, tapfer ihre Tränen unterdrückend, die Vorbereitungen der Trennung von ihrem Sohn und seiner Großmutter. Aber wie schwer war es, nicht zu weinen, während man die kleinen Kleidungsstücke, die zum größten Teil das Werk ihrer sorgsamen Hände waren, behutsam in einem Lederkoffer verstaute!

»Mein Kummer ist selbstsüchtig, siehst du!« sagte sie zu Sara, die ihr mit harten Augen und zusammengepreßten Lippen half und sich bemühte, Haltung zu bewahren, »ich weiß, daß Mutter ebenso gut auf ihn aufpassen wird, wie ich es könnte. Ich weiß, daß ihm in der Abtei nichts zustoßen kann, daß er vor allem Bösen, allem Schmerz behütet und daß unsere Abwesenheit, wie ich hoffe, kurz sein wird. Trotzdem mache ich mir große Sorgen!«

»Glaubst du, mir ist es nicht schmerzlich, ihn zu verlassen? Aber schließlich reisen wir für ihn da hinunter, und wenn es für sein Wohl ist, fällt mir nichts zu schwer!«

Und um die Zuverlässigkeit ihrer Überzeugung zu demonstrieren, machte sich Sara mit Eifer daran, die kleinen Hemden des Kindes im Koffer zu verstauen. Trotz allem mußte Cathérine leise lächeln. Ihre alte Sara würde sich nie ändern! Selbst wenn sie vor Kummer erstickte, ließ sie sich lieber in Stücke hauen, als es einzugestehen. Im allgemeinen verwandelte sich bei ihr der Kummer in Wut, die sie an unschuldigen Objekten ausließ. Seitdem Sara wußte, daß sie sich für einige Zeit von ihrem geliebten Säugling trennen mußte, hatte sie bereits zwei Näpfe, eine Schüssel, einen Wasserkrug, einen Schemel und eine Holzstatue des heiligen Géraud zerbrochen, worauf sie in die Kapelle gestürzt war, um den Himmel um Vergebung für ihre unfreiwillige Freveltat anzuflehen.

Während sie sich mit grimmiger Entschlossenheit weiter an die Füllung des Koffers machte, murmelte sie:

»Im Grunde ist es eine gute Sache, daß Fortunat sich weigert, uns zu folgen. In ihm wird Michel einen tüchtigen Verteidiger haben, und dann …«

Sie hielt unvermittelt inne, biß sich auf die Zunge, wie sie es immer tat, wenn sich ihre laut ausgesprochenen Gedanken Arnaud de Montsalvy zuwandten. Der kleine gaskognische Schildknappe zeigte in der Tat fast ebenso tiefen Schmerz wie Cathérine. Er hegte für seinen Herrn eine glühende und unbedingte Ehrerbietung, wie sie manche Männer bei ihren Gefolgsleuten zu wecken verstehen. Er bewunderte ihn ob seiner Tapferkeit und seines untrüglichen Ehrgefühls, ob seiner Befähigung als Kriegsmann und auch dessentwegen, was die Feldhauptleute Karls VII. ›den abscheulichen Montsalvy-Charakter‹ nannten: eine seltsame Mischung von Gewalttätigkeit, Humanität, von Schroffheit und unerschütterlicher Loyalität. Daß die furchtbare Lepra seinen Gott hatte befallen können, war zuerst ein Schock für Fortunat gewesen, dann hatte er sich zornig gegen das Schicksal aufgelehnt und war schließlich in Verzweiflung versunken, die abzuschütteln ihm noch nicht gelungen war. An dem Tag, an dem Arnaud die Seinen auf immer verlassen mußte, hatte Fortunat sich tief in einen Turm verkrochen und sich geweigert, dem entsetzlichen Abschied beizuwohnen. Hugh Kennedy hatte ihn auf dem nackten Boden liegend angetroffen, wie ein Kind schluchzend und beide Fäuste an die Ohren pressend, um das Läuten der Totenglocke nicht hören zu müssen. Seit diesem Tag schleppte sich Fortunat durch die Festung wie eine im Fegefeuer schmachtende Seele, fand keinen Geschmack am Leben mehr, außer einmal in der Woche, am Freitag, wenn er zum Spital von Calves ging und einen Korb mit Lebensmitteln am Turm des Gotteshauses abstellte. Bei diesen wöchentlichen Besuchen einer verschlossenen Pforte lehnte Fortunat jede Begleitung ab. Er wollte allein sein. Selbst Gauthier, der ihm inzwischen ans Herz gewachsen war, hatte nie die Erlaubnis erhalten, ihn zu begleiten. Und nie hatte der kleine Gaskogner sich ein Pferd für den Weg nach Calves geben lassen. Zu Fuß, wie auf einer Pilgerfahrt, legte er die anderthalb Wegstunden von Carlat zur Leprastation zurück, unter das schwere Gewicht des Korbes und auf dem Rückweg unter das seines tiefen Kummers gebeugt. Von Mitleid gerührt, hatte Cathérine ihn nötigen wollen, sich ein Reitpferd zu nehmen, doch Fortunat hatte sich geweigert.

»Nein, Dame Cathérine, nicht einmal einen Esel! ›Er‹ hat nicht mehr das Recht, die Pferde zu besteigen, die er so sehr liebt; da werde ich, sein Knappe, auch nicht zu Pferde zu meinem geschlagenen Herrn gehen!«

Der Adel und die Liebe, die aus diesen Worten sprachen, hatten Cathérine erschüttert. Sie hatte also nicht mehr darauf bestanden, sondern hatte den kleinen Mann mit feuchten Augen an den Schultern ergriffen und ihn schwesterlich auf beide Wangen geküßt.

»Du bist tapferer als ich«, hatte sie zu ihm gesagt, »die ich nicht den Mut habe, dorthin zu gehen. Ich glaube, ich würde vor dieser Pforte, die sich niemals öffnet, sterben. Ich begnüge mich damit, von weitem den Rauch des Schornsteins zu betrachten … Ich bin nur eine Frau«, hatte sie demütig hinzugefügt.

Doch an diesem Abend, an dem sie Fortunat hatte rufen lassen, um ihm die letzten Anweisungen vor dem Aufbruch nach Montsalvy zu geben, hatte sie sich nicht enthalten können, zu ihm zu sagen:

»Von Montsalvy nach Calves sind es mehr als fünf Meilen, Fortunat! Du solltest dich endlich entschließen, ein Pferd oder zumindest ein Maultier zu nehmen. Du brauchst dein Reittier nur in einiger Entfernung von …«

Das peinliche, den verworfenen Ort näher bezeichnende Wort kam nie über ihre Lippen. Doch Fortunat schüttelte den Kopf.

»Ich werde zwei Tage hin und zurück brauchen, Dame Cathérine, das ist alles!«

Auch diesmal erwiderte Cathérine nichts. Sie verstand im Grunde das Bedürfnis des kleinen Gaskogners, auf seine Weise zu leiden, wenn er zu dem ging, der nur noch Leid zu erdulden hatte. Aber zwischen den Zähnen, nur für sich, murmelte die junge Frau, die Hände aneinanderpressend:

»Eines Tages … werde auch ich hinübergehen! Und werde nie zurückkehren …«

Am Morgen beobachtete Cathérine, aufrecht auf dem Wall stehend, hinter ihr Sara und Gauthier, wie ihr Sohn und ihre Schwiegermutter Carlat verließen. Durch ihren schwarzen Schleier geschützt, sah sie die uralte Sänfte, ein schwerfälliges Möbel mit dicken Ledervorhängen, das man für diese Gelegenheit aus einem Winkel des Marstalls ausgegraben hatte, sich durch die Pforte der Umwallung bewegen. Ein eisiger Wind fegte durch das schneebedeckte Tal, doch in der Sänfte, in der man mit rotglühenden Kohlen gefüllte Behälter aufgestellt und Decken aufgehäuft hatte, würde Michel zwischen seiner Großmutter und Donatienne nicht frieren. Inmitten seiner bis an die Zähne bewaffneten Eskorte ging der kleine Knabe der Ruhe und Sicherheit entgegen, aber seine Mutter konnte die Tränen nicht zurückhalten. Da niemand hinter das zarte Bollwerk des Musselins blicken konnte, vergab sie sich nichts damit. Auf den Lippen spürte sie noch die frischen, samtenen Wangen des Kindes. Sie hatte es in einem plötzlichen Ausbruch von Leidenschaft geküßt, innerlich von der erzwungenen Trennung gepeinigt, bevor sie es seiner Großmutter wieder in die Arme gab. Dann hatten die beiden Frauen sich wortlos umarmt, doch als Isabelle de Montsalvy in die Sänfte stieg, hatte sie mit dem Daumen vor der Stirn der jungen Frau das Zeichen des Kreuzes gemacht. Dann hatte sie Michel fester in die Arme geschlossen, und die Ledervorhänge waren hinter ihnen zugefallen.

Jetzt wand sich der Zug den steilen Abhang hinunter und erreichte die ersten Häuser des Dorfs. Von ihrem Beobachtungsposten aus konnte Cathérine die roten oder blauen Mützen einiger an der Kirche versammelter Bauern sehen. Frauen traten aus ihren Häusern, einige hatten Spinnrocken in der Hand und das Wollgarn in einem Weidenkorb dabei. Als die Sänfte vorbeizog, wurden die Kappen abgenommen. Absolute Stille breitete sich über das wie in ein Leichentuch gehüllte weiße Land. Der Rauch der Kamine zeichnete da und dort dünne graue Spiralen in die Luft, über den Bergen, wo die Kastanien, ihres sommerlichen Laubs beraubt, ihre schwarzen Gerippe zum Himmel reckten, drang eine mühselige Sonne durch die Wolken, beschien die rußfarbenen Lanzenspitzen der Soldaten der Eskorte, ließ sie düster glänzen und färbte die Reiherfedern der Helme gelb. Ian MacLaren, Hugh Kennedys Leutnant, befehligte das Detachement von Schotten, das beauftragt war, den kleinen Seigneur und seine Großmutter nach Montsalvy zu geleiten. Die Abteilung sollte tags darauf zurück sein. Die Abreise nach Norden würde am Mittwoch stattfinden.

Als ein sich bis ins Tal hinunterziehendes Gehölz den kleinen Trupp verschluckt hatte und nur noch eine tiefe Doppelspur im Schnee zurückblieb, drehte Cathérine sich um. Sara, die Hände auf der Brust verschlungen, die Augen voller Tränen, blickte starr auf die Stelle, wo der Trupp verschwunden war. Cathérine sah, daß ihre Lippen zitterten. Dann suchte sie den Blick Gauthiers, aber er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Nach Westen gewandt, schien er etwas zu hören. Der Ausdruck seines derben Gesichts war so gespannt, daß Cathérine, die sein Jagdhundgespür kannte, sofort unruhig wurde.

»Was ist los? Hörst du etwas?«

Ohne zu antworten, machte er ein bejahendes Zeichen und lief zur Treppe. Cathérine folgte ihm, blieb aber schnell hinter den weitausgreifenden Schritten des Normannen zurück. Sie sah ihn eiligst den Hof überqueren, unter dem Schutzdach verschwinden, wo der Hufschmied arbeitete, und gleich darauf mit Kennedy wieder zum Vorschein kommen. Gleichzeitig gellte der Ruf eines Wächters von der Turmspitze: »Bewaffneter Trupp in Sicht!«

Das Kleid raffend, stieg sie die wenigen Stufen wieder empor, die sie heruntergekommen war, und lief, von Sara gefolgt, den langen Wehrgang entlang zum Schwarzen Turm. Die Ankündigung dieses Trupps verstärkte ihre Angst um ihren Sohn, obgleich er sich aus der entgegengesetzten Richtung zu nähern schien, als die Eskorte eingeschlagen hatte. Sie erreichte die vorspringende Turmwehr just in dem Augenblick, in dem Gauthier und der Gouverneur, rot und außer Atem vom schnellen Treppensteigen, oben erschienen. Sofort stürzten sie zu den Schießscharten. Tatsächlich war auf der Straße von Aurillac ein starker Trupp aufgetaucht. Er zeichnete sich auf dem Schnee als lange graue Spur ab, wie ein stumpf schimmernder Schlammstrom, der näher kam, näher kam, näher … Wenige Banner, deren Farben auf diese Entfernung übrigens nicht zu unterscheiden waren, aber an der Spitze flatterte etwas Langes, Rotes im Wind. Cathérine versuchte, mit zusammengekniffenen Augen das eingestickte Wappen zu erkennen, und gab es dann auf. Aber Gauthiers scharfe Augen hatten es schon entziffert.

»Viergeteiltes Wappen!« sagte er kurz. »Halbmonde und Querstreifen, das habe ich doch schon irgendwo gesehen …!«

Cathérine gestattete sich ein dünnes Lächeln.

»Du wirst noch ein Gelehrter werden«, sagte sie. »Nächstens tust du es den königlichen Heraldikern gleich!«

Aber Kennedy lächelte nicht. Sein ziegelsteinrotes Gesicht mit dem vorwurfsvollen Zug um die schmollenden Lippen sah unheilverkündend aus. Er wandte sich ab, brüllte etwas in seinem groben Dialekt und fügte hinzu:

»Das Fallgatter herunter! Zugbrücke hoch! Die Bogenschützen auf die Mauern!«

Sofort war die Festung von Betriebsamkeit erfüllt. Mit Bogen und Hellebarden bewaffnet, stiegen die Männer auf die Mauern, während andere die Zugbrücke und das Fallgatter bedienten. Gutturale Schreie, Rufe, Waffenklirren, emsiges Hin- und Herlaufen in jeder Richtung. Das noch vor einem Augenblick unter dem Schnee schlummernde Schloß war jäh erwacht. Schon stapelte man in den Wehrgängen Holzscheite auf und schleppte die großen Töpfe für das kochende Öl heran. Cathérine trat zu Kennedy.

»Ihr setzt das Schloß in Verteidigungszustand? Warum?« fragte sie. »Wer nähert sich uns?«

»Villa-Andrado, der Hund von Kastilien!« gab er kurz zurück. Und um zu zeigen, welche Achtung er für den Ankömmling empfand, spuckte der Schotte in großem Bogen aus und fügte hinzu: »Gestern nacht haben die Wachen einen Feuerschein von Aurillac her beobachtet. Ich hatte der Sache keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, aber ich muß zugeben, daß ich unrecht hatte. Das war er!«

Cathérine wandte sich ab und lehnte sich an einen der riesigen Pfeiler. Sie zupfte ihren Schleier zurecht, den der Wind aufflattern ließ, um die plötzliche Röte, die ihr in die Wangen gestiegen war, besser zu verbergen, dann schob sie die erstarrten Hände in ihre weiten Ärmel. Der Name des Spaniers rief so viele Erinnerungen wach!

In der Tat hatten Gauthier und sie selbst das rotgoldene Banner schon gesehen: vor etwa einem Jahr auf den Wällen von Ventadour, aus dem Villa-Andrado die Vicomtes verjagt hatte. Und Arnaud hatte sich damals mit den Leuten des Kastiliers herumgeschlagen. Schnell schloß die junge Frau die Augen, versuchte vergebens, eine heiße Träne zurückzuhalten. Sie sah die Höhle wieder, auf der Sohle des schmalen, tief eingeschnittenen Tals, das Ventadour wie ein Burggraben umschloß, jene unsichere Zuflucht der Schäfer, in der sie während des Kampfes ihren Sohn zur Welt gebracht hatte. Sie sah das rötliche Flackern des Feuers und die hohe schwarze Silhouette Arnauds, die sich gleich einem Wall zwischen ihr und der Blutgier der Söldner erhob. Aber sie sah auch das kantige Gesicht des vor ihr knienden Villa-Andrado vor sich, die begehrlich-lüsterne Flamme im Hintergrund seiner Augen. Er hatte ihr ein Gedicht rezitiert, aber sie hatte die Worte vergessen, und außerdem hatte er als ritterlicher Feind Lebensmittel geschickt, damit Mutter und Kind wieder zu Kräften kämen. Sie hätte ihn in dankbarer Erinnerung bewahrt, wäre nicht die furchtbare Überraschung gewesen, die am Ziel ihrer Reise auf sie wartete: Montsalvy dem Erdboden gleichgemacht, niedergebrannt bis auf die Grundfesten von jenem Valette, dem Leutnant Villa-Andrados, der nach seinen Befehlen handelte. Bernard d'Armagnac hatte Valette aufhängen lassen; aber hatte sich dadurch das Verbrechen seines Herrn vermindert? Und jetzt ritt er auf Carlat zu, lebendes Symbol des Fluches, der auf den Montsalvys lag.

Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, daß Bruder Etienne in ihrer Nähe stand. Die Hände in seinen Kuttenärmeln vergraben, beobachtete der kleine Mönch aufmerksam die sich nähernde Kolonne. Aufmerksam, doch ohne ersichtliche Unruhe. Cathérine glaubte sogar, ein leises Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen.

»Diese sich nähernde Truppe scheint Euch zu belustigen«, sagte sie ziemlich trocken.

»Das wäre zuviel gesagt. Sie interessiert mich … und sie erstaunt mich. Merkwürdiger Mann, dieser Kastilier! Er scheint vom Himmel das Geschenk der Allgegenwart erhalten zu haben. Ich hätte geschworen, daß er in Albi sei, dessen Bevölkerung sich wohl kaum über seine Anwesenheit gefreut haben dürfte. Andererseits hat mir jemand in Angers erklärt, daß dieser stinkende Fuchs …«

»Ist dieser Ausdruck Eurem Denken angemessen, Bruder Etienne?« fragte Cathérine, das Wort Bruder absichtlich betonend. Der kleine Mönch errötete wie ein Jüngferchen, lächelte die junge Frau aber ganz offen an.

»Ihr habt tausendmal recht. Ich wollte sagen: Messire de Villa-Andrado verbrachte den Winter in Kastilien, am Hof des Königs Juan. Natürlich zeigt man sich in Angers diesem Herrn gegenüber nicht besonders nachsichtig. Ich wünschte, Ihr würdet einmal hören, wie die Königin Yolande von ihm spricht. Jedenfalls ist er hier! Was will er eigentlich?«

»Ich glaube, wir werden es bald erfahren.«

Tatsächlich war die Spitze der Kolonne vor dem ragenden Turm angelangt, und der Bannerträger ritt jetzt, sein Pferd mit einer Hand lenkend, bis zum Fuße des Felsens vor, auf dem sich das Schloß erhob. Ihm folgte ein zweiter in der phantastischen Kleidung der Herolde, einer Kleidung, deren Rotgold und deren Federn jedoch die Strapazen der schlechten Wege und des Winters erkennen ließen. Die übrige Truppe hatte haltgemacht.

Vor den Palisaden angelangt, die den zyklopischen Felsen umgaben, hielten die beiden Reiter gleichzeitig an und hoben die Köpfe.

»Wer befehligt hier?« fragte der Herold.

Kennedy beugte sich vor, stellte ein in dickes Leder gehülltes Bein auf die Zinne und rief hinunter:

»Ich, Hugh Allan Kennedy von Gleneagle, Feldhauptmann König Karls VII. Ich bin Statthalter dieses Schlosses für Monseigneur den Grafen d'Armagnac. Habt Ihr etwas dagegen?«

Aus der Fassung gebracht, stotterte der Herold einige undeutliche Worte, hustete, um seine Stimme zu klären, hob wieder hochmütig den Kopf und schrie:

»Ich, Fermoso, im Dienste von Messire Rodrigo de Villa-Andrado, Graf von Ribadeo, Seigneur von Puzignan, Talmont und …«

»Zur Sache«, unterbrach der Schotte ihn ungeduldig. »Was will Messire Villa-Andrado von uns?«

Offensichtlich in der Annahme, daß die Verhandlungen sich zu lange hinziehen würden, trieb der, um den es ging, sein Pferd an und manövrierte es zwischen seinen Bannerträger und seinen Herold. Unter dem hochgeschobenen Visier des goldverzierten Helms konnte die hinter dem Pfeiler versteckte Cathérine die scharfen, sehr weißen Zähne im kurzen schwarzen Bart blitzen sehen.

»Euch einen Besuch abstatten«, antwortete er liebenswürdig, »und plaudern …«

»Mit mir?« fragte Kennedy mit zweifelndem Unterton.

»Aber nein! Bitte, zieht jedoch nicht den Schluß, daß ich Eure Gesellschaft verschmähe, mein lieber Kennedy, aber ich habe es nicht mit Euch zu tun, sondern mit der Gräfin de Montsalvy. Ich weiß, daß sie hier ist!«

»Was wollt Ihr von ihr?« entgegnete der Schotte, immer noch ziemlich schroff. »Die Dame Cathérine empfängt niemand!«

»Was ich zu sagen habe, werde ich ihr persönlich sagen, mit Eurer Erlaubnis. Und ich wage zu hoffen, daß sie gegenüber einem Reisenden, der von so weit herkommt, eine Ausnahme macht. Fügt bitte hinzu, daß ich nicht wieder gehe, bevor ich sie gesprochen habe!«

Ohne sich zu zeigen, flüsterte Cathérine:

»Wir wollen wissen, was er will! Sagt ihm, ich werde ihn empfangen … aber allein! Er möge ohne jede Eskorte erscheinen … Das wird meinem Sohn Zeit geben, zu seinem Bestimmungsort zu gelangen.«

Kennedy machte ein Zeichen, daß er verstanden habe, und wandte sich wieder dem Spanier zu, während Cathérine, von Sara und Bruder Etienne begleitet, den Wehrgang verließ. Sie hatte ihren Entschluß ohne Zögern gefaßt, weil Villa-Andrado der Mann La Trémoilles war, weil sie der Gefahr schon immer hatte ins Gesicht blicken können. Wenn der Kastilier eine Gefahr darstellen sollte – und sie konnte sich schlecht vorstellen, daß es anders sein könnte –, dann war es um so besser, sie sofort kennenzulernen.

Wenige Minuten später schritt Rodrigo de Villa-Andrado, von einem einzigen, seinen Helm tragenden Pagen gefolgt, in den großen Saal, wo Cathérine ihn erwartete. Die junge Frau, Sara und Bruder Etienne links und rechts neben sich, hatte in einem um zwei Stufen erhöhten Sessel mit hoher Rückenlehne Platz genommen. Sehr aufrecht, die hübschen Hände über den Knien verschlungen, sah sie dem Besucher entgegen.

Der Anblick dieser Frau – oder vielmehr dieser schwarzverschleierten Statue – beeindruckte und überraschte den Spanier so, daß er auf der Schwelle des Saales innehielt und nur zögernden Schrittes näher trat, während das Siegerlächeln, das er bei seinem Eintritt aufgesetzt hatte, wie eine Kerzenflamme, die man ausbläst, von seinem Gesicht verschwand.

Vor Cathérine angekommen, verneigte er sich fast bis zum Boden, ohne sich jedoch einen schnellen Blick auf die junge Frau von unten zu versagen.

»Madame«, sagte er mit verhaltener Stimme, »ich danke Euch für die Augenblicke, die Ihr mir liebenswürdigerweise gewähren wollt. Aber ich möchte mit Euch gern unter vier Augen sprechen.«

»Messire, Ihr versteht, daß ich Euch nicht willkommen heißen kann, ehe ich weiß, was Euch herführt. Außerdem habe ich vor Dame Sara, die mich aufgezogen hat, und vor Bruder Etienne Chariot, meinem Beichtvater, keine Geheimnisse.«

Der Mönch unterdrückte ein Lächeln über diese offenkundige Lüge, schmunzelte aber doch, als er merkte, daß der Kastilier ihn mit Mißtrauen betrachtete.

»Ich kenne Bruder Etienne«, murmelte Villa-Andrado. »Monseigneur würde für dieses dicke Fell und die paar grauen Haarsträhnen viel geben!«

Cathérine sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Sie spürte, daß ihr Zornesröte ins Gesicht stieg, und sagte grollend:

»Was immer der Anlaß Eures Besuchs sein mag, Seigneur Villa-Andrado, in jedem Fall scheint es mir eine sehr schlechte Einführung zu sein, diejenigen, die ich verehre und die mir teuer sind, zu beleidigen. Wollt Ihr uns nun bitte ohne jede Ausflucht den Grund Eures Besuches nennen!«

Rodrigo hatte sich seinerseits wieder erhoben, und trotz der beiden Thronstufen befand sich sein Gesicht fast auf gleicher Höhe mit dem Cathérines. Sein zornfunkelnder Blick versuchte unverschämterweise, das Bollwerk des schwarzen Schleiers zu durchdringen. Aber er zwang sich zu lächeln.

»Tatsächlich eine sehr schlechte Einleitung, und ich bitte Euch vielmals um Vergebung. Daß ich mit den besten Absichten hierhergekommen bin, werdet Ihr sogleich selbst beurteilen können.«

Langsam setzte sich die junge Frau wieder, unterließ es jedoch, dem Besucher, von dem sie noch nicht wußte, ob er als Freund oder Feind kam, einen Stuhl anzubieten. Er sprach von guten Absichten. Das war nach allem möglich, wenn man sich an den Lebensmittelkorb in der Höhle erinnerte, wohingegen die rauchenden Trümmer von Montsalvy Mißtrauen erregten. War dieses breite Lächeln nicht das des Wolfs?

»Sprecht!« sagte sie nur.

»Schöne Gräfin«, begann er, ein Knie bis zur ersten Stufe vorbeugend, »das Gerücht von Eurem Unglück ist bis zu mir gedrungen, und mein Herz ist gerührt. So jung … so schön und mit der Bürde eines Kindes beladen, könnt Ihr nicht ohne Schutz, ohne Verteidiger bleiben. Ihr braucht einen Arm, ein Herz …«

»In diesem Schloß mangelt es nicht an Armen … auch nicht an treuen Herzen, die mich und meinen Sohn bewachen«, unterbrach ihn Cathérine. »Ich verstehe nicht recht, Seigneur. Drückt Euch klarer aus!«

Flüchtige Röte überzog das olivfarbene Gesicht des Kastiliers. Er preßte die Lippen zusammen, doch es gelang ihm noch einmal, seinen aufsteigenden Zorn zu zähmen.

»Sei es denn! Ich werde mich so klar ausdrücken, wie Ihr es wünscht. Dame Cathérine, ich bin gekommen, um Euch dies zu sagen: Durch die Gnade König Karls von Frankreich, dem ich treu diene …«

»Hmmm!« hüstelte Bruder Etienne.

»Treu diene!« donnerte der Spanier. »Durch die Gnade auch meines Lehnsherrn, Königs Juan II. von Kastilien, bin ich Seigneur von Talmont, Graf von Ribadeo in Kastilien …«

»Bah!« unterbrach der Mönch liebenswürdig. »König Juan II. hat Euch nur gegeben, was Euch ohnehin zustand. Euer Großvater, der einst die Schwester des Stammlers von Villaines heiratete, war bereits Graf von Ribadeo, nicht wahr? Und was die Seigneurie von Talmont betrifft, so mache ich Euch mein Kompliment. Der Großkämmerer ist großzügig denen gegenüber, die ihm gut dienen … besonders mit dem, was ihm nicht gehört!«

Durch eine ungeheure Anstrengung brachte Villa-Andrado es fertig, die Unterbrechung zu ignorieren, aber Cathérine sah, wie seine Schläfen anschwollen, und glaubte einen Augenblick, er würde bersten.

Aber es geschah nichts. Der Kastilier begnügte sich, zwei- oder dreimal schnell und tief zu atmen.

»Wie dem auch sei«, fuhr er mit zusammengepreßten Zähnen fort, »ich bin gekommen, um Euch diese Titel und Güter zu Füßen zu legen, Dame Cathérine. Die Trauerschleier passen nicht zu Eurer großen Schönheit. Ihr seid Witwe, ich bin frei, reich, mächtig … und ich liebe Euch. Heiratet mich!«

So gewappnet sie gegen jede Überraschung war, zuckte Cathérine doch heftig zusammen. Ihr Blick war verstört, sie rang nervös die Hände.

»Ihr bittet mich …«

»Meine Frau zu werden! Ihr werdet in mir einen Gatten, einen unterwürfigen Sklaven haben, einen tapferen Arm zur Verteidigung Eurer Sache. Und Euer Sohn wird einen Vater finden …«

Die Erwähnung ihres kleinen Michel brachte Cathérine in Wallung. Daß dieser Mann es wagte, Arnaud als Vater seines Kindes ersetzen zu wollen, und daß dieser Mann eben der war, welcher … Nein! Das war unerträglich! Bebend vor Zorn, hob sie mit einer brüsken Bewegung den Schleier, unter dem sie beinahe zu ersticken drohte, und bot den Blicken Villa-Andrados ihr schmales, blasses Gesicht dar, in dem die großen veilchenblauen Augen wie Amethyste in der Sonne blitzten. Sie packte fest die beiden Armlehnen ihres Sessels, unwillkürlich eine Stütze suchend.

»Messire, Ihr beliebtet zu sagen, ich sei Witwe. Tatsächlich trage ich Witwenkleidung; aber nehmt Kenntnis davon, daß ich mich niemals als Witwe betrachten werde. Für mich lebt mein vielgeliebter Gatte und wird so lange leben, wie ich atmen werde. Aber Ihr wäret der letzte, jawohl, der letzte, den ich als seinen Nachfolger wählen würde!«

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Holt Euch die Antwort aus den Ruinen von Montsalvy, Messire. Was mich betrifft, so habe ich Euch gesagt, was ich zu sagen hatte. Ich wünsche Euch einen guten Tag.«

Sie stand auf, um anzudeuten, daß die Unterhaltung beendet sei, aber ein zweideutiges Lächeln stahl sich auf die roten Lippen des Kastiliers.

»Anscheinend habt Ihr mich falsch verstanden, Madame. Ich habe Euch meine Hand angetragen … aus reiner Höflichkeit, aber tatsächlich müßt Ihr mich heiraten. Es ist ein Befehl.«

»Ein Befehl? Was für ein seltsames Wort. Von wem, bitte?«

»Was glaubt Ihr wohl, von wem? Von König Karl, Madame! Seine Majestät haben auf Grund der Vorstellungen des Großkämmerers La Trémoille geruht, den Schaden zu vergessen, den Ihr voll Feuereifer in Gemeinschaft mit Eurem Gatten der Krone zugefügt habt, unter der Bedingung, daß Ihr, indem Ihr meine Frau werdet, wieder in den Rang der unterwürfigen Ehefrauen eintretet … und in den Rahmen eines schicklichen Lebens!«

Das blasse Gesicht Cathérines färbte sich rosa, dann rot, dann scharlachrot unter dem Druck eines solchen Zorns, daß Sara ihr erschrocken die Hand auf den Arm legte, um sie zu beruhigen. Doch Cathérine, wahnsinnig vor Wut, war jenseits jeder Beruhigung. Stand es denn im großen Buch des Schicksals geschrieben, daß ein Fürst stets und nach Belieben über sie verfügen konnte? Nach dem Herzog von Burgund der König von Frankreich! Mit geballten Fäusten und unter größter Anstrengung, ihre Stimme ruhig zu halten, rief sie aus:

»Ich habe selten einen unverschämteren Schurken als Euch gehört, Messire! Wenn ich Euch trotz Eurer Freveltaten zum Dank für einige Lebensmittel bisher ein nachsichtiges Andenken bewahrte, dann habt Ihr es heute dazu gebracht, daß ich dies bitter bereue. Nicht zufrieden damit, meinen Gatten aus dem Wege zu schaffen, trachtet La Trémoille also danach, auch über mich zu verfügen? Ich möchte gern wissen, wie Ihr mich zwingen wollt, Seigneur? Denn natürlich habt Ihr diese Eventualität einkalkuliert?«

»Die von mir geführte Armee«, erwiderte der Spanier mit beleidigender Herablassung, »zeigt Euch deutlich den Preis, den ich Eurer Hand beimesse. Ich habe tausend Mann unter den Mauern von Carlat, Madame … und wenn Ihr ablehnt, werde ich die Belagerung über diesen Maulwurfshügel verhängen, bis Ihr um Gnade fleht.«

»Das kann lange dauern.«

»Ich habe Zeit … und es würde mich sehr wundern, wenn Ihr für viele Monate verproviantiert wäret. Ihr werdet nicht umhin können, Madame, Euren Sohn Hungers sterben zu sehen, und zwar in nicht allzu langer Zeit.«

Cathérine unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Er wußte nichts von der Abreise Michels, und es war wichtig, daß er noch lange nichts davon erfuhr. Aber sie verbarg ihre Gefühle unter einem Schulterzucken.

»Das Schloß ist fest, seine Verteidiger sind tapfer. Ihr verschwendet Eure Zeit, Messire!«

»Und Ihr würdet Euch dummerweise das beste Gut der Welt entgehen lassen. Ihr würdet besser fahren, Madame, meinen Antrag anzunehmen, da Ihr schließlich doch nachgeben müßt. Bedenkt, daß ich Eurer schönen Augen wegen einen sehr schmeichelhaften Antrag ausgeschlagen habe, nämlich die Hand Madame Marguerites, Tochter Monseigneurs, des Herzogs von Bourbon …«

»Tochter … zur linken Hand!« warf Bruder Etienne überfreundlich ein.

»Das Blut bleibt Fürstenblut! Andererseits ist Euer Gouverneur Schotte, Dame Cathérine. Die Schotten sind arm, Hungerleider und Geizhälse … und lieben das Gold über alles …«

Es blieb ihm keine Zeit, den Satz zu vollenden. Ganz in ihren Wortwechsel vertieft, hatten weder er noch Cathérine bemerkt, daß Kennedy, von Gauthier gefolgt, in den Saal getreten war. Erst als der Schotte sich auf den Spanier stürzte, wurde man seiner Anwesenheit gewahr. Mit einem Wutschrei packte Kennedy Villa-Andrado am Kragen seiner Rüstung und am Hosenboden, hob ihn halb über den Boden und beförderte den Heulenden und Schimpfenden derart bis zur Tür.

»Es gibt etwas, was die Schotten noch mehr lieben als das Gold, Meister Schacher, und das ist ihre Ehre! Richtet das Eurem Herrn aus!« schrie er wütend.

Mit verdrießlicher Miene, weil man ihm ein so kümmerliches Wild übriggelassen hatte, nahm nun Gauthier den Pagen unter den Arm und tat genau das gleiche, was sein zorniger Gouverneur ihm vorgemacht hatte. Als beide verschwunden waren, wandte sich Bruder Etienne mit einem gütigen Lächeln an Cathérine, die immer noch zitterte:

»Nun, Madame, das hat Euch eine Antwort erspart. Was haltet Ihr von der Sache?«

Sie sagte nichts, blickte ihn nur an, schämte sich, sich einzugestehen, daß sie zum erstenmal seit langem Lust hatte zu lachen. Den Anblick des wie eine rote Spinne in den Fäusten des schottischen Feldhauptmanns zappelnden Villa-Andrado würde sie nie vergessen.

Zweites Kapitel

Als der Abend kam, war dieser erheiternde Zwischenfall schon vergessen. In dem hohen Raum des Schloßturms, in dem Kennedy kurz nach dem Tod des alten Jean de Cabanes vor drei Monaten sein Quartier eingerichtet hatte, waren Cathérine, Sara, Gauthier, Bruder Etienne, Hugh Kennedy und der Seneschall von Carlat, ein Gaskogner namens Cabriac, der diesen Posten seit zehn Jahren bekleidete, versammelt. Er war ein rundlicher Mann, einfach und gutmütig, der nichts mehr als seine Ruhe liebte. Ohne Ehrgeiz, hatte er nie nach dem Gouverneursposten der Festung getrachtet, fand es unendlich bequemer, diese Verantwortung auf kriegerischeren Schultern ruhen zu sehen als den seinen. Aber er kannte die Feste und ihre Umgebung wie kein zweiter.

Sobald der kurze, winterliche Tag jäh zu Ende gegangen war wie eine Kerze, die man ausbläst, waren alle zum Verschlag des Ausgucks hinaufgestiegen, um die Stellungen des Feindes zu beobachten.

Villa-Andrados Landsknechte richteten sich ein. Zelte aus dicker Sackleinwand wuchsen empor wie ebenso viele giftige Pilze, die durch den weißen Mantel des Schnees stachen. Eine Anzahl Soldaten nahm von den Häusern des Dorfs Besitz. Die entsetzten Bauern waren geflohen und hatten hinter den gewaltigen Mauern der Festung Zuflucht gesucht. Man hatte sie überall ein wenig verteilt, da und dort, wo Platz war, in der alten Komturei, in den geräumigen Scheunen und in den Ställen. Innerhalb der Umwallung des Schlosses gab das ein Tohuwabohu wie auf einem Wochenmarkt, denn die Tiere waren ihren Besitzern gefolgt. Und jetzt, nach Einbruch der Nacht, bildete das Lager der Angreifer um den riesigen Felsen einen Kranz, dessen Feuer leuchtenden Blumen glichen. Rote, rauchumwölkte Flammen tupften die tiefschwarze Nacht, erhellten flüchtig da und dort verzerrte, von der Kälte blau angelaufene Fratzen, die nichts Menschliches mehr hatten, über den Mauerkranz des Schloßturms gebeugt, schien es Cathérine, als blicke sie in einen höllischen, von Dämonen bevölkerten Abgrund hinab. Dieser Anblick hatte Kennedys Optimismus beträchtlich verringert. Er hatte die drohenden roten Zangen sich um Carlat schließen sehen.

»Was sollen wir jetzt tun, Messire?« fragte Cathérine. Er wandte ihr sein stolzes Doggengesicht zu und zuckte die Schultern.

»Zur Stunde, Madame, mache ich mir über uns weniger Sorgen als über MacLaren. Wir sind so gut wie eingeschlossen. Wie soll er morgen wieder zu uns stoßen, wenn er von Montsalvy zurückkommt? Er wird diesen Leuten direkt in die Arme laufen, und sie werden ihn gefangennehmen … oder schlimmer! Villa-Andrado schreckt vor nichts zurück, um Euch zur Kapitulation zu zwingen. Man wird ihm Fragen stellen … mit allen unangenehmen Nebenerscheinungen, die dieses Wort bei dem Kastilier einschließt. Unser Feind wird wissen wollen, wo er herkommt.«

Cathérine spürte, daß sie blaß wurde. Wenn MacLaren, gefangengenommen, unter der Folter sprach, würde der Spanier wissen, wo er Michel finden konnte.

Und welch sichereres Unterpfand gäbe es als das Baby, um die Mutter zur Räson zu bringen? Um ihren Sohn vor den Klauen Villa-Andrados zu retten, würde Cathérine, das wußte sie wohl, alles akzeptieren.

»Also«, sagte sie mit müder Stimme, »ich wiederhole meine Frage. Messire Kennedy, was sollen wir tun?«

»Zum Teufel, ich weiß es nicht!«

»Ein Mann«, ließ Bruder Etienne sich ruhig vernehmen, »müßte heute nacht von Carlat ausgesandt werden und in Richtung Montsalvy marschieren, so daß er sie morgen träfe und sie warnen könnte. Das ganze Problem besteht darin, einen Mann durchzuschleusen. Mir scheint, daß die Einschließung der Feste noch nicht vollkommen ist. Dort drüben, jenseits der Nordmauer, gibt es eine breite Stelle, wo ich kein Feuer leuchten sehe.«

Kennedy hob ungeduldig die schweren, lederbekleideten Schultern.

»Habt Ihr Euch noch nie den Felsen an dieser Stelle angesehen? Ein glattes schwarzes Riff, das senkrecht zum Tal abfällt und durch den Wall darüber noch beträchtlich erhöht wird. Man müßte ein verdammt langes Seil und ungeheuren Mut haben, um da hinunterzusteigen, ohne sich den Hals zu brechen.«

»Ich würde es gern wagen«, sagte Gauthier, in den vom Kaminfeuer erhellten Kreis vortretend.

Cathérine öffnete schon den Mund, um zu protestieren, als der Seneschall ihr zuvorkam.

»Ein Seil ist gar nicht nötig, weder für das Mauerwerk noch für den Felsen … Es gibt eine Treppe!«

Sofort richteten sich alle Blicke auf ihn. Kennedy packte ihn an der Schulter, um ihn besser ins Auge fassen zu können.

»Eine Treppe? Träumst du?«

»O nein, Messire. Eine richtige, in den Felsen geschlagene Treppe, natürlich sehr schmal. Sie beginnt im Innern eines der Türme. Nur der alte Sire von Cabanes und ich kennen sie. Escorneboeuf ist auf diesem Wege geflohen, Dame Cathérine, damals, als …«

Cathérine erinnerte sich mit Schaudern an den Tag, an dem in diesem selben Turm der gaskognische Haudegen versucht hatte, sie ins Verlies zu stürzen. Manchmal sah sie in ihren Alpträumen das rote, schwitzende Gesicht des groben Sergeanten wieder, in dessen Augen Mordlust funkelte.

»Wieso kannte er das Geheimnis?« stieß sie hervor.

Der kleine Seneschall senkte den Kopf und drehte die Kappe in den Händen.

»Wir … wir stammten aus derselben Gegend der Gascogne«, stammelte er. »Ich wollte nicht, daß er aus diesem Grunde zu Tode käme.«

Cathérine enthielt sich einer Antwort. Dies war nicht der Augenblick, von diesem Mann, der eine so wertvolle Auskunft gegeben hatte, Rechenschaft dafür zu fordern, daß er einen Mörder beschützt hatte. Kennedy, der in tiefes Sinnen versunken war, hätte es sowieso nicht geduldet. Mit gekreuzten Armen, den Kopf auf eine Schulter geneigt, starrte er völlig ausdruckslos ins Feuer. Mechanisch fragte er, ob die Treppe für Frauen benutzbar sei, und als dies bejaht wurde:

»Gut, wir werden es noch besser machen. Man muß von der Tatsache profitieren, daß Villa-Andrado noch nicht die Möglichkeit gehabt hat, das Schloß ganz einzuschließen. Vermutlich hält er es in Anbetracht der Höhe der Nordwand auch nicht für so dringlich; aber er kann seine Meinung schon morgen ändern. Wir haben also keine bessere Chance als heute nacht. Dame Cathérine, bereitet Euch auf den Aufbruch vor.«

Leichte Röte stieg der jungen Frau in die Wangen, und sie preßte die Hände gegeneinander.

»Soll ich allein gehen?« fragte sie einfach.

»Nein. Sara, Bruder Etienne und Gauthier werden Euch selbstverständlich begleiten. Gauthier wird Euch außerhalb Carlats vorübergehend verlassen und, während Ihr in Aurillac auf ihn wartet, Mac-Laren treffen. Er wird ihm den Befehl überbringen, sich mit seinen Leuten zu Euch zu begeben und Euch für den Rest Eurer Reise als Eskorte zu dienen.«

»Und Ihr, was tut Ihr inzwischen?«

Der Schotte hatte ein lustiges, schallendes Lachen an sich, das die gespannte Atmosphäre in dem hohen, gewölbten Raum wie durch ein Wunder vertrieb. Mit diesem Lachen entflohen alle Dämonen der Furcht und Angst.

»Ich? Ich werde in aller Ruhe noch einige Tage hierbleiben, um Villa-Andrado zu amüsieren. Ich muß ja warten, bis der neue Gouverneur eintrifft, der jedoch nicht kommen kann, solange Carlat eingeschlossen ist. In einigen Tagen, just so lange, wie Ihr braucht, um Euch einen schönen Vorsprung im Falle einer eventuellen Verfolgung zu verschaffen, werde ich Villa-Andrado rufen lassen und ihm freundlichst klarmachen, daß Ihr das Weite gesucht habt. Worauf er, da er nichts mehr zu erhoffen hat, verschwinden wird. Mir bleibt dann nur noch übrig, meine Machtbefugnisse meinem Nachfolger zu übergeben und die Koffer zu packen.«

Bruder Etienne näherte sich Cathérine und nahm die kalten Hände der jungen Frau in die seinen.

»Was haltet Ihr davon, mein Kind? Ich finde, der Feldhauptmann hat sehr klug gesprochen.«

Diesmal lächelte Cathérine wirklich ganz offen, ein schönes, warmes Lächeln, mit dem sie den kleinen Mönch und zum Schluß auch noch den großen Schotten bedachte, der vor Erregung plötzlich rot anlief.

»Ich glaube«, sagte sie leise, »der Plan ist gut. Ich werde mich jetzt vorbereiten. Komm, Sara! Messire Kennedy, ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir Männerkleidung besorgen würdet, auch für Sara.«

Diese stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hatte einen Horror vor Männerkleidung, die ihre rundlichen Formen stets lästig einzwängte. Doch die Zeit der Abenteuer war offenbar noch nicht vorüber, und man mußte sich in Ermangelung eines Besseren eben ins Unvermeidliche schicken.

Einige Minuten später betrachtete Cathérine in ihrem Zimmer einigermaßen erstaunt die Kleidungsstücke, die Kennedy ihr geschickt hatte. Der schottische Hauptmann hatte sie von seinem Pagen geliehen. Es war die übliche Männerkleidung seines Landes, allerdings mit einer kleinen Abweichung. Die rauhen Gebirgler der Hochebenen, an ein unfreundliches Klima gewöhnt, hatten eine zähe, lederartig gegerbte Haut. Ihre gewohnheitsmäßige Kleidung bestand aus einem in den Farben ihres Clans karierten großen Stück Wollstoff, in das sie sich hüllten, aus einer Flanelljacke und einem Panzerhemd. Eine verzierte Eisenbrosche hielt das Gewand an der Schulter fest. Als Kopfbedeckung dienten ihnen konische Helme oder flache, mit Reiherfedern geschmückte Mützen, und sie gingen mit nackten Beinen und manchmal sogar barfuß. Bei König Karl VII. unter dem sie von dem Konnetabel John Stuart Buchan aufgestellt wurde, trug die berühmte Schottische Garde Silberharnische und prunkvolle Reiherfederbüsche, doch im Feld griff sie gern auf ihre traditionelle Kleidung zurück, in der sie sich am wohlsten fühlte.

Daher hatte Kennedy Cathérine einen Tartan in den Farben des Kennedy-Clans-Grün, Blau, Rot und Gelb-, einen enganliegenden roten Mannsrock und eine blaue Mütze, kurze, feste Lederstiefel und einen Ziegenfellbeutel geschickt. Als einzige Konzession an die Temperatur hatte er enganliegende Hosen aus demselben Blau wie die Mütze und einen großen schwarzen Reitermantel beigefügt.

»Wenn Ihr Euch mit MacLaren trefft, werdet Ihr als sein Page gelten«, hatte der Hauptmann zu ihr gesagt, »und auf diese Weise werdet Ihr Euch nicht vom Rest der Truppe unterscheiden.«

Er hatte noch einen zweiten Anzug derselben Art, aber beträchtlich größer und weniger elegant, für Sara mitgeschickt. Die Zigeunerin hatte sich anfangs kategorisch geweigert, sich derartig albern auszustaffieren.

»Man kann auch fliehen, ohne sich lächerlich zu machen!« erklärte sie. »Wie sehe ich denn in diesem geschmacklosen Plunder aus?«

»Wie sehe ich aus?« erwiderte Cathérine leise, die, kaum daß die Tür hinter dem Boten Kennedys zugefallen war, sich entkleidet und den seltsamen Anzug angelegt hatte. Dann hatte sie ihre zerzausten blonden Locken zurückgestrichen, die Mütze aufgesetzt und sich vor einem großen, polierten Zinnspiegel niedergelassen, die Faust in die Hüfte gestemmt und sich mit kritischen Augen betrachtet. Ein Glück, daß sie so dünn war, denn diese kräftigen Farben machten sie dicker, und sie hätte Schwarz hundertmal vorgezogen und wäre dabei noch ihrem Gelübde treu geblieben, nie mehr etwas anderes zu tragen als Schwarz oder Weiß. Diese Nacht jedoch war eine Ausnahme, ein Fall von höherer Gewalt, da es nicht möglich gewesen war, schwarze Männerkleidung aufzutreiben, die ihr paßte. Trotz allem empfand sie einen Schauer des Vergnügens. Dieses bizarre Kostüm verlieh ihr das Aussehen eines Tollkopfs, eines jungen Pagen mit zu hübschem Gesicht. Sie drehte sich eine Haarsträhne um den Finger. Das Haar schien um einen Ton dunkler nachzuwachsen. Sein glänzendes Gold bronzierte leicht und hatte eine weniger leuchtende, aber dafür wärmere Farbe, die ihren zarten Teint und ihre großen dunklen Augen noch mehr hervortreten ließ. Sara, die sie schweigend beobachtete, brummte bärbeißig:

»Es ist einfach nicht statthaft, so schön zu sein! Ich fürchte, der Spiegel wird mir kein so gelungenes Bild zurückwerfen!«

Tatsächlich bot Sara, abgesehen davon, daß sie ihr dichtes schwarzes Haar unter die Mütze stopfen mußte, in diesem Aufzug einen unwiderstehlich komischen Anblick.

»Du mußt die Schärpe um die Brust drapieren«, riet Cathérine. »Man sieht zu deutlich, daß du eine Frau bist!«

Sie hatte das gleiche bei sich getan, obwohl sie ihre Brüste vorsichtshalber umbunden hatte, bevor sie in das Wams geschlüpft war. Als sie eben dabei war, den schwarzen Diamanten und einen Teil des Geschmeides in ihrem Ziegenfellbeutel verschwinden zu lassen – den Rest würde Sara tragen –, klopfte jemand an die Tür.

»Seid Ihr bereit?« fragte die Stimme Kennedys.

»Müssen wir wohl!« brummte Sara, die Schultern hochziehend.

»Tretet ein«, sagte Cathérine. Auf der Schwelle zeigte sich die Gestalt des Schotten. Er lächelte.

»Was für einen schönen Pagen Ihr abgebt!« bemerkte er, sichtbar beeindruckt. Aber Cathérine lächelte nicht.

»Diese Maskerade gefällt mir gar nicht. Ich habe ein Bündel aus meinen Kleidern gemacht und werde sie anlegen, sobald es möglich ist. Alsdann, gehen wir …«

Bevor Cathérine das Zimmer verließ, in dem sie ihre letzten Glücksstunden und ihr Golgatha erlebt hatte, überflog sie es mit einem letzten Blick. Es schien ihr, als bewahrten die schmucklosen Wände den Reflex des Lächelns Arnauds und das Echo von Michels Lachen. Sie entdeckte, daß sie ihr teuer geworden waren, und sie fühlte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Aber sie ließ sich von dieser Anwandlung nicht überwältigen. In diesem Augenblick brauchte sie ihren ganzen Mut und kaltes Blut. Entschlossen drehte sie dem so vertrauten Raum den Rücken zu und legte die Hand auf den langen Dolch, den sie sich in den Gürtel gesteckt hatte. Es war der Dolch mit dem Sperbergriff, mit dem Arnaud Marie de Comborn getötet hatte, und für Cathérine der kostbarste Gegenstand, den sie besaß. Im Vergleich zu seinem bläulich schimmernden Knauf, der so oft von der Hand ihres Gatten erwärmt worden war, war der schwarze Diamant nur ein wertloser Kiesel, und sie hätte ihn ohne Zögern dem anderen geopfert.

Im Hof fand sie Kennedy vor, der sie, eine Blendlaterne in der Hand, erwartete. Gauthier und Bruder Etienne standen bei ihm. Ohne ein Wort zu sagen, nahm der Normanne Sara den Kleiderballen ab, den sie trug, dann machte sich der kleine Trupp auf den Weg. Einer hinter dem anderen gingen sie der Umfassungsmauer zu. Die Kälte hatte im Laufe der Nacht zugenommen und war grausam beißend geworden. Von Zeit zu Zeit fegte ein kurzer, heftiger Windstoß weiße Wirbel empor, so daß man in der Mitte des großen Hofs nur gebeugt vorwärts kam. Aber je mehr sie sich den Wällen näherten, desto mehr verloren die Wirbel an Wildheit. Dann und wann durchdrang das Brüllen eines Tiers die Stille oder auch das Schnarchen eines der Flüchtlinge, die, in ihre Decken gehüllt, auf dem nackten Boden nahe am Feuer schliefen.

Trotz des schweren Reitermantels schlotterte Cathérine vor Kälte, als sie dem Turm zuschritt, den Cabriac bezeichnet hatte. Dieser erwartete sie im Innern, mit den Füßen stampfend und sich die Seiten schlagend, um gegen die Kälte anzugehen. Das niedrige, feuchte Gewölbe war wie mit einem Mantel aus schwärzlichem, glänzendem Eis überzogen, von dem Brocken auf ihre Schultern herabfielen.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Cabriac. »Der Mond wird bald aufgehen, und Ihr werdet auf der Schneefläche unten wie am hellichten Tag zu sehen sein. Der Kastilier hat sicher überall Wächter aufgestellt.«

»Aber«, wandte Cathérine ein, »wie sollen wir durch die Palisaden kommen, die am Felsen entlanglaufen?«

»Das geht mich an«, sagte Gauthier. »Kommt, Dame Cathérine. Der Herr Seneschall hat recht. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«

Er nahm schon ihren Arm, um sie in das schwarze Loch der Treppe zu ziehen, das Cabriac, eine unter fauligem Stroh verborgene Falltür hebend, freigelegt hatte. Aber Cathérine sträubte sich, drehte sich zu Kennedy um und reichte ihm spontan die Hand.

»Vielen, vielen Dank für alles, Messire Hugh. Dank für Eure Liebenswürdigkeit, für den Schutz, den ihr mir gegeben habt. Ich werde die hier verbrachten Tage nie vergessen. Dank Euch … haben sie ein wenig von ihrer Grausamkeit verloren. Und ich hoffe, Euch bald bei Königin Yolande wiederzusehen.«

Im unsicheren Licht der Laterne sah sie das große Gesicht des Schotten aufleuchten und seine weißen Zähne blitzen.

»Wenn's nur von mir abhängt, Dame Cathérine, wird's schon in kurzer Zeit sein. Aber niemand weiß, was morgen in seinem Leben sein wird. Wie es so oft in dieser Welt geht, sehe ich Euch vielleicht niemals wieder …«

Seinen Satz in der Schwebe lassend, packte er die junge Frau an den Schultern, drückte sie an sich, küßte sie gierig, ehe sie, völlig verblüfft, sich verteidigen konnte, ließ sie ebenso rasch wieder los, lachte dann schallend wie ein Kind auf, das sich einen schönen Spaß gemacht hat, und beendete den angefangenen Satz:

»… und werde nun wenigstens ohne Bedauern sterben! Verzeiht mir, Cathérine, es wird nicht mehr vorkommen … aber ich habe Euch so sehr begehrt!«

Das wurde so freimütig eingestanden, daß Cathérine sich damit begnügte zu lächeln. Sie war, vielleicht mehr, als sie geahnt hatte, für die Wärme dieser ungeschlachten Zärtlichkeit empfänglich, aber Gauthier war erblaßt. Von neuem legte sich seine Hand auf den Arm der jungen Frau.

»Kommt, Dame Cathérine«, sagte er barsch.

Er hob die Laterne und stieg schon die schmale Treppe hinunter. Diesmal folgte ihm Cathérine. Sara kam hinter ihr, und Bruder Etienne bildete den Schluß, während die junge Frau ins Innere des Felsens vordrang, hörte sie ihn dem Schotten Lebewohl sagen und ihn ermahnen, sich ja nicht zu lange in der Auvergne aufzuhalten.

Er fügte hinzu:

»Die Zeit der Kämpfe kehrt wieder. Der Konnetabel wird Euch bald wieder brauchen.«

»Keine Sorge! Ich werde ihn nicht warten lassen!«

Dann hörte Cathérine nichts mehr. Die hohen, ungefügen Stufen, unbeholfen aus dem rohen Stein gehauen, fielen fast senkrecht in einen Felsschlund ab, und die junge Frau mußte genau auf jeden ihrer Schritte achten, um nicht zu straucheln und zu fallen. Dies war um so gefährlicher, als der Frost auch hier sein Unwesen getrieben hatte und jede Stufe gefährlich glitzerte. Als man schließlich das dichte Unterholz erreichte, das den Spalt verdeckte, in den die Treppe mündete, stieß Cathérine einen Seufzer der Erleichterung aus. Dank Gauthier, der die Sträucher für sie auseinanderschob, überwand sie auch dieses leichte Hindernis ohne großen Schaden, aber sie wurde plötzlich gewahr, daß die hohe Palisade aus mächtigen, zugespitzten Pfählen fast unmittelbar an der Felswand entlang verlief, Palisade und Fels bildeten eine Art schmalen und tiefen Schlauchs.

Aus dem Augenwinkel maß Cathérine den schreckenerregenden Holzwall ab.

»Wie kommen wir da hinüber? Am besten, wir klettern wieder nach oben. Die Pfähle sind zu spitz, um ohne Strickleiter hinüberzukommen.«

»Klar«, erwiderte Gauthier ruhig. »Sie sind ja deshalb so gemacht worden.«

Er trat aus dem Gebüsch, das der Treppe als Deckung diente, und begann, nach rechts gehend, die Pfähle zu zählen. Beim siebenten blieb er stehen. Die erstaunte Cathérine sah, wie er den riesigen Baumstamm packte und mit aller Kraft an ihm zerrte. Die Adern schwollen ihm auf der Stirn, während er den unteren Teil des offenbar kunstvoll in der Mitte durchgeschnittenen Stamms keuchend aus seiner Verklammerung riß. Durch die schmale Pforte, die sich damit öffnete, kamen der steile, zum Bach hinunterführende Hang und die zwei oder drei Häuschen des Weilers Cabanes auf dem Abhang gegenüber zum Vorschein. Genau in diesem Augenblick tauchte der Mond zwischen zwei dicken Wolken auf, warf sein bleiches Licht auf die Erde und erhellte die weite Schneefläche. Die Baumstämme und schneebedeckten Sträucher wurden sichtbar wie am hellen Tag. Hinter die Palisade geduckt, betrachteten die Flüchtlinge den reinen weißen Hang, der sich vor ihnen dehnte.

»Wir werden wie Tintenflecke auf einer weißen Seite zu sehen sein«, murmelte Bruder Etienne. »Es braucht bloß einer der Wachtposten den Kopf nach unserer Seite zu wenden, um uns zu entdecken und Alarm zu schlagen.«

Niemand antwortete. Der Mönch hatte sehr deutlich ausgedrückt, was jeder dachte, und Cathérine wurde von Nervosität gepackt.

»Was sollen wir tun? Unsere einzige Chance besteht darin, daß wir in dieser Nacht fliehen, solange die Einschließung noch nicht vollkommen ist. Wenn man uns aber sieht, sind wir schon gefangen.«

Gleichsam um ihr recht zu geben, ließen sich in diesem Moment Stimmen vernehmen, nahe genug, um die unmittelbare Gefahr deutlich zu machen. Gauthier schob vorsichtig den Kopf durch die Öffnung, zog ihn aber fast sofort wieder zurück.

»Der erste Posten ist nur ein paar Klafter entfernt. Etwa zehn Mann … aber auch das wird uns nicht mattsetzen«, fügte er mit leisem Bedauern hinzu. »Das beste ist zu warten.«

»Auf was?« fragte Cathérine nervös. »Auf den Tagesanbruch?«

»Bis der Mond untergeht. Dem Himmel sei Dank, daß der Tag im Winter spät anbricht.«

Sie mußten ausharren in Kälte und Schnee. Den Hals gereckt, das Auge auf die fahle Scheibe des Mondes gerichtet, hielten die vier Gefährten den Atem an. Es war wie verhext: Dicke Wolken zogen von einem Ende zum anderen über den Horizont, aber keiner gelang es, das verräterische Gestirn zu verdunkeln. Cathérines Füße und Hände waren eisig. Das zurückgezogene Leben, das sie in letzter Zeit geführt hatte, hatte sie verletzlicher gemacht, und sie litt mehr als die anderen darunter, so unbeweglich in diesem eisigen Gang verharren zu müssen. Von Zeit zu Zeit rieb Sara ihr kräftig den Rücken, aber das Wohlbefinden, das sie dabei empfand, hielt nicht lange an, ihre Nerven beruhigten sich nicht.

»Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie Gauthier zu. »Wir müssen etwas tun … Schlimmstenfalls setzen wir alles auf eine Karte! Man hört nichts mehr. Sind die Wachen vielleicht eingeschlafen?«

Gauthier spähte von neuem hinaus. Genau in diesem Augenblick wirbelte ein heftiger Windstoß den pulvrigen Schnee zu einem dichten Gestöber auf. Gleichzeitig verschwand der Mond, von einer dicken Wolke verschluckt, vom Himmel. Das Licht wurde viel schwächer. Gauthier warf Cathérine einen raschen Blick zu.

»Könnt Ihr laufen?«

»Ich glaube ja.«

»Also los … Jetzt!«

Er schob sich als erster hinaus, ließ die drei anderen vorbei und brachte, während sie gemeinsam den Abhang durch den Schnee hinunterstapften, die Bohle wieder an ihren Platz. Cathérine lief, so schnell sie konnte, aber ihre eisigen Glieder schmerzten und waren ungelenk. Die Abschüssigkeit unter ihren Füßen war zu beschwerlich, und ihr Herz klopfte wie rasend. Durch ihren Elan fortgerissen, fiel sie über eine Staude, als Gauthier sie einholte und sie ohne Federlesens aufhob.

»Wir müssen schneller laufen«, brummte er, trotz des vermehrten Gewichts den Schritt beschleunigend. Doch über seine Schulter blickend, sah Cathérine plötzlich die Spuren ihrer Schritte sehr deutlich.

»Unsere Spuren … Sie werden sie sehen! Wir müssen sie beseitigen!«

»Dazu haben wir keine Zeit. Hallo, ihr beiden, marschiert einen Augenblick im Wasser, dann tretet da unten bei dieser Baumgruppe wieder hinaus.«

Auch er sprang nun in den nicht tiefen Bach. Die dünne Eisdecke krachte unter seinem Gewicht, und das eisige Wasser spritzte bis zu der vor Kälte erstarrten jungen Frau. Selbst während des kurzen Wegs durch das Bachbett warf Gauthier immer wieder einen Blick zum Mond hinauf. Er verbarg sich noch hinter den Wolken, würde aber nicht mehr lange auf sich warten lassen. Schon war das Licht stärker geworden. Sie kletterten aufs Ufer zurück, wo Gauthier es ihnen angezeigt hatte. Zufällig war ein Tannengehölz in der Nähe. Der Normanne setzte Cathérine auf die Erde und machte sich daran, einen Zweig abzuschneiden.

»Geht hintereinander zum Wäldchen«, sagte er zu den drei anderen. »Ich werde die Spuren verwischen.«

Cathérine, Sara und Bruder Etienne hasteten dem schwarzen Wäldchen zu, während Gauthier, den Zweig hinter sich herziehend, die Spuren verwischte. Die Flüchtlinge warfen sich im selben Augenblick in den dichten Schatten der Bäume, in dem der Mond aus den Wolken trat. Von den Anstrengungen erschöpft, ließen sie sich auf den Stamm eines umgestürzten Baumes sinken, um wieder zu Atem zu kommen. Von da unten zeigte sich ihnen Carlat in seiner ganzen Größe: der Fels wie ein Schiffsbug, von einem riesigen Schloß gekrönt, die befestigten Umwallungen, die Glocken- und Wehrtürme – und an seinem Fuße der drohende Ring der Angreifer. Cathérine dachte dankbar an Hugh Kennedy. Ihm hatte sie es zu verdanken, daß sie aus der Falle geschlüpft und auf dem Weg nach Angers war …

Gauthiers Stimme unterbrach ihre Gedanken.

»Es ist jetzt nicht der Augenblick, auszuruhen und zu träumen! Wir müssen uns vor Tagesanbruch auf den Weg machen. Und die Dämmerung wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.«

Sie setzten sich durch den Wald wieder in Marsch. Zum erstenmal seit langer Zeit stürzte sich Cathérine wieder in die Natur, in die enge Verbindung mit der Erde, dem Wald, die sie so sehr geliebt hatte. Erstaunt entdeckte sie, fast wie eh und je, das Gefühl der Vertrautheit mit den großen Bäumen. Es war nicht das erstemal, daß sie Zuflucht bei ihnen gesucht hatte, und nie hatten sie sie enttäuscht. Das halb im Schnee versunkene Unterholz bot einen unwirklichen Anblick. Die Kälte war hier nicht so empfindlich, und die Tannen, die ihre langen, weißgeschmückten Äste fast bis auf den Boden hängen ließen, strahlten majestätische Ruhe aus. In den Lichtungen funkelten im Mondlicht Tausende winziger Kristalle, und die einfache und süße Stille war die einer schlafenden Landschaft. Die Bosheit der Menschen, der Krieg, die Leiden des Herzens machten hier halt wie auf der Schwelle eines Heiligtums, und Cathérine ertappte sich dabei, daß sie an die Einsiedler dachte, die allein in der Tiefe der großen Wälder leben. Sie entdeckte plötzlich, daß sie sie verstand. Soviel Schönheit konnte jeden Schmerz, jedes Leid mildern und besänftigen. Ihre Müdigkeit, die Kälte, all das war von ihr abgefallen. Vor ihr lief die große Gestalt Gauthiers mit gleichmäßigen Schritten wiegend dahin, und sie befleißigte sich, ihre Füße in die von ihm gemachten tiefen Spuren zu setzen. Die anderen taten dasselbe. Auch der Riese gehörte zum Wald, aus dem er stammte wie jeder seiner Bäume. Hier war er zu Hause, und Cathérine fand sich in dem Vertrauen bestärkt, das sie immer in ihn gesetzt hatte. Doch plötzlich blieb er stehen, spitzte die Ohren und gab den anderen ein Zeichen, sich nicht zu rühren. In der Ferne ließen sich die gellenden Töne einer Trompete vernehmen.

»Wecken, jetzt schon?« fragte Cathérine. »Wird es denn schon Tag?«

»Noch nicht. Und es ist auch nicht das Signal zum Wecken. Wartet einen Augenblick auf mich.«

Im Nu hatte Gauthier den Stamm einer Eiche umklammert, war mit affenartiger Geschwindigkeit hinaufgeklettert und den Augen seiner Freunde entschwunden. Die Trompete klang noch immer gedämpft herüber und gab damit das genaue Maß des bereits zurückgelegten Weges an.

»Kommt es vom Lager her oder vom Schloß?« flüsterte Bruder Etienne.

»Im Schloß würde man keine Ursache haben, die Trompete zu blasen … außer bei einem Angriff«, begann Cathérine. Sie kam nicht weiter. Mit äußerster Schnelligkeit herunterkletternd, fiel Gauthier wie eine Kugel zwischen ihr und dem kleinen Mönch zur Erde.

»Es kommt aus dem Lager! Soldaten rotten sich in der Nähe der Umwallung nördlich des Schlosses zusammen. Sie müssen bei diesem verdammten Mondlicht die Spuren gesehen haben. Ich sah Männer in den Sattel steigen.«

»Was sollen wir tun?« jammerte Sara. »Wir können's an Schnelligkeit nicht mit den Pferden aufnehmen, wenn unsere Spuren hinter dem Bach entdeckt werden.«

»Das ist möglich«, gab Gauthier zu. »Durchaus möglich. Wir müssen uns sofort trennen.«

Cathérine wollte Einwände machen, aber er gebot ihr mit so fester Autorität Schweigen, daß sie nicht daran dachte zu protestieren. War es nicht normal, daß er bei diesem Abenteuer der Führer war? Schon fuhr er fort:

»Bei Tagesanbruch müßten wir es ohnehin tun. Ihr müßt Aurillac erreichen, vergeßt das nicht, Dame Cathérine, während ich mich mit MacLaren treffen werde. Ich werde also gehen, allein … Sie werden meiner Spur folgen.«

»Wenn sie nicht der unseren folgen«, bemerkte Sara.

»Nein. Denn ihr werdet alle drei auf diesen Baum klettern und euch dort verborgen halten … bis unsere Verfolger verschwunden sind. Seid ohne Sorge, und überlaßt es nur mir, sie weit genug wegzulocken, so daß ihr euren Weg ungestört fortsetzen könnt.«

Cathérine schien es, als sei die magische Schönheit des Waldes mit einem Schlag erloschen.

Sich jetzt schon von ihrem Freund zu trennen war unerfreulich genug. Mußte sie ihn zudem noch in Gefahr wissen, sich in der Ungewißheit über sein Ergehen das Herz schwer machen? Geteilte Gefahr ist immer leichter.

»Aber«, murmelte sie gequält, »wenn sie dich einholen, wenn sie dich …«

Sie konnte das Wort nicht aussprechen. Zwei Tränen lösten sich aus ihren Augen und rollten ihr die Wangen hinunter. Das Mondlicht ließ sie glitzern. Tiefe Freude breitete sich über das große Gesicht des Riesen.

»Mich töten?« fragte er leise. »Sie werden mir nichts mehr anhaben können, Dame Cathérine. Ihr habt um mich geweint … mir kann nichts mehr passieren. Tut, was ich sagte. Klettert hinauf!«

Er nahm sie um die Taille und setzte sie, offenbar ohne Anstrengung, auf einen Ast. Danach packte er Sara und dann den kleinen Mönch. Wie sie so Seite an Seite auf dem Ast saßen, hatten sie das verstörte Aussehen dreier erstarrter Spatzen. Gauthier begann zu lachen.

»Ihr seht aus wie eine drollige Nestbrut, wie ihr so dasitzt! Der Baum läßt sich leicht erklettern! Steigt so hoch hinauf, wie ihr könnt, und bemüht euch, kein Geräusch zu machen. Wenn ich richtig schätze, werden die Soldaten in einer Stunde unter euch vorbeiziehen. Steigt nicht herunter, bevor ihr euch nicht überzeugt habt, daß sie sich auch wirklich entfernt haben. Mut!«

Starr vor instinktiver Furcht, sahen sie, wie er sorgsam die Spuren verwischte, die ihren Aufenthalt unter der Eiche hätten verraten können, und sodann in der Richtung, der er folgen wollte, einen deutlich erkennbaren Trampelpfad in den Schnee stampfte; dann verschwand er endlich mit einer großen Abschiedsgebärde eiligst zwischen den Bäumen. Jetzt erst blickten die drei Verlassenen sich an.

»Nun«, sagte Bruder Etienne mit Humor, »ich glaube, wir müssen die uns gegebenen Befehle ausführen. Verzeiht, Dame Cathérine, aber ich werde diese Kutte ein wenig schürzen müssen. Zum Klettern ist sie nicht sehr praktisch.«

Gesagt, getan. Der kleine Mönch nahm seine Kutte hoch und stopfte sie unter den seinen Bauch eng umschließenden Strick, hagere, sehnige Beine enthüllend, an deren Ende seine breiten, nackten Füße in ihren Sandalen riesig schienen. Galant half er Sara, die Äste des Baums hinaufzuklettern. Cathérine fand ihre einstige Behendigkeit plötzlich wieder und kletterte ohne Hilfe. Und bald befanden sie sich auf der Hauptgabelung des Baums. Das dichte Geflecht der Zweige, an denen noch einige rotgelbe, trockene Blätter hängengeblieben waren, verbarg beinah den Boden. Die drei Flüchtigen mußten vollkommen unsichtbar sein.

»Jetzt brauchen wir bloß noch etwas Geduld«, meinte Bruder Etienne ruhig, an den knorrigen Stamm gelehnt. »Ich werde die Gelegenheit benutzen und für den tapferen Jungen den Rosenkranz beten. Ich habe so eine Ahnung, daß er Gebete brauchen kann, auch wenn er nicht daran glaubt.«

Cathérine versuchte, es ihm nachzutun, doch ihr Herz war schwer vor Angst, und ihr Geist folgte Gauthier durch den Wald. Sie wagte nicht, sich auszudenken, welchen Prüfungen sie ausgesetzt wäre, wenn dem Normannen etwas zustoßen würde. Er war ihr jetzt teuer, nachdem er kraft seiner Hingabe und Treue einen Teil ihres Herzens erobert hatte. Wie Sara war er alles, was sie mit der Vergangenheit verband. Seine ruhige Kraft, sein klarer und heller Verstand waren beruhigende Bollwerke gegen das Leben und den Schmerz. Und die junge Frau fühlte sich seltsam entblößt und zerbrechlich, seitdem die hohe Gestalt zwischen den Stämmen verschwunden war.

»Gib, mein Gott, daß ihm nichts geschieht!« betete sie still, den Himmel durch die Zweige suchend. »Wenn du mich meines letzten Freundes beraubst, was bleibt mir dann noch?«

Der Lärm eines reitenden Trupps, klirrender Waffen, menschlicher Stimmen, untermischt mit Hundegebell, näherte sich. Anscheinend hatten die Leute Villa-Andrados den Trampelpfad entdeckt. Bruder Etienne und Sara bekreuzigten sich hastig.

»Da sind sie«, flüsterte der kleine Mönch. »Sie sind da …«

Cathérines Blick glitt wieder zum Himmel. Kein Zweifel: Die Nacht verblaßte schon leicht. Der Tag würde anbrechen. Der Wald regte sich mit unmerklichen Geräuschen, Rascheln und anderen Lauten, die ankündigten, daß er bald erwachen würde.

»Vorausgesetzt, daß …«, begann sie.

Aber sie hielt inne, den Arm Bruder Etiennes packend und drückend. Unter den Bäumen sah sie den Helm eines Bewaffneten schimmern. Die dicke Schneedecke dämpfte die Schritte der Männer, aber die Zweige knackten, wenn sie vorübergingen. Mit großen Degenhieben machten sie sich den Weg frei.

Die Soldaten gingen langsam, sehr langsam weiter, die Nase auf dem Boden: zwanzig Bogenschützen zu Fuß, die Waffe über der Schulter, hinter ihnen zehn Reiter. Es waren Kastilier, und Cathérine verstand ihre Sprache nicht. Aber es wurde allmählich immer heller, und sie konnte schon die olivfarbenen, denkbar beunruhigenden Gesichter mit den lang ausgezogenen schwarzen Schnurrbärten unterscheiden. Mit Entsetzen sah sie, daß einer der Reiter am Sattelbogen einen Rosenkranz aus menschlichen Ohren trug, und unterdrückte einen Schrei. Als fühlte er ihre Anwesenheit, hielt der Mann genau unter der großen Eiche an und stieß einen heiseren Ruf aus. Ein Soldat eilte herbei. Der Reiter sagte etwas zu ihm, und Cathérines Herzschläge setzten aus. Aber der Mann mit der abscheulichen Trophäe wollte nur, daß man den Sattelgurt seines Pferdes fester schnallte, und ritt, nachdem dies geschehen war, weiter. Einige Augenblicke später war niemand mehr unter dem Baum. Ein dreifacher Seufzer entrang sich den Flüchtigen. Bruder Etienne wischte sich über die trotz der Kälte schweißtriefende Stirn und schob seine Kapuze zurück.

»Mein Gott, was habe ich Angst gehabt!« seufzte er. »Bewegen wir uns noch nicht!«

Sie warteten eine Weile, gemäß den Instruktionen, die Gauthier ihnen gegeben hatte. Als sich im Wald nichts mehr hören ließ als der ferne Schrei eines verspäteten Auerhahns, streckte der Mönch seine erstarrten Glieder, gähnte, um die Kinnlade zu lockern, und warf seinen Gefährtinnen ein ermutigendes Lächeln zu.

»Ich glaube, wir können jetzt hinuntersteigen. Diese guten Leute haben den Wald so schön zertrampelt, als sie ringsherum das Unterholz niederhackten, daß unsere Spuren uns wohl kaum verraten werden.«

»Es sieht ganz so aus«, sagte Cathérine und begann, sich von Ast zu Ast hinunterzulassen. »Aber werden wir unsere Richtung finden?«

»Vertraut mir. Zufällig kenne ich dieses Land gut. In meiner Jugend habe ich einige Monate in der Abtei Saint-Géraud d'Aurillac verbracht. Wenn wir direkt auf die Sonne zugehen, müssen wir auf die Priorei Vezac stoßen, wo wir ein wenig Rast machen werden. Die Nacht setzt gegenwärtig früh ein. Sobald sie angebrochen ist, machen wir uns wieder auf den Weg …«

Die ersten Strahlen der fahlen Wintersonne gaben den beiden Frauen neuen Mut. Diese Sonne wärmte zwar nicht, aber ihr Licht war wenigstens tröstlich. Als sie sich wieder am Fuß der Eiche befanden, die ihnen als Zuflucht gedient hatte, mußte Cathérine sogar lachen, wenn sie den seltsamen Anblick bedachte, den ihre ungewöhnliche Kleidung ihnen verlieh.

»Weißt du, wem wir ähnlich sehen?« sagte sie zu Sara. »Gédéon, dem Papagei, den Herzog Philippe mir in Dijon geschenkt hat.«

»Das kann schon sein«, brummte Sara, sich so gut wie möglich in ihr buntfarbiges Plaid hüllend. »Aber es wäre mir hundertmal lieber, wenn ich Gédéon selbst wäre, schön in der Wärme der Kaminecke deines Onkels Mathieu!«

Man setzte sich wieder in Marsch, und bald bewahrheiteten sich die Voraussagen Bruder Etiennes aufs genaueste. Der kurze Kirchturm der Priorei Vezac tauchte auf, als man den Waldrand erreichte, beruhigend und friedlich in den ihn umwogenden dichten Nebel gehüllt.

Im dämmernden Morgen des folgenden Tages langten Cathérine, Bruder Etienne und Sara genau in dem Augenblick vor den Pforten Aurillacs an, in dem sie geöffnet wurden. Ein Horn erklang auf der Umwallung, und schon erfüllte das Getöse der Kupferschmiedehämmer die klare, scharfe Luft, die trotz ihrer Schärfe den widerlichen Geruch der Gerbereien nicht zu verdrängen vermochte. Trotz der Kälte konnte man am Ufer der Jordanne und im Schatten des bemoosten Daches von Notre-Dame des Neiges Männer über merkwürdige, schief geneigte Platten gebeugt sehen, über die das eisige Wasser lief.

»Das Wasser dieses Flusses ist dafür berühmt, daß es Gold mitführt«, erklärte Bruder Etienne. »Diese Männer dort lassen es durch Siebe aus dichtgewebten Tüchern laufen, um die winzigen Körnchen aufzufangen. Seht übrigens, wie man sie bewacht.«

Tatsächlich ließen bewaffnete Posten keine Bewegung der Goldwäscher aus den Augen. Von der Böschung aus, ein paar Schritte von den im reißenden Wasser watenden Arbeitern entfernt, unbeweglich auf ihre Piken gestützt, hielten sie ihre Blicke fest auf die Wäscher gerichtet: magere Gestalten in Lumpen gehüllt, durch deren Löcher die frostblaue Haut zu sehen war. Neben den kräftigen, gut genährten und ausgerüsteten Soldaten boten sie einen trübseligen Anblick, der Cathérines Mitleid weckte. Vor allem einer der Männer im Fluß schien sich nur mit Mühe auf den Beinen zu halten. Er war alt, von den Jahren gebeugt, und seine von der Gicht knotigen Hände hielten das Sieb unter Schmerzen gepackt. Er zitterte vor Kälte und Erschöpfung, was einen der Landsknechte höchlichst zu belustigen schien. Als der Alte versuchte, wieder auf die Böschung zu steigen, gab er ihm mit dem Schaft seiner Lanze einen Schlag, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Mit einem Schrei rollte der Unglückliche in das reißende Wasser und tauchte unter. Einer seiner Kameraden, ein junger, noch kräftiger Bursche, sprang ihm nach, aber die Strömung war so reißend, daß er seinerseits unter dem schallenden Gelächter des Haufens das Gleichgewicht verlor.

Eine Zorneswelle schwoll in Cathérines Herzen. Sie war unfähig, sich so etwas wortlos mit anzusehen. Ihre nervöse Hand griff nach dem Dolch Arnauds in ihrem Gürtel. Ehe Bruder Etienne dazwischentreten konnte, hatte sie ihn gezogen und sprang mit hoch erhobener Klinge auf den Mann mit der Lanze zu. Sie erwog nicht ihre geringen Kräfte, dachte nicht einmal an die Zahl der Bewaffneten. Sie war einfach ihrem Impuls gefolgt, weil sie nicht anders konnte … vielleicht, weil sie nicht mehr mit anzusehen vermochte, daß die Schwachen immer brutal behandelt und unterdrückt wurden.

Im Augenblick hatte sie den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Der Dolch bohrte sich in die Schulter des Soldaten, der aufschrie und, das Gleichgewicht verlierend, zu Boden stürzte; an ihn geklammert wie eine wutfauchende Katze, fiel Cathérine über ihn.

»Du Schweinehund! Dir wird nicht mehr genug Zeit zum Leben bleiben, um noch mehr Greise zu töten!«

Wie der Stachel einer Wespe fuhr ihr Dolch immer wieder aufs Geratewohl auf den Mann nieder, der wie ein abgestochenes Schwein schrie, ohne sich wirkungsvoll verteidigen zu können. Die Wut verlieh der jungen Frau unüberwindliche Kräfte. Doch die anderen Bewaffneten hatten sich bald gefaßt und fielen jetzt gleich einem Fliegenschwarm über sie her.

»Auf den Schotten!« rief einer von ihnen. »Tötet ihn! Tötet ihn!«

Dieser Ruf rettete Cathérine, denn vom anderen Ufer antwortete ihm ein anderer:

»Vorwärts, im Namen Saint-Andrés!«

Die Goldwäscher hatten eben noch Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, über das schäumende Wasser stürmte ein Reitertrupp und fiel mit erhobenen Degen über die Wachen her. Cathérine, bereits von einem Dutzend Fäuste gepackt, kam unversehens frei und sprang auf die Füße. Ihre Hände waren mit Blut verschmiert, und der Mann unter ihr, den sie so heftig angegriffen hatte, atmete nicht mehr. Regungslos, mit weit aufgerissenen Augen gegen den niedrigen Himmel starrend, lag er ausgestreckt auf dem mit Schmutz und Blut besudelten Schnee. Cathérine begriff, daß sie ihn getötet hatte, doch seltsam, sie empfand keine Abscheu, keine Gewissensbisse. Die Wut kochte noch in ihr. Kalt tauchte sie ihren Dolch in die Jordanne und schob ihn wieder in den Gürtel zurück. Dann warf sie einen Blick um sich. Der Kampf zwischen den Wachen von Aurillac und der unerwartet eingetroffenen Hilfe war noch in vollem Gange, näherte sich aber seinem Ende. Im Handgemenge erkannte sie Gauthier, der neben einem großen blonden Schotten kämpfte. Um sie herum fochten etwa zehn Soldaten der Hochebenen energisch: MacLaren und seine Männer. Das Herz ging der jungen Frau vor Freude auf:

»Gott sei gepriesen! Er hat sie wiedergefunden!«

Am Flußufer entlanglaufend, wo die bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehenden Goldwäscher bestürzt und entsetzt zusahen, stieß sie wieder zu Bruder Etienne und Sara, die sich, so gut sie konnten, an einer zerfallenen Mauer in Sicherheit gebracht hatten. Sara stürzte sich auf die junge Frau wie eine Tigerin, die ihr Junges wiedergefunden hat, umarmte sie, bis sie fast erstickte, schluchzte unaufhörlich, dann gab sie ihr mit aller Gewalt eine schallende Ohrfeige.

»Du Wahnsinnige! Willst du, daß ich vor Kummer noch sterbe?«

Cathérine wankte unter dem Schlag und griff sich an die Wange. Sie kochte vor Wut, aber schon warf Sara sich ihr zu Füßen und bat um Verzeihung, Tränenströme vergießend, die das Maß ihrer ausgestandenen Furcht ahnen ließen. Cathérine hob sie auf, drückte sie fest an sich und streichelte den Kopf der armen Frau. Aber ihr Blick kreuzte sich stolz mit dem Bruder Etiennes.

»Ich habe einen Menschen getötet, Pater … und ich bereue es nicht!«

»Wer würde es bereuen?« seufzte der Mönch. »Ich werde meine nächste Messe für die Seele dieses Unglücklichen lesen, wenn eine Messe für einen so schwarzen Geist überhaupt etwas auszurichten vermag. Was Euch betrifft, so erteile ich Euch Absolution.«

Das Gefecht näherte sich seinem Ende. Die Wächter des Flusses lagen jetzt alle auf dem Schnee, verwundet oder tot, und MacLaren sammelte seine Leute. Gauthier sprang vom Pferd und näherte sich mit freudestrahlenden Augen Cathérine.

»Ihr habt nichts abbekommen, Dame Cathérine? Bei Odin, ich glaubte zu träumen, als ich einen kleinen Schotten diesem großen schwarzen Tier an die Kehle springen sah. Aber Ihr seid am Leben, voll und ganz am Leben!«

In seiner Freude hatte er sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie nun, ohne sich allzusehr um seine Körperkräfte zu kümmern, rang mit dem furchtbaren Verlangen, das ihn überkam, sie an sich zu drücken und zu küssen. Doch plötzlich wurde Cathérine unter seinen Händen schlaff. Ein brennendes Gefühl in der Schulter war das einzige, was sie noch von ihrem seltsam haltlos gewordenen Körper wahrnahm. Ihr Kopf drehte sich, während ein schwarzer Schleier den Tag verdunkelte. Die Ohren summten, und sie hörte nur noch eine Stimme, die schalt:

»Dummkopf! Sieh das Blut unter deiner linken Hand! Du siehst doch, daß sie verwundet ist!«

Cathérine spürte, daß man sie jäh losließ, dann fühlte sie gar nichts mehr. Im Eifer des vor kurzem beendeten Kampfes hatte sie nicht einmal bemerkt, daß ihr eine Klinge in die Schulter gedrungen war! Diese glückliche Ohnmacht ersparte ihr zusätzliche Angst. Während Gauthier sie auf die Arme nahm und vorsichtig über den Hals seines Pferdes legte, richtete sich MacLaren in seinen Steigbügeln auf.

»Es ist besser, keine Zeit mehr zu vergeuden«, sagte er. »Ich sehe einen größeren Trupp aus der Abtei herauskommen. In Kürze werden wir sämtliche Soldaten des Abtes auf dem Hals haben. Verschwinden wir!«

»Aber sie braucht Pflege!« rief Sara.

»Sie wird sie später bekommen. Zunächst müssen wir das Weite suchen. Steigt bei zweien meiner Männer hinten auf, Ihr, die Dienerin, und Ihr, der Mönch. Und nun vorwärts!«

Zwei kräftige Schotten beluden sich mit Sara und Bruder Etienne, dann entfernte sich Ian McLarens Trupp, Bogen und Armbrüste über den Rücken, von Aurillac, von den Verwünschungen der herausströmenden Bewaffneten verfolgt. Einige Pfeile und Bolzen umschwirrten sie, trafen aber niemand. Das Lachen des schottischen Leutnants schallte wie ein Donnerschlag.

»Mönchssoldaten, das taugt nicht mehr als Nonnen mit Helmen! Die können besser das Paternoster herunterleiern und die Mädchen aufs Kreuz legen als einen Bogen spannen!«

Cathérines Verwundung war nicht ernst. Eine dünne Klinge war ihr einen Zoll tief in die Schulter gedrungen. Sie hatte ziemlich kräftig geblutet, aber die Wunde schmerzte nicht sehr. Ihre Schulter und ihr Arm waren steif und schwer wie Blei, doch hatte sie im Wind des schnellen Rittes das Bewußtsein rasch wiedererlangt. Sobald MacLaren schätzte, daß sie weit genug entfernt waren, hatte er Halt befohlen. Während seine Leute einen Becher tranken und ein paar Bissen aßen, hatte Sara die junge Frau zur Seite genommen, um sich um ihre Verwundung zu kümmern. Ihre geschickten Hände hatten schnell einen Verband aus einem zerrissenen Hemd aus dem Kleiderballen und ein wenig Balsam aus Hammelfett und Wacholder gemacht, der einem der Schotten gehörte. Dann hatten sie, auch Cathérine, etwas Brot und Käse gegessen und ein paar Schluck Wein getrunken, bis MacLaren wieder das Signal zum Aufbruch gab. Cathérine fühlte sich matt. Die Anstrengungen des nächtlichen Marsches zwischen Vezac und Aurillac zusammen mit dem Schock des kürzlichen Kampfes hatten sie erschöpft. Eine unbändige Schläfrigkeit überfiel sie, und sie hatte unendliche Mühe, die Augen offenzuhalten.

Diesmal stieg sie hinter dem Führer der Eskorte auf. Trotz der wütenden Einwände Gauthiers hatte Ian MacLaren entschieden, daß er sich persönlich um sie kümmern werde.

»Dein Pferd hat an dir schon genug zu tragen«, erklärte er ihm trocken. »Es braucht nicht noch überlastet zu werden!«

»Sie wird sich nicht hinter Euch halten können«, gab der Normanne zurück. »Seht Ihr nicht, daß ihr die Augen zufallen?«

»Ich werde sie festbinden. Im übrigen führe ich hier das Kommando!«

Wohl oder übel mußte Gauthier nachgeben, aber Cathérine hatte flüchtig den zorngeladenen Blick aufgefangen, den er dem jungen Schotten zuwarf und den dieser gar nicht zu bemerken schien. MacLaren gehörte anscheinend zu der Sorte Menschen, denen nie Zweifel über den einzuschlagenden Weg kommen, die sich mit Entschlossenheit für etwas einsetzen und niemals wieder von vorn anfangen, was auch immer die Konsequenzen sein mögen. Nachdem er sie mittels eines Sattelgurtes fest an sich gebunden hatte, ritt er an die Spitze des Zuges.

Die Schotten und die vier Flüchtlinge drangen in das wilde und furchtbare Gebirgsmassiv des Cantal ein.

An MacLarens Rücken gelehnt, überließ sich Cathérine den Schritten des Pferdes. Das einsame Gebirge, seine erloschenen, von Wäldern bedeckten Vulkane und tiefen Felstäler hüllten sie bald mit ihrer Stille ein, die der Winter noch tiefer machte. Die Häuser der seltenen Weiler, die einsamen Sennhütten, die sie sichteten, blieben hermetisch geschlossen, um die Wärme von Mensch und Tier zu bewahren. Allein die dünnen grauen Rauchfahnen, deren flüchtige Arabesken sich gegen das Weiß des Schnees abzeichneten, deuteten an, daß hier Leben war. In den Häuschen aus schwarzer Lava drängten sich die Bauern um ihre kleinen rötlichen, struppigen Kühe, die, wenn der Sommer kam, auf das dichte grüne Gras der Wiesen die roten Farbkleckse ihres Fells setzen würden … Cathérine dachte, daß dieses rauhe Land schön sei, selbst unter dem Schnee, der seine harten Akzente unterstrich.

Ein seltsames Wohlbefinden befiel sie trotz des dumpfen Schmerzes in ihrer Schulter, trotz des Fieberanflugs, der in ihren Adern aufstieg. Der Mann, an den sie gebunden war, teilte ihr seine Wärme mit. Sein kräftiger Körper bot einen festen Schutz gegen den schneidenden Wind. Sie ließ den Kopf gegen seinen Rücken sinken und schloß die Augen. Der seltsame Eindruck überkam sie, als binde sie etwas viel Engeres als der Sattelgurt an diesen Unbekannten … und doch hatte sie MacLaren noch nie wirklich angesehen. Vergraben in ihren hochmütigen Schmerz, in ihre schwarzen Schleier fester eingeschlossen als in ein Kloster, verschwammen die Männer, die Carlat bewachten, und besonders diese von weit her gekommenen Fremden vor ihren Augen, die nur noch das Unsichtbare sahen. Paradoxerweise fand sie unter ihrem Aufputz als junger Bursche zu ihrer wahren weiblichen Natur zurück. Und trotz der verzweifelten, unwiederbringlichen Liebe, die in ihrem Herzen wohnte, hatte sie nicht umhingekonnt, die fremdartige Schönheit MacLarens zu bemerken.

Von hohem Wuchs, grenzte seine Schlankheit an Magerkeit, aber dieser lange Körper hatte die nervöse Biegsamkeit einer Degenklinge. Das hagere Gesicht bot das arrogante Profil eines Raubvogels, ein schmaler Mund und die eckigen Kiefer ließen auf ungeheuren Starrsinn schließen. Die gletscherblauen Augen blickten spöttisch, ohne Zärtlichkeit, waren tief unter den dichten hellen Brauen eingesunken. Das ziemlich lange Haar war von matter Blondheit, fast silbrig, und wenn MacLaren lächelte, hoben sich seine Lippen nur auf einer Seite, ein drolliges Lächeln im Mundwinkel, unverschämt und kurz, das nicht bis zu den Augen vordrang.

Als er eben Cathérine um die Taille gefaßt hatte, um sie auf sein Pferd zu setzen, hatte er sie tief angeblickt. Ein Blick, der sie wie ein Dolch durchbohrte. Und dann hatte er gelächelt, ohne ein Wort zu sagen. Aber vor diesem Unbekannten und seinem kaum merklichen Spott hatte sie sich seltsam entwaffnet gefühlt. Der Blick schien zu bedeuten, daß die Dame Cathérine ohne ihre Trauerschleier eben auch nur eine Frau wie andere Frauen war, eine Frau, die man schließlich erobern konnte. Und Cathérine konnte sich nicht schlüssig werden, ob dieser Eindruck angenehm war oder nicht.

Als man, nachdem es Abend geworden war, in der Scheune eines verschreckten Bauern Rast machte, der das Schwarzbrot und das Stück Ziegenkäse nicht zu verweigern wagte, überkam die junge Frau dasselbe Gefühl. Sara hatte sich so weit wie möglich von den Männern niedergelassen, aber um von dem zwischen drei Steinen angezündeten Feuer Vorteil ziehen zu können, war dieser Abstand nicht sehr groß. Cathérine war erstarrt, todmüde, und die durch den Ritt gereizte Wunde machte ihr zu schaffen. Das Blut klopfte schwer in ihrem Arm und in den Schläfen, doch trotz allem wollte sie versuchen zu schlafen, als MacLaren zu ihr trat.

»Ihr seid krank«, sagte er, ihr seinen hellen, unerträglichen Blick zuwerfend. »Diese Wunde muß anders behandelt werden, als es geschehen ist. Zeigt sie mir.«

»Ich habe alles getan, was zu tun war«, bockte Sara. »Man kann nichts anderes mehr versuchen. Man kann nur auf die Heilung warten.«

»Man sieht, daß Ihr noch nie Verwundungen behandelt habt, die von Bärentatzen herrühren«, entgegnete der Schotte mit seinem kurzen, dünnlippigen Lächeln. »Ich sagte, zeigt mir das!«

»Laßt sie in Ruhe«, sagte hinter ihm die dunkle Stimme Gauthiers. »Ihr werdet Dame Cathérine nicht gegen ihren Wunsch berühren.«

Zwischen dem Feuer und MacLaren erhob sich die hohe Gestalt des Normannen, und Cathérine dachte, wie sehr er einem der Bären ähnelte, von denen der Leutnant eben gesprochen hatte. Sein Gesicht trug einen drohenden Ausdruck, und seine große Hand griff nach der in seinem Gürtel steckenden Streitaxt. Cathérine merkte voll Angst, daß die beiden Männer, im Begriff waren, aufeinander loszugehen. In der Tat antwortete MacLaren verächtlich:

»Du fängst an, mich in Wut zu bringen, Freundchen! Bist du der Schildknappe Dame Cathérines oder ihre Amme? Reg dich nicht auf … Ich will sie nur heilen, sofern du nicht vorziehst, daß ihre Schulter brandig wird.«

»Es geht mir sehr schlecht, Gauthier«, warf Cathérine beschwichtigend ein. »Wenn er etwas tun kann, um mir Linderung zu verschaffen, wäre ich ihm dankbar. Hilf mir, Sara …«

Gauthier antwortete nichts. Er wandte sich auf dem Absatz um und hockte sich mit gebeugtem Rücken in die entlegenste Ecke. Sein Gesicht wirkte wie aus Stein. Inzwischen hatte Cathérine, von Sara gestützt, sich erhoben und wickelte das riesige Stück Wollstoff ab, mit dem sie gleichzeitig bekleidet und drapiert war.

»Dreht euch um!« befahl Sara einigen Soldaten, die noch nicht schliefen.

Sie half ihr aus dem enganliegenden flanellenen Männerrock und dem Panzerhemd, und als Cathérine nur noch die straffen Beinkleider und das rauhe safranfarbene Hemd trug, hieß sie sie, sich wieder zu setzen, und öffnete selbst das Hemd, um die verwundete Schulter frei zu machen. Ein Knie auf dem Boden, wartete MacLaren, aber sein Blick lag unausgesetzt auf Cathérine, die darüber errötete. Die fremden Augen waren frech der Linie ihrer langen Beine, der Kurve ihrer Hüften gefolgt und wanderten hinauf zu ihrer Brust, deren Formen sich trotz des Linnenverbandes, der sie zusammenpreßte, unter dem groben Stoff abzeichneten. Aber sie sagte nichts, ließ sich den Verband abnehmen, während Sara einen angezündeten Strohwisch vom Kohlenfeuer heranbrachte. MacLaren ließ einen kleinen Pfiff hören und runzelte die Stirn. Die Verletzung sah nicht schön aus. Die Wunde war geschwollen und nahm eine fahle Färbung an, die nichts Gutes verhieß.

»Die Infektion ist nicht mehr fern«, brummte er, »aber ich werde das schon hinkriegen. Ich sage Euch gleich, daß es einen Augenblick weh tun wird, aber ich hoffe, daß Ihr tapfer seid.«

Er entfernte sich und kehrte mit einer mit Ziegenhaut umwickelten Kürbisflasche und einem Beutel zurück, dem er etwas Mull entnahm. Dann kniete er von neuem nieder, nahm seinen Dolch und schnitt blitzschnell die Wunde wieder auf. Es geschah so rasch, daß Cathérine nicht einmal Zeit hatte zu schreien. Ein dünnes Blutgerinnsel rann heraus. Darauf feuchtete der Schotte einen Tampon mit der Flüssigkeit aus der Flasche an und machte sich ohne sonderliche Zartheit daran, die Wunde zu säubern.

»Ich mache Euch aufmerksam«, sagte er, bevor er anfing, »es wird brennen!«

Tatsächlich brannte es wie die Hölle. Trotz seiner Warnung preßte Cathérine mit aller Kraft die Zähne zusammen. Sie unterdrückte den Schmerzensschrei, der ihr auf die Lippen drang, ebenso heftig wie die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, aber sie sagte kein Wort. Eine ihrer Tränen fiel auf MacLarens Hand. Er hob die Augen, sah sie mit unerwarteter Zartheit an und lächelte.

»Ihr seid tapfer, das habe ich gleich gesehen. Wir sind fertig.«

»Was habt Ihr da verwendet?« wollte Sara wissen.

»Eine Flüssigkeit, die die Mauren Weingeist nennen und derer sie sich bedienen, um die Kranken zu beleben. Man hat beobachtet, daß sie Entzündungen verhütet, wenn man die Wunden damit wäscht.«

Während er sprach, tat er etwas Salbe auf die Wunde und verband sie dann richtig. Seine Hände waren jetzt von erstaunlicher Sanftheit, und Cathérine vergaß plötzlich ihren Schmerz und hielt den Atem an. Eine Hand glitt von ihrer Schulter in die Höhlung ihres Rückens und verharrte dort in einer Liebkosung, unter der die junge Frau verwirrt fröstelte. Zorn und Scham trieben ihr das Blut in die Wangen. Die Unruhe, die die Berührung dieser Männerhand in ihr auslöste, ließ sie um so mehr schaudern, als sie das Bewußtsein ihrer unterdrückten Jugend in ihr wachrief. Sie hatte geglaubt, ihr Körper sei für immer zum Schweigen gebracht worden, weil ihr Herz keiner Hoffnung mehr fähig war, und in dieser flüchtigen Minute hatte er sie brutal Lügen gestraft.

Sie wandte den Kopf ab, um seinem Blick auszuweichen, der forschend auf ihr lag, und zog ihr Hemd mit einer kalten Bewegung wieder empor.

»Vielen Dank, Messire! Jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Ich werde versuchen zu schlafen.«

Ian MacLaren zog seine Hände zurück, neigte den Kopf, ohne zu antworten, und entfernte sich, während Cathérine, rot bis an die Ohren, unter dem argwöhnischen Blick Saras hastig ihre Kleider wieder anzog und dann aufs Stroh sank. Sie wollte gerade die Augen schließen, als Sara sich zu ihr hinunterbeugte. Der Widerschein des niederbrennenden Feuers ließ die Zähne der Zigeunerin blitzen. Ihre Augen glänzten schadenfroh:

»Meine Kleine«, flüsterte die Zigeunerin, »es genügt nicht, daß man zu leben aufhören will, um alles in einem zu töten. Du wirst noch deine Überraschungen erleben.«

Cathérine zog es vor, nichts darauf zu erwidern. Sie schloß fest die Augen, wünschte sich, alsbald einschlafen zu können und nicht mehr denken zu müssen. Um sie herum erhoben sich die kräftigen Schnarchlaute der Schotten und die zarten, fast melodiösen Bruder Etiennes. Ihnen gesellte sich sehr bald der kräftige und lebhafte Atem Saras hinzu. Dieses seltsame Konzert hinderte Cathérine lange, im Schlaf ihre peinlichen Gedanken zu vergessen. Das Feuer erstarb, warf noch einen schwachen roten Schein und ging dann aus. Die junge Frau lag mit weit geöffneten Augen in der Dunkelheit.

Am anderen Ende der Scheune suchte Gauthier ebenfalls den Schlaf und konnte ihn nicht finden. Draußen war die tiefe, kalte Winternacht, aber der Instinkt des Waldmenschen flüsterte ihm ein, daß der Frühling nicht mehr fern sei.

Drittes Kapitel

Als der Morgen angebrochen war, traf man Vorbereitungen zum Aufbruch. Cathérine fühlte sich besser. Das Fieber schien gefallen zu sein. Sie zog aus ihrem Zustand Nutzen, indem sie MacLaren fragte, ob man ihr nicht ein Reitpferd geben könne. Sie fürchtete jetzt die körperliche Nähe des jungen Schotten während eines langen Rittes. Der Leutnant nahm ihre Bitte mit eisiger Miene auf.

»Wo soll ich ein Reitpferd hernehmen? Ich habe Eurem Normannen das Pferd gegeben, das Eurem Knappen Fortunat diente, nach Montsalvy zu gelangen. Der Mönch und Sara reiten auf der Kruppe der Pferde zweier meiner Männer. Ich kann nicht noch einem anderen das Pferd wegnehmen und einem weiteren Streitroß doppelte Last auferlegen, nur um Euch zu gestatten, Euch nach Belieben im Sattel zu tummeln. Ist es Euch denn so unangenehm, mit mir zu reiten?«

»Nein«, erwiderte sie etwas zu schnell. »Nein … bestimmt nicht … aber ich dachte …«

Er beugte sich ein wenig vor, um zu verhindern, daß jemand hörte, was er sagen würde:

»Ihr habt einfach Angst, weil Ihr wißt, daß Ihr für mich keine mit Schleiern drapierte Statue seid, die man nur aus der Ferne betrachtet, ohne zu wagen, sich ihr zu nähern, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut, die man begehren und der man es sogar ohne Furcht gestehen kann!«

Die schönen Lippen der jungen Frau bogen sich zu einem verächtlichen Lächeln herab, doch ihre Wangen waren merkwürdig gerötet.

»Schmeichelt Euch nicht, Messire, daß ich Eurer Gnade ausgeliefert sei, weil ich schwach und verwundet und fast schutzlos bin. Wenn Ihr damit andeuten wollt, daß Eure Berührung mir etwas ausmachte, dann muß ich Euch enttäuschen, wie Ihr's verdient. In den Sattel also, wenn's beliebt!«

Mit einem Schulterzucken und einem spöttischen Blick schwang er sich aufs Pferd und streckte dann Cathérine die Hand hin, um ihr hinaufzuhelfen. Nachdem sie ihren Platz hinter ihm eingenommen hatte, wollte er den Sattelgurt wieder anschnallen, aber sie weigerte sich.

»Ich bin jetzt viel kräftiger. Ich werde mich aufrecht halten können. Es ist nicht das erstemal, daß ich reite, Messire Ian!«

Er bestand nicht darauf und gab das Zeichen zum Aufbruch. Den ganzen langen Tag verlief der Ritt ohne Zwischenfall. Es war stets die gleiche Einöde, die gleiche gequälte Landschaft. Beim Anblick Bewaffneter flohen die wenigen Bauern, die man traf. Der Krieg hatte diese armen Menschen so schwer getroffen, sie waren so oft gebrandschatzt und ausgeplündert worden, hatten so viel Tränen und Blut vergossen, daß sie sich nicht einmal mehr die Mühe machten herauszufinden, welcher Partei die angehörten, die hier unvermutet auftauchten. Freunde und Feinde waren gleichermaßen unheilvoll, gleich grausam. Der Anblick einer in der Sonne blitzenden Lanze genügte, sie sofort die Türen schließen und die wenigen Fenster verbarrikadieren zu lassen. Man ahnte hinter den stummen Wänden den angehaltenen Atem, das wie rasend klopfende Herz, den Angstschweiß, und Cathérine konnte sich eines Gefühls der Verlegenheit, eines fast körperlich spürbaren Unbehagens nicht erwehren.

Das Pferd, das sie und MacLaren trug, war ein kräftiger Rotschimmel, ein richtiges Schlachtroß, für harte Schläge und den Kampf geschaffen, nicht für Schnelligkeit, nicht für die Flucht durch Wälder oder den langen Galopp über kahle Hochebenen, von Zweigen und Ästen gepeitscht oder vom wirbelnden Wind getrieben. Es war nicht Morgane!

Als sie die kleine Stute in ihrer Erinnerung wachrief, zog sich ihr Herz zusammen. Sie wischte sich sogar zornig eine Träne ab. Albern war sie, sich derart an ein Tier zu binden! Morgane hatte ihretwegen die Ställe Gilles de Rais' verlassen und würde sie ebenso ungeniert für andere Herren verlassen … Trotzdem war diese Vorstellung Cathérine gräßlich. Als sie von Carlat aufgebrochen war, hatte sie Kennedy anbefohlen, auf Morgane aufzupassen; aber würde der schottische Feldhauptmann nichts Besseres zu tun haben, als sich um eine Stute zu kümmern, und sei sie noch so rassig? Von Morgane schweiften Cathérines Gedanken wieder zu Michel, dann zu Arnaud, und der Gram überfiel sie von neuem. Sie hatte sich nie mehr aus Carlat wegrühren wollen, hatte die immer gleichen Jahre an sich vorüberfließen lassen wollen, bis der Tod käme, doch offenbar hatte das Schicksal es anders bestimmt. Für ihren Sohn mußte sie den Daseinskampf wiederaufnehmen, mußte sie sich wieder in den Strom eines Lebens stürzen, das ihr nicht gefiel …

Während Cathérine so ihren Gedanken nachhing, lief der Weg unter den Hufen der Pferde dahin. Auf dem ganzen Ritt wechselte sie kein Wort mit MacLaren. Als der Abend herniedersank, hielt man in Mauriac an. Schwarze Häuser aus zermalmter Lava am Fuße der viereckigen Türme einer romanischen Basilika, ein sehr ärmliches Gotteshaus, Rastort der Pilger von San Jago auf ihrem Weg nach Compostela in Galicien: Cathérine sah nicht viel mehr. Aber sie war glücklich, daß dieses von drei Minoriten unterhaltene fromme Asyl ihr das Zusammensein mit den Soldaten und ganz besonders mit ihrem rätselhaften Führer ersparte. Als er ihr vor dem Gotteshaus aus dem Sattel half, hatte er ihre Taille kräftiger als nötig umfaßt. Die Gebärde war vielsagend, doch kaum hatte die junge Frau den Fuß auf den Boden gesetzt, ließ er sie los, drehte sich wortlos um und ging davon, um das Quartier seiner Soldaten zu inspizieren. Inzwischen hatte Sara sich Cathérine genähert.

»Wie findest du ihn?« fragte sie geradeheraus.

»Und du?«

»Ich weiß nicht. In diesem Mann steckt eine außerordentliche Lebenskraft, ein ungeheures Feuer … und doch möchte ich schwören, daß der Tod hinter ihm auf dem Pferd sitzt.«

Cathérine schauderte.

»Vergißt du, daß ich sein Pferd mit ihm teile?«

»Nein«, erwiderte Sara langsam, »ich vergesse es nicht. Aber es kann sein, daß du etwas mit dem Tod dieses Mannes zu tun hast.«

Um ihre Unruhe zu beschwichtigen, trat Cathérine durch die niedrige Pforte des Gotteshauses. In dem mit runden schwarzen Kieselsteinen gepflasterten Vorraum kam ihr ein Mönch, eine Fackel in der Faust, entgegen.

»Was sucht ihr hier?« fragte er, von der Kleidung der beiden Frauen getäuscht. »Das Quartier der schottischen Soldaten liegt im Hinterhof und …«

»Wir sind Frauen«, unterbrach Cathérine. »Wir reisen in dieser Kleidung, um unerkannt zu bleiben.«

Der Mönch runzelte die Stirn. Sein Gesicht von der gelblichen Farbe alten Pergaments legte sich in tiefe Falten.

»Eine so dreiste Kleidung paßt nicht in das Haus des Herrn. Die Kirche mißbilligt solche Aufmachung. Wenn ihr hier eintreten wollt, so zieht euch die anständige Kleidung an, die eurem Geschlecht zukommt! Wenn nicht, dann geht wieder zu euren Reisegefährten zurück!«

Cathérine zögerte nur wenig. Ohnehin fühlte sie sich in diesem fremden Kostüm nicht wohl. Es verteidigte sie schlecht gegen die Zeit und die Menschen, vielleicht weil sie sich seiner nicht bedienen konnte. Sie riß sich die federgeschmückte Mütze vom Kopf und schüttelte die goldenen Locken.

»Laßt uns eintreten. Sobald wir in einem verschlossenen Zimmer sind, werden wir die Kleidung wieder anziehen, die uns zukommt! Ich bin die Gräfin de Montsalvy und bitte um Asyl für die Nacht.«

Die Falten auf der Stirn des Mönches glätteten sich. Er verneigte sich sogar mit einer gewissen Ehrerbietung.

»Ich werde Euch führen. Seid willkommen, meine Tochter!«

Er führte sie in eines der für Gäste von Rang reservierten Zimmer. Vier Wände, eine große Pritsche mit einer sehr dünnen Matratze, einige schlechte Decken, ein Schemel, eine Öllampe – dies war die ganze Möblierung; doch an der Wand hing ein großes steinernes Kruzifix, mit naiver Kunst gehauen, und im Kamin lag ein Armvoll Holz für die Flamme bereit. Wenigstens würden die beiden Frauen allein sein.

Kaum eingetreten, zündete Sara das Feuer an, während Cathérine sich mit verräterischer Eile der Kleider entledigte, die ihr von Kennedy geliehen worden waren.

»Hast du es denn so eilig?« bemerkte Sara. »Du hättest wenigstens warten können, bis das Zimmer warm ist!«

»Nein. Ich habe Eile, wieder mein Selbst zu sein. Niemand wird es mehr an Achtung fehlen lassen, wenn ich wieder aussehe wie sonst. Und diese verrückte Kleidung mißfällt mir.«

»Hmmm!« sagte Sara ungerührt. »Ich habe das Gefühl, daß du es nötiger hast, dich zu beruhigen, als die anderen zu beeindrucken! übrigens stimme ich dir ganz zu! Du liebst dieses Kostüm nicht, ich aber finde es entsetzlich. In meinem alten Kleid komme ich mir wenigstens nicht grotesk vor.«

Und dem Wort die Tat folgen lassend, begann auch Sara, sich auszuziehen.

Bei Tagesanbruch hörte Cathérine die Messe in der eiskalten Basilika in Begleitung Saras, kniete vor dem ältesten der Gastgebermönche nieder, um seinen Segen zu empfangen, und ging dann wieder zu ihren Reisegefährten. Als MacLaren die schwarzgekleidete Dame von Carlat unter dem Portal der Basilika im Glanz der roten Strahlen der aufgehenden Sonne erblickte, zuckte er heftig zusammen. Eine ärgerliche Furche grub sich zwischen seine hellen Brauen, während dumpfe Freude in Gauthiers grauen Augen glomm. Seit zwei Tagen hatte der Normanne den Mund nicht aufgetan. Er ritt abseits, als letzter des ganzen Trupps, mit gesenkter Stirn und verschlossenem Gesicht, obwohl Cathérine sich bemühte, ihn in ihre Nähe zu rufen. Die junge Frau hatte es aufgegeben, sich etwas vorzumachen. Der Haß, der zwischen dem Waldmenschen und dem Mann der Hochebene gärte, war fast greifbar.

Aber bevor der Leutnant reagiert hatte, war Gauthier zu Cathérine geeilt.

»Ich bin glücklich, Euch wiederzusehen, Dame Cathérine«, sagte er, als habe er sie schon viel länger als nur eine Nacht nicht gesehen. Dann hatte er ihr mit dem Stolz eines Königs seine geschlossene Faust angeboten, damit sie ihre Hand darauf legte. Seite an Seite waren sie zum Detachement zurückgekehrt. MacLaren sah sie kommen, die Fäuste in den Hüften, eine nichts Gutes verheißende Falte im Mundwinkel. Als sie nahe herangekommen war, maß er Cathérine von Kopf bis Fuß.

»Wollt Ihr in diesem Aufzug zu Pferd steigen?«

»Warum nicht? Reisen die Frauen vielleicht in einem anderen Kostüm? Ich bat um Männerkleidung, weil mir dies praktischer erschien, aber ich habe eingesehen, daß es ein Irrtum war.«

»Irrtum – das ist Euer Schleier! Ein so reizendes Gesicht verbirgt man nicht!«

Nonchalant hob er mit einem Finger das zarte Bollwerk aus Musselin, aber Gauthiers Hand legte sich auf sein Handgelenk und umschloß es wie eine eiserne Klammer.

»Laßt das, Messire«, sagte der Normanne ruhig, »wenn Ihr nicht wollt, daß ich Euch den Arm breche.«

MacLaren ließ nicht los und begann zu lachen.

»Du fängst an, lästig zu werden, Halunke! Hallo! Ihr da …«

Doch ehe die Soldaten sich auf Gauthier stürzen konnten, warf sich Bruder Etienne, der gerade aus dem Gotteshaus trat, zwischen MacLaren und den Normannen. Eine seiner Hände legte sich auf Gauthiers Gelenk, die andere auf die Hand des Schotten, die, welche den Schleier hielt.

»Laßt los, beide! Im Namen des Herrn … und im Namen des Königs!«

So groß war die Autorität, die in der ruhigen Stimme des Mönches schwang, daß die beiden Männer, gebändigt, ihm mechanisch gehorchten.

»Dank, Pater«, sagte Cathérine mit einem Seufzer der Erleichterung. »Brechen wir endlich auf, denn wir haben schon zuviel Zeit verloren. Und was Euch betrifft, Sire MacLaren, so hoffe ich, daß Ihr Euch in Zukunft anständig betragt, wie es einem Chevalier einer Dame gegenüber geziemt.«

Statt einer Antwort beugte sich der Schotte hinunter und bot der jungen Frau seine beiden verschränkten Hände, damit sie ihren Fuß auf sie setze. Dies war das stillschweigende Eingeständnis seiner Niederlage und gleichzeitig eine chevalereske Geste der Unterwerfung. Cathérine lächelte triumphierend, und mit einer Bewegung, deren unbewußte Koketterie sie nicht erwog, warf sie den Schleier über ihre hohe Haube zurück. Ihr Blick tauchte für einen Moment in die hellblauen Augen des jungen Mannes. Was sie in ihnen las, ließ ein schwaches Rot in ihre Wangen steigen. Dann setzte sie ihre Stiefelspitze leicht auf seine verschränkten Hände und schwang sich auf die Kruppe des Pferdes. Der Friede war wiederhergestellt. Jeder tat es ihr nach, und man verließ Mauriac, ohne daß jemand bemerkte, daß Gauthier sich wieder in sich selbst zurückgezogen hatte.

Dieser Vorfall übrigens sollte zum Vorspiel einer wesentlich ernsteren Angelegenheit werden. Gegen Ende des Vormittags erreichte der Reitertrupp Jaleyrac. Der dichte Waldbestand hörte hier mit einem Schlag auf; mitten zwischen gut gehaltenen Feldern, auf denen Roggen und Buchweizen wachsen würden, lagen eine große Abtei und ein bescheidenes Dorf, ein Bild, das den Eindruck außerordentlichen Friedens hervorrief. Vielleicht lag es an der freundlichen Sonne, die den Schnee vergoldete, vielleicht auch am zarten Läuten einer Glocke, jedenfalls war an diesem einfachen, kleinen Nest, an diesem ländlichen Kloster etwas ganz Besonderes. Seltsamer noch: Die Menschen verkrochen sich nicht wie in den anderen Dörfern. Es herrschte viel Leben auf der einzigen Dorf Straße, die zu der gedrungenen Kirche hinaufführte.

Angesichts des Ortes zügelte MacLaren sein Pferd und lenkte es neben den Gaul, der Bruder Etienne trug. Rittlings hinter einem mageren Schotten sitzend, den er an Gewicht leicht doppelt übertraf, schien der kleine Mönch den Ritt bis zu diesem Augenblick mit vollen Zügen genossen zu haben.

»Was tun diese Leute da alle?« fragte MacLaren kurz.

»Sie gehen in die Kirche«, antwortete Bruder Etienne. »In Jaleyrac verehrt man die sterblichen Überreste Saint-Méens, eines Mönchs, der einstmals aus dem Land Wales übers Meer kam und dessen bretonische Abtei von den Normannen geplündert und niedergebrannt wurde. Die Mönche sind damals vor ihnen geflohen. Und wenn so viele Menschen zu sehen sind, dann deshalb, weil Saint-Méen im Rufe steht, sich besonders der Leprakranken anzunehmen.«

Das Wort traf Cathérine mitten ins Herz. Sie wurde weiß bis zu den Lippen und mußte sich an MacLarens Schultern klammern, um nicht zu fallen.

»Die Leprakranken …«, sagte sie tonlos.

Mehr brachte sie nicht hervor, die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Auch weil die Menge, die sich in der einzigen Gasse zusammendrängte, etwas Furchtbares an sich hatte. Wesen, von denen man nicht mehr wußte, ob sie Mann oder Frau waren, schleppten sich durch den Schnee, auf T-förmige Krücken oder Stöcke gestützt, schwärzliche Glieder zeigend, wenn es nicht überhaupt nur noch Stümpfe waren, schreckliche Geschwüre, die die Gesichter zerfraßen, Geschwülste, Flechten, Tumoren, eine abscheuliche Menschheit, offenbar von der Hölle selbst ausgespien, die heulend und Psalmen absingend der geweihten Stätte zueilte. Graugekleidete Mönche, ein T aus blauem Email auf der Schulter, neigten ihre rasierten Köpfe zu ihnen hinunter und halfen ihnen, den Weg hinaufzusteigen.

»Leprakranke«, sagte MacLaren angewidert.

»Nein«, berichtigte Bruder Etienne, »alles, nur keine Leprakranken … Krätzekranke, Rotlaufkranke, Opfer verfaulter Wurzeln und verdorbenen Mehls, die sie in ihrem Elend gegessen haben und dank denen sie jetzt von Milzbrand und Räude bei lebendigem Leibe zerfressen werden. Die dort sind die Leprakranken!«

Tatsächlich quoll jetzt aus dem Tor einer rohen Umwallung, die einige abseits des Dorfs errichtete Hütten umgab, eine andere Prozession: Männer, einheitlich in graue Röcke mit aufgenähten scharlachroten Herzen und eng das Gesicht umschließende rote Kapuzen unter großen Hüten gekleidet. Jeder schüttelte auf seinem Weg zum Dorf eine Klapper, die in der reinen Höhenluft unheimlich widerhallte. Und vor ihnen ergriff selbst die erbärmliche Menge der anderen Kranken entsetzt die Flucht. Diese menschlichen Wracks, die selbst nur aus Unreinheit bestanden, liefen, so schnell sie konnten, zum Kloster oder preßten sich an die Hauswände, um jeden unreinen Kontakt zu vermeiden. Die Augen von Tränen verschleiert, nahm Cathérine diesen Anblick in ihre Seele auf. Alles, was sie sah, weckte ihren Schmerz von neuem, beschwor wieder die kopflose Verzweiflung der ersten Tage herauf. Diese Elenden, das war von nun an die Welt des Mannes, den zu lieben sie nicht aufhören konnte, den sie bis zum letzten Atemzug anbeten würde.

Sara verfolgte unruhig auf dem Gesicht der jungen Frau die Anzeichen des Schmerzes, den sie empfand. Tränen rollten schnell über die blassen Wangen hinunter. Sie sah, daß Cathérines traurige Augen mit verdächtiger Beharrlichkeit auf einem Mönch in brauner Kutte verharrten. Und plötzlich begriff die Zigeunerin, warum. Es war der Aufsehermönch der Leprastation von Calves. Zweifellos hatte er einige Kranke in der Hoffnung hierhergeführt, ihnen in Saint-Méen Heilung zu verschaffen.

Doch Saras Gedankenfluß wurde durch das, was sie seit einem Augenblick unbewußt erwartete, unterbrochen: durch den verzweifelten Angstschrei Cathérines.

»Arnaud!«

Die Leprakranken hatten die Anhöhe umgangen, auf der die Reiter hielten, und entfernten sich, aber der Mann, der neben dem braunen Mönch schritt, dieser große, magere Mann, dessen breite Schultern die Uniform des Elends mit soviel instinktiver Eleganz trugen, dies war, dies konnte nur Arnaud de Montsalvy sein!

Cathérines Liebe hatte ihn noch vor ihrem Blick erkannt. Bevor der sprachlose MacLaren auch nur daran denken konnte, sie zurückzuhalten, war sie schon zu Boden geglitten und eilte, mit beiden Händen ihren langen Rock raffend, durch den Schnee. Mit derselben Hurtigkeit, geboren aus ihrer gemeinsamen zärtlichen Liebe, hatten Sara, Gauthier und Bruder Etienne es ihr nachgetan. Die langen Beine des Normannen ermöglichten es ihm bald, die anderen weit hinter sich zu lassen. Doch von ihrer Leidenschaft angetrieben, lief Cathérine so schnell, daß er sie anscheinend nicht einholen konnte. Weder der Schnee noch der unebene Weg konnten sie aufhalten. Sie flog förmlich dahin, der schwarze Schleier flatterte hinter ihr wie eine Fahne in der Schlacht. Ein einziger erregender, überspannter Gedanke beherrschte sie: Sie würde ›ihn‹ wiedersehen, würde mit ihm sprechen. Ein ungeheures Glücksgefühl hatte ihre Seele wie ein Sturm, der jedes Hindernis niederreißt, überfallen. Ihre Augen, trocken und funkelnd jetzt, waren auf diesen Mann geheftet, der da neben dem Mönch schritt.

Dieser Überschwang, den Gauthier in Cathérine ahnte, erfüllte ihn mit Entsetzen, denn er konnte nicht andauern. Was würde sie finden, wenn der Mann sich zu ihr umdrehte? Hatte sich Arnaud de Montsalvy in den Monaten, die er in der Leprastation war, nicht verändert? Würde es nicht ein schon zerfressenes Gesicht sein, das Cathérine zu sehen bekäme? Er beschleunigte seinen Lauf, rief:

»Dame Cathérine … ich flehe Euch an, wartet! Wartet auf mich!«

Seine mächtige Stimme trug so weit, daß sie über Cathérine hinaus bis zum Zug der Leprakranken drang. Der Mönch drehte sich um und sein Gefährte mit ihm. O ja, es war Arnaud! Die Freude sprengte ihr fast die Brust vor Hoffnung, und der Atem begann ihr auszugehen. Ob ein Wunder geschehen würde? Ob sie wieder vereint sein würden? … Hatte Gott endlich Mitleid mit ihr gehabt? Hatte er die flehentlichen Gebete ihrer schlaflosen Nächte erhört? Jetzt konnte sie schon das teure, von der roten Mütze eng umschlossene Gesicht erkennen, das immer noch schön, immer noch edel aussah. Die schreckliche Krankheit hatte es noch nicht verwüstet. Nur noch ein wenig Anstrengung, nur noch einen kurzen Augenblick, und sie würde es erreichen. Mit ausgestreckten Armen zwang sie sich, noch schneller zu laufen, taub für die Rufe Gauthiers, die immer noch hinter ihr her hallten.

Aber auch Arnaud hatte sie erkannt. Cathérine sah, wie er erblaßte, und hörte ihn rufen:

»Nein, nein!«

Schon aus der Entfernung wehrte er sie mit einer heftigen Bewegung seiner behandschuhten Hände ab. Er murmelte dem Klosterbruder etwas zu, und dieser stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die junge Frau, ihr den Weg versperrend. Sie warf sich blindlings gegen ihn, prallte hart gegen einen kräftigen, in braunen, groben Wollstoff gekleideten Körper, klammerte sich an die ausgebreiteten Arme wie an eine Barriere.

»Laßt mich durch!« rief sie flehentlich. »Laßt mich durch! … Es ist mein Mann! … Ich will ihn sehen!«

»Nein, meine Tochter, nähert Euch nicht! Ihr habt nicht das Recht dazu … und er wünscht es nicht.«

»Ihr lügt!« heulte Cathérine außer sich. »Arnaud! Arnaud! Sag ihm, er soll mich durchlassen!«

Nach einigen Schritten war Arnaud wie erstarrt stehengeblieben. Sein schmerzverzerrtes Gesicht war eine wahre Maske des Leidens. Dennoch zitterte seine Stimme nicht.

»Nein, Cathérine, nein, meine Liebste! … Geh! Du darfst nicht näher kommen! Denk an unseren Sohn!«

»Ich liebe dich«, wimmerte Cathérine verzweifelt. »Ich kann nicht aufhören, dich zu lieben. Laß mich zu dir!«

»Nein! … Gott sei mein Zeuge, daß auch ich dich liebe und daß ich mir diese Liebe aus dem Herzen reißen möchte, weil sie mich erstickt. Aber du mußt dich entfernen!«

»Der heilige Méen kann ein Wunder tun!«

»Daran glaube ich nicht!«

»Mein Sohn«, tadelte der Mönch, der Cathérine immer noch festhielt, »Ihr lästert Gott!«

»Nein. Wenn ich zugestimmt habe, mit Euch hierherzukommen, dann mehr für meine Gefährten als für mich. Wer hat je von einer Wunderheilung an diesem Ort gehört? … Es gibt keine Hoffnung.«

Er drehte sich um und ging mit plötzlich schweren Schritten seinen Gefährten im Elend nach, die, eine Litanei singend, unten weiterzogen, nichts ahnend von dem sich hinter ihnen abspielenden Drama. Cathérine brach in Schluchzen aus.

»Arnaud«,schluchzte sie, »Arnaud … Ich flehe dich an! … Warte auf mich! … Hör mich an!«

Aber er wollte nicht hören. Auf seinen Wanderstab gestützt, ging er seines Weges, ohne sich umzuwenden. Gauthier hatte Cathérine inzwischen erreicht, nahm sie sanft aus den Armen des Mönchs, barg sie, die von verzweifeltem Schluchzen geschüttelt wurde, an seiner Brust.

»Geht, Pater, geht schnell! … Und sagt Messire Arnaud, er solle sich keine Sorgen machen …«

Der Mönch entfernte sich seinerseits, während Sara und Bruder Etienne, völlig außer Atem, ihre Freunde einholten. Ihnen folgten die Schotten, ebenfalls im Trab. Ein letztes Aufbäumen riß Cathérine aus der Umklammerung Gauthiers, aber die Tränen machten sie so blind, daß sie nicht mehr als eine graurote, durch den Schnee wankende Reihe bemerkte. Der Normanne hatte keine Mühe, sie wieder an sich zu ziehen.

Die kalte Stimme Ian MacLarens drang vom hohen Pferd des Schotten zu ihnen herunter.

»Reicht sie mir, und dann weiter! Diese Szene hat lange genug gedauert.«

Aber mit einem Schulterzucken hob Gauthier Cathérine empor und setzte sie auf sein eigenes Pferd, das einer der Soldaten am Zügel hielt.

»Ob es Euch paßt oder nicht, und selbst wenn dieses Tier daran krepieren sollte – ich werde mich um Dame Cathérine kümmern! Ihr scheint mir nicht viel von einem Schmerz wie dem ihren zu verstehen. Bei Euch ist sie im Exil.«

MacLaren legte die Hand auf seinen Degenknauf, zog den Degen halb heraus und knurrte:

»Bauernlümmel, ich habe große Lust, dir deine Unverschämtheit heimzuzahlen!«

»An Eurer Stelle, Messire, würde ich's nicht versuchen«, erwiderte der Normanne mit drohendem Lächeln. Gleichzeitig glitt seine Hand wie zufällig zu der Streitaxt in seinem Gürtel. MacLaren ließ es dabei bewenden und wendete sein Pferd.

Von der in einer Windung der Dordogne eingebetteten Herberge, vor der sie für die Nacht anhielten, sah Cathérine nichts. Sie hatte so viel geweint, daß eine Art Unempfindlichkeit über sie gekommen war. Ihre roten, geschwollenen Augen öffneten sich nur mit Schmerzen, und das, was sie sah, war zu verwirrend, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Im übrigen interessierte sie nichts mehr. Sie fühlte sich so elend wie noch nie, den schrecklichen Tag mit einbezogen, an dem Arnaud aus der Welt der Lebenden geschieden war. Die für einen Augenblick wieder angefachte Hoffnung, die unvermutete Begegnung waren ihr wie Zeichen des Schicksals erschienen, eine Antwort des Herrn auf ihre unaufhörlichen Fragen. All diese Monate des Leidens waren wie mit einem Schlag ihrem Gedächtnis entschwunden, und die Liebeswunde, die sich vielleicht wieder ein wenig schloß, war von neuem aufgebrochen und blutete mehr als je.

Den ganzen Tag über hatte sie sich, an Gauthiers Brust gekauert wie ein krankes Kind, vom harten Trab des Pferdes durchrütteln lassen, ohne die Augen zu öffnen. Dann hatte man sie über eine wacklige Stiege in die Kammer der Herberge getragen. Kammer? Wohl kaum! Ein Verschlag, in den man einen eisernen Kohlenofen gestellt hatte und in dem ein schmales Holzbett fast den ganzen Raum einnahm. Aber was kümmerte das Cathérine? Sara hatte sie schlafen gelegt, wie sie Michel schlafen gelegt hätte, und sie hatte sich in der Höhlung des Strohsacks wie eine Kugel zusammengerollt, in Laken, die so abgenutzt und fadenscheinig waren, daß man durch sie hindurchsehen konnte.

Sich so klein wie möglich machen, mit dem feindlichen, jammervollen Universum verschmelzen, verschwinden …

Der plötzliche Energieausbruch, der sie aus ihrem vegetierenden Leben in Carlat herausgerissen hatte, klang ab. Sie hatte es satt, zu kämpfen, satt, zu leben … Michel brauchte sie nicht allzusehr. Er hatte seine Großmutter, und Bruder Etienne würde beim König mit Hilfe Königin Yolandes die Sache der Montsalvys verfechten. Wonach Cathérine verzweifelt verlangte, war, Arnaud wiederzufinden! Sie konnte die abscheuliche Leere nicht mehr ertragen, die er in ihrem Herzen, in ihrem Leben zurückgelassen, diesen Riß, der sich heute wieder erweitert hatte.

Sie schlug mühsam die Augen auf. Die Kammer war fast dunkel und still wie ein Grab. Cathérine hatte Sara angefleht, sie allein zu lassen. Sie war wie ein wundes Tier, das nicht die leiseste Berührung vertrug. Aber im roten Dämmer der fast heruntergebrannten Kohlen konnte sie den Stapel ihrer Kleider unterscheiden. Der lange Dolch Arnauds lag obenauf. Cathérine mühte sich aufzustehen, die Hand nach der Waffe auszustrecken. Eine einzige Bewegung würde genügen, und alles wäre beendet: der Schmerz, die Verzweiflung, der ewige Jammer. Eine Bewegung, eine einfache Bewegung …

Doch die unaufhörlichen Tränen, die sie vergossen hatte, die Heftigkeit der Schocks, die ihre Nerven hatten ertragen müssen, hatten sie an die Grenze der Erschöpfung gebracht. Sie sank wieder schwer auf ihr Lager zurück, von Schauder gepackt. Von unten drangen Geräusche herauf: der Lärm im Gastraum einer Herberge zur Zeit des Abendessens. Die Soldaten setzten sich wahrscheinlich zu Tisch. Aber diese Lebensäußerungen waren Cathérine so fremd und fern, als ob sie in der Tiefe des mächtigsten Berges eingemauert worden wäre. Sie schloß wieder die Augen und stieß einen schmerzlichen Seufzer aus …

Füßescharren und lautes Stimmengewirr von unten verhinderten, daß sie hörte, wie die Tür ganz leise geöffnet wurde. Sie gewahrte nicht, daß eine hohe, schattenhafte Gestalt ihrem Bett zuglitt, zuckte jedoch zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte, während das Holz des Bettes unter dem Druck eines Knies ächzte. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, daß ein Mann sich über sie beugte und daß dieser Mann kein anderer als Ian MacLaren war. Aber sie war nicht besonders überrascht darüber. Im Grunde konnte sie in ihrem jetzigen Zustand äußerster Entkräftung nichts mehr erstaunen, nichts mehr treffen.

»Ihr schlaft nicht, nicht wahr?« fragte der Schotte. »Ihr gefallt Euch darin zu leiden, Euch dummerweise zu quälen …«

In der Stimme des jungen Mannes schwang zunehmender Zorn mit. Cathérine bemerkte seine Verbitterung, versuchte aber nicht, sie sich zu erklären.

»Was kann Euch das ausmachen?« fragte sie.

»Was mir das ausmacht? Ich habe jetzt schon viele Monate beobachtet, wie Ihr lebt. Oh, ganz von weitem! Habt Ihr jemals auch nur im geringsten einem von uns Beachtung geschenkt, ausgenommen vielleicht unserem Hauptmann Kennedy, weil Ihr ihn braucht? Wir wissen, was Ihr alles gelitten habt, aber in unserem Land im Norden hält man sich nicht bei unfruchtbarem Jammern auf. Das Leben bei uns ist zu beschwerlich, als daß man es mit Tränen und Seufzern vergeudete.«

»Was soll das alles? Sagt, was Ihr zu sagen habt, aber sagt es klar und deutlich. Ich bin todmüde …«

»Todmüde? Wer ist das nicht in diesen Zeiten, in denen wir leben? Warum seid Ihr nicht wie irgendeine andere Frau? Glaubt Ihr, Ihr seid die einzige, die auf dieser Erde leidet, oder ist es wahrhaftig das einzige, wozu Ihr fähig seid: Euch wie ein furchtsames Tier in eine Ecke zu verkriechen und zu weinen, bis zur Verdummung zu weinen, bis Ihr vergeßt, wer Ihr seid, ja sogar vergeßt, daß Ihr ein lebendes Wesen seid?«

Die harte Stimme, verächtlich und doch warmherzig, durchstieß den dichten, schmerzhaften, aber schützenden Nebel, in den Cathérine sich hüllte. Sie konnte nicht übergehen, was er sagte, weil sie im Grunde ihres Wesens dunkel fühlte, daß er recht hatte.

»Auch bei uns sterben die Menschen, schnell oder langsam, die Frauen leiden in ihrem Herzen und in ihrem Fleisch, aber keine hat Zeit, ihre Leiden des langen und breiten auszukosten. Das Land ist zu rauh, das Leben, das einfache Leben ist ein täglicher Kampf, und man kann sich den Luxus von Tränen und Seufzern nicht leisten.«

Jähe Empörung ließ Cathérine emporfahren. Sie setzte sich auf, hielt sich Laken und Decke vor die Brust.

»Und? Worauf wollt Ihr letzten Endes hinaus? Warum kommt Ihr hierher, um mich zu quälen? Könnt Ihr mich nicht in Frieden lassen?«

Über das scharfe Gesicht MacLarens huschte sein spöttisches Lächeln.

»Endlich reagiert Ihr! Das wollte ich … und noch etwas anderes.«

»Was?«

»Das …«

Ehe sie sich's versah, hatte er sie in die Arme genommen. Sie konnte sich nicht rühren, während eine Hand ihr sanft über die Haare strich und ihren Kopf zurückbog. Als Ian sich anschickte, sie zu küssen, wollte sie sich instinktiv wehren, wollte sie ihn zurückstoßen. Vergebliches Bemühen: Er hielt sie fest. Und dann hatte sie keine Kraft mehr. Und schließlich schlich sich wider ihren Willen ein heimtückisches Gefühl des Vergnügens bei ihr ein, gleich dem, das sie empfunden, als er ihre Wunde verbunden hatte. Die Lippen des jungen Mannes waren zart, und die Umklammerung seiner Arme hatte etwas Beruhigendes. Cathérine hörte plötzlich auf zu denken, um sich ganz dem weiblichen Instinkt, so alt wie die Welt, hinzugeben, der sie die Berührung mit diesem Jungen angenehm empfinden ließ. Manche Leute trinken, um zu vergessen, aber die Liebkosungen eines Mannes, die Liebe eines Mannes können eine Trunkenheit anderer, ebenso mächtiger Art auslösen, und genau diese Erfahrung war Cathérine im Begriff zu machen …

Als er sie auf die schäbigen Kissen zurückbettete, hob er einen Augenblick den Kopf und warf der jungen Frau einen Blick zu, der von Leidenschaft und Stolz brannte.

»Laß mich dich lieben. Ich weiß, wie ich dich sogar deine Tränen vergessen machen kann. Ich werde dir so viel Liebe geben, daß …«

Er beendete seinen Satz nicht. Diesmal war es Cathérine, die, von jähem Verlangen gepackt, ihre Lippen auf die des jungen Mannes preßte und ihn an sich zog. Er war mit einem Schlag die einzige Wirklichkeit ihres Universums auf dem Höhepunkt ihrer Euphorie geworden, eine warme Wirklichkeit, an die sie sich mit aller Kraft klammern wollte. Beide rollten, eng ineinander verschlungen, auf die durchgelegene, abgenutzte alte Matratze, vergaßen den miserablen Hintergrund, dachten nur an die nahende Lust. Cathérines überanstrengte Nerven ließen sie eine totale, absolute Selbstzerstörung, eine Unterwerfung unter einen stärkeren Willen wünschen. Sie schloß mit einem leisen Stöhnen die Augen.

Was nun folgte, stürzte sie wieder brutal in die Welt der Schreckgespenste, des Wahnsinns zurück, der sie MacLaren einen Augenblick entrissen hatte.

Da waren dieser schreckliche, ungeheuerliche Schrei, der, wie es Cathérine schien, in ihrem eigenen Kopf explodierte, dann das krampfartige Aufbäumen seines ganzen Körpers, der den ihren umschlang, die aufgerissenen Augen des Schotten und das Blut, das aus seinem Mund schoß. Mit einem Schreckensruf warf sich die junge Frau zur Seite, die Decke mitreißend, in die sie sich instinktiv wickelte. Und da war Gauthier, aufrecht neben dem Bett, der sie mit den Augen eines Verrückten anstarrte. Seine Hände hingen bewegungslos an seinem riesigen Körper herab. Seine Axt steckte zwischen den Schultern MacLarens …

Einen Augenblick maßen Cathérine und der Normanne sich schweigend, als sähen sie sich zum erstenmal. Ein wahnsinniger Schreck lähmte die junge Frau vollständig. Noch nie hatte sie an Gauthier diesen Ausdruck der Gewalttätigkeit und unerbittlichen Grausamkeit gesehen. Er war außer sich, und als sie sah, daß der Riese die mächtigen Fäuste hob, glaubte sie, er wolle sie töten, rührte sich aber nicht, weil sie dazu absolut unfähig war. Ihr Verstand arbeitete, aber ihre Glieder, aus Stein wie ihr ganzer Körper, verweigerten ihr jeden Dienst. Zum erstenmal in ihrem Leben durchlebte Cathérine in der Wirklichkeit das furchtbare Gefühl, von dem man in Schreckträumen heimgesucht wird, wenn man, von tödlicher Gefahr verfolgt, vergebens zu fliehen sucht und die Füße nicht vom Boden heben kann, wenn man zu schreien versucht und kein Ton über die Lippen kommt …

Aber die Hände Gauthiers fielen kraftlos wieder an seinem Körper herab, und der lähmende Bann, der Cathérine gefangenhielt, löste sich. Sie wandte sogar die Augen ab, richtete sie auf die Leiche MacLarens mit einer Furcht, die der Verwunderung nahekam. Wie war er doch schnell und leicht, der Tod! Ein Schrei, und es gab keinen Geist mehr, keine Leidenschaft, nichts als reglose Materie. Dieser Mann, in dessen Armen sie noch einen Augenblick zuvor gelegen hatte, war plötzlich verschwunden! Er hatte gesagt: »ich werde dich vergessen lassen«, aber er hatte nicht einmal Zeit gehabt, sie seinem Willen zu unterwerfen! Sie schluckte mühsam ihren Speichel und fragte dann tonlos:

»Warum hast du das getan?«

»Das wagt Ihr zu fragen?« gab er brutal zurück. »Ist das alles, was von Eurer Liebe für Messire Arnaud übrigbleibt? Mußtet Ihr am Abend desselben Tages, an dem Ihr ihn wiedersaht, einen Geliebten haben? Ich habe Euch in meiner Achtung so hoch gestellt … höher als jede Frau, wahrhaftig! Und dann muß ich Euch wie eine läufige Katze schnurren hören!«

Eine ungestüme Zorneswelle fegte hinweg, was an Furcht noch in Cathérine war. Dieser Mann hatte getötet und maßte sich noch das Recht an, sich als ihr Richter aufzuspielen?

»Mit welchem Recht mischst du dich in mein Privatleben? Habe ich dir je das Recht gegeben, dich mit meinen Angelegenheiten zu befassen?«

Er machte einen Schritt auf sie zu, mit geballten Fäusten, bösen Augen und bitterem Mund.

»Ihr habt Euch mir anvertraut, habt Euch unter meinen Schutz begeben, und, bei Odin, ich hätte mein ganzes Blut und meinen letzten Atemzug für Euch hingegeben. Ich habe die Liebe, die ich für Euch empfand, zum Schweigen gebracht, das wahnwitzige Verlangen, das Ihr in mir erregtet, weil die Liebe, die Euch mit Eurem Gatten verband, mir eine zu schöne, zu reine Sache zu sein schien. Die anderen hatten nicht das Recht, daran zu rühren, nicht das Recht, sich einzumischen. Alles mußte dem Schutz einer Liebe wie dieser geopfert werden …«

»Und was bleibt mir?« rief Cathérine, plötzlich außer sich. »Ich bin allein, immer und ewig allein, ich habe keine Liebe mehr, keinen Gatten mehr … Vor kurzem erst hat er mich noch zurückgestoßen.«

»Obwohl er sich danach sehnte, Euch die Arme entgegenzustrecken! Er liebt nur Euch, genügend jedenfalls, um sich zu weigern, Euch bei lebendigem Leibe verfaulen zu sehen, wie es ihm beschieden ist. Ihr mit Eurem armen, kleinen Frauenverstand habt nur die Bewegung gesehen: Er hat Euch zurückgestoßen! Was habt Ihr also getan? Ihr habt Euch in die Arme des Erstbesten geworfen, und nur aus einem einzigen Grund: Der Frühling kommt, die Tiere werden läufig, und Ihr seid wie sie. Aber wenn Ihr schon einen Mann brauchtet, nichts als einen Mann, warum habt Ihr diesen Fremden mit den eisigen Augen gewählt? Warum nicht mich?«

Unter der Faust des Normannen, die auf sie einhämmerte, hallte seine Brust gleich einer Trommel wider, und seine Stimme grollte wie Donnerrollen. Cathérine war jetzt ernüchtert, ihre Gelassenheit war zurückgekehrt, und sie mußte sich offen eingestehen, daß sie nicht begriff, was sie soeben in die Arme des Schotten getrieben hatte. Im tiefsten Innern gab sie Gauthier recht. Sie schämte sich wie noch nie, verstand aber nur zu gut den trüben Glanz, der in den grauen Augen des Normannen aufgeflammt war. Gleich würde er, ohne sich um den Mann zu kümmern, den er eben getötet hatte, sich auf sie werfen. Nach allem, was er gesehen hatte, würde nichts ihn mehr zurückhalten. In seinem »Warum nicht mich?« lag eine Welt von Zorn, von Rachsucht, von enttäuschter Liebe und Verachtung. Cathérine war ihm nicht mehr heilig. Sie war nichts weiter als eine Frau, die man zu lange begehrt hatte.

Das konvulsivische Zittern, das sich ihrer bemächtigte, unterdrückend, richtete die junge Frau ihre veilchenfarbenen Augen fest auf den Riesen.

»Geh«, sagte sie kalt. »Ich werfe dich hinaus!«

Gauthier brach in ein wildes Gelächter aus, das seine kräftigen weißen Zähne entblößte.

»Ihr werft mich hinaus? Vielleicht! Das ist Euer gutes Recht nach allem! Aber vorher …«

Cathérine schob sich bis zur Wand zurück, um dem Ansturm, der kommen würde, besser widerstehen zu können, aber genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Sara trat herein. Mit einem schnellen Blick umfing sie die ganze Szene, sah Cathérine an die Wand gedrückt, Gauthier sprungbereit und zwischen beiden die blutende Leiche MacLarens, das Bett gleich einem tragischen menschlichen Kreuz versperrend.

»Herr des Himmels!« rief sie aus. »Was ging hier vor?«

Cathérines bedrückter Brust entrang sich ein tiefer Seufzer. Die dralle Gestalt der Zigeunerin hatte die unheilvolle Atmosphäre aus dem Zimmer verjagt. Die Dämonen entflohen und gaben der kalten, nüchternen Wirklichkeit den Weg frei … Mit ruhiger Stimme, ohne jeden Versuch zu bemänteln, was an ihrem Benehmen tadelnswert gewesen sein könnte, erzählte Cathérine, wie Gauthier den Schotten getötet hatte. Währenddessen hatte sich der Normanne, dessen Wut nun auch abgeklungen war, auf das untere Ende des Bettes sinken lassen, den Rücken seinem Opfer zugewandt. Den Kopf in die Hände vergraben, schien er an allem, was folgen mochte, uninteressiert. In schweigender und unbewußter Übereinstimmung überließen er und Cathérine es Sara, die notwendigen Entscheidungen zu treffen.

»Was für eine Patsche!« brummte die Zigeunerin, als die junge Frau ihren Bericht beendet hatte. »Wollt ihr mir vielleicht verraten, wie wir hier herauskommen sollen? Was werden die Schotten sagen, wenn sie den Tod ihres Leutnants entdecken?«

Wie um ihr recht zu geben, erhob sich ein gemeinschaftliches Gebrüll aus dem Erdgeschoß:

»Ian! He, Ian MacLaren! Komm runter, trinken! Zufällig ist der Wein mal nicht zu schlecht! Komm runter!«

»Sie werden heraufkommen«, flüsterte Sara. »Wir müssen die Leiche verschwinden lassen. Wenn sie die Wahrheit erfahren, wird es noch mehr Blutvergießen geben …«

Gauthier rührte sich immer noch nicht, aber Cathérine hatte klar verstanden, was Sara sagen wollte. Die Schotten würden den Kopf Gauthiers fordern. Sie kannten nur das Gesetz der Wiedervergeltung: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Ihr Anführer war tot, der Mörder mußte mit seinem Leben bezahlen, und Cathérine wurde sich bewußt, daß sie diese Vorstellung nicht ertragen konnte. Was bedeutete ihr schon MacLaren? Sie liebte ihn nicht. Sie hatte noch nicht einmal eine jener Kapricen für ihn empfunden, die als Entschuldigung herhalten können. Nichts als ein simpler Anflug rasch verfliegender Narretei! Daß Gauthier dafür als Sühneopfer unter den Hieben der Schotten fallen sollte, nein, das ließ sie nicht zu! Ein plötzlicher Impuls ließ sie neben dem Normannen niederknien und seine Hände umklammern, die sein Gesicht verdeckten.

»Fliehe!« flehte sie. »Ich beschwöre dich, fliehe! Rette dich, bevor sie die Leiche entdecken!«

Er nahm die Hände vom Gesicht, das verfallen wirkte und in dem die Augen trübe brannten.

»Was kann's mir schon ausmachen, wenn sie entdecken, daß ich ihn getötet habe? Sie werden mich ihrerseits töten! Na und?«

»Ich will nicht, daß du stirbst!« brauste Cathérine leidenschaftlich auf.

»Ihr habt mich davongejagt … Der Tod wird Euch noch sicherer von mir befreien!«

»Ich wußte nicht, was ich sagte. Ich war wahnsinnig! Du hattest mich beleidigt, zutiefst getroffen … aber du hattest recht. Siehst du, ich bitte dich jetzt um Verzeihung.«

»Was für Geschichten!« brummte Sara in ihrer Ecke. »Hört euch lieber den Krach an, den sie da unten machen!«

In der Tat verlangten die Schotten jetzt mit aller Kraft nach ihrem Anführer, indem sie mit Löffeln und Näpfen auf die Tischplatten schlugen. Man hörte das Gepolter einer umstürzenden Bank, dann plötzlich Schritte auf der Treppe, sich nähernde Stimmen. Entsetzt rüttelte Cathérine Gauthier auf.

»Aus Mitleid mit mir, wenn ich dir jemals ein wenig Zärtlichkeit eingeflößt habe, fliehe, rette dich!«

»Wohin sollte ich schon gehen? Wo ich Euch nie mehr wiedersehen könnte?«

»Reite nach Montsalvy zurück, zu Michel, und warte auf meine Rückkehr. Aber schnell, schnell … ich höre sie bereits!«

Schon öffnete Sara das schmale Fenster, das glücklicherweise auf das Dach eines angebauten Schuppens hinausging. Der Winterwind drang mit Wucht in das kleine Gelaß, scharf, schneidend, und Cathérine wickelte sich fröstelnd die Decken um den kalten Leib. Die Schritte kamen näher. Die Männer mußten schon getrunken haben … »Ich werde mit ihnen sprechen«, raunte Sara, »Zeit gewinnen. Aber er muß sich schnell aus dem Staub machen … Die Pferde sind im Schuppen. Wenn wir ihm ein oder zwei Stunden Vorsprung verschaffen können, wird er nichts mehr zu fürchten haben. Beeilt euch, ich werde dafür sorgen, daß sie wieder hinuntergehen!«

Sie öffnete die Tür und glitt flink hinaus. Es war höchste Zeit. Das Licht einer Kerze flackerte einen kurzen Augenblick auf, und die Stimme eines der Männer erklang ganz nahe hinter der Tür.

»Was ist das für ein Krach?« brummte Sara. »Wißt ihr nicht, daß Dame Cathérine entsetzlich müde ist? Sie hat soviel Mühe gehabt einzuschlafen, und da kommt ihr und brüllt vor ihrer Tür herum! Was wollt ihr?«

»Verzeiht!« antwortete die Stimme des Schotten verlegen. »Aber wir suchen den Leutnant.«

»Und ausgerechnet hier sucht ihr ihn? Was für eine merkwürdige Idee!«

»Ist ja nur, weil …« Der Mann hielt plötzlich inne, brach in schallendes Gelächter aus und fügte hinzu: »Er hat uns nämlich gesagt, er wolle der anmutigen Dame einen kleinen Besuch abstatten … um zu sehen, wie's ihr geht!«

»Nun, er ist nicht hier! Sucht woanders. Ich hab' ihn vorhin aus dem Haus gehen sehen. Er ging in Richtung des Schafstalls da hinten … und ich glaube, er stellte einem Mädchen nach.«

Cathérine hörte mit klopfendem Herzen zu. Ihre Hand umklammerte krampfhaft die Gauthiers. Sie fühlte, wie er zitterte; trotzdem wußte sie wohl, daß es nicht aus Furcht war. Hinter der Tür lachten die Männer laut auf, aber die Stimmen entfernten sich bereits, von Saras Geschimpfe begleitet. Kein Zweifel, die Zigeunerin würde mit ihnen hinuntergehen, um sich zu vergewissern, daß sie in der Richtung suchten, die sie ihnen angegeben hatte, und Gauthier nicht zufällig durchs Fenster steigen sahen.

»Sie sind fort!« flüsterte Cathérine schließlich. »Flieh jetzt!«

Diesmal gehorchte er, ging zum Fenster, schwang ein Bein über den Sims, wandte sich jedoch noch einmal zurück, bevor er den Oberkörper nachzog.

»Ich werde Euch wiedersehen? Schwört Ihr's mir?«

»Wenn wir noch am Leben sind, dann schwör' ich's! Schnell …«

»Und … Ihr werdet mir verzeihen?«

»Wenn du in einer Sekunde nicht verschwunden bist, werde ich dir in meinem Leben nicht verzeihen!«

Ein kurzes Lächeln ließ seine Zähne aufblitzen, dann schwang er sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze, die bei einem Mann dieser Größe erstaunlich anmutete, hinaus. Cathérine sah, wie er sich am Dach des Schuppens hinunterließ und auf die Erde sprang. Er war ihren Blicken entschwunden, aber einige Augenblicke später konnte sie undeutlich die Silhouette eines Pferdes und seines Reiters im Galopp davonpreschen sehen. Glücklicherweise dämpfte der Schnee das schnelle Klappern der Hufe.

Cathérine atmete erleichtert auf und schloß eiligst das Fenster. Sie zitterte vor Kälte und begann, das heruntergebrannte Feuer zu schüren, um es wieder anzufachen. Ihre Müdigkeit, ihre Niedergeschlagenheit von vorhin waren verschwunden, und wenn sie es auch vermied, den reglosen Körper quer über ihrem Bett anzusehen, erfüllte sie seine Nähe wenigstens nicht mehr mit Entsetzen. Sie fühlte sich außerordentlich klar und wach und überlegte bedächtig, was ihr jetzt zu tun blieb. Vor allem mußte die Leiche aus der Kammer entfernt werden. Hier durfte sie nicht bleiben. Mit Saras Hilfe würde sie sie durchs Fenster schieben und irgendwo in der Nähe der Herberge verschwinden lassen, am Rand des Wassers zum Beispiel. Die Schotten würden sie nicht vor dem Morgen finden, und dies gäbe Gauthier eine Nacht Vorsprung. Denn sie machte sich keinerlei Illusionen darüber, was folgen würde: Die Schotten würden sich auf die Spuren des Mörders ihres Anführers setzen … und der Axthieb bewies den Mord. Die Männer aus dem Hochland würden sich in der Identität dessen, der zugeschlagen hatte, sicher nicht täuschen.

Als Sara zurückkam, traf sie Cathérine vollständig angezogen und neben dem Ofen sitzend an.

Die junge Frau hob den Kopf.

»Nun?«

»Sie sind überzeugt, daß MacLaren mit einem Mädchen der Herberge im Schafstall scharmutziert. Sie haben sich wieder zu Tisch gesetzt. Und wir, was machen wir jetzt?«

Cathérine erklärte ihr, was sie zu tun beabsichtigte. Sara riß die Augen weit auf.

»Du willst diesen großen Körper durchs Fenster schieben? Aber das werden wir nie schaffen, oder wir werden uns den Hals dabei brechen.«

»Man muß nur den Willen haben, übrigens, geh und such Bruder Etienne. Er muß eingeweiht und gewarnt werden. Wir werden seiner bedürfen.«

Sara wagte keine Widerrede. Wenn Cathérine einen gewissen Ton anschlug, war es vergebene Liebesmüh, das wußte sie. Sie verschwand wieder nach draußen und kehrte nach wenigen Augenblicken mit dem Franziskaner zurück, den sie mit einigen Worten ins Bild gesetzt hatte. Bruder Etienne hatte in seinem abenteuerlichen Leben zuviel gesehen, um sich noch zu wundern, und er konnte sich in gewissen Fällen als bemerkenswert tüchtig erweisen. Er billigte Cathérines Plan voll und ganz und sah es als seine Pflicht an, bei der Ausführung behilflich zu sein.

»Ich spreche nur ein Gebet, dann bin ich bereit.«

Schnell murmelte er auf den Knien vor dem leblosen Körper ein Totengebet, machte hastig das Zeichen des Kreuzes über ihm und krempelte sich dann die Ärmel hoch.

»Das beste ist, ich gehe aufs Dach hinaus. Ihr reicht mir die Leiche, und ich lade sie mir auf und steige hinunter.«

»Aber er ist groß und schwer trotz seiner Magerkeit«, wandte Cathérine ein.

»Ich habe mehr Kraft, als Ihr glaubt, meine Tochter. Genug der Worte, ans Werk!«

Er half Cathérine und Sara, die Leiche ans Fenster zu tragen, und schwang sich hinaus. Die Kälte schien schärfer geworden zu sein, und die Nacht war still. In der Gaststube unten schliefen die Schotten sicherlich, zweifellos gebührend gesättigt und voll des süßen Weines, denn man hörte kein Geräusch mehr.

Die Leiche des unglücklichen MacLaren war bereits steif und schwer zu handhaben. Cathérine und Sara mußten alle ihre Kräfte anspannen, um ihn zum Fenster hinaufzuheben. Trotz der Kälte spürten sie, wie der Schweiß an ihnen herunterrann, und sie mußten die Zähne zusammenbeißen, um ihre Angst nicht zu verraten. Wenn sie jemand überraschte, dann wußte nur Gott allein, was ihnen passierte! Zweifellos würden die rasenden Schotten sie ohne viel Federlesens zum nächstbesten Baum schleppen … Aber nein, niemand zeigte sich, kein Geräusch war zu hören. Auf dem Dach packte Bruder Etienne fest die Leiche und ließ sie bis zum Rand hinuntergleiten.

»Wenn eine von Euch bis hierher käme, um ihn zu halten, während ich hinunterklettere«, flüsterte er.

Ohne Zögern sprang Cathérine durchs Fenster und stieg vorsichtig zu dem Mönch hinunter. Das vom Schnee schlüpfrige Schindeldach war schwierig zu begehen, aber die junge Frau gelangte ungefährdet an den Rand der Schräge und hielt die Leiche, während Bruder Etienne sich mit unerwarteter Gelenkigkeit zu Boden gleiten ließ.

»Da bin ich! Laßt ihn jetzt herunter, vorsichtig, sehr vorsichtig! Da, ich halte ihn! Kehrt in Eure Kammer zurück, das übrige erledige ich.«

»Wie kommt Ihr zurück?«

»Durch die Tür, ganz einfach. Das Kleid, das ich trage, gestattet mir, zu kommen und zu gehen, wie ich will, ohne Verdacht zu erregen. Es ist nicht das erstemal, daß ich diese Erfahrung gemacht habe. Manchmal frage ich mich sogar, ob das nicht der Grund ist, weshalb ich ins Kloster eingetreten bin.«

Cathérine erriet sein Lächeln, erwiderte aber nichts. Nachdem die Leiche ihr nun aus den Augen entschwunden war, spürte sie die Nachwirkung der Nervenanspannung, die sie auszuhalten gehabt hatte. Einen Augenblick verharrte sie noch am Dachrand, schloß die Augen, um gegen einen plötzlichen Schwindelanfall anzukämpfen, versuchte, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, das sie verließ. Der Himmel und das Dach führten einen wirren Rundtanz um sie auf …

»Geht's nicht?« flüsterte Saras besorgte Stimme. »Willst du, daß ich dich hereinhole?«

»Nein … nein, das hat keinen Zweck … Und außerdem kämst du nicht durchs Fenster!«

Langsam kroch Cathérine auf Händen und Füßen hinauf. Das Schwindelgefühl schwand. Saras Hände griffen nach ihr, zogen sie ins Zimmer, wo inzwischen eine Hundekälte herrschte. Mit Saras Hilfe setzte sich die junge Frau auf eine Ecke des Bettes und fuhr sich mit zitternder Hand über die feuchte Stirn. Ihre Zähne klapperten.

»Ich suche jetzt etwas, womit wir das Feuer wieder anzünden können«, sagte Sara, »und ich werde dir ein wenig Suppe bringen.«

Während sie noch sprach, zündete sie die Kerze wieder an und betrachtete dann angewidert die blutbefleckten Bettlaken.

»Die müssen verbrannt werden. Ich werde das diskret mit der Wirtin regeln.«

Cathérine antwortete nicht. Ihre Gedanken folgten Gauthier, wie er durch die Nacht galoppierte, zu Michel und nach Montsalvy zurück, und ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Herz. Des festen Bollwerks beraubt, das er repräsentierte, schienen ihr die kommenden Tage äußerst dunkel und weit bedrohlicher als bisher. Sollte sie denn mit ansehen, wie sich einer nach dem anderen von ihr trennte, alle die, die sie am meisten liebte? Sie fand sich von neuem allein mit ihrer alten Sara, um sich ein neues Leben aufzubauen, aber so traurig ihre Gedanken auch waren, weigerte sie sich, sich zu beklagen. Was geschehen war, war ihre eigene Schuld, ganz allein ihre Schuld! Wenn sie MacLaren fortgejagt hätte, als er sich über sie geneigt hatte, wäre nichts dergleichen passiert. Der junge Schotte würde noch leben, und Gauthier wäre nicht wieder auf die gefährlichen Wege des Abenteuers verwiesen worden.

Als Sara wieder erschien, gleichzeitig Holzscheite und eine Schale mit Suppe tragend, spiegelte ihr würdevolles braunes Gesicht große Zufriedenheit wider.

»Alles schläft da unten. Die Schotten schnarchen auf Tischen und Bänken. Gauthier wird die ganze Nacht zur Verfügung haben, um Vorsprung zu gewinnen. Alles geht gut.«

»Du bist nicht gerade anspruchsvoll! Sag lieber, daß alles so gut geht, wie es nur gehen kann, wenn man mitten im Unglück schwimmt.«

Die Dinge entwickelten sich genauso, wie Cathérine und Sara es vorausgesehen hatten. Einer der Schotten entdeckte im Morgengrauen den Leichnam MacLarens im Schnee neben dem Schafstall, und sofort befanden sich Cathérine, Sara und Bruder Etienne mitten in einem wahren Aufstand. Der Älteste der Bewaffneten, ein Soldat in den Fünfzigern, der sich Alan Scott nannte, hatte ganz natürlicherweise das Kommando über seine Kameraden übernommen, und er war es, der, ihre Wut zum Schweigen bringend, den drei Reisenden den Willen des Trupps zur Kenntnis brachte.

»Ich bin aufs tiefste betrübt, meine Dame«, sagte er zu Cathérine. »Aber den Tod unseres Anführers – den wollen wir rächen.«

»An wem, auf Grund von was? Wie könnt ihr sicher sein, daß der Mörder …«

»… Euer Knappe ist? Der Axthieb ist bezeichnend.«

»Die Männer hier benutzen auch Äxte«, erwiderte Cathérine nervös. »Sara hat euch gesagt, sie habe MacLaren mit einem Mädchen der Herberge zum Schafstall gehen sehen.«

»Dazu müßte man erst einmal wissen, wer dieses Mädchen von der Herberge war. Nein, meine Dame, unnütz, darüber zu diskutieren. Wir sind entschlossen, uns an die Verfolgung dieses Mannes zu machen. Die Spuren sind sauber im Schnee zu erkennen. Im übrigen, wäre er nicht schuldig, wäre er ja hiergeblieben.«

»Hättet ihr ihm eine Möglichkeit gegeben, sich zu verteidigen?«

»Selbstverständlich nicht! Er hat im Grunde recht gehabt zu fliehen. Aber wir, wir müssen ihn wiederfinden. Setzt Eure Reise allein fort.«

»Ist das Eure Art«, sagte Cathérine hoheitsvoll, »die Befehle Hauptmann Kennedys auszuführen?«

»Wenn er wüßte, was sich hier zugetragen hat, würde Kennedy uns recht geben. Und außerdem scheint es, daß Ihr kein Glück bringt, edle Dame … und meine Männer wollen Euch nicht mehr dienen.«

Cathérine fühlte, wie der Zorn in ihr aufstieg. Es war nutzlos, mit diesen beschränkten Flegeln zu streiten. Aber im Innern schauderte ihr vor dem Weg, den sie allein, oder fast allein, zurücklegen sollte. Doch ließ sie sich nicht anmerken, was sie bewegte.

»Gut«, sagte sie schroff. »Geht. Ich halte Euch nicht zurück!«

»Einen Augenblick!« warf Scott ein. »Ich brauche noch Euren Mönch. Die Hälfte meiner Leute bricht sofort auf, die anderen werden mit mir hierbleiben, um sich mit Messire MacLaren zu beschäftigen. Er braucht Leichengebete, und hier gibt es keinen Priester.«

Daß er seinem Leutnant ein christliches Begräbnis geben wollte, war nur zu natürlich, und Cathérine versuchte nicht, sich dem zu widersetzen. Ein Grab würde schnell ausgehoben und die Totenmesse schnell gelesen sein. Das würde sie kaum lange aufhalten. Ohnehin erhob sich in einiger Entfernung am Ufer des Flusses eine kleine Kapelle, um die sich einige Kreuze gruppierten.

»Euer Wunsch ist ganz natürlich«, erwiderte sie. »Wir werden also warten, bis Eure Beerdigungsfeier vorüber ist.«

»Vielleicht wird das länger dauern, als Ihr glaubt!«

In der Tat dauerte es unendlich viel länger, und Cathérine, krank vor Verdruß, erlebte den endlosesten Tag ihres ganzen Daseins.

Als sie bemerkte, daß Scott sich in Richtung der wenigen Häuser des Weilers entfernte, dachte sie, er gehe einen Schreiner suchen, um einen Sarg anfertigen zu lassen, aber sie sah ihn einige Minuten später zurückkommen, vier seiner Leute im Gefolge, die einen riesigen Kochkessel schleppten, wie man ihn zur Kräuterkäsezubereitung benutzt. Diesen Kessel stellten sie am Ufer des Flusses auf, stützten ihn mit Steinen ab, füllten ihn halb mit Wasser und gingen daran, eine große Menge Holz heranzuschaffen. Einige Bauern sahen halb beunruhigt, halb neugierig ihrem Tun zu. Aufrecht unter einem Kastanienbaum zwischen Sara und Bruder Etienne stehend, tat Cathérine dasselbe und versuchte vergebens zu begreifen, was vor sich ging.

»Was soll denn das bedeuten?« fragte sie den Mönch. »Wollen sie vor der Beerdigung eine Art Leichenschmaus vorbereiten? Offenbar ein riesiges Mahl.«

Doch Bruder Etienne schüttelte den Kopf. Er verfolgte die Vorbereitungen, ohne sonderlich überrascht zu sein.

»Das soll bedeuten, mein liebes Kind, daß dieser Scott nicht die Absicht hat, die Gebeine seines Leutnants der Erde der Auvergne zu überlassen.«

»Ich verstehe noch immer nicht.«

»Oh, das ist ganz einfach! Dieser große Kessel wird die Leiche des Leutnants aufnehmen. Man wird sie darin so lange kochen, bis sich die Gebeine ablösen lassen, die unser Schotte dann in einem Kasten oder einer Truhe leicht in sein Land transportieren kann. Das Fleisch wird hier an Ort und Stelle christlich beerdigt.«

In schöner Einmütigkeit wurden Cathérine und Sara grün im Gesicht. Die junge Frau fuhr sich mit der zitternden Hand an die Kehle, die ihr jeden Dienst zu verweigern schien, doch schließlich gelang es ihr zu stammeln:

»Das ist ja ekelhaft! Kennen diese Leute denn nicht weniger barbarische Bräuche? Warum verbrennen sie die Leiche nicht?«

»Es ist ein durchaus ehrenhafter Brauch«, erwiderte Bruder Etienne friedlich. »Man wendet ihn an, wenn die Einbalsamierung unmöglich ist oder wenn die Leiche über eine zu weite Strecke transportiert werden muß. Und ich bedauere, Euch belehren zu müssen, daß dieser Brauch keineswegs nur auf Schottland beschränkt ist. Der Großkonnetabel Du Guesclin erlitt das gleiche Schicksal, als er vor Châteauneuf-de-Randon fiel. Man hatte ihn zwar einbalsamiert, doch als der Sarg in Puy eintraf, entdeckte man, daß die Einbalsamierung ungenügend war. Man ließ ihn also kochen, wie Scott es heute tun wird. Es ist eine große Ehre, die er seinem Leutnant erweist … aber an Eurer Stelle würde ich nicht hierbleiben.«

In der Tat loderte das Feuer unter dem Kessel, und zwei der Männer waren fortgegangen, um die Leiche zu holen, die sie nun auf einer aus quer übereinandergelegten Ästen gefertigten Bahre feierlich anbrachten. Entsetzt über das, was folgen würde, nahm Cathérine Sara bei der Hand und zog sie eilends zur Herberge zurück, während Bruder Etienne, die Hände in die Ärmel schiebend, sich ruhig dem Kessel näherte. Während der ganzen Dauer dieser scheußlichen Verrichtung sprach er, am Ufer der Dordogne kniend, das Totengebet.

Die schreckliche Kocherei dauerte den ganzen Tag, und diesen Tag verbrachte Cathérine, vor dem Kamin in der Gaststube der Herberge kauernd, zu, abwesenden Blicks ins Feuer starrend, unfähig, etwas zu essen. Tiefe Stille lag über dem Weiler. Die verschreckten Bauern hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert, klapperten mit den Zähnen und flehten zweifellos den Himmel an, er möge sie vor dem Furor dieser Wilden verschonen. Die Gastwirtin wagte nicht, das Haus zu verlassen. Cathérine hatte ihr die Worte Bruder Etiennes berichtet, und sie wußte nun, daß es sich bei dem Treiben am Flußufer nicht um irgendein höllisches Hexenwerk handelte, und doch hatte sie viel zuviel Angst, um die Nase nach draußen zu stecken. Alles, was man hörte, waren dann und wann ein Befehl Scotts oder die Hammerschläge des Schreiners, der, in seinem Haus eingeschlossen, einen kleinen Kasten für die Gebeine zimmerte. Sara, die sich ebenso fürchtete wie Cathérine, murmelte mit tiefer Stimme Gebete, doch die junge Frau konnte nicht beten. Der Eindruck, einen Alptraum zu durchleben, war schärfer denn je.

Es war dunkle Nacht, als schließlich alles vorbei war. Bei Fackelschein legte man die sterblichen Überreste MacLarens neben der kleinen Kapelle zu Grabe. Cathérine überwand sich, daran teilzunehmen, ebenso wie die Bauern, die aus sicherer Entfernung zusahen. Es lag so viel Furcht in ihren Augen, daß die junge Frau fröstelte. Wenn der Mönch nicht gewesen wäre, hätten sie Scott dieses fremdartige Ritual zweifellos nicht praktizieren lassen, und die fünf Schotten wären mit Mistgabeln und Beilen bedroht worden.

Nachdem die letzte Schaufel Erde auf das zurückgefallen war, was in keiner Sprache mehr einen Namen hatte, aber vor kurzem noch ein junger, lebenslustiger Mann gewesen war, stiegen die Schotten zu Pferde, die hölzernen Gesichter zu drohender Undurchdringlichkeit erstarrt, und machten sich, ohne Cathérine und die Ihren zu grüßen, von neuem auf den Weg ins Gebirge, über den Sattelbogen Scotts war ein roh gezimmerter Kasten geschnallt.

Die Nacht war kalt, und als die Männer verschwunden waren, blieben Cathérine, Sara und Bruder Etienne allein inmitten der Dunkelheit neben der kleinen Kapelle. Den Fluß konnte man nicht sehen, hörte aber sein brausendes Wasser. Etwas weiter entfernt erweckten die erleuchteten Fenster der Herberge den Eindruck zweier ins Dunkel geöffneter gelber Augen. Bruder Etienne hob die im Winde Funken sprühende Fackel, die ihm einer der Schotten dagelassen hatte.

»Gehen wir zurück«, sagte er.

»Ich möchte lieber sofort aufbrechen«, bat Cathérine. »Dieser Ort flößt mir Entsetzen ein.«

»Zweifellos, aber wir müssen dennoch warten, bis es Tag ist. Wir müssen über den Fluß setzen. Er ist angeschwollen und gefährlich. Wenn wir versuchen würden, ihn in der Dunkelheit zu durchwaten, würden wir in den Tod gehen … denn ich bin nicht sicher, ob sich die Leute hier die Mühe nähmen, uns zu Hilfe zu kommen und aus dem Wasser zu ziehen.«

»Gut, erwarten wir den Anbruch des Tages im Gastzimmer der Herberge, und trennen wir uns nicht. Ich könnte in dieses schreckliche Gelaß nicht mehr zurückkehren …«

Viertes Kapitel

Die Herberge zum Schwarzen Sarazenen in Aubusson hatte schon bessere Tage gesehen – damals, als die Gegend noch reich gewesen war, während der großen Messen, zu der Zeit schließlich, als Hungersnot und die Engländer das Land noch nicht zugrunde gerichtet hatten. In dieser gesegneten Zeit strömten die Reisenden nach Limoges, wo die wunderbare Kunst der Emaillierarbeiter ganze Scharen von Kaufleuten anzog. Andere kamen, um am Umschlagplatz für Wolle Schafe von der Hochebene zu kaufen. Die Feuer knisterten unentwegt, und die Bratenwender waren praktisch den ganzen Tag in Betrieb. Das Gelächter und die Rufe der Zecher mischten sich mit dem lustigen Klappern der Holzschuhe der hübschen Serviererinnen, Geräusche, die sich bei Einbruch der Nacht noch verstärkten.

Als jedoch Cathérine, Sara und Bruder Etienne dort eintrafen, am Abend eines langen, anstrengenden Tages, den sie in den verödeten, wilden Bereichen des Plateaus von Millevaches verbracht hatten, war das einzige vernehmbare Geräusch das Knarren des Wirtshausschildes, ehemals mit lustigen Farben bemalt und jetzt rostig und verblaßt, das windschief an seinem Träger hing. Die Nachtwächter stießen ins Horn und mahnten die Leute, die Türen zu schließen, und die kleine Stadt schien sich fröstelnd mit ihren engen schwarzen Gassen in die Schlucht zu ducken, die ihr Schutz bot. Oben auf einem Felsen breitete das alte Grafenschloß seine baufälligen Fassaden aus und ähnelte einer dicken, melancholischen Katze, die, zu einer Kugel zusammengerollt, eben im Begriff ist einzuschlafen. Die Straßen waren kaum belebt. Die wenigen, hastig vorübergehenden Leute warfen den drei Reisenden unruhige Blicke zu, die alsbald gleichgültig wurden, wenn sie feststellten, daß es sich nur um zwei Frauen und einen Mönch handelte.

Dennoch erregte das Hufeklappern der Pferde die Aufmerksamkeit eines im Tor des Schwarzen Sarazenen lehnenden Mannes in weißer Schürze, dessen dicker Bauch in traurigem Gegensatz zu seinem gelben Teint und seinen dünnen Beinen stand. Er hatte die schlaffen Wangen von Leuten, die zu schnell abgenommen haben, und der Seufzer, den er beim Anblick der Reisenden ausstieß, ließ erkennen, daß bei ihm seit langem Schmalhans Küchenmeister war. Doch zog er seine Mütze und ging den Ankömmlingen entgegen, die schon aus dem Sattel stiegen.

»Edle Damen«, sagte er höflich, »und Ihr, hochehrwürdiger Vater, womit kann der Schwarze Sarazene Euch dienen?«

»Indem du uns ein Nachtlager gibst und das Gedeck servierst, mein Sohn«, antwortete Bruder Etienne gut gelaunt. »Wir haben eine lange Reise hinter uns. Unsere Pferde sind müde … und wir auch. Können wir hier wohnen und etwas zu essen haben? Wir können bezahlen.«

»Ach, Euer Ehrwürden, Ihr könntet vor mir alles Gold der Welt ausbreiten und würdet trotzdem nichts anderes als eine Kräutersuppe und ein Stück Schwarzbrot vorgesetzt bekommen. Der Schwarze Sarazene ist leider nur noch ein Schatten dessen, was er einmal war, ach ja, und Euer Aufenthalt wird daran auch nicht viel ändern …« Ein enormer Seufzer unterstrich seine betrübliche Erklärung, und das neuerliche Hufgeklapper eines Pferdes in der Gasse ließ diesem ersten alsbald einen zweiten folgen.

»Um Himmels willen!« stieß der Wirt hervor. »Hoffentlich ist das nicht noch ein Gast!«

Unglücklicherweise für Meister Amable war es sehr wohl ein Reisender, wie der weite, staubbedeckte Mantel, in den er gehüllt war, und die schmutzigen Beine seines Pferdes bewiesen. Cathérine, die sich für die Probleme des Wirts nicht interessierte und vor allem begierig war, sich aufzuwärmen, trat bereits in den Gasthof, als die Stimme des Ankömmlings, der fragte, ob er für sich und sein Pferd Unterkunft bekommen könne, sie wieder zurückrief. Sie versuchte, das Gesicht des Reisenden im Schatten der großen grauen Kappe zu erkennen, die ihn bedeckte, aber der Wirt befreite sie schon durch seine Antwort aus ihrer Ungewißheit.

»Ach, Maître Coeur! Ihr wißt doch ganz genau, daß mein Haus, ob arm oder reich, für Euch immer geöffnet ist. Nur gebe der Himmel, daß der Tag wiederkehre, an dem der Schwarze Sarazene Euch willkommen heißen kann, wie es seiner Vergangenheit würdig ist!«

»Amen!« sagte Jacques Coeur mit gutem Humor. Er stieg aus dem Sattel, doch kaum hatten seine Stiefel den Boden berührt, als er auch schon Cathérine in den Armen hielt, die ihm vor Freude entgegengeeilt war.

»Jacques! Jacques! Ihr seid's? … Was für ein Glück!«

»Cathérine! Endlich … ich wollte sagen: Madame de Montsalvy! Was macht Ihr hier?«

»Sagt Cathérine zu mir, mein Freund! Ihr habt Euch das Recht dazu schon lange erworben. Wenn Ihr wüßtet, wie ich mich über dieses Wiedersehen freue! Wie geht es Macée und den Kindern?«

»Bestens, aber treten wir ein! Drinnen können wir uns besser unterhalten. Wenn du noch etwas hast, ein Feuer anzumachen, Meister Wirt, können wir soupieren. Du auch. Ich habe zwei Schinken in den Leinenbeuteln auf dem Sattel hinten. Auch Speck habe ich, Käse und Nüsse …«

Während sich Meister Amable, den Himmel mit Lobsprüchen überschüttend, auf die Lebensmittel stürzte, schob Jacques Coeur seinen Arm unter den Cathérines und ging mit ihr in die Herberge, Sara im Vorbeigehen mit einem freundlichen guten Tag grüßend. In dem niedrigen Saal, an dessen riesigen, geschwärzten Balken nur noch melancholische Zwiebelkränze statt des Pökelfleischs von einstmals hingen, trafen sie Bruder Etienne an, der sich, den Rücken dem Kamin zugekehrt und die Kutte bequem hochgehoben, wärmte. Cathérine wollte die beiden Männer einander vorstellen, bemerkte aber, daß sie sich schon kannten, und zwar sehr gut.

»Ich wußte nicht, daß Ihr aus dem Orient zurückgekehrt seid, Maître Coeur«, sagte der Mönch. »Die Kunde ist noch nicht bis zu meinen Ohren gedrungen.«

»Weil ich sozusagen auf Zehenspitzen zurückgekehrt bin. Ich hatte große Hoffnungen auf diese Reise gesetzt, und wenn ich auch hochinteressante Dinge und Menschen gesehen habe, so habe ich bei diesem Abenteuer doch alles verloren …«

Während Meister Amable und die einzige ihm noch verbliebene Bedienstete sich damit beschäftigten, das Mahl zu bereiten und den Tisch zu decken, setzten die Reisenden sich auf die Ofenbank, um sich aufzuwärmen. Cathérine, die glücklich war, einen so treuen Freund wiedergetroffen zu haben, konnte sich nicht genugtun, ihn zu betrachten. Und sehr häufig traf ihr Blick den Jacques'. Die braunen Augen des Pelzhändlers aus Bourges sprühten Funken, die nicht gänzlich auf den Widerschein des Feuers zurückzuführen waren, und seine schmalen Lippen öffneten sich halb zu einem glücklichen Lächeln.

Er erzählte, wie er im Frühjahr von Narbonne mit der Galeasse ›Notre-Dame et Saint-Paul‹, die dem Bürger Jean Vidal gehörte, aufgebrochen war und in Gesellschaft anderer Kaufleute aus Montpellier und Narbonne die östlichen Länder des Mittelmeers bereist habe, um dort die Richtlinien für zukünftige Wirtschaftsunternehmungen abzustecken. Er hatte Damaskus besucht, Beirut und Tripolis, Zypern und die griechischen Inseln, um seine Reise schließlich in Alexandrien und Kairo zu beenden. Er brachte Erinnerungen mit, deren Zauber in der Tiefe seines Blicks zu lesen war.

»Ihr müßtet in Damaskus leben«, sagte er zu Cathérine. »Die Stadt ist vor genau dreißig Jahren von den Mongolen Tamerlans geplündert und gebrandschatzt worden, aber hol' mich der Teufel, wenn man das heute noch sieht! Alles wird dort für die Schönheit der Frauen getan. Sie finden schimmernde Abendgewänder, durchsichtige Schleier, mit Gold oder Silber durchwirkt, unvergleichliche Duftwasser, wunderbare Kleinode und für ihre Naschhaftigkeit eine Menge Konfekt und Süßigkeiten, deren exquisiteste ohne Zweifel ein erstaunliches schwarzes Nougat und eine Art köstlicher kandierter Pflaumen sind, die man Myrobalane nennt.«

»Ich hoffe doch«, unterbrach Bruder Etienne, »daß Ihr von allem etwas mitgebracht habt. Der König schätzt solche Dinge sehr, von den Hofdamen ganz zu schweigen.«

Jacques Coeurs Seufzer fand ein Echo bei Meister Amable, als der Wirt den Pelzhändler solche köstlichen kulinarischen Genüsse beschwören hörte.

»Leider habe ich gar nichts mitgebracht. Meine Ladung Pelze, Tuche aus Berry und Korallen aus Marseille hatte sich gut verkauft, und ich hatte viele schöne und kostbare Dinge kaufen können. Unglücklicherweise befand sich die ›Notre-Dame et Saint-Paul‹ auf ihrer letzten Reise, mit anderen Worten, sie war nicht mehr die Jüngste. Auf der Höhe der Küsten Korsikas hatten wir einen heftigen Sturm zu bestehen, der uns auf einen Felsen warf, wo die Galeasse auseinanderbrach. Wir wurden ins Meer geworfen. Die Küste war nahe. Trotz des Orkans konnten wir das Land erreichen … und ein neues Unglück. Die Menschen von Korsika sind Halbwilde, und ihnen ist alles recht. Wenn das Meer ihnen nicht das Strandgut liefert, das sie sich sehnlichst wünschen, zünden sie Feuer am Ufer an, um die Schiffe auf verborgene Klippen zu locken. Das erklärt wohl zur Genüge, warum wir mit ihnen keine Verständigung über unsere Schiffsladung erzielen konnten. Die Räuber bargen zwar unser ganzes Hab und Gut, weigerten sich aber, es uns zurückzugeben. Darauf zu bestehen wäre gefährlich gewesen: Sie hätten uns mitleidslos getötet. Wir ließen sie also machen, was sie wollten, worauf sie sich freundlich und sogar gastfreundlich zeigten. Man geleitete uns sehr höflich zum Hafen Ajaccio zurück, wo wir ein Schiff fanden, dessen Kapitän bereit war, uns auf Grund unseres Versprechens, bei der Ankunft zu bezahlen, nach Marseille zu bringen. Ich bin völlig ruiniert und bettelarm nach Bourges zurückgekehrt«, schloß Jacques Coeur lachend.

»Völlig ruiniert?« fragte Cathérine erstaunt, die der Erzählung ihres Freundes mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit gefolgt war. »Aber Ihr scheint mir die Sache mit Humor zu nehmen!«

»Was würde das Klagen nützen? Ich bin schon einmal ruiniert gewesen, durch jene unangenehme Geschichte mit der Münzherstellung für den König, die ich mit Ravand, dem Dänen, zusammen übernommen hatte. Auch damals habe ich wieder von vorn angefangen, wie ich heute von vorn beginnen werde, ich komme aus Limoges, wo ich Handelsabschlüsse in Emailwaren getätigt habe, und ich hoffe, hier ein oder zwei dieser Gobelins zu finden, deren Herstellungsgeheimnis die Sarazenen, wie es heißt, einst in diese Stadt gebracht haben sollen. Ich habe mir etwas Geld von meinem Schwiegervater leihen können, leider zu wenig, aber es wird mir trotzdem ermöglichen, eine kleine Schiffsladung für die nächste Reise zusammenzustellen.«

»Ihr wollt wieder reisen?«

»Natürlich. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, Cathérine, welche Aussichten und geschäftlichen Möglichkeiten der Orient bietet! Zum Beispiel der Sultan von Kairo. Er besitzt Gold in fabelhaften Mengen, aber er hat kein Silber oder zuwenig. Ich kenne nun alte Bergwerke, die früher von den Römern abgebaut und seither aufgegeben wurden. Aufgegeben, aber nicht erschöpft. Könnte ich die Förderung wiederaufnehmen und das Silber nach Kairo transportieren, würde es mich in die Lage versetzen, Gold zu kaufen, unendlich viel billiger als in Europa, und phantastische Gewinne zu erzielen. Ah, wenn mir jetzt große Kapitalien zur Verfügung ständen!«

Während Jacques Coeur sprach, wanderte Cathérines Phantasie. Dieser Mann, dessen wache Intelligenz, dessen Mut und Kühnheit sie kannte, war fähig, die Welt umzukrempeln, um ihr das Glück zu entreißen. Was Ideen betraf, quoll Jacques geradezu von ihnen über. Sie zögerte keinen Augenblick.

»Dieses Kapital, mein Freund, glaube ich Euch beschaffen zu können.«

»Ihr?«

Das ehrliche Erstaunen des Pelzhändlers war offenkundig. Während des langen Aufenthalts in Carlat hatte Cathérine Macée in einem Brief die Katastrophe von Montsalvy berichtet, und wie jedermann in der königlichen Umgebung wußte er, daß Arnaud und die Seinen geächtet waren und daß nach ihnen gefahndet wurde. Auch die ganze Aufmachung Cathérines sah ihm nicht gerade nach Reichtum aus. Die junge Frau lächelte leise, wühlte in ihren Taschen.

»Allein dieser Stein, glaube ich, verbürgt die Ladung einer ganzen Galeasse.«

Drei erstaunte Rufe wurden gleichzeitig neben ihr ausgestoßen. Auf ihrer Hand funkelte Garins Diamant wie eine kleine schwarze Sonne. Vor lauter Aufregung hatte Meister Amable mit kugelrunden Augen einen Topf fallen lassen, während seine Küchenhilfe instinktiv die Hände faltete. Die plötzlich zusammengekniffenen Augen Jacques' wanderten von dem wundervollen Juwel zu dem gleichmütigen Gesicht Cathérines.

»Da ist er also«, sagte er langsam, »der berühmte Diamant des Finanzministers von Burgund! Welcher Glanz! Noch nie habe ich einen Stein gesehen, der diesem zu vergleichen wäre.«

Er streckte die Hand aus, nahm den fabelhaften Stein vorsichtig zwischen zwei Finger und ließ sein Feuer im Licht spielen. Ein Flammengefunkel entzündete sich zwischen seinen Fingerspitzen. Leichte Röte stieg in Cathérines Wangen.

»Nehmt ihn, Jacques, verkauft ihn und holt aus ihm heraus, was Ihr könnt.«

»Ihr wollt ein solches Wunder nicht behalten? Wißt Ihr, daß in diesem kleinen Stein das Lösegeld eines Königs steckt?«

»Ich weiß es. Ich weiß aber auch, daß es ein verwünschter Stein ist. Er verbreitet überall Unglück, wohin er kommt, und die, die ihn besitzen, haben nie Glück. Man muß ihn verkaufen, Jacques … Vielleicht wird mich dann das Unglück verschonen«, fügte sie tonlos hinzu.

Der leise Unterton ihrer Stimme entging dem Pelzhändler nicht. Seine freie Hand legte sich sanft auf die zitternden Hände der jungen Frau.

»Ich glaube nicht an solche Geschichten, Cathérine. Die Schönheit kann nicht unheilvoll sein, und dieser Diamant repräsentiert die reine Schönheit. Wenn Ihr mir ihn anvertraut, werde ich den Wohlstand des gesamten Königreichs daraus ziehen. Ich werde Karavellen über See schicken, werde Kontore errichten, werde diesem verwüsteten Boden seine Reichtümer entreißen und sie ihm in Hülle und Fülle wiedergeben. Ich werde Euch, mir und dem König obendrein ein Vermögen schaffen.«

Er reichte ihn Cathérine von neuem hin, aber sie schob ihn mit einer gleichermaßen sanften und entschlossenen Bewegung zurück.

»Nein, Jacques, behaltet ihn! Er gehört Euch! Ich hoffe, Ihr könnt ihm wirklich seinen bösen Zauber entreißen und ihn dem Wohl aller dienstbar machen. Wenn Ihr keinen Erfolg mit ihm habt, dann bedauert es nicht. Ich gebe ihn Euch.«

»Ich nehme ihn nur in Kommission, Cathérine, oder als Darlehen, wenn Euch das lieber ist. Ich werde Euch das Hundertfache zurückzahlen. Ihr werdet Montsalvy wiederaufbauen, und Euer Sohn wird zu den Größten dieser Welt zählen, deren klangvolle Namen zwangsläufig mit einem großen Vermögen verbunden sind. Aber … dieser Wirt läßt uns ja Hungers sterben! Hallo, Meister Amable, wie steht's mit dem Abendessen?«

Aus seinen Träumen gerissen, lief der würdige Gastwirt eilig in seine Küche, um die zuvor angekündigte Kräutersuppe zu holen. Jacques Coeur erhob sich und bot Cathérine die Hand.

»Kommt zum Souper, meine liebe Teilhaberin, und Gott sei gesegnet, daß er Euch mir über den Weg geführt hat. Wir werden es weit bringen, Ihr und ich, oder ich müßte nicht Jacques Coeur heißen.«

Er half ihr, am Tisch Platz zu nehmen, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß Amable und seine Bedienstete sich entfernt hatten, flüsterte er: »Es war leichtsinnig von Euch, diesen Stein in einer Herberge vorzuzeigen. Amable ist ein anständiger Mann, aber zweifellos überseht Ihr, daß La Trémoille diesen schwarzen Diamanten haben will. Sein Vetter Gilles de Rais war so unvorsichtig, ihm davon zu erzählen, und er träumt nur davon, ihn sich anzueignen. Ihr werdet sehr vorsichtig sein müssen, meine Teure, wenn Ihr an den Hof kommt.«

»Gut, gut, aber das ist ja ausgezeichnet! Verkauft ihm den Diamanten.«

Jacques Coeur lachte trocken auf und hob die Schultern.

»Seid Ihr noch immer so naiv? Wenn der Kämmerer erführe, daß ich diesen Stein besitze, würde ich nicht mehr viel für meinen Kopf geben. Warum soll er ihn bezahlen, wenn er ihn sich so leicht nehmen … und mich notfalls umbringen lassen kann?«

»Das ist also der Grund, weshalb der Kastilier Villa-Andrado mich mit dem Segen La Trémoilles heiraten will. Die Liegenschaften von Montsalvy würden zweifellos dem Spanier übergeben werden, während der Diamant La Trémoille für seine Hilfe belohnte.«

»Ihr macht Euch zu klein, meine Teure. Der Kastilier ist wirklich in Euch verliebt, glaube ich. Euch will er haben, aber natürlich verschmäht er auch Eure Ländereien nicht. Der König hat sie konfisziert und würde sie ihm ohne Zweifel übereignen.«

»Auf jeden Fall«, mischte Bruder Etienne sich ein, »nehme ich an, daß der Diamant sich schon morgen mit Euch von Dame Cathérine trennen wird.«

»Nachdem der Handel hier abgeschlossen ist, reise ich nach Beaucaire weiter. Die jüdische Gemeinde da unten ist reich und mächtig. Ich kenne einen Rabbiner, Isaac Abrabanel, dessen Bruder einer der Judenältesten von Toledo ist, und die Familie ist ungeheuer reich. Ich werde bei ihm jeden Goldbetrag auf diesen Diamanten bekommen, den ich haben möchte …«

Um ihn zu warnen, daß der Wirt zurückkam, hüstelte Bruder Etienne, kreuzte die Finger, steckte die Nase in seinen Napf und begann dann fromm das Tischgebet, dem jeder andächtig lauschte, worauf man sich daranmachte, die von der Reise so schwer mitgenommenen Kräfte wieder aufzufrischen. Cathérine fühlte sich außerordentlich erleichtert, seitdem sie den schwarzen Diamanten in Jacques Coeurs Geldkatze hatte verschwinden sehen. Es war ein guter Einfall von ihr gewesen, denn dies war ein wichtiger, auf die Zukunft gezogener Wechsel. Auf jeden Fall würde Michel eines Tages reich sein, und selbst wenn seinen Eltern die königliche Begnadigung nie gewährt würde, könnte er außerhalb der Grenzen Frankreichs frei und im Überfluß leben. Aber Cathérine wollte mehr, Cathérine wollte etwas Besseres. Das Vermögen war nur ein Teil ihres Plans. Was sie dem Schicksal abtrotzen wollte, war das Ende des Großkämmerers und ihre und Arnauds Amnestierung durch den König. Der Name Montsalvy mußte wieder in seinem alten Glanz erstrahlen, oder ihr Leben hätte keinen Sinn mehr.

Das Diner, das Meister Amable mit allen Anzeichen tiefen Respekts servierte, verging ganz damit, daß sich die Tafelnden die Zukunftspläne Jacques Coeurs anhörten. Aus Diskretion hatte er Cathérine weder Fragen über ihren Gatten noch über ihr Reiseziel gestellt. Ihrem Entschluß getreu, Arnauds Namen davor zu bewahren, nur mit Entsetzen genannt zu werden, hatte Cathérine Macée seinen Tod mitgeteilt. Zweifellos wollte der Pelzhändler vermeiden, durch eine ungeschickte Frage ihren Schmerz wieder zu wecken, der vielleicht nachgelassen hatte. Und Cathérine war ihm dankbar für seinen Takt. Doch häufig kreuzte sich ihr Blick mit dem des Pelzhändlers, und sie glaubte, eine Art Frage gemischt mit Verwirrung in ihm zu lesen. Er mußte sich fragen, welche Worte er wählen sollte, um sich zu erkundigen, was sie in Zukunft vorhatte, was sie aus ihrem Leben machen wollte, ohne indiskret oder verletzend zu sein. Schließlich hatte er einen guten Einfall:

»Ich habe vorhin gesagt, daß der Orient Euch gut bekommen würde, Cathérine. Warum wagt Ihr das Abenteuer nicht mit mir?«

Sie gab ihm sein Lächeln zurück, hob aber ein wenig überdrüssig die Schultern.

»Weil diese Art Abenteuer nichts für mich ist, Jacques. Ich habe für eine Anzahl Menschen zu sorgen und noch viel auf dieser unglücklichen Erde zu tun. Seid gewiß, daß ich den Kampf, der mich erwartet, gern gegen alle Stürme des Mittelmeers tauschen würde, wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, bis zum Ende durchzuhalten.«

Eine Bewegung Jacques', gleichermaßen diskret und entschieden, schnitt ihr das Wort ab. Sie schwieg sofort, sah den Pelzhändler an. Die scharfen Augen Jacques Coeurs durchforschten die Schatten im Hintergrund des Saals mit seltsamer Intensität, und zwar speziell dort, wo Meister Amable verschwunden war. Und als er sich Cathérine wieder zuwandte, sprach er nur noch von nebensächlichen Dingen, ließ jedes Thema, das gefährlich sein konnte, fallen. Und sobald die Mahlzeit beendet war, stand er auf, reichte Cathérine die Faust, so um die Ehre bittend, sie auf ihr Zimmer geleiten zu dürfen. Wie durch Zauberei erschien Meister Amable wieder, eine Kerze in der erhobenen Hand, und schritt ihnen zum oberen Stock voraus. Sara und Bruder Etienne bildeten den Schluß des Zuges. Die zum Umfallen müde Zigeunerin hatte die größte Mühe, die Augen offenzuhalten. Doch Cathérines Augen waren noch nicht vom Schlaf befallen. Die junge Frau hielt sie im Gegenteil weit offen, erstaunt, die hohen schwarzen Schatten, die der Widerschein der Wachskerze auf die gelbe Wand warf, beunruhigend zu finden. Warum eigentlich war das Gefühl der Erleichterung, das sie noch vor kurzem empfunden hatte, auf einmal geschwunden? Warum hatte sich eine unerklärliche Furcht in ihr Herz geschlichen? Der verwünschte Diamant hatte den Besitzer gewechselt, ihr Glück hatte mit dieser Geste begonnen, und sie hatte absolutes Vertrauen in ihr Glück. Was war es also?

Vor dem Zimmer, das Cathérine mit Sara teilen mußte, trennte man sich steif! Die beiden Frauen schlossen sich in ihr Zimmer ein, während der Pelzhändler und der Mönch zum nächsten Stock hinaufstiegen. Die Stille der Nacht hüllte bald den Schwarzen Sarazenen ein. Sara hatte sich voll angezogen in ihren Kleidern aufs Bett geworfen und schlief sofort ein. Cathérine begnügte sich, Kleid und Stiefel auszuziehen, und legte sich dann neben sie.

Leises Klopfen an der Tür riß sie aus tiefem Schlaf, in den auch sie gesunken war. Eigentlich eher ein Kratzen, ein Scharren, so daß sie sich einen Augenblick zögernd fragte, ob es nicht eine Maus war. Doch nein, es stimmte schon; jemand klopfte an die Tür …

Es war stockdunkel im Zimmer, die Kerze war bis auf den Stumpf heruntergebrannt, und Cathérine tastete sich zum Türrahmen, wo das Klopfen von neuem zu hören war, besorgt, nicht an ein Möbelstück zu stoßen und womöglich das ganze Haus aufzuwecken. Die Person, die sich so leise und diskret durch Klopfen ankündigte, konnte kein Interesse daran haben, Aufmerksamkeit zu erregen … Die Tür öffnete sich schließlich, und Cathérine sah Jacques Coeur mit einer Kerze bewaffnet auf der Schwelle stehen. Er war völlig angezogen, die Kappe auf dem Kopf und im Mantel. Den Finger eindringlich auf die Lippen legend, gebot er Cathérine Schweigen, schob sie dann sanft zurück, trat eigenmächtig über die Schwelle und schloß die Tür hinter sich. Sein Gesicht trug einen beunruhigend ernsten Ausdruck.

»Verzeiht die Störung, Cathérine, aber wenn Ihr keinen großen Wert darauf legt, bei Tagesanbruch mit dem Gefängnis der Grafschaft Bekanntschaft zu machen, dann rate ich Euch, Euch anzuziehen, Sara zu wecken und mir zu folgen. Bruder Etienne dürfte schon im Stall sein.«

»Aber … warum so früh? Wieviel Uhr ist es denn?«

»Eine Stunde nach Mitternacht. Ich gebe zu, daß es ein wenig früh ist, aber die Zeit drängt.«

»Warum?«

»Weil der Anblick eines gewissen Diamanten den Verstand eines bislang ehrlichen Mannes getrübt hat. Damit will ich sagen, daß Meister Amable soeben, nachdem er seine Herberge abschloß, zum Profos geeilt ist, um uns als gefährliche Missetäter anzuzeigen, nach denen von Monseigneur dem Großkämmerer gefahndet wird. Das exotische Aussehen Saras und die Tatsache, daß ich den Juden Abrabanel erwähnte, haben seiner Denunziation den leichten Ruch von Hexerei, von Zauberkunst hinzugefügt. Kurz, um einen Anteil an dem fabelhaften Kleinod zu bekommen, ist Meister Amable bereit, uns auf den Scheiterhaufen zu schicken.«

»Woher wißt Ihr das alles?« fragte Cathérine, zu verdutzt, um wirklich erschreckt zu sein.

»Erstens, weil ich unserem würdigen Gastgeber gefolgt bin, als er aus dem Haus ging. Sein Verhalten während des Abendessens kam mir verdächtig vor. Er wurde abwechselnd rot und blaß, seine Hände zitterten wie Blätter im Wind, und sein Blick blieb hartnäckig auf meine Geldkatze gerichtet. Ich kenne ihn schon geraume Zeit, aber ich habe gelernt, Menschen zu mißtrauen, wenn Gold im Spiel ist. Die Kammer, die ich mit Bruder Etienne teile, liegt glücklicherweise über der Herbergstür. Ich habe mich auf die Lauer gelegt, weil mich eine Vorahnung trieb, und habe unseren Gastwirt tatsächlich heimlich sich fortstehlen sehen, als er annehmen konnte, daß jedermann schliefe. Da mir die Geduld fehlte, die Treppe zu benutzen, ließ ich mich schleunigst am Fachwerk des Hauses zu Boden gleiten und machte mich auf Amables Spur. Als ich ihn die Auffahrt zum Schloß hinaufgehen sah, war mir klar, daß ich recht gehabt hatte, ihn zu überwachen.«

»Und dann?« fragte Cathérine, vor Kälte zitternd, und beeilte sich, ihr Kleid wieder überzuziehen. »Was ist dann passiert? Seid Ihr sicher, daß er uns denunziert hat?«

»Das ist eine Frage, die Ihr nicht stellen würdet, wenn Ihr ihn händereibend hättet fortgehen sehen. Außerdem konnte ich mich vergewissern, daß ich mich nicht täuschte. Bei Tagesanbruch soll eine Abteilung des Profosen uns verhaften, und zwar noch vor Öffnung der Stadttore.«

»Wer hat Euch das gesagt?«

Jacques Coeur lächelte, und Cathérine sagte sich, daß er für einen von Gefängnishaft bedrohten Mann sehr ruhig und gelassen schien.

»Zufällig habe ich zwei oder drei Freunde in dieser Stadt, was Meister Amable nicht weiß. Der Zweitälteste Sohn einer der beiden Inhaber des Fabrikationsgeheimnisses der Gobelins ist Sergeant in der Garnison. Ich bin einfach frech zum Schloß gegangen, habe mich auf der Wachstube gemeldet, ohne natürlich meinen Namen zu nennen, und habe ihn zu sprechen verlangt.«

»Ohne Schwierigkeiten?«

»Ein Goldstück vermag viel. Cathérine, und zufällig hat der junge Esperat einen gesunden Sinn fürs Kommerzielle. In dem Wunsch, seinem Vater einen guten Kunden zu erhalten, hat er gar keine Schwierigkeiten gemacht, mich über die Befehle, die er für den Tagesanbruch erhalten hat, ins Bild zu setzen.«

Cathérine hatte ihr Kleid nun geschnürt und schüttelte jetzt Sara, die sich schwer wecken ließ.

»Es ist sehr hübsch, so gut unterrichtet zu sein«, murrte sie. »Aber da wir keine Vogelflügel haben, sehe ich nicht, wie wir aus einer mit hohen Mauern umgebenen und mit schweren, wohlverschlossenen und bewachten Toren versehenen Stadt hinauskommen sollen. Wir sitzen in einer Mausefalle, denn die Stadt scheint mir zu klein, als daß man sich in ihr verstecken könnte.«

»Trotzdem werden wir hinauskommen … jedenfalls hoffe ich's. Beeilt Euch, Cathérine. Bruder Etienne muß schon bei den Pferden sein.«

Cathérine schlug die großen Augen auf und sah Jacques an, als wäre er plötzlich verrückt geworden.

»Wollt Ihr etwa zu Pferde fort? Ihr fürchtet Euch wahrhaftig vor nichts. Ein Pferd macht doch Geräusche. Und nun erst vier Pferde!«

Ein flüchtiges Lächeln erhellte das ernste Gesicht des Pelzhändlers. Seine Hand legte sich einen kurzen Augenblick auf Cathérines Schulter und drückte sie.

»Wollt Ihr nicht versuchen, mir Vertrauen entgegenzubringen, meine Freundin? Ich kann natürlich keinen Eid leisten, daß der Schritt, zu dem ich Euch überrede, richtig ist. Ich sage nur, daß ich mein Bestes tun werde. Aber genug der Worte! Kommt!«

Im Nu machten die beiden Frauen sich fertig. Die Gefahr witternd, beeilte sich Sara, ohne unnütze Fragen zu stellen. Vorsichtig Jacques Coeur folgend, mühten sie sich mit der abgetretenen Treppe ab, setzten die Füße so nahe wie möglich am Geländer auf, um zu vermeiden, daß ihre Schritte zu hören waren. Die Stille war so tief, daß schon das Geräusch ihres Atems sie in Schrecken versetzte. Sie erreichten unbehindert das Erdgeschoß. Jacques Coeur, der Cathérine an der Hand hielt, zog sie schnell quer durch die Gaststube zur Hintertür der Herberge. Dort genügte es, darauf zu achten, nicht an die Bank oder den Tisch zu stoßen, denn die steinernen Fliesen des Bodens ächzten nicht. Als der Pelzhändler aber die Hand auf die Klinke legte, hielt ein trockenes Knacken ihn zurück und veranlaßte ihn und seine Begleiterinnen, sich mit klopfenden Herzen an die Wand zu pressen.

Es war nur eine Lächerlichkeit. Die Dienstmagd hatte die Glut mit Asche bedeckt, um das Feuer am Morgen nicht erst wieder anzünden zu müssen, und ein glimmendes Holzscheit mußte geborsten sein. Jacques atmete erleichtert auf, während Cathérine einen Seufzer ausstieß. Sie tauschten einen Blick und ein ziemlich zitterndes Lächeln. Langsam, Zoll um Zoll, öffnete sich die Kastanienholztür. Jacques blies seine Kerze aus, stellte sie auf den Boden, zog Cathérine hinter sich her, und Sara schloß die Tür wieder. Unter dem Wetterdach ihnen gegenüber drang ein Lichtschimmer aus der Stalltür, dem sie zustrebten.

»Wir sind's, Pater!« flüsterte Jacques.

Bruder Etienne war tatsächlich im Stall an der Arbeit. Mit Hilfe von Lappen, die er in der Küche des Gastwirts hatte entwenden können, umwickelte er sorgfältig die Hufe der Pferde, und das mit solcher Ruhe, als läse er sein Brevier. Jacques und Sara halfen ihm dabei. Nach einigen Augenblicken war alles für den Aufbruch fertig, und während Cathérine eiligst den Torweg öffnete, führten die drei anderen, den Pferden die Nüstern zuhaltend, eins nach dem anderen so lautlos wie möglich auf die Straße. Diese verlief auf die Kirche Sainte-Croix zu. Von dort zog sich eine Art Marktplatz zum Bergfried und zum Schloß hinauf, dessen vierschrötige Umrisse sich vom dunklen Himmel abhoben. Cathérine raffte ihren Mantel um den Hals zusammen. Der Wind, der von der Ebene her blies, war scharf, trocken und schneidend. Kein Licht durchdrang die Nacht, ausgenommen bei der Zugbrücke des Schlosses oben, wo ein Feuer in einer Eisenpfanne wie ein roter Stern glänzte. Der steinerne Wasserfall der Häuser schien der kunstlosen Festung zu entspringen, deren zackige Krone die spitzgiebligen Dächer beherrschte, die sich eins aufs andere stützten. Weiter unten, vor der Kirche, erhob sich eine Art Turm aus fensterlosen Mauern.

»Das Gefängnis!« sagte Jacques Coeur nur, als ob er den Mut Cathérines stärken wollte. »Folgt mir. Wir müssen zum Schloß hinauf.«

»Zum Schloß?« fragte Cathérine wie ein Echo.

»Natürlich. Justin Espérât erwartet uns dort an der Umfassungsmauer. Da oben, dem Plateau zu, geht nämlich die Mauer des Kastells in die Stadtmauer über.«

»Und dann? Ich begreife immer noch nichts.«

»Ihr werdet schon begreifen. Der Himmel ist offenbar mit uns. Der Frost war in diesem Winter so stark, daß Steine gesprungen sind und in der Mauer sich eine Bresche geöffnet hat. Natürlich wird diese Bresche bewacht, bis das Ende der Frostperiode die Ausbesserung gestattet. Und es trifft sich gut, daß Espérât von der ersten Morgenstunde an dort Wache hat.«

Diesmal schwieg Cathérine. Sie hatte nichts mehr einzuwenden. Und dann war der Aufstieg mühsam, und je länger man stieg, desto mehr erschwerte die Kälte das Atmen. Zudem mußten sie die Tiere fest am Zügel halten, damit sie nicht ausglitten.

Bald wurden die Schatten dichter. Sie folgten der Fassade des Schlosses. Die große Zugbrücke war hochgezogen, doch die des Ausfalltors war an Ort und Stelle. Ein Soldat stand Wache, schwer auf seine Lanze gestützt. Dort brannte auch die Feuerpfanne. Jacques Coeur hob die Hand, um Halt zu gebieten, und näherte sich Cathérine.

»Wir müssen fast direkt vor der Nase des Postens vorbei. Dafür gibt es nur ein Mittel: ihn beschäftigen!« flüsterte er.

»Aber wie?«

»Ich glaube, das geht Bruder Etienne an. Unglaublich, was man mit einer Franziskanerkutte alles anstellen kann!«

Ohne Zweifel wollte Cathérine um weitere Erklärungen bitten, doch der Mönch reichte Jacques Coeur bereits die Zügel seines Pferdes.

»Laßt mich machen! Paßt nur den richtigen Augenblick ab, und macht sowenig Lärm wie möglich.«

Der Mönch streifte seine Kapuze wieder über den Kopf, schob die Hände in seine Ärmel und machte sich beherzt auf den Weg, dem Lichtklecks entgegen, in dem der auf seine Lanze gestützte Soldat friedlich döste. Gedeckt hinter ihrer Strebemauer, hielten die anderen den Atem an. Das Geräusch der Schritte des Mönchs hatte den Soldaten aufgeschreckt. Hastig richtete er sich auf.

»Wer ist da?« fragte er mit vor Müdigkeit heiserer Stimme. »Was wollt Ihr, Pater?«

»Ich bin Pater Ambrosius vom Kloster Saint-Jean«, log der Kapuziner mit prächtiger Sicherheit. »Ich komme, um dem im Sterben liegenden Mann die Sakramente zu geben.«

»Jemand liegt im Sterben?« fragte der Soldat erstaunt. »Wer soll denn das sein?«

»Wie kann ich das wissen? Einer von euch kam und bat um einen Priester, der die Beichte abnehmen soll. Mehr hat man mir nicht gesagt!«

Der Posten schob seinen Helm zurück und kratzte sich den Kopf. Offensichtlich wußte er nicht, wozu er sich entschließen sollte. Schließlich schulterte er seine Waffe.

»Ich hab' diesbezüglich keine Befehle, Pater. Folglich kann ich's auch nicht auf mich nehmen, Euch Einlaß zu gewähren. Geduldet Euch einen Augenblick!«

»Beeilt Euch, mein Sohn!« sagte Bruder Etienne mürrisch. »Der Wind ist schneidend!«

Der Mann verschwand unter dem niedrigen Spitzbogen des Ausfalltors. Er ging zur Wachstube, um Instruktionen einzuholen.

»Jetzt!« flüsterte Jacques Coeur.

Sie verließen ihre Deckung und überquerten schnell das erleuchtete Gelände. Die mit Tüchern umwickelten Hufe der Pferde verursachten kein Geräusch. Drei Herzschläge, und schon waren sie wieder ins Dunkel getaucht, aber Cathérines Atem ging so heftig, als hätte sie einen langen Lauf hinter sich. Der Winkel eines Turmvorsprungs bot den Flüchtigen neue Zuflucht. Inzwischen erschien der Soldat von neuem.

»Entschuldigt, Pater, aber man hat Euch schlecht informiert! In dieser Nacht liegt niemand im Sterben.«

»Aber ich bin sicher …«

Der Mann schüttelte mißbilligend und ehrlich betrübt den Kopf.

»Es kann nur ein Irrtum sein. Oder vielleicht hat jemand einen Schabernack mit Euch getrieben …«

»Einen Schabernack? Und das einem Diener des Herrn? Oh, mein Sohn!« entrüstete sich der Mönch mit vollkommener Unbefangenheit.

»Verflixt! In den unglücklichen Zeiten, in denen wir leben, Pater, darf man über rein gar nichts erstaunt sein. An Eurer Stelle würd' ich mich tummeln und schleunigst zu Eurem Ofen zurückkehren!«

Bruder Etienne hob die Schultern und zog seine Kapuze tiefer über sein Gesicht.

»Da ich nun schon mal draußen bin, werd' ich zum Clermonttor gehen und die alte Marie besuchen, der es sehr schlecht geht! Die Nächte sind lang, wenn der Tod sich nähert, und in den ersten Morgenstunden ist die Todesangst meist am schlimmsten! Gott behüte Euch, mein Sohn!« Bruder Etienne erteilte flüchtig seinen Segen und verließ dann den Lichtkreis, während der Soldat sich neuerlich auf seine Waffe stützte und seine trübsinnige Wache wiederaufnahm.

Einige Augenblicke später war der Franziskaner wieder bei den drei anderen angelangt. Je weiter die Nacht fortschritt, desto schärfer wurde die Kälte, und hinter der dicken, rauhen Mauer der Stadt, in deren Schutz sich ein paar baufällige, dem Untergang geweihte Häuser duckten, hörte man den Wind pfeifen und ungehindert über das Hochplateau fegen. Wortlos hatte Jacques Coeur sich wieder an die Spitze des kleinen Trupps gesetzt. Man wand sich jetzt durch einen engen Schlauch, der sich zwischen der Stadtmauer und der des Schlosses hinzog und in einer Sackgasse endete. Vom Boden stiegen unerträgliche Gerüche auf, so stark, daß selbst die Kälte sie nicht zu mildern vermochte. Cathérine, die mutig gegen den Brechreiz ankämpfte, hatte das Gefühl, in eine klebrige, feuchte Welt einzudringen, in der die Luft sich in ekelhaften Gestank verwandelte. Die mit Tüchern umwickelten Hufe der Pferde glitten auf unzähligen Abfällen aus. Der Fluß war weit, die Menschen dieses Viertels hatten da einen bequemen Schuttabladeplatz gefunden.

Plötzlich schien die Mauer sich zu teilen, der Himmel tauchte wieder auf, und eine dunkle Silhouette hob sich vom Schatten ab.

»Seid Ihr es, Maître Coeur?«

»Ja, wir sind's, Justin. Haben wir uns verspätet?«

»Sehr verspätet. Ihr müßt vor Tagesanbruch noch viel einholen. Beeilt Euch!«

Cathérines Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie konnte die schmale Gestalt eines jungen Bogenschützen erkennen, konnte deutlicher den Fleck eines Gesichts unter dem Eisenhut ausmachen. Ein Jagdhorn hing am Riemen an der Seite des jungen Mannes. Einen kurzen Augenblick sah sie zwei lebhafte Augen blitzen.

»Bist du sicher, daß du keine Scherereien bekommen wirst, Justin?«

»Keine Sorge. Der Profos wird denken, Meister Amable habe zuviel getrunken, und niemand wird auf den Gedanken kommen, hier nachzuforschen, übrigens werden die mit Tüchern umwickelten Hufe eurer Pferde keinerlei erkennbare Spuren in diesem Dreck hinterlassen …«

»Du bist ein tapferer Bursche, Justin. Ich werde mich erkenntlich zeigen.«

Das leise Lachen des jungen Mannes klang in die Nacht, sorglos, tröstlich.

»Dankt meinem Vater, Maître Jacques, indem Ihr ihm ein schönes Stück in Auftrag gebt, wenn Ihr reich und mächtig geworden seid. Er träumt davon, den schönsten Gobelin der Welt zu weben, und hört nicht auf, schöne Damen und phantastische Tiere zu entwerfen.«

»Dein Vater ist ein großer Künstler, Justin, das weiß ich seit langem. Ich werde ihn bestimmt nicht vergessen. Auf Wiedersehen, mein Kind, und nochmals vielen Dank! Denn ich weiß, daß du einiges riskierst, trotz allem, was du sagst!«

»Wenn es kein Risiko gäbe, Messire, wo bliebe da die Freundschaft? Geht mit Gott, und macht Euch um mich keine Sorgen, aber beeilt Euch, um Himmels willen!«

Ohne noch ein Wort hinzuzufügen, drückte Jacques dem jungen Mann die Hand und half dann Cathérine, über die von der Verbindungsmauer heruntergefallenen Steine zu klettern. Dahinter lag die Freiheit. Ein kleines Plateau breitete sich vor ihnen, über das heftiger Wind blies, und weiter entfernt stieg der Hügel wieder an. Während einiger Augenblicke schritten die Flüchtlinge wortlos voran, die Pferde noch immer am Zügel führend. Die Nacht schien jetzt weniger schwarz zu sein, oder aber die Augen hatten sich völlig an die Dunkelheit gewöhnt. Cathérine konnte die Formen der Bäume unterscheiden, deren nackte Äste sich unter den plötzlichen Windstößen bogen.

An einer durch ein Kruzifix markierten Wegkreuzung hielt Jacques an.

»Hier trennen wir uns, Cathérine. Dieser Weg«, sagte er, auf den rechten Weg deutend, der den Hügel hinanstieg, »ist der meine. Er führt nach Clermont, von wo ich in die Provence hinuntersteigen werde. Eurer ist der linke. In kurzer Entfernung findet Ihr die Priorei Saint-Alpinien, wo Ihr, wenn Euch danach ist, den Tagesanbruch erwarten und Euch ein wenig ausruhen könnt.«

»Das kommt nicht in Frage, Jacques! Ich möchte so viele Wegmeilen wie möglich zwischen uns und das Gefängnis von Aubusson bringen. Aber es tut mir leid, Euch verlassen zu müssen …«

Instinktiv, um noch einen Augenblick allein sein zu können, entfernten sich der Pelzhändler und die junge Frau über das Kreuz hinaus und überließen es Sara und Bruder Etienne, den Pferden die Tücher von den Hufen zu wickeln. Cathérine empfand tiefes Bedauern bei dem Gedanken an die bevorstehende Trennung. Jacques stellte die Solidität, die ermutigende männliche Kraft dar, deren Gauthiers Flucht sie beraubt hatte und die sie jetzt so grausam vermißte. Die schwarzen, dem Morgen vorangehenden Stunden lasteten mit all ihrer Verzweiflung schwer auf ihr, und Todesangst überfiel sie angesichts all der unbekannten Wege, die sie noch einzuschlagen hatte.

Noch nie vielleicht war ihr das Fehlen eines wahren Heims, eines normalen Lebens so herzzerreißend zum Bewußtsein gekommen wie hier, am Fuße dieses Steinkreuzes. Spontan ergriff sie Jacques' Hand und klammerte sich an sie, während ihr die Tränen in die Au gen stiegen.

»Jacques«, murmelte sie, »bin ich denn zur ewigen Heimatlosigkeit verdammt, zur Einsamkeit ohne Ende?«

In den gespannten Zügen des Pelzhändlers rührte sich etwas. Cathérine hatte das Gesicht zu ihm erhoben, und so stark war der Zauber, der von ihrer Schönheit ausging, selbst im Herzen einer dunklen Nacht, daß ihm schwarz vor den Augen wurde und ein verrückter Gedanke in seinem sonst so besonnenen Gehirn aufblitzte. Er begriff nicht, daß Cathérine einer vorübergehenden Depression unterlag, geboren aus der Nacht, der Kälte und ihrer Erschöpfung viel eher als aus der Vernunft. Er drückte die ihm gereichten Hände und legte sie sich auf die Brust.

»Catherine«, rief er, und seine Stimme war, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, von Leidenschaft erfüllt, »trennen wir uns nicht! Kommt mit mir! Wir fahren in den Orient, nach Damaskus, wo ich Euch zur Königin machen, wo ich Euch alle Schätze, die die Karawanen aus dem Herzen Asiens bringen, zu Füßen legen werde! Mit Euch, für Euch wird mir nichts unmöglich sein!«

Eine solche Glut war in ihm aufgestiegen, daß sein Atem heiß über Cathérines Stirn strich. Doch war die Minute ihrer Schwäche schon vorüber. Sie war glücklich gewesen, Jacques wiederzusehen, und es bereitete ihr Kummer, sich von neuem von ihm zu trennen; aber was hatte er denn gedacht? Sanft zog sie ihre Hände zurück und lächelte.

»Wir sind müde und haben so große Angst ausgestanden, daß wir auch ein wenig verrückt sind, nicht wahr, Jacques? Was würdet Ihr mit mir auf Euren abenteuerlichen Reisen anfangen? Und was würde aus Eurem großartigen Plan werden, der dem Königreich Reichtum und Prosperität geben soll?«

»Alles unwichtig! ihr seid mir mehr wert als ein Königreich! Vom ersten Augenblick an, als ich Euch unter den Hofdamen der Königin Marie sah, wußte ich, daß ich für Euch alles aufgeben, auf alles verzichten könnte …«

»Selbst auf Macée und die Kinder?«

Ein Schweigen folgte. Jacques bot dem von Cathérine so sanft heraufbeschworenen Bilde Trotz. Sie hörte, daß er schwerer atmete. Dann drang seine Stimme an ihr Ohr, wie von fern, gedämpft, aber fest.

»Selbst auf sie, ja, Cathérine!«

Sie ließ ihm keine Zeit, noch mehr zu sagen; die Gefahr war zu groß. Seit langem hatte sie geahnt, daß Jacques zärtliche Gefühle für sie hegte, hatte sich aber nie vorgestellt, daß seine Liebe so stark sein könne. Er war nicht der Mann, der sich derartig verrannte. Wenn sie ihn beim Wort nähme, würde er alles für sie opfern, Zukunft, Familie, Vermögen! Langsam schüttelte sie den Kopf.

»Nein, Jacques, wir werden diese Narrheit nicht begehen, die wir nur bedauern würden. Ich habe aus Müdigkeit, vielleicht sogar aus Feigheit gesprochen und Ihr aus übergroßer Spontaneität. Einer wie der andere haben wir eine Aufgabe in diesem Land zu erfüllen. Zudem liebt Ihr Macée viel zu sehr, wenn Ihr es auch im Augenblick nicht glaubt, um ihr diesen Kummer zu bereiten. Was mich betrifft … oh, ich, mein Herz ist zur selben Zeit gestorben, als mein Mann starb.«

»Hört auf! Ihr seid zu jung, zu schön für solchen Verzicht!«

»Und trotzdem ist es so, mein Freund«, sagte Cathérine fest, mit Nachdruck das Wort Freund aussprechend. »Ich habe stets nur für und durch Arnaud de Montsalvy gelebt, geatmet, gelitten. Das Leben, die Liebe, der einzige Lebenssinn ruhten immer nur in ihm. Seitdem er nicht mehr da ist, bin ich ein Leib ohne Seele, und das ist zweifellos ein Glück, denn so wird es mir möglich sein, die Aufgabe, die ich mir gesetzt habe, ohne schwach zu werden, zu erfüllen.«

»Und was ist diese Aufgabe?«

»Was spielt es für eine Rolle? Aber sie kann mich mein Leben kosten. In diesem Fall erinnert Euch, Jacques Coeur, daß Euch das Vermögen Michel de Montsalvys, meines Sohnes, anvertraut ist, und betet für mich. Lebt wohl, mein Freund!«

Die Falten ihres Mantels, die der Wind aufbauschte, um sich raffend, wandte Cathérine sich ab, um zu Sara und Bruder Etienne zurückzukehren. Der schmerzliche Einspruch Jacques' erreichte sie wie ein Atemhauch:

»Nein, Cathérine, nicht Lebewohl … Auf Wiedersehen!«

Im Schatten ihrer Kapuze verbarg sie eine gequälte Grimasse. Es waren dieselben Worte oder fast dieselben, die sie im Hohlweg von Carlat geschrien hatte, halb wahnsinnig vor Schmerz, doch an eine Hoffnung geklammert, die nicht sterben wollte. Dieselben Worte, o ja … aber die Qual war nicht da. Das Schicksal, das ihren tumultuösen Lebenslauf bestimmte, würde ihr Jacques wieder nehmen, sobald die Biegung des Weges sie endgültig trennte. Und das war nur gut so!

Sie beugte sich zu Sara hinunter, die sich auf einen Stein gesetzt und zusammengekauert hatte, um sich gegen die Kälte zu schützen, und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, während sie Bruder Etienne zulächelte.

»Ich habe euch warten lassen, verzeiht! Maître Coeur hat mir aufgetragen, euch Lebewohl zu sagen. Und nun auf den Weg!«

Ohne ein Wort zu sagen, setzten sie sich in Marsch. Der Weg schwenkte nach links, fiel zuerst ab und führte an einem Weiher entlang. Die Mondsichel zeigte sich plötzlich am schwarzen Himmel, überzog ihn mit einem leichten Glanz und ließ die Konturen deutlicher hervortreten. Wieder zu Pferd gestiegen, wandte Cathérine sich um. Das schwache Licht gestattete ihr, noch einmal die Silhouette Jacques' zu sehen, dessen Mantel im Wind flatterte. Ohne sich umzuwenden, ritt er den Hügel hinauf.

Die junge Frau stieß einen Seufzer aus und richtete sich im Sattel auf. Diese sentimentale Schwäche, die sie für einen Moment fast überwältigt hatte, sollte die letzte vor dem Sturz La Trémoilles sein. In der gefährlichen Landschaft des Hofes, wo sie sich betätigen wollte, gab es keinen Platz für derlei Dinge.

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