Immer wieder schwang der hünenhafte Neger die Peitsche und schlug wie ein Besessener auf die beiden Pferde ein. Zielsicher lenkte er den leichten Zweispänner durch die schlammigen Straßen von San Francisco.

Es war kurz vor Morgengrauen, und es regnete wie aus Kübeln, und doch war die ganze Stadt auf den Beinen.

Der kahlköpfige Schwarze nahm darauf keine Rücksicht. Er kannte nur ein Ziel. Er mußte seinen Begleiter möglichst schnell von dem Ort wegbringen, der vor kurzem noch dessen Hauptquartier gewesen war: das Golden Crown, ein riesiger Vergnügungspalast am Portsmouth Square.

Jetzt war das Gebäude in der Hand der Armee. Und der gefürchtete Hai von Frisco befand sich auf der Flucht.

Natürlich hatte der Hai nicht nur einen Unterschlupf in der großen Stadt. Der dunkelhäutige Buster fuhr seinen Herrn nach Barbary Coast, dem berüchtigten Vergnügungsviertel. Dort wollte der Hai untertauchen.

Immer wieder mußten Menschen zur Seite springen, um nicht unter die Hufe der Zugtiere oder die Wagenräder zu geraten. Die vorbeidonnernde Kutsche bespritzte sie mit Schlamm. Doch kaum jemand fluchte. Der Regen wusch den Dreck schnell ab. Die Menschen standen auf der Straße und ließen sich bis auf die Haut durchweichen - voller Freude. Der Regen war willkommen wie ein guter Freund. Er rettete ihre Häuser oder zumindest ihr Leben vor den Flammen, die einen Teil der Stadt eingeäschert hatten.

Ohne ihn hätte das Feuer ganz Frisco verschlungen.

Barbary Coast gehörte zu den Stadtteilen, die von den Flammen verschont geblieben waren. Dem Hai und Buster war das nur recht. Manch ehrlicher Bürger sah das anders. Die ganze Stadt war gespickt mit Saloons, Spielhallen und Tanzlokalen, aber gerade in Barbary Coast reihten sich derlei Etablissements aneinander. Keine zweifelhaften Häuser, sondern nachweislich solche der übelsten Sorte. Nirgends auf der Welt gab es soviel Whiskey und Rum, so viele Prostituierte und Morde wie hier. Die Behörden hatten sich damit abgefunden. So wußte man wenigstens, wo die finsteren Gestalten steckten.

Buster zügelte die Pferde im Schatten eines Hauses, das gar keines war, sondern ein umgebautes Schiff.

Von der goldgierigen Besatzung verlassen, hatte sich jahrelang niemand um den großen Segler gekümmert. Bis man Land aufschüttete und den Pazifik ein Stück zurückdrängte. Plötzlich war das auf Land stehende Schiff zur begehrten Unterkunft geworden.

Jetzt befand sich eine Kaschemme in seinem Leib, das >Red Whalec. So stand es auf dem Schild über dem Eingang, das passenderweise die Form eines Walfisches hatte und einmal von leuchtend roter Farbe gewesen war. Inzwischen war die Farbe zu einem schmutzigen Braun verblaßt.

Das gestrandete Schiff befand sich in der Nähe eines Hafenbeckens, in dem kleinere und mittlere Raddampfer lagen.

Der Schwarze zog die Bremse an, stieg vom Bock und tauchte in das Gewirr aus Stimmen und Musik und dem Dunst von Zigarrenqualm, billigem Fusel und menschlichen Ausdünstungen ein.

Die Menschen in Barbary Coast feierten, wie immer. Aber heute hatten sie einen besonderen Anlaß: Das große Feuer hatte sie verschont. Deshalb floß der Alkohol noch reichlicher als sonst.

Die Flaschen standen auf der wurmstichigen Bar, und jeder konnte sich selbst bedienen - sofern er den Dollar, den ein Glas Whiskey kostete, neben die Flasche legte. Die Gäste machten davon reichlich Gebrauch und füllten ihre Gläser bis zum Rand. Ein Dollar war der Preis, egal wie voll das Glas wurde.

Buster steuerte eine immens fette Frau mit unecht rotem Haar an. Ihr tief ausgeschnittenes Kleid fiel aus zwei Gründen auf. Erstens war die grüne Farbe genauso stechend wie das Rot ihrer Haarmähne. Zweitens schien der voluminöse Körper das Kleid in jeder Sekunde sprengen zu wollen. Bei jedem Einatmen spannte sich der Stoff, und die gewaltigen Brüste, gegen die selbst ausgewachsene Melonen bescheiden wirkten, reckten sich bedrohlich nach vorn.

Molly Reynolds redete auf den zahnlosen Pianisten ein, er solle endlich etwas Flotteres spielen als das gemächliche, leiernde Beautiful Dreamer. Schließlich begriff der Alte und wechselte übergangslos zu Camptown Races.

Molly Reynolds war die Inhaberin des Red Whale, zumindest nach außen hin. In Wahrheit war es ihr so ergangen wie vielen zwielichtigen Geschäftsleuten in San Francisco. Der Hai hatte sie vor die Wahl gestellt, für ihn zu arbeiten oder im Pazifik zu baden - für immer und mit ein paar schweren Steinen beschwert.

Froh, den Pianisten endlich überredet zu haben, drehte die dicke Frau sich um. Als sie den knochigen Schwarzen erblickte, gefror das Lächeln auf ihren kirschrot geschminkten Lippen und erstarb dann ganz.

Buster streckte die rechte Hand aus, mit der hellen Innenseite nach oben. Mit einem Krümmen des Zeigefingers winkte er Molly Reynolds zu sich heran. Sie gehorchte und ging zu ihm.

»Was ist?« fragte sie barsch. »Was willst du hier?«

Sie rechnete nicht damit, aus seinem Mund eine Antwort zu erhalten. Niemand in San Francisco hatte Buster jemals sprechen gehört. Entweder wollte er nicht reden, oder er konnte es nicht.

Buster zeigte zum Ausgang. Es war klar, was er meinte.

Molly Reynolds seufzte ergeben und folgte ihm zwischen den gutbesetzten Tischen hindurch.

Plötzlich sprangen zwei Männer auf und stellten sich ihnen in den Weg. Ein blonder Kleiderschrank und ein hagerer, dunkelhaariger Kerl mit der krummsten Nase, die Molly jemals gesehen hatte. Sie trugen die Tätowierungen von Seeleuten, und ihr süßlich-schwerer Atem verriet den überreichlichen Rumgenuß.

»Warum gehst du mit dem Nigger, Molly?« lallte der Krummnasige. »Bist doch viel zu schade für so'n Kohlengesicht. Wenn du dich amüsieren willst, setz dich lieber zu uns!«

Er legte den Arm um die Schultern der Frau, tauchte mit der Hand in ihren Ausschnitt und packte das warme Fleisch ihrer riesigen Brüste. Seine Fingernägel gruben sich so fest ein, daß es weh tat.

»He, Bo«, wandte er sich lachend an seinen Gefährten. »Is'n verdammt gutes Gefühl. Is' genug für uns beide dran.«

»Werd's auch mal versuchen, Jock«, grunzte der Blonde und wollte ebenfalls zugreifen.

Er kam nicht dazu.

Der bisher völlig ruhige Schwarze wirbelte herum, faßte Bos Arm und drehte ihn mit einer schnellen Bewegung auf den breiten Rücken des Kleiderschranks.

Der blonde Seemann heulte schmerzerfüllt auf und krümmte sich zusammen. Mit einem Fausthieb auf den Hinterkopf schickte Buster ihn auf den schmutzstarrenden Fußboden.

»Verfluchtes Schwein!« schrie Jock. Er ließ Molly los, griff unter seine zerschlissene Jacke und zog ein scharfes Haifischmesser hervor.

Buster war schneller.

Sein Fuß traf das Gelenk der Messerhand, und die Waffe flog zur Seite.

Der Schwarze sprang vor und deckte den Krummnasigen mit einer Serie von Fausthieben ein. Sie explodierten überall an Jocks Kopf und brachen die Nase ein weiteres Mal. Ein roter Sturzbach ergoß sich aus beiden Nasenlöchern, während der Seemann neben seinen Kumpel stürzte.

Buster stand wieder völlig ungerührt da, als wäre nichts geschehen.

Zwei Männer stürzten vom Eingang herbei. Sie waren kräftig gebaut, und ihre groben Gesichter wirkten vollkommen identisch. Kein Wunder, die beiden Iren waren Zwillinge. Molly Reynolds hatte sie gestern erst als Türsteher, Aufpasser und Rausschmeißer eingestellt.

Der Schwarze spannte seine Muskeln an, bereit, es auch mit den beiden Iren aufzunehmen.

»Nicht der«, sagte Molly und zeigte auf Buster.

Dann blickte sie zu Boden, wo sich die tätowierten Seeleute unter lautem Röcheln wanden.

»Die beiden müßt ihr euch vornehmen. Schmeißt sie raus und achtet darauf, daß sie in dieser Nacht nicht mehr wiederkommen!« Sie stieß ein verächtliches Lachen aus. »Die Milchgesichter können den Rum nicht vertragen.«

Einer der Iren nickte. Der andere starrte gebannt seine Chefin an.

Jetzt erst bemerkte sie, daß ihr Kleid verrutscht war. Eine der riesigen Brüste schaute heraus und offenbarte eine fast handtellergroße Warze.

Molly stopfte die Brust wieder in ihr Kleid und ging mit Buster zum Ausgang. Die große Tür war, wie auch die Fenster, nachträglich in den Schiffsrumpf eingebaut worden.

Draußen regnete es noch immer. Man konnte kaum zehn Yards weit sehen.

Buster streckte die Hand aus und deutete in den Regen.

»Was, ich soll da raus?« empörte sich die Frau. »Danach bin ich so naß, als hätte ich den Pazifik durchschwommen!«

Der Neger zog sein teures Jackett aus und legte es über Kopf und Schultern der Frau. Ihm machte der Regen offenbar nichts aus.

Sie liefen hinaus. Bald sah Molly die Umrisse der kleinen Kutsche und unter dem schützenden schwarzen Verdeck die schlanke Gestalt eines Mannes.

Er war kaum mehr als mittelgroß und hatte dunkles, leicht gewelltes Haar. Das gutaussehende Gesicht mit dem eingekerbten Kinn wurde von einem herben, grausamen Zug beherrscht.

Molly hatte den Hai von Frisco noch nie gesehen. Henry Black, der Inhaber des Golden Crown, war bei der Übernahme des Red Whale als sein Mittelsmann aufgetreten.

Trotzdem wußte die Frau sofort, daß sie den Mann vor sich sah, vor dem die halbe Stadt zitterte. Sie kannte Buster, der damals bei Black gewesen war. Die Gerüchte besagten, daß der stumme Schwarze Leibwächter und rechte Hand des geheimnisvollen Hais war. Und daß der Hai seine zwielichtigen Geschäfte vom Golden Crown aus leitete.

Aber was wollte er dann hier?

Der Mann im Wagen nickte knapp. »Sie wissen, wer ich bin, Molly?«

»Ich denke, ja. Ein ganz großer Fisch. Der Größte, der sich in Frisco tummelt. Und der Gefährlichste.«

Der Anflug eines Grinsens huschte über das Gesicht des Mannes.

»Schön formuliert. Außerdem bin ich ein Fisch, der dringend einen neuen Unterschlupf benötigt. Der Bauch eines roten Wales käme mir sehr gelegen.«

»Was ist passiert? Hat das Feuer etwa auch den Portsmouth Square erreicht und das Golden Crown erwischt?«

»Nicht das Feuer hat das Golden Crown erwischt, sondern die verdammte Armee.«

»Oh!«

Plötzlich überschlugen sich die Gedanken der Frau. Wenn die Armee dem Hai auf der Spur war, konnte es für Molly gefährlich sein, ihm Unterschlupf zu gewähren.

Andererseits - tat sie es nicht, hätte sie vermutlich nicht mehr lange zu leben.

»Was ist mit Black?« fragte sie.

»Tot, vermutlich.«

»Kommen Sie«, sagte Molly. »Wir nehmen den Hintereingang, um kein Aufsehen zu erregen.«

»Buster und ich fahren mit der Kutsche um den roten Wal«, erklärte der Hai. »Ich bin nämlich nicht gut zu Fuß.«

Als der von Buster gelenkte Zweispänner das Schiff umrundet hatte, sah Molly, was der Hai meinte. Der meistgefürchtete Mann von San Francisco war ein Krüppel! Er konnte seine Beine nicht benutzen und benötigte Busters Unterstützung, um ins Red Whale zu kommen.

»Wie ist das passiert?« fragte Molly impulsiv.

Die Züge des Hais verhärteten sich.

»Eine alte Rechnung, die ich bald begleichen werde. Der Mann, dem ich das verdanke, hält sich in Frisco auf. Ich werde dafür sorgen, daß dieser verfluchte Jacob Adler für alles büßen muß!«

Die abgebrühte Frau erschrak. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Drohungen gehört. Aber keine war mit solcher Inbrunst und solchem Haß ausgestoßen worden.

Das Gesicht des Mannes verzerrte sich und glich jetzt tatsächlich der Fratze eines blutgierigen Hais.

*

In derselben Nacht, ein paar Stunden zuvor.

Einem urzeitlichen Koloß gleich, wälzte sich die PERSIA durch die ruhigen Fluten des Pazifiks.

Die dicken Rauchfahnen, die aus den großen Schornsteinen, nach alter Cunard-Tradition leuchtend rot mit schwarzem Oberteil, wehten, wurden vor dem dunklen Nachthimmel bald unsichtbar. Nur wer genau hinsah, bemerkte, wie der Rauch einen Schleier vor die am Firmament blinkenden Sterne legte.

Die mächtigen dampfgetriebenen Schaufelräder an beiden Seiten des Schiffes wühlten die See auf und trieben den Stolz der Cunard-Reederei mit jeder Umdrehung voran.

Um die verhaltene, aber stete Brise auszunutzen, hatte der Kapitän zusätzlich Segel setzen lassen. Er hoffte auf einen neuen Rekord. Immerhin konnte die PERSIA für sich in Anspruch nehmen, die Strecke New York-Liverpool in der Rekordzeit von neun Tagen, einer Stunde und 45 Minuten zurückgelegt zu haben. Die jetzige Fahrt war die erste, auf der das Schiff von New York weiter nach San Francisco fuhr. Der neue Goldrausch ließ die neue Route als einträchtiges Geschäft erscheinen, und der Reeder Sam Cunard hatte ein gutes Gespür für einträgliche Geschäfte.

Der alte Cunard würde mit seinem Schiff zufrieden sein, dachte Kapitän Edward Billings, während er auf der Brücke stand und gedankenverloren seinen Blick über das von vielen Lichtern erhellte Deck schweifen ließ. Es hatte das Kap Horn so schnell umrundet wie kaum ein anderes Schiff zuvor. Alles sah nach einem neuen Rekord aus.

Ursprünglich hatte man San Francisco am übernächsten Tag erreichen wollen. Jetzt lauteten die nicht allzu waghalsigen Wetten darauf, daß die PERSIA schon am kommenden Morgen durch das Golden Gate fahren würde.

Die Lichtflächen überall auf Deck waren Fenster. Dahinter lagen die großen Salons, in denen sich die gutbetuchten Passagiere vergnügten. Umgeben von glitzernden Spiegeln an den holzvertäfelten Wänden, von dicken Orientteppichen unter ihren Füßen, von schweren Sesseln und kunstvoll verzierten Tischen, schien der nur wenige Schritte entfernte Ozean so weit von den feinen Ladies und Gentlemen entfernt zu sein, wie es in Wahrheit die Metropole London und der Heimathafen Liverpool waren. Moderne Dampfheizungen erfüllten die Räume mit molliger Wärme und verdrängten die Kälte der Märznacht.

Franz Pape war es zu warm. Schweißperlen glitzerten auf seiner hohen Stirn. Er hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Immer wieder fingerte er am Kragen herum, um ihn ein Stück zu lockern, während er so tat, als lausche er dem hirnlosen Geplapper der drei Schwestern aus Providence.

Sie waren in New York an Bord gegangen, so wie Pape und sein Freund Carl. Die jungen Ladies aus Providence interessierten sich hauptsächlich für letzteren. So war es immer gewesen, seit Pape und Carl sich vor vielen Monaten auf dem Weg nach Oregon kennengelernt hatten.

Der gutaussehende, gebildete Carl brauchte nur einen Raum zu betreten, und schon scharten sich die Damen um ihn.

Dagegen verblaßte Franz Pape - untersetzt, mit leicht aufgeschwemmtem Gesicht und schon stark zurückweichendem Haar - zur Bedeutungslosigkeit.

Plötzlich löste sich Carl von den drei unentwegt redenden Frauen und wandte sich seinem Freund zu.

»Ist dir nicht wohl, Franz? Du siehst schlecht aus.«

»Es ist so stickig hier drin.«

Papes Erklärung enthielt nicht die ganze Wahrheit. Seine Nervosität, die Atemnot und der Schweiß auf seiner Stirn hatten noch einen anderen Grund: Wenn die Vorhersagen der Besatzung stimmten, war dies die letzte Nacht auf See. Die Nacht in der es geschehen mußte!

»Machen wir einen Spaziergang an Deck«, schlug Carl vor und wandte sich an die Damen. »Würden die Ladies uns die Ehre ihrer Begleitung erweisen?«

»Ich weiß nicht recht«, zauderte die erste, die älteste der drei Schwestern, hin und her gerissen zwischen Carls Anziehungskraft und der wenig erbaulichen Aussicht, den behaglichen Salon verlassen zu müssen.

»Es ist schon recht spät«, gab die zweite zu bedenken.

»Um diese Zeit ist es an Bord schon sehr kalt«, fügte die dritte an. »Und dann noch dieser zugige Fahrtwind.« Sie schüttelte sich schon allein bei dem Gedanken.

»Dafür haben Mr. Pape und ich natürlich Verständnis«, erklärte Carl und setzte sein charmantestes Lächeln auf, das allen drei Schwestern zugleich zu gelten schien und doch unverbindlich blieb. »Wenn uns die Damen dann entschuldigen würden. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.«

Er legte seinen Arm um Papes Rücken und schob ihn zu einer der breiten, gewundenen Freitreppen, die mit einem dicken, grünen Läufer ausgelegt war.

»Puh, endlich sind wir die drei Gänse los«, sagte Carl mit einem verkniffenen Grinsen. »Ich muß mich selbst loben, aber der Spaziergang war wirklich eine gute Idee. Ohne dich wäre ich allerdings nicht darauf gekommen, Franz. Danke für die Vorgabe.«

»Ich könnte wirklich etwas frische Luft vertragen, Carl.«

Gespannt beobachtete Pape das glatte Gesicht seines Freundes. Carls Reaktion entschied darüber, ob Pape sein Vorhaben ausführen konnte oder nicht.

Pape verfluchte sich selbst, daß er den Entschluß erst vor wenigen Tagen gefaßt hatte. Auf dem vorherigen Teil der Reise hatte es mehrere Möglichkeiten gegeben. Aber da hatte Pape sich noch nicht entschieden, daß Reichtum wichtiger war als Freundschaft.

»Ich begleite dich selbstverständlich«, sagte Carl zur großen Erleichterung des anderen. »Sollen wir unsere Mäntel holen?«

»Ich denke, das wird nicht nötig sein. Wir müssen nicht lange an Deck bleiben. Ein paar Minuten frische Luft werden genügen.«

Sie waren nicht die einzigen nächtlichen Bummler. Verliebte Paare und andere, einzeln oder in Gruppen, versprachen sich von der frischen Nachtluft eine bessere Bettruhe.

Pape führte Carl absichtlich zur Mitte des langen Decks an der Steuerbordseite, wo eines der gewaltigen Schaufelräder arbeitete. Die auffrischende Brise trieb die Gischt des von den Schaufelblättern hochgerissenen Wassers bis über Bord, weshalb die Nachtbummler diese Stelle mieden.

»Paß auf, sonst werden wir noch naß!« warnte Carl seinen Freund.

»Seit wann bist du wasserscheu, Carl?« fragte Pape seinen Freund und ging zur Reling. »Ich dachte immer, du seist quasi auf Schiffen großgeworden.«

Carl stellte sich neben den Freund und ignorierte die winzigen Wassertröpfchen, die sein Gesicht besprühten.

»Das ist kein Grund, sich in der letzten Nacht an Bord noch eine Lungenentzündung einzufangen. Wenn die Gerüchte stimmen, laufen wir morgen schon San Francisco an.«

»Ich bin gespannt, was uns dort erwartet«, sagte Pape und drehte sich abrupt zu seinem Begleiter um. »In der Mine muß schon einiges an Gold gefördert worden sein. Hast du es bei dir?«

Carl nickte. Er wußte sofort, was gemeint war.

»Natürlich, Franz. Ich trage es immer bei mir, das weißt du doch.«

»Zeig es mir, Carl!«

Carl legte die glatte Stirn in Falten.

»Was soll das, Franz? Vertraust du mir nicht? Glaubst du, ich gehe fahrlässig mit unserem Kapital um?«

»Mit unserem oder mit deinem?« fragte Pape lauernd.

»Wir sind Freunde. Wenn die Mine richtig läuft, erhältst du einen guten Posten und eine Beteiligung. Ist doch wohl Ehrensache.« Carl maß ihn mit einem seltsamen Blick. »Oder denkst du, ich belüge dich?«

»Nein, natürlich nicht.« Pape hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Ich weiß auch nicht, warum ich es sehen möchte. Vielleicht kann ich noch nicht richtig glauben, daß wir beide bald steinreich sein werden.«

»Also gut«, seufzte Carl und lächelte wie ein nachsichtiger Vater, der sein Kind beim Naschen ertappt hatte. »Wenn es dich beruhigt.«

Er faßte in eine Innentasche seines Fracks und zog einen dünnes Päckchen heraus. Man sah nicht mehr als ein Stück Ölhaut.

»Gut eingewickelt«, grinste Carl. »Damit es nicht naß wird. Bist du beruhigt, oder soll ich's auch noch auswickeln.«

»Nein, ist schon gut, danke.«

Pape lächelte verlegen und sah zu, wie Carl das Päckchen wieder zurücksteckte.

Als Carl sein Gesicht abwandte, zog Pape mit raschem Griff etwas aus einer Außentasche seines Fracks, das auf den ersten Blick wie ein gebogenes Stück Holz aussah, an beiden Längsseiten mit Elfenbeinschalen beschlagen. Aber selbst für massives Holz lag es viel zu schwer in Papes Hand.

Es war eine sogenannte Vielzweckpistole, was man der Waffe jetzt nicht ansah. Pistolenlauf und Abzug waren im Griff verborgen wie auch einige andere Überraschungen.

Pape setzte die Waffe als Schlagstock ein und zog sie hart über Carls Hinterkopf.

Der Getroffene stöhnte, taumelte und sackte an der Reling zu Boden. Dort hockte er mit verschleiertem Blick und verzog das gutaussehende Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse.

Pape registrierte es mit Genugtuung, während seine Linke unter Carls Rock fuhr und nach dem Ölhautpäckchen suchte.

Endlich fand er es, löste den dünnen Strick und wickelte die Ölhaut so weit auf, bis er den Inhalt erkennen konnte. Er wollte sichergehen, das richtige Beutestück erwischt zu haben.

Und das hatte er!

»Was... soll das... bedeuten?« röchelte Carl und sah den anderen mit mühsam erhobenem Kopf an.

Pape legte die Ölhaut wieder zusammen.

»Das bedeutet, daß ich die Sache jetzt allein übernehme, mein Freund. Ich habe es satt, in deinem Schatten zu stehen. Ab jetzt bestimmt Franz Pape, wo es langgeht!«

Der Schleier vor Carls Augen verschwand, und sein Blick zeigte Verstehen.

»Dreckige Ratte!« zischte er und wollte sich an der Reling hochziehen. »Ich werde dich lehren.«

Seine Worte gingen in einem glucksenden Würgen unter. Eine scharfe Dolchklinge war in seinen Hals gefahren. Zuvor war sie in dem elfenbeinverschalten Griff verborgen gewesen. Ein Fingerdruck Papes auf einen winzigen Messingknopf hatte sie ausklappen lassen.

Carl rutschte wieder zu Boden. Noch war er bei vollem Bewußtsein und starrte entsetzt auf sein Blut, das das weiße Hemd rot färbte.

Pape stach ein zweites Mal zu, in Carls linke Brust. Ein letzter anklagender Blick traf den Attentäter. Dann schlossen sich Carls Augen, und sein Kopf kippte kraftlos zur Seite.

Pape wischte die Klinge an einem von Carls Frackärmeln ab, bis kein Blut mehr an ihr klebte. Er klappte den Dolch zurück und steckte die Vielzweckwaffe wieder in die Tasche.

Ein Blick in die Runde zeigte ihm, daß kein Besatzungsmitglied und kein anderer Passagier in der Nähe war.

Er bückte sich, hob Carl hoch und schob ihn über die Reling. Pape hörte das Geräusch nicht, als der Körper im Wasser aufschlug. Es wurde vom starken Rauschen des Schaufelrades verschluckt.

Carl geriet in den Wasserwirbel und verschwand aus Papes Blickfeld.

Der Attentäter war zufrieden. Carl war tot. Wenn ihn nicht die beiden Dolchstöße getötet hatten, war er ertrunken oder von dem riesigen Schaufelrad zermalmt worden. Nichts von ihm war mehr übrig.

Doch! Sein Zylinder war vom Kopf gerutscht und lag am Rand der Reling. Als Pape sich bückte, um ihn aufzuheben, sah er den roten Fleck.

Blut.

Verräterisches Blut!

Ein Mann, der über Bord fiel, hinterließ keine Blutlache.

Hastig zog Pape sein weißes Seidentaschentuch und machte sich daran, den Fleck zu beseitigen. Die unablässig an Bord spritzende Gischt half ihm dabei.

Endlich schien der Fleck verschwunden, soweit er das erkennen konnte. Das Licht der Gestirne und der Schiffslaternen ersetzte nicht das des Tages.

Er stand auf und wollte sich den Schweiß von der Stirn wischen.

Im letzten Augenblick hielt er inne. Fast hätte er das blutige Taschentuch benutzt. Es war nicht so einfach, ein guter Mörder zu sein.

Er knüllte das Tuch zusammen und warf es über Bord, dann Carls Zylinder.

Mit dem Frackärmel wischte er sich den Schweiß ab und zählte die Sekunden und Minuten. Er mußte warten, bis die PERSIA sich weit genug von der Stelle entfernt hatte, an der er Carl über die Reling geworfen hatte.

Pape wartete nur wenige Minuten. Da der Cunard-Dampfer ein so schnelles Schiff war, würde das unbedingt reichen.

Aufgeregt lief er über das Deck und schrie aus Leibeskräften: »Mann über Bord! Mann über Bord!«

Er steigerte sich vollkommen in die Aufregung hinein. Er stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf und lief schreiend weiter.

Bis ihn kräftige Arme aufhielten und eine Stimme fragte: »Sir, was ist passiert? Wer ist über Bord gegangen?«

Der Sprecher gehörte zur Schiffsbesatzung, ein Maat.

»Mein Begleiter«, stammelte Pape und nannte Carls Namen.

»Wo?«

Pape zeigte in die Richtung.

»Da drüben, beim Schaufelrad. Mein Freund wollte es beobachten und beugte sich dabei zu weit über die Reling.«

Das breite Gesicht des Maates verfinsterte sich. Er drehte sich um, lief in Richtung Brücke und wiederholte Papes Schrei.

Ein anderes Besatzungsmitglied nahm den Ruf auf und gab ihn weiter.

Als die Meldung die Brücke erreichte, zögerte Kapitän Billings keine Sekunde. Er hatte eine solche Situation mehr als einmal erlebt.

Fast automatisch griff er zum Maschinentelegraphen und legte die knotige, sonnengebräunte Hand um den Befehlshebel, der auf >VOLL VORAUS< stand. Mit einen kräftigen Ruck zog Edward Billings den Hebel in die Mitte der halbkreisförmigen Scheibe, auf >STOP<. Der pfeilförmige Quittungsanzeiger folgte.

Billings wußte, welche Aufregung jetzt in den Maschinenräumen herrschte, um den riesigen Ozeandampfer von voller Fahrt zum Stillstand zu bringen.

Einige seiner Männer würden ganz hübsch fluchen. Viele Passagiere ebenfalls. Der neue Rekord war dahin.

Billings fand es schade, aber nicht mehr. Ein Menschenleben war wichtiger als ein Rekord, Lobeshymnen und Champagnerempfänge.

Der Kapitän wandte sich an die Männer der Brückenwache und schnarrte: »Segel reffen, Lage erkunden und gegebenenfalls Rettungsboote aussetzen! Sobald Erkenntnisse vorliegen, Meldung an mich!«

Die Rettungsboote wurden ausgesetzt. Sie suchten die ganze Nacht hindurch, den Morgen und den halben Tag.

Vergebens. Die Männer von der PERSIA fanden keinen Carl, weder lebendig noch tot.

Am Nachmittag ließ Kapitän Billings die Fahrt fortsetzen. Franz Pape spielte den zu Tode Betrübten, aber in Wahrheit war er unendlich erleichtert. Alles verlief nach Plan, nach seinem Plan.

Viele, die in diesen Tagen des Goldrausches nach San Francisco kamen, hofften auf schnellen Reichtum. Weitaus die meisten wurden bitter enttäuscht.

Franz Pape glaubte, daß er nicht zu den Enttäuschten gehören würde. Er würde reich werden!

Das Ölhautpäckchen, das er, wie zuvor Carl, dicht am Körper trug, bürgte dafür.

*

Statt am frühen Morgen lief die PERSIA erst in der Abenddämmerung auf das Golden Gate zu, die Einfahrt in die Bucht von San Francisco.

Zwar war das schreckliche Geschehen der letzten Nacht noch immer Tagesgespräch, doch es drückte kaum auf die gute Laune der meisten Menschen an Bord. Die Passagiere freuten sich auf die Goldstadt.

Die der ersten Klasse besuchten San Francisco aus touristischen Gründen, die anderen hofften auf viele Nuggets. Und die Seeleute waren ganz verrückt nach den zahlreichen Möglichkeiten des Amüsements, für die San Francisco berühmtberüchtigt war.

Von dieser ausgelassenen Stimmung getragen, begrüßten die Menschen an Deck jedes entgegenkommende Schiff mit heftigem Winken und lautem Schreien.

Darunter auch eine imposante Yacht, die etwa zwei Seemeilen vor dem Golden Gate ankerte. Der große Raddampfer war gut in Schuß. Im rötlichen Licht der allmählich auf den Pazifik niedersinkenden Sonnenscheibe blinkte jedes Metallteil wie frischpoliert. Wer die Yacht von der PERSIA aus mittels Ferngläsern beobachtete, konnte den Namen lesen: FRISCO QUEEN.

Und der sah auch, weshalb die Yacht die zahlreichen Grüße des Ozeanriesen nicht beantwortete: An Bord der FRISCO QUEEN hatten sich die Menschen zu einer Bestattung versammelt. Die blauweiß-rote US-Flagge am Heck hing auf halbmast.

Der Leichnam war auf dem Achterdeck aufgebahrt und mit einem großen Sternenbanner bedeckt. Der Kapitän hatte sich dort mit dem größten Teil der Besatzung versammelt, dazu einige weitere Menschen.

Ein schlanker, blasser Mann in schwarzer Kleidung, ein Geistlicher, las aus der Bibel vor. Es war Reverend Alister Hume, dessen Waisenhaus in der vergangenen Nacht ein Raub der Flammen geworden war.

Dicht neben ihm standen ein junger Mann und eine junge Frau, beide in einfacher, zerschlissener Kleidung.

Der hochgewachsene, breitschultrige Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem goldenen Ring im rechten Ohr blickte auf die See hinaus. Sein sonst so offenes Gesicht wirkte versteinert.

Der deutsche Auswanderer Jacob Adler dachte an den Verstorbenen, den er nur kurze Zeit gekannt hatte und der ihm doch ein guter Freund gewesen war: Der Harpunier Elihu Brown hatte sein Leben im Kampf gegen den Hai von Frisco geopfert.

Gleichzeitig tauchte das Gesicht eines anderen Mannes vor Jacobs geistigem Auge auf. Auch der alte Seebär Piet Hansen war ein Freund des Auswanderers gewesen und kürzlich erst gestorben. Vor Jacobs Augen war die Leiche, wie zuvor Piet Hansens Schiff ALBANY, im Pazifik versunken.

Trauer zeichnete auch das schöne, ebenmäßige Gesicht von Irene Sommer. Die junge Deutsche hatte erst von Piet Hansens Tod erfahren, als Jacob sie in der letzten Nacht aus der Gewalt des Hais befreite. Irene trauerte aber auch um Elihu Brown, den sie gar nicht gekannt hatte. Jacob hatte ihr von Browns Schwur erzählt, nicht von Jacobs Seite zu weichen, bis der junge Auswanderer Irene und ihren kleinen Sohn Jamie wiedergefunden hatte.

Bei dem Gedanken, wie leicht der Hai Irene und Jamie hätte töten können, lief ein Schauer über den Rücken der jungen Frau. Schlagartig bereute sie, ihren Sohn nicht mit aufs Schiff genommen zu haben. Wenn ihm nun etwas zustieß?

Nein, das war lächerlich. Mrs. Goldridge, die rechte Hand des Reverends, kümmerte sich um ihn.

Ohne Alister Hume hätte Elihu Brown wohl kaum die Seebestattung erhalten, die ihm nach Jacobs Meinung zustand. Jedenfalls nicht auf einer so feudalen Yacht. Die FRISCO QUEEN gehörte Senator William Basehart, von Freunden, Bewunderern und vielen anderen nur >Big Bill< genannt.

Er lebte schon seit den Tagen des ersten Goldrausches in San Francisco, hatte es als tüchtiger und gewitzter Geschäftsmann zu gehörigem Reichtum gebracht und den erst seit vierzehn Jahren zu den USA gehörenden Staat Kalifornien für eine Amtsperiode in Washington vertreten.

Basehart liebte die große Stadt San Francisco, die er schon gekannt hatte, als sie noch der unbedeutende Küstenort Yerba Buena gewesen war. Er hatte mitgeholfen, sie groß zu machen. Und er hatte ihr selbst in der Zeit der großen Depression die Treue gehalten. Damals, 1855, als der erste Goldrausch mangels Gold plötzlich verebbte und viele Geschäftsleute sich überstürzt aus der Stadt am Golden Gate zurückzogen. Unter den zweihundert Geschäften, die in Konkurs gingen, gehörte sogar die größte Bank von Kalifornien. Aber Big Bill Basehart hielt durch, mit der Folge, daß seine >Basehart Bank< eine führende Stellung einnahm und sein Ruf als standfester Geschäftsmann noch wuchs.

Basehart hatte Reverend Hume seine finanzielle Unterstützung zugesagt, als er vom Schicksal des Waisenhauses erfuhr. Was wohl daran lag, daß der Senator selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen war.

Und als Basehart hörte, daß Jacob Adler und Elihu Brown unter Einsatz ihres Lebens die Kinder aus dem brennenden Haus gerettet hatten, hatte er seine Yacht für die Seebestattung zur Verfügung gestellt. Mehr noch, Big Bill selbst erwies dem Ermordeten die letzte Ehre.

Er war ein großer, stämmiger Mann mit schlohweißem Haar und gleichfarbenen langen Koteletten. Das ließ ihn älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Der stechende Blick in seinem scharfgeschnittenen Gesicht verriet, wieviel Energie noch in ihm steckte.

Der Reverend war fertig, schloß die Bibel, blickte in die Runde und fragte, ob noch jemand etwas sagen wollte.

»Ja«, sagte Jacob mit erstickter Stimme und mußte einen Kloß hinunterschlucken. Er blickte auf den einfachen Sarg unter dem Sternenbanner. Jacob selbst hatte ihn aus altem Holz gezimmert. »Eli war ein guter Seemann und ein guter Freund. Ich bedaure, daß ich ihn nur so kurze Zeit gekannt habe.«

Er nickte dem Reverend zu, und der sagte feierlich: »Wir übergeben den Leichnam jetzt der See. Möge sie ihn so gütig aufnehmen wie der Allmächtige Vater die Seele des Verstorbenen!«

Zwei Matrosen hoben die Pritsche an, auf der der Sarg stand. Gleichzeitig hielten sie das Flaggentuch fest. Der Sarg rutschte unter dem Tuch hervor und stürzte ins Meer, wo der innen mit Steinplatten beschwerte Holzkasten sofort versank.

Ein, zwei Minuten herrschte Schweigen. Dann räusperte sich William Basehart und sagte: »Im Speisesalon wartet ein kleines, einfaches Essen auf uns. Ich denke, es gibt noch ein paar Dinge zu besprechen.«

Jacob folgte den anderen nicht. Er blieb an der Reling stehen und schaute ins Meer.

Am Horizont tauchte die Sonne gerade in die Fluten ein - so jedenfalls sah es aus - und versank rasch in ihnen. Die Farbe des Wassers wechselte vom leuchtenden Hellblau zum matten Dunkelblau. Es hatte etwas Düsteres an sich. Und düster waren auch Jacobs Gedanken.

Sie galten dem Verstorbenen ebenso wie dem Mann, der die eigentliche Schuld an seinem Tod trug: der Hai von Frisco.

Irene glaubte, seine Identität zu kennen. Zwar hatte sie ihn nicht gesehen, sondern nur seine Stimme gehört, aber sie war sich ziemlich sicher.

Und trotzdem hatte Jacob Zweifel. Dieser Mann mußte längst tot sein!

»Laß uns unter Deck gehen, Jacob«, sagte eine helle Stimme ganz in der Nähe des jungen Deutschen. Sanft legte sich eine schmale Hand auf seinen Arm.

Für eine Sekunde dachte er an die schöne Chinesin Wang Shu-hsien, mit der er die Freuden der Liebe genossen hatte. Aber sie war nicht auf der FRISCO QUEEN. Außerdem hatte die Frau Deutsch gesprochen.

Er drehte sich um. Irene stand neben ihm und blickte ihn voller Mitgefühl an.

»Kann ich etwas für dich tun, Jacob?«

»Ja.« Er sah die Gefährtin der langen Reise von Hamburg nach New York und quer durch den nordamerikanischen Kontinent ernst an. »Paß immer gut auf dich und Jamie auf! Solche Angst wie in den letzten Tagen möchte ich nicht noch einmal durchstehen.«

»Du sprichst wie ein Familienvater, der sich um die Seinen sorgt.«

Jacob überlegte, ob er Irene sagen sollte, wie gern er Jamies Vater - und Irenes Mann - gewesen wäre.

Aber ein dunkelhäutiger Steward im weißen Jackett kam auf sie zu und sagte: »Wenn ich die Herrschaften stören darf. Senator Basehart läßt ausrichten, das Essen ist bereit.«

»Eine ebenso höfliche wie eindeutige Einladung«, meinte Irene. »Wir sollten ihr nachkommen.«

Sie folgten dem Steward über das Deck.

Die FRISCO QUEEN hatte inzwischen den Anker gelichtet und langsame Fahrt aufgenommen. Dünne Rauchfahnen wehten aus den beiden blau-weiß-rot gestrichenen Schornsteinen, und die leuchtend roten Schaufelräder drehten sich ebenso gleichmäßig wie gemächlich. Die schlanke Yacht hielt auf das Golden Gate zu.

Der große Cunard-Dampfer hatte das goldene Tor längst durchfahren und war in der Bucht verschwunden.

Als die beiden Auswanderer die Treppe betraten, die unter Deck führte, sagte Jacob: »Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen.«

»Was meinst du?« erkundigte sich Irene.

»Die Suche nach Carl... Carl Dilger. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wo er sich aufhält. Louis Bremer hat uns angeschwindelt, als er uns zu ihm führen wollte.«

»Wir werden seine Spur finden!« erwiderte die blonde Frau mit einer Bestimmtheit, die Jacob erstaunte.

Glaubte Irene wirklich so fest daran? Oder machte sie ihrem Begleiter - und sich selbst - etwas vor?

Wollte sie den Vater ihres Kindes überhaupt finden? Denn das bedeutete die Trennung von Jacob und Irene.

»Wir haben fast kein Geld mehr«, äußerte der junge Zimmermann seine Bedenken. »San Francisco ist ein teures Pflaster. Es wird schwer für uns sein, uns hier über Wasser zu halten.«

»Das Boarding-House haben wir zum Glück für eine Woche im voraus bezahlt. Alles andere wird sich schon finden, Jacob.«

»Hoffentlich«, seufzte er.

Hätte Jacob nur für sich zu sorgen gehabt, hätte er alles nicht so schwer genommen. Doch die Verantwortung für Irene und Jamie lastete schwer auf ihm.

Der Speisesaal, in den Jacob und Irene vom Steward geführt wurden, hätte einem feudalen Landhaus zur Ehre gereicht. Vielleicht wäre er dort noch etwas größer ausgefallen, aber ansonsten wies nur das rote Tau, das netzartig unter der vertäfelten Decke aufgespannt war, darauf hin, daß man sich an Bord eines Schiffes befand; bei schwerem Seegang konnten sich die Passagiere an dem Tau festhalten. Die Wände waren ebenfalls vertäfelt und mit großen Gemälden geschmückt, die durchweg maritime Szenen zeigten.

An dem länglichen Tisch warteten Senator Basehart, der Kapitän Herbert Clarke und Reverend Hume auf die beiden Deutschen. Clarke war ein sonnengebräunter Mittfünfziger von hagerer Gestalt. Sein von winzigen Fältchen durchzogenes Gesicht war von einem braunen, langsam ergrauenden Kinnbart umrahmt. Jacob fühlte sich bei seinem Anblick ein wenig an Piet Hansen erinnert.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte Jacob.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, entgegnete der am Kopfende des Tisches sitzende Senator. »Ich verstehe, daß Sie noch Zeit benötigten, um sich von Ihrem Freund zu verabschieden, Mr. Adler.« Er zeigte auf die beiden freien Plätze zu seiner Linken. »Nehmen Sie Platz und greifen Sie zu!«

Jacob und Irene setzten sich und bestaunten die vielfältigen Speisen, die den Tisch zierten. Was Basehart als >ein kleines Essen< bezeichnet hatte, hätten sie einen Festschmaus genannt.

Der dunkelhäutige Steward bediente sie. Die meisten Speisen waren Produkte des Meeres; Muscheln und Fisch, zubereitet als Salate oder warme Speisen. Dazu gab es frisch aufgebackenes Brot, heiße Kartoffeln und Weißwein.

»Ich baue den Wein selbst an«, verkündete Senator Basehart stolz. »Zwar gibt es eine Menge Snobs, die nur europäischen Wein trinken. Aber überzeugen Sie sich doch selbst, ob unter der Sonne Kaliforniens nicht gute Trauben reifen!«

Jacob war nicht Weinkenner genug, um das zu beurteilen. Außerdem war ihm nicht nach Essen und Trinken zumute. Zu tief saß noch die Trauer.

»Ich möchte verschiedene Dinge mit Ihnen besprechen«, sagte Basehart während des Essens. Dabei blickte er erst Reverend Hume und dann die beiden Auswanderer an. »Zum einen geht es um das Waisenhaus. Ihnen fehlen die Mittel zum Wiederaufbau, Reverend?«

»In der Tat«, antwortete Hume. »Die Spenden haben gerade zum Unterhalt ausgereicht und dazu, meine Kinder mit dem Nötigsten zu versorgen. Ich weiß noch nicht, woher ich das Geld zum Wiederaufbau nehmen soll.« Er blickte Jacob an. »Zum Glück hat Mr. Adler sich bereit erklärt, seine Fähigkeiten als Zimmermann unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.«

»Sehr nobel.« Der Senator nickte anerkennend. »Aber können Sie es sich leisten, unentgeltlich zu arbeiten, Mr. Adler?«

»Eigentlich nicht. Aber in diesem Fall spielt das keine Rolle.«

»Reverend Hume, Sie haben gute, verläßliche Freunde«, meinte Basehart. »Ich würde mich glücklich schätzen, in Zukunft auch zu diesem Kreis zu zählen. Deshalb möchte ich den Wiederaufbau Ihres Waisenhauses finanzieren.«

Hume suchte nach Worten.

»Wieso.«

»Ich liebe diese Stadt, trotz ihrer Laster und Fehler«, fuhr der Senator fort. »Ich habe mich stets nach besten Kräften für San Francisco und, in meiner Zeit als Senatsmitglied, für ganz Kalifornien eingesetzt. Alle Männer, die sich ebenfalls für San Francisco und seine Bürger einsetzen, verdienen meine Unterstützung. Sie sind solch ein Mann, Reverend. Sie kümmern sich selbstlos um diejenigen, die sonst kein Heim und keinen Halt hätten. Erlauben Sie mir, mich daran zu beteiligen!«

»Natürlich«, sagte Hume und fand noch immer nicht die richtigen Worte, um seine Dankbarkeit auszudrücken.

Der Senator wandte sich wieder an Jacob.

»Mr. Adler, heuern Sie sich eine gute Zimmermannskolonne an und bestellen Sie das beste Baumaterial. Ich trage sämtliche Kosten, natürlich auch Ihre Bezahlung.«

»Ich will keine Almosen«, sagte Jacob. »Mein Angebot, dem Reverend zu helfen, war.«

»Selbstlos gemeint, ich weiß«, unterbrach ihn Basehart. »Aber ich möchte, daß das neue Waisenhaus größer und schöner wird als das alte. Ich zahle einen guten Lohn und erwarte dafür eine erstklassige Arbeit. Und davon werde ich mich mit eigenen Augen überzeugen! Das ist weiß Gott kein Almosen, Mr. Adler.«

»Ich weiß nicht recht«, zögerte Jacob, bis Irene ihn unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß. »Also gut, einverstanden, Senator. Ab sofort arbeite ich für Sie.«

»Fein.« Basehart lächelte, aber sein Gesicht wurde schnell wieder ernst. »Nun ein anderes Thema. Mr. Adler, Miß Sommer, erzählen Sie mir bitte alles, was sie über den geheimnisvollen Mann wissen, den man allgemein nur als Hai von Frisco kennt!«

»Warum interessiert Sie der Hai?« fragte Jacob.

»Aus demselben Grund, weshalb ich dem Reverend helfen will. Die Männer, die etwas für San Francisco tun, sind meine Freunde. Die Männer aber, die dieser Stadt schaden und sie wie Parasiten aussaugen, bekämpfe ich. Dieser sogenannte Hai ist mir schon lange ein Dorn im Auge. Mit seinen jüngsten Aktionen ist er eindeutig zu weit gegangen. Ich meine damit die Brandschatzung in Chinatown, die ganz Frisco gefährdet hat, und Miß Sommers Entführung.«

Baseharts stechender Blick richtete sich auf Irene.

»Miß Sommer, Sie kennen den Hai, wie Sie den Behörden gesagt haben. Wie war doch gleich sein Name?«

»Max Quidor«, sagte Irene gequält und dachte an all das, was dieser Mann ihr schon angetan hatte. »Ich habe ihn nicht sehen können, weil meine Augen verbunden waren. Aber als ich mit ihm sprach, habe ich seine Stimme wiedererkannt.«

»Sind Sie sich dessen sicher?«

»Ziemlich.« Irene nickte heftig. »Es liegt nicht nur an der Stimme. Aber der Mann - der Hai - hatte es auf Jacob und mich abgesehen. Warum sollte sich ein so mächtiger Mann wie der Hai von Frisco für zwei arme Auswanderer interessieren, wenn ihn nicht ein persönliches Rachemotiv antreibt?«

»Ein kluges Argument, Miß Sommer. Und was für ein Motiv hat dieser Quidor?«

Irene erzählte von dem ersten Zusammentreffen mit Max Quidor in New York. Von Quidors Versuch, Jacobs Fertigkeiten im Faustkampf für manipulierte Kämpfe einzusetzen. Sie berichtete, wie Quidor sie schon einmal entführt hatte, um sie zu seiner Geliebten zu machen. Wie er sie mißhandelt und ihr Jamie weggenommen hatte.

Die Erinnerung an die schlimme Zeit nahm sie so mit, daß ihre Stimme brüchig wurde. Immer öfter geriet Irene ins Stocken.

Deshalb sprach Jacob weiter und schilderte das Abenteuer auf dem Ohio River. Der aus New York vertriebene Max Quidor hatte versucht, Revolverkanonen zu den Südstaatlern zu schmuggeln. Dabei war er erneut mit Jacob und seinen Freunden aneinandergeraten, und der Flußdampfer mit den gefährlichen Waffen war explodiert und im Ohio versunken.

»Wenn ich Sie recht verstehe, Mr. Adler, ist Quidor bei der Explosion des Schiffes ums Leben gekommen«, sagte Basehart.

»Das glaubten wir zumindest. Vivian Marquand, eine Komplizin von ihm, schoß ihn vor unseren Augen nieder. Ich habe sogar das blutige Einschußloch in seinem Rücken gesehen. Natürlich hielt ich ihn für tot. Allerdings wurde seine Leiche nie gefunden.«

»Und Sie glauben, er könnte das alles überlebt haben? Die Kugel, die Explosion und den Untergang des Dampfers?«

»Wir hielten auch Vivian Marquand für tot und haben uns darin getäuscht. Quidor ist zäh. Wenn es einer überlebt hat, dann er. Ich glaube Irene, wenn sie sagt, daß sie seine Stimme erkannt hat. Übrigens hat er Deutsch mit Irene gesprochen, und Quidor kommt aus Deutschland. Außerdem spricht auch das Vorgehen des Hais dafür, daß er mit Quidor identisch ist.«

»Wie meinen Sie das, Adler?«

»Schon in New York betrieb er einen großen Vergnügungspalast. Er ist ein leidenschaftlicher Spieler. Schauen Sie sich das Golden Crown an. Genau der Laden, in dem ein Max Quidor sich wohl fühlt.«

»Ich kenne das Golden Crown«, erwiderte Basehart und lächelte versonnen. »Ein teurer Laden. Er wird eine Menge Geld bringen, zum Glück.«

»Was soll das heißen, Senator?« fragte Reverend Hume.

»Da der Hai als gesuchter Verbrecher erstens kaum Besitzansprüche auf sein Hauptquartier geltend machen kann und zweitens die Schuld an der schrecklichen Brandkatastrophe trägt, wird das Golden Crown an den Meistbietenden verkauft werden. Der Erlös kommt den Opfern des Brandes zugute.«

Basehart seufzte tief und fuhr fort: »Wahrscheinlich ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Vielleicht sollte ich das Golden Crown selbst kaufen. Dann kommt etwas mehr Geld in die Kasse. Und außerdem können wir sicher sein, daß dieses Haus nicht wieder der Schlupfwinkel eines Gangsters wird.«

Der Senator lachte plötzlich.

»Es sei denn, jemand hier vertritt die zuweilen in der Politik geäußerte Meinung, alle Senatoren seien Gangster!«

»Was ist mit diesem Henry Black?« fragte Kapitän Clarke. »Gehört ihm nicht das Golden Crown?«

»Es hat ihm mal gehört«, antwortete Basehart. »Aber in den letzten Monaten war er wohl nur noch der Strohmann des Hais. Übrigens steht noch gar nicht fest, ob Black das Gerichtsverfahren, das auf ihn wartet, noch erlebt. Als unser junger Freund hier« - der Senator wies mit der Gabel auf Jacob - »mit seinen chinesischen Verbündeten ins Golden Crown eingedrungen ist, hat einer der Chinesen Black einen Armbrustbolzen in den fetten Wanst gejagt. Bis jetzt hat Black das noch nicht verdaut. Er lebt zwar, ist aber kaum bei Bewußtsein. Schade auch, er hätte uns vielleicht sagen können, ob der Hai wirklich mit diesem ominösen Max Quidor identisch ist.«

»Vielleicht kommt Black wieder zu sich«, meinte Clarke.

»Hoffen wir's«, sagte Basehart. »Dann wird er ein paar sehr unangenehme Fragen beantworten müssen!«

Ein Matrose erschien im Speisesalon und meldete, daß die FRISCO QUEEN in wenigen Minuten anlegen würde.

Kapitän Clarke entschuldigte sich, um das Anlegemanöver selbst durchzuführen.

Die anderen verließen ebenfalls den Speisesaal und gingen an Deck.

Noch war es nicht völlig dunkel. Trotzdem brannten in den meisten Häusern schon die Lampen. Eindrucksvolle Lichterketten zogen sich über die Hügel, auf und zwischen denen San Francisco erbaut war.

Die Ketten bildeten ein gigantisches Teppichmuster, das allerdings von großen Flächen unterbrochen war, die gänzlich düster waren. Es waren die Gebiete rund um Chinatown, die in der letzten Nacht dem verheerenden Feuer zum Opfer gefallen waren.

Der scharfe Brandgeruch lag schwer in der Luft, als wolle er die Menschen daran erinnern, wie nah ihre ganze Stadt der Katastrophe gewesen war. Ohne den plötzlich einsetzenden Regen, der bis zum späten Morgen dauerte, wäre San Francisco verloren gewesen.

Big Bill Basehart war einer der bekanntesten Leute in San Francisco und das Ein- oder Auslaufen seiner Yacht an und für sich stets ein Auslöser großen Publikumsinteresses. Heute aber schaute kaum jemand zur FRISCO QUEEN herüber.

Der riesenhafte Cunard-Dampfer, die PERSIA, zog das allgemeine Interesse auf sich. Er ankerte nicht weit vom Yachthafen entfernt.

Zahlreiche Boote umschwärmten den großen Schaufelraddampfer, und eine unüberschaubare Zahl an Schaulustigen und Neugierigen drängte sich auf dem Pier zusammen. Die Ankunft des britischen Schiffes versprach die neusten Nachrichten von der Ostküste und aus Europa.

Senator Basenart verabschiedete sich von seinen Gästen. Jacob und Irene gingen mit Reverend Hume an Land, und sie gerieten in das aufgeregte Gewühl rund um den Anlegeplatz der PERSIA.

Ein untersetzter Mann, der zwei große Reisetaschen trug, rempelte Irene an. Sie stolperte und wäre gestürzt, hätte Jacob sie nicht aufgefangen.

Der Mann blieb stehen, setzte die beiden Taschen ab und lüftete seinen flachen grauen Zylinder. Das leicht aufgeschwemmte Gesicht wirkte erschrocken.

»Verzeihen Sie, Madam«, sagte er. »Ich habe Sie in dem Gedränge leider zu spät bemerkt. Zum Glück hat Ihr Gatte Sie aufgefangen.«

»Nicht mein Gatte, sondern ein guter Freund«, erwiderte Irene.

»Noch einmal, meine Entschuldigung. Ich bin gerade mit der PERSIA hier angekommen. Sie wissen nicht zufällig eine preiswerte und saubere Unterkunft?«

»Sie suchen sicher ein gutes Hotel«, meinte Irene. »Mr. Adler und ich wohnen in einem Boarding-House. Es ist zwar sauber und preiswert, aber dort gibt es keine Einzelzimmer, sondern nur zwei große Schlafsäle, einer für die Herren und einer für die Damen.«

»Das klingt genau nach dem, was ich suche«, sagte der Mann.

Irene beschrieb ihm den Weg und sagte: »Wir würden Sie hinführen, aber wir haben vorher noch ein anderes Ziel.«

Sie und Jacob wollten mit Reverend Hume zum Hotel Santa Rosa, wo Mrs. Goldridge mit dem kleinen Jamie wartete.

»Wir sehen uns sicher noch«, meinte der Fremde und lächelte Irene zu. »Ich würde mich jedenfalls sehr darüber freuen. Guten Abend!«

Er nahm seine Taschen wieder auf und verschwand zwischen Passagieren der PERSIA, Schaulustigen und Straßenjungs, die sich als Gepäckträger oder Taschendiebe etwas verdienen wollten.

»Ein seltsamer Kauz«, meinte Jacob. »Wenn ich mich in seinem Dialekt nicht getäuscht habe, ist er Deutscher wie wir.«

»Wieso seltsam?« fragte Irene. »Er war doch sehr nett.«

»Ich frage mich, weshalb so ein feiner Pinkel nicht ins Hotel zieht.«

»Nicht nur arme Leute wie wir müssen sparen, Jacob. San Francisco ist nicht billig.«

»Ja, wer weiß.« Jacob sah in die Richtung, wo der Fremde verschwunden war. »Trotzdem - irgend etwas war mit dem Burschen nicht in Ordnung.«

*

Mit jedem Schritt, den Franz Pape sich vom Ankerplatz der PERSIA entfernte, fühlte er sich ein wenig sicherer.

Kapitän Billings hatte ihn zwar gebeten, sich für weitere Untersuchungen zur Verfügung zu halten, aber Pape dachte nicht daran. Das schlechte Gewissen und die Angst, einen Fehler zu begehen, plagten ihn.

Die große Silhouette des Cunard-Dampfers wirkte auf ihn bedrohlich. Sie erinnerte ihn an seine Tat und die Schuld, die er auf sich geladen hatte.

Die scheinbare Ungezwungenheit, zu der Pape sich bei dem Gespräch mit der blonden Frau gezwungen hatte, verließ sein Gesicht. Jetzt spiegelte es Papes Angst vor Entdeckung und den Ärger über seine eigene Dummheit wider.

Pape wollte in kurzer Zeit schon ein reicher Mann sein. Aber im Augenblick hatte er so wenig Geld, daß er sich kaum zwei, drei Tage in San Francisco würde durchschlagen können. Der Goldrausch trieb die verdammten Preise in die Höhe.

Warum war er auch so dumm gewesen, sich nicht Carls prall gefüllter Börse zu bemächtigen, bevor er den Toten ins Wasser warf? Es wäre nur ein Handgriff gewesen.

Ein geübter Mörder hätte daran gedacht. Aber Pape war kein geübter Mörder. Es war sein erster Mord.

Er hastete durch die überfüllten Straßen der Hafengegend, ohne auf die Menschen um ihn herum zu achten. Ein kräftiger Neger bot ihm an, sein Gepäck zu tragen - Pape blieb nicht einmal stehen. Ein pickliger Junge wollte ihm ein Extrablatt des Call über den großen Brand der letzten Nacht verkaufen -Pape rannte ihn über den Haufen.

Der untersetzte Mann fühlte sich verfolgt. Als sei Carls Geist hinter ihm her. Von der PERSIA aus, die dort drüben in der Bucht ankerte, schien der Geist Papes Tat hinauszuschreien. Erst als Pape in eine enge Gasse eintauchte und den großen Dampfer aus den Augen verlor, verebbten die Schreie.

Pape war erleichtert. Er blieb einen Augenblick stehen, setzte die Taschen ab und fuhr mit dem Ärmel über seine Stirn, um den Schweiß abzuwischen.

Er blickte sich um, wollte sich orientieren. Geradeaus! Dort mußte die Dean Street mit dem Boarding-House liegen, von dem die blonde Frau mit dem deutschen Akzent gesprochen hatte.

Pape nahm die Taschen wieder auf und setzte seinen Weg fort, mit immer größeren Schritten. Diesmal trieb ihn nicht die Angst voran, sondern eine fieberartige Erregung. Er spürte, daß sich in diesen Tagen und in dieser Stadt sein Schicksal entscheiden würde.

*

»Ob der komische Kauz wohl bei Mrs. Marsh untergekommen ist?« fragte Irene, als vor ihnen die Silhouette des Boarding-Houses auftauchte.

Es zeichnete sich nur undeutlich gegen die übrigen Gebäude ab. Die Dämmerung war der Finsternis gewichen. Wolken verdunkelten das Firmament. Für Licht sorgten nur die Fenster der umliegenden Häuser und die Laternen, die hin und wieder vor einer Eingangstür hingen.

»Vielleicht sehe ich ihn im Schlafsaal der Männer«, antwortete Jacob.

Er sprach ebenso leise wie seine Begleiterin, um Jamie nicht zu wecken. Irenes Sohn schlief, in eine dicke Decke gewickelt, in den Armen seiner Mutter.

»Adler!«

Der Mann, der den lauten Ruf ausstieß, war weniger rücksichtsvoll als die beiden Auswanderer. Das Kind öffnete die Augen und begann vor Schreck und Verwirrung zu wimmern.

»Bleib stehen!« zischte Jacob der Frau an seiner Seite zu.

Er selbst zog die beiden Revolver aus seinen Jackentaschen, einen Joslyn und einen Remington.

San Francisco hatte sich als gefährliche und wahrhaft brandheiße Stadt erwiesen. Als sich jetzt langsam ein Schatten aus der Dunkelheit löste und auf die beiden Auswanderer zuhielt, rechnete der Zimmermann mit allem. Und er wollte auf alles vorbereitet sein.

Das metallische Klacken der zurückgezogenen Hähne warnte den Schatten, und er blieb stehen.

»Nicht schießen, Adler!« bat eine Stimme, die Jacob irgendwie bekannt vorkam. »Ich fühle mich noch zu jung zum Sterben.«

»Wer ist dort?«

»Ich, Clemens.«

Clemens!

Der Name kam Jacob ebenso bekannt vor wie die Stimme. Aber beides konnte er nicht einordnen.

»Treten Sie ganz langsam vor!« befahl der Deutsche. »Bleiben Sie stehen, sobald ich Ihr Gesicht sehen kann.«

Der Unbekannte gehorchte und begab sich ins Licht der nächsten Laterne. Dort wurde aus dem Schatten ein mittelgroßer Mann in einem abgewetzten dunklen Anzug.

Sofort erkannte Jacob das kantige Gesicht, das von einem vorspringenden Kinn, einem buschigen Schnauzbart und ebenso buschigen Augenbrauen beherrscht wurde.

Erst vor wenigen Tagen hatte er mit diesem Mann gesprochen. Doch in der Zwischenzeit war soviel geschehen, daß der Auswanderer die Begegnung fast aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte.

»Mark Twain!« rief Jacob den Namen aus, mit dem der Journalist sich bei ihm vorgestellt hatte.

Er erinnerte sich, daß der Mann eigentlich Samuel Langhorne Clemens hieß. Mark Twain war der Name, unter dem er schrieb. Als Mark Twain hatte er sich Jacob vorgestellt, und so hatte der Deutsche ihn ihm Gedächtnis behalten.

»Darf ich mich wieder rühren?« fragte der Journalist.

»Gewiß.« Jacob lächelte entschuldigend, ließ die Hähne zurückgleiten und die beiden Revolver wieder in den Jackentaschen verschwinden. »Entschuldigen Sie, Mr. Twain, aber ich habe in San Francisco einiges erlebt, das mich vorsichtig gemacht hat.«

»Ich habe davon gehört, Mr. Adler. Deshalb bin ich hier.«

Der Journalist trat vor, blieb vor Irene stehen und zog seinen Hut.

»Sie müssen Miß Sommer sein. Mein Name ist eigentlich Clemens, aber sagen Sie ruhig auch Mark Twain zu mir. Falls ich mit meiner Feder einmal so erfolgreich sein werde, wie ich es mir wünsche, werde ich mich an den Namen gewöhnen müssen.«

»Sie haben mich gesucht, Mr. Twain?« erkundigte sich Jacob.

Der Journalist nickte heftig.

»In der Tat. Ich habe davon gehört, daß Sie Miß Sommer aus der Hand des Hais befreit haben. Und auch von Ihrem heldenhaften Einsatz in dem brennenden Waisenhaus. Darüber würde ich gern für den Call schreiben«

Er zückte eine zerkratzte Taschenuhr, warf einen kurzen Blick auf das weiße Zifferblatt und fuhr fort: »Leider habe ich zu lange auf sie gewartet. Ich muß mich beeilen. Mr. Harte wartet auf mich in einer dringenden Sache, wie er mich wissen ließ.«

»Sie sprechen von Ihrem Redakteur«, sagte Jacob und erinnerte sich an die kurze Begegnung vor dem Gebäude des Call.

»Yeah.« Twains Taschenuhr verschwand wieder in der Jackentasche. »Ich schlage vor, wir treffen uns morgen. Wann paßt es Ihnen?«

»Tagsüber muß ich mich um den Wiederaufbau des Waisenhauses kümmern«, antwortete Jacob. »Vielleicht zum Abendessen?«

»Einverstanden«, sagte der Journalist. »Sie und Miß Sommer dürfen sich dann als Gäste meiner Zeitschrift betrachten.«

»Nanu«, wunderte sich Jacob. »Ich dachte, die Geschäfte gehen so schlecht.«

»Jetzt nicht mehr«. Twain grinste.

»Die eine Hälfte der Bevölkerung wurde letzte Nacht ganz hübsch von dem Brand gebeutelt. Die andere Hälfte scheint so betrübt darüber, dem Verhängnis entkommen zu sein, daß sie alles darüber lesen möchte. Unsere Extrablätter gehen weg, wie mit Nuggets bestückt. Holen Sie mich morgen abend beim Call ab? Ich kenne ein gutes Fischrestaurant dort ganz in der Nähe.«

Jacob sagte es zu, und Twain verabschiedete sich eilig.

Die Auswanderer betraten das Boarding-House.

Jacob hielt Ausschau nach dem Fremden vom Hafen. Aber im Licht der einzigen trüben Lampe, die in dem großen Schlafsaal brannte, konnte er ihn nicht entdecken.

*

Angewidert blickte das runde, von einem üppigen Schnurr- und Backenbart verzierte Gesicht auf den Inhalt des Leinenbeutels. Ein süßlicher, Würgereiz auslösender Geruch - Gestank war wohl die passendere Bezeichnung - reizte seine Nase.

Rasch wickelte der elegant gekleidete Mann wieder die Schnur um den Beutel.

Er stand von seinem Schreibtischstuhl auf, nahm seinen schmalkrempigen Strohhut vom Wandhaken und steuerte auf den Ausgang des Redaktionsgebäudes zu. Dabei schlug er einen Haken, um Jim nicht beim Fegen zu stören.

Der halbwüchsige Schwarze erledigte die Arbeit mit wahrer Hingabe. Wie alle Angestellten des Call war er froh, daß die Druckmaschine wieder arbeitete.

Doch der Negerjunge unterbrach sein andächtiges Fegen und fragte: »Mr. Harte nicht wollen warten auf Mr. Clemens?«

»Ich warte draußen, Jim«, antwortete Bret Harte, Redakteur des Call, mit einem langen Blick auf den Leinenbeutel in seiner Hand. »Hier drin ist mir die Luft zu schlecht.«

Die großen, weit hervortretenden Augen des Schwarzen blickten verständnislos.

»Wieso schlecht, Mr. Harte? Ich doch habe alle Fenster weit geöffnet!«

Das stimmte. Der vom Meer kommende Wind strömte in die Räume des Redaktionsgebäudes und konnte doch den Brandgeruch nicht ganz vertreiben, der seit der vergangenen Nacht die Stadt bis in den letzten Winkel erfüllte.

Harte gestand sich ein, daß es nicht die Luft war, die ihn hinaustrieb. Sie würde draußen kaum besser sein.

Es war die Unruhe, die ihn erfüllte, seit er entdeckt hatte, was in der Münze vor sich ging. Er wollte mit Sam Clemens über die Sache sprechen.

Auf den ersten Blick mochte Sam oberflächlich und vorwitzig erscheinen. Aber dahinter verbarg sich eine tiefe Klugheit, die Harte sehr schätzte.

In der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft und Zusammenarbeit waren die beiden Journalisten gute Freunde geworden. Und einen Freund brauchte Harte jetzt.

»Du machst deine Sache gut, Jim«, sagte der Mann im vornehmen Dreiteiler müde. »Du hast recht, die Luft ist in Ordnung. Aber ich muß mir ein wenig die Beine vertreten.«

Auf der Straße war es leerer als sonst. Viele Menschen hielten sich in den abgebrannten Stadtteilen auf, um dort mit anzupacken. Schutt und Trümmer mußten weggeräumt werden, um die den Flammen zum Opfer gefallenen Bezirke neu aufzubauen. Selbst jetzt, in der Dunkelheit, arbeiteten die Menschen noch im Licht von Fackeln und Laternen.

Wer länger in San Francisco lebte, gewöhnte sich rasch an Katastrophen, vornehmlich Erdbeben und Brände. Lange zu trauern, hatte keinen Sinn. Das Leben ging weiter.

Vergeblich hielt Harte unter den Passanten Ausschau nach seinem Freund. Er machte sich Sorgen, Sam war längst überfällig.

»Sind Sie Mr. Harte?«

Die Frage in seinem Rücken kam so überraschend, daß der Journalist zusammenfuhr. Er wirbelte herum und starrte in das sommersprossige Gesicht eines kleinwüchsigen Iren.

Rötliche Haarsträhnen lugten unter einer alten, zur Unkenntlichkeit verformten Mütze hervor. Der etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alte Mann machte einen schmutzigen, abgerissenen Eindruck. Sein flaches Gesicht hatte etwas Verschlagenes an sich. Auf den ersten Blick war er dem elegant gekleideten Mann unsympathisch.

»Wer sind Sie?« fragte Harte. »Was wollen Sie von mir, Mister?«

»Laverty is' mein Name, Roy Laverty.« Der Ire tippte an seine Mütze, ohne daß Harte den Gruß erwiderte. »Sie sind also Mr. Harte?«

»Yeah. Weshalb interessiert Sie das?«

»Weil ich Sie holen soll, Sir.«

»Holen? Wohin?«

»Der Mann, auf den Sie warten, schickt mich.«

»Sam Clemens?«

»Yes, Sir, Mr. Clemens. Er will Sie dringend sprechen.« »Ich ihn auch. Deshalb warte ich hier.«

»Mr. Clemens wollte hier nicht gesehen werden. Is' zu auffällig, sagt er. Er erwartet Sie ganz in der Nähe. Ich führe Sie hin.«

Laverty wollte lostraben, aber Harte rührte sich nicht von der Stelle.

»In welcher Angelegenheit will Clemens mich sprechen?«

»Keine Ahnung.« Der Ire zuckte mit den Schultern und kramte eine Münze aus seiner Hosentasche. »Hier, Sir, einen Dollar hat er mir gegeben, damit ich Sie zu ihm bringe. Er sagte, Sie würden mir noch einen geben.«

»Ich? Das sieht Sam ähnlich, immer knapp bei Kasse. Ein Wunder, daß er Ihnen überhaupt was gegeben hat.« Harte seufzte und setzte sich in Bewegung. »Bin gespannt, auf was er gestoßen ist.«

In Gedanken fügte er hinzu: Ob es mit meiner Entdeckung zusammenhängt?

Aber nein, das konnte nicht sein. Schließlich hatte Harte noch mit niemandem darüber gesprochen.

Der Ire namens Roy Laverty führte Harte in eine verlassene, düstere Gegend. Die angrenzenden Hinterhöfe waren kaum beleuchtet. Die richtige Gegend für ein verschwiegenes Treffen.

Plötzlich blieb der vorangehende Ire stehen und drehte sich zu dem Journalisten um.

»Was ist? Sind wir schon da?«

»Sie schulden mir noch meinen Dollar, Sir!«

Lavertys Stimme klang hart, und die Worte hatten einen drohenden Unterton.

Das gefiel Harte nicht. Plötzlich keimte der Verdacht in ihm auf, leichtfertig in eine Falle gelaufen zu sein.

»Den Dollar gibt es, wenn wir bei Mr. Clemens sind.«

»Das sehe ich anders«, knurrte Laverty und hielt etwas in der Rechten, das Harte sofort erkannte. Das metallische Klicken des zurückgezogenen Hahns untermauerte die Erkenntnis, daß es sich um einen Taschenrevolver handelte. »Sie werden mir mehr als einen Dollar geben, Sir!«

Bret Harte mochte aussehen wie ein Dandy und sich zuweilen auch so geben. Aber er hatte auch härtere Zeiten erlebt. Schon 1854 war er nach Kalifornien gekommen und hatte sich mit den verschiedensten Arbeiten durchgeschlagen. Aus dieser Zeit war er an solche Typen wie Laverty gewöhnt. Und entsprechend reagierte er. Mit einer schnellen Drehung brachte Harte sich aus dem Schußfeld des anderen.

Laverty zögerte nicht und drückte ab. Die Kugel pfiff an Harte vorbei und fuhr splitternd in die morsche Holzwand eines alten Schuppens.

Als der Ire herumfuhr, um erneut auf den Journalisten anzulegen, krachte schon dessen hochgerissener Fuß gegen Lavertys Waffenhand.

Der Tritt mit dem Lackschuh war schmerzhaft. Der Getroffene stöhnte auf. Der Taschenrevolver wurde seiner Hand entrissen und fiel irgendwo in der Dunkelheit zu Boden.

»Verdammter Straßenräuber!« brüllte Harte.

Er sprang auf den kleineren Mann los und versetzte ihm einen Fausthieb unters Kinn.

Laverty mochte klein sein, aber er war zäh. Er ging trotz des wuchtigen Schlages nicht zu Boden. Nach kurzem Taumeln startete er einen Gegenangriff und hielt wieder eine Waffe in der Hand: ein Messer mit leicht gebogener Klinge.

Harte wich durch einen Sprung zur Seite aus, aber nicht mehr ganz rechtzeitig. Die rostige Klinge zerfetzte den linken Ärmel der Jacke. Ein Zoll weiter, und es wäre die Haut des Journalisten gewesen.

»Der schöne Anzug!« schrie Harte wütend. »Das wirst du mir büßen!«

Er stieß sich ab, flog wie ein springendes Raubtier durch die Luft und riß Laverty mit sich zu Boden.

Der Ire lag rücklings auf der Straße. Harte hockte auf ihm und drückte seine Knie auf Lavertys Arme, die er dadurch lähmte. Der Journalist entriß dem anderen das Messer und schleuderte es fort. Dann landete Hartes Faust in dem flachen Gesicht.

»Das ist für die heimtückische Falle!« rief der Journalist.

Ein neuer Hieb.

»Und das ist für den Schuß auf mich!«

Ein dritter Schlag.

»Das ist für den lädierten Anzug!«

Als Harte zum vierten Fausthieb ausholte, explodierte plötzlich sein Kopf. Jedenfalls fühlte es sich für ihn so an. Lavertys Bild verschwand, und alles drehte sich um den Journalisten.

»Das ist für dich, Stutzer!« hörte Harte eine tiefe Stimme.

Endlich konnte der Journalist wieder klar sehen und fand sich im Schmutz der Straße wieder. Er lag an einem Bretterzaun.

Drei Männer umstanden ihn, mindestens zwei davon sahen ebenfalls wie Iren aus. Die drei waren um einiges größer als Laverty, rauhe Kerle. Sie richteten Schußwaffen auf Harte.

»Wie hat dir der Lauf meines Colts geschmeckt, Lackaffe?« fragte die Stimme, die Harte eben schon gehört hatte.

Ihr Besitzer war ein knochiger Mann, den zahlreiche Tätowierungen und eine entsprechende Mütze als Seemann auswiesen.

»So, daß ich einstweilen gesättigt bin«, keuchte Harte, der immer noch ein schmerzhaftes Pochen in seinem Kopf spürte. »Ihr habt gewonnen, nehmt euch meine Dollars!«

Seine Rechte glitt in eine Innentasche der Jacke, um die Lederbörse hervorzuziehen.

»Hübsch langsam!« warnte ihn der Tätowierte. »Falls du 'ne rasche Bewegung machst oder 'ne Knarre ziehst, puste ich dich ins Jenseits!«

»Ich bin nicht lebensmüde«, knurrte der Journalist.

Langsam zog er die schweinslederne Börse hervor.

»Her damit!« forderte der Tätowierte.

Harte warf sie vor seine Füße, und der Tätowierte bückte sich gierig danach.

»He, das ist nicht für dich allein, Seamus!« ermahnte den Tätowierten einer seiner Begleiter. »Geteilte Freude ist doppelte Freude.«

»Seamus Mulholland hat seine Kameraden noch nie betrogen!« brummte der Mann mit der Seemannsmütze.

»Jetzt habt ihr, was ihr wollt«, sagte Harte. »Also verschwindet!«

»So einfach ist das nicht. Uns fehlt nämlich noch etwas.«

Der Sprecher war Roy Laverty. Im Rücken der drei Bewaffneten war er aufgestanden und hatte seine Waffen eingesammelt. Jetzt trat er auf Harte zu und richtete den Lauf des Taschenrevolvers auf den Kopf des Journalisten.

»Was.« - Harte schluckte - »... fehlt euch noch?«

»Du, Protzer!«

Laverty spuckte mitten in Hartes Gesicht.

Wut und Ekel stiegen in dem Journalisten hoch. Er wollte aufspringen und erneut seine Faust in das verquollene, blutende Gesicht des kleinen Iren schleudern. Aber das kalte Metall der Revolvermündung, das Harte an seiner Stirn spürte, hielt ihn zurück.

»Komm doch!« verlangte Laverty und entblößte Zähne, die trotz der Jugend ihres Besitzers halb verfault waren. Blut floß aus dem Mundwinkel des Iren und tropfte auf Hartes Hose. »Beweg dich nur, und ich jage ein Stück Blei durch deinen Schädel!«

»Halt dich zurück, Roy!« zischte Seamus Mulholland, der neben Laverty trat. »Du weißt doch, der Hai will ihn lebend.«

»Der Hai?« fragte Harte. »Etwa der Hai von Frisco?«

»Wirste schon noch sehen, Lackaffe.«

Mulholland hob die Hand mit den Colt und zog die schwere Waffe quer über den Kopf des Journalisten. Dann wurde es vollends Nacht.

Der Tätowierte steckte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand zwischen die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus.

Keine halbe Minute später fuhr klappernd ein flacher Kastenwagen aus einer alten Scheune. Der Fahrer hielt das von zwei schweren Kleppern gezogene Gefährt neben den Männern an. Sie legten den Bewußtlosen auf die Ladefläche und bedeckten ihn mit einer Plane. Dann hockten sie sich neben ihn.

Mulholland nahm neben dem Fahrer Platz und befahl: »Fahr schon, Alan. Auf nach Barbary Coast!«

*

»Bret hat nicht auf mich gewartet?« fragte Sam Clemens enttäuscht, als er abgehetzt im Redaktionsgebäude des Call eintraf und dort nur den die Papierkörbe leerenden Negerjungen vorfand.

»Doch, Sir«, erwiderte Jim und hielt in der Arbeit inne.

»Aber du sagtest doch eben, er sei nicht mehr hier!«

»Das stimmt, Sir, Mr. Clemens«, bestätigte der Schwarze und bekräftigte seine Aussage mit einem heftigen Nicken.

»Wo ist Mr. Harte?«

»Draußen, Sir.«

Clemens blickte durch eines der offenen Fenster hinaus in die von künstlichen Lichtern erhellte Nacht.

»Was meinst du mit draußen, Jim?«

»Außerhalb des Hauses, Mr. Clemens.«

»Eine sehr schöne Definition«, meinte der Journalist mit einem säuerlichen Grinsen. »Leider hilft sie mir nicht weiter. Bevor ich eben von draußen hereinkam, habe ich Mr. Harte nirgendwo gesehen.« »Kann schon sein, Sir. Mr. Harte ist nämlich mit dem irischen Mister in die Straße reingegangen.«

»Ein irischer Mister?« Jim nickte wieder heftig.

»Yes, Sir. Er sprach Mr. Harte vor dem Haus an. Ich es habe gesehen. Dann gingen sie in die Straße rein.«

»In welche Straße?«

»Ich glaube, es war die Straße, aus der dann der Schuß kam.«

»Ein Schuß? Das wird ja immer toller!«

»Yes, Sir«, nickte Jim.

»Red schon, Bursche, was für ein Schuß?«

»Ein lauter Schuß. Vielleicht Revolver, vielleicht aber auch kleines Gewehr. Ich stand gerade an dem Fenster dort drüben. Und ich glaube, der Schuß kam aus der Straße nebenan.«

»Die Straße, in die Bret mit dem Iren gegangen ist?«

»Yes, Sir.«

»Und Bret ist nicht wieder herausgekommen?«

»Ich habe ihn nicht gesehen, Sir. Obwohl ich nach dem Schuß in die Straße ging, um nachzusehen. Dann kam der Wagen, der mich fast überfuhr.« Der Schwarze bekreuzigte sich. »Der Wagen war bestimmt ein schlechtes Omen, weil ich von meinem Arbeitsplatz wegging. Deshalb bin ich gleich zurück ins Haus.«

Clemens spürte die Aufregung, die seinen Körper erfaßte. Intuitiv erfaßte er, daß sein Freund in Gefahr schwebte. Er zwang sich - zumindest äußerlich - zur Ruhe und sagte: »Laß dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Jim. Erzähl mir von dem Wagen. Wie sah er aus?«

»Er fuhr auf Rädern und wurde von zwei Kleppern gezogen.«

»Sehr hilfreich«, seufzte der Journalist. »War er offen? Oder war er mit einer Plane oder einem Aufbau versehen?«

»Offen.« Jim strahlte vor Glück über sein gutes Erinnerungsvermögen.

»Und wer saß auf dem Wagen?« »Ein paar Männer.«

»Auch Mr. Harte?«

»Nein, Sir.«

»Also niemand, den du kanntest.«

»Doch, Sir.«

Clemens riß die Augen auf und starrte den Schwarzen an.

»Wen kanntest du, Jim? Sprich!«

»Den Iren, der mit Mr. Harte in die Straße gegangen ist, aus der der Schuß.«

»Jaja, ich weiß. Dieser Ire, wie sah er aus?«

»Er war klein und hatte Sommersprossen.«

»Das ist doch schon etwas«, murmelte Clemens, halb zu sich selbst. »Wenn auch noch nicht genug. Ich schätze, ich werde mir die Straße mal ansehen.«

Jims sonst so unbekümmertes Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.

»Glauben Sie, Mr. Harte ist etwas zugestoßen, Mr. Clemens, Sir?«

»Ich befürchte es.«

Der Ausdruck in Jims dunklem Gesicht wechselte von Besorgnis zu Entschlossenheit. Er stellte den halbleeren Papierkorb ab und nahm eine Petroleumlampe von einem Sekretär.

»Ich komme mit nach Mr. Harte suchen«, erklärte der Schwarze. »Die Straße ist dunkel. Sie brauchen Licht, Mr. Clemens.«

»Gut«, sagte Clemens und wollte das Haus verlassen. Er besann sich im letzten Augenblick und ging zu seinem Schreibtisch. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete er die unterste Schublade und nahm einen Dance Brothers Revolver heraus, Kaliber .36.

»Der könnte von Nutzen sein«, brummte der Journalist, überprüfte die Ladung und steckte die Waffe in die Jackentasche. »All right, Jim, gehen wir.«

Draußen schien Jim seinen Entschluß zu bereuen, Clemens zu begleiten. Immer wieder blieb er stehen und blickte sich suchend um, obwohl es bestimmt nichts zu sehen gab. Clemens trieb ihn an.

Bis sie den Platz erreichten, an dem es tatsächlich etwas zu sehen gab.

»Halt die Lampe still, Jim«, bat der Journalist und bückte sich nach dem Gegenstand vor seinen Füßen, den das Licht eben kurz gestreift hatte.

Es war ein heller Hut, ein schmalkrempiger Strohhut.

»Brets Hut!« zischte Clemens.

Jetzt war er sich sicher, daß seinem Freund etwas zugestoßen war. Harte achtete sehr auf sein Äußeres und war stolz auf seine elegante, stets saubere Kleidung. Freiwillig würde er seinen Hut nicht wegwerfen.

»Hier liegt noch etwas, Sir«, sagte Jim und zeigte auf einen Bretterzaun.

Clemens ging hin und hob den Gegenstand auf. Es war ein zugeschnürter Leinenbeutel, von dem ein unangenehm süßlicher Geruch ausging.

»Was ist das?« fragte der Journalist.

»Ein Beutel«, antwortete Jim.

»Das sehe ich auch. Ich frage mich nur, wem er gehört.«

»Er gehört Mr. Harte. Er ihn bei sich getragen, als er den Call verließ.«

Clemens' Kopf ruckte zu dem Schwarzen herum.

»Bist du sicher, Jim?«

»Sicher, ich bin sicher.«

»Dann wollen wir einmal nachsehen, was in dem Beutel ist. Komm mit deiner Funzel rüber!«

Jim gehorchte, und Clemens öffnete die Schnur, die den Beutel zusammenhielt. Der ekelhafte Geruch nahm zu, und der Inhalt des Beutels war nicht weniger ekelhaft. Es war eine Ratte. Eine tote Ratte mit aufgeschlitztem Leib.

»Uuh«, stöhnte Jim, wich unwillkürlich zurück und hielt mit der freien Hand seine Nase zu. »Das ist scheußlich. Machen Sie schnell wieder zu, Sir!«

»Bestimmt nicht«, erwiderte Clemens. »Nicht, bevor ich herausgefunden habe, was das Besondere an dieser Ratte ist.«

»Was soll an einer toten Ratte Besonderes sein?« fragte Jim.

»Zum Beispiel der Umstand, daß Mr. Harte sie mitgenommen hat. Ich habe mich schon häufig nach Dienstschluß mit ihm getroffen. Es war bisher nie seine Angewohnheit, zu diesen Treffen tote Ratten mitzunehmen.«

»Yes, das ungewöhnlich sein«, gestand Jim ein.

»Komm näher mit der Lampe!« forderte Clemens. »Ich will mir diese Ratte genauer ansehen.«

»Ich Ihnen sagen können, was Sie werden sehen, Sir: herausquellende Gedärme.«

»Die kann ich eben nicht entdecken. Außerdem ist der Beutel sehr schwer.«

»Ist ja auch eine große Ratte.«

»Und eine wertvolle Ratte«, sagte Clemens, der sich überwand und eine Hand in den Leib des toten Nagers steckte. Dorthin, wo etwas glitzerte, das ganz und gar nicht nach den Innereien einer Ratte aussah.

Er hielt die Hand mit nach oben ausgestreckter Fläche vor Jims Gesicht und fragte: »Was sagst du jetzt?«

»So eine Ratte habe ich noch nie gesehen, Mr. Clemens.«

»Ich auch nicht.«

In der Hand des Journalisten lagen drei große, dicke Goldmünzen. Sogenannte Doppeladler, jeder im Wert von zwanzig Dollar. Und im Leib der Ratte befanden sich noch mehr davon. Insgesamt waren es zehn Doppeladler, also zweihundert Dollar.

»Wo findet man diese Ratten?« fragte Jim.

»Das möchte ich auch gern wissen«, knurrte Clemens, obwohl er einen gewissen Verdacht hegte. Aber noch war es zu früh, darüber zu sprechen. »Vordringlich möchte ich allerdings wissen, wo ich Bret finden kann. Schätze, er war auch auf dem Wagen, der dich fast überfahren hätte, Jim.«

Clemens seufzte tief und fügte hinzu: »Und der kann sonstwohin gefahren sein.«

»Nein, Sir.«

»Nein?« fragte Clemens.

»Nein«, sagte Jim. »Er nicht sonstwohin, sondern nach Barbary Coast gefahren. Ich es gehört, wie der Mann neben dem Kutscher es sagte.«

»Wirklich?« Das düstere Gesicht des Journalisten hellte sich ein wenig auf. »Jim, du bist ein Goldstück!«

Zweifelnd blickte der Neger auf die Münzen in Clemens' Hand und überlegte, ob er Gefallen an diesem Vergleich finden sollte.

*

Bret Harte ertrank.

Das jedenfalls war sein erster Gedanke, als er aus der tiefen Ohnmacht erwachte.

Schuld daran war ein Wasserschwall aus einem großen, kübelähnlichen Eimer, der sich über Hartes arg malträtierten Kopf ergoß.

Stimmen durchdrangen das Platschen des Wassers: »Der Stutzer kommt zu sich.«

»Yeah, wird auch Zeit.«

Harte, der in einem kahlen Raum auf dem Boden lag, wischte das Wasser aus seinen Augen und sah dann die Männer, die eben gesprochen hatten.

Einer war Seamus Mulholland, der tätowierte Schläger mit der Seemannsmütze. Er hielt den über Harte ausgeleerten Eimer in der Hand.

Der andere paßte überhaupt nicht zu dem stoppelbärtigen Kerl. Er war sauber, glattrasiert und trug einen piekfeinen Anzug. So tadellos, wie es Harte eigener Anzug gewesen war, bevor der Journalist den Fehler beging, sich mit diesem kleinen Iren einzulassen.

Jetzt erst bemerkte Harte, daß Laverty auch hier war. Er lehnte hinter den beiden anderen Männern an der Wand und spielte mit seinem Messer. Seine Augen waren unverwandt auf den Verschleppten gerichtet. Es war ein boshafter, rachsüchtiger Blick. Offenbar hatte Laverty die Prügel, die er von dem Journalisten bezogen hatte, nicht verwunden.

Ansonsten gab es nicht viel zu sehen. Der Raum war leer. Nur Holzwände, eine hölzerne Decke und ein hölzerner Fußboden. Keine Fenster und nur eine schmale Tür.

Neben ihr stand Laverty und reinigte sich mit seinem Messer die Fingernägel, die es wirklich nötig hatten. Das diffuse Licht kam von einer Petroleumlampe, die neben dem kleinen Iren auf dem Boden stand.

Kein Zweifel, dies war eine Art Gefängnis!

Der Mann im tadellosen Anzug trat einen Schritt vor, blickte mitleidlos auf den Gefangenen herab und fragte: »Wie geht es Ihnen, Mr. Harte?«

»Den Umständen entsprechend schlecht.«

Die Antwort endete in einem kräftigen Husten, weil der Journalist Wasser geschluckt hatte.

»Fein.« Der Fremde lächelte dünn. »Dann wollen Sie sicher vermeiden, daß es Ihnen noch schlechter geht.«

»Sicher«, keuchte Harte.

»Dann erzählen Sie mir alles, was Sie wissen!« verlangte der Fremde.

»Aber natürlich.« Harte richtete sich so weit auf, bis sein Rücken gegen die Wand lehnte. »Die Erde ist eine Kugel, wie wir seit neuesten Erkenntnissen wissen. Sie ist zum größten Teil mit Wasser bedeckt, von dem ich eben ein wenig verschluckt habe. Der Himmel.«

Weiter kam er nicht. Die Stiefelspitze des Fremden bohrte sich in seinen Magen.

Der Journalist krümmte sich zusammen und konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken.

»Verfluchter Schwätzer!« verlor der Fremde seine Beherrschung. »Wenn du glaubst, deine Schmerzen könnten nicht größer werden, ich kann dich leicht zur Einsicht bringen.«

In einer unwillkürlichen Bewegung schlug die Rechte des Mannes die Jacke über der Hüfte beiseite. Der perlmuttbeschlagene Griff eines im Lederholster sitzenden Revolvers kam zum Vorschein. Dann besann der Dandy sich und ließ den teuren Stoff wieder über die Waffe fallen.

»Nein, das wäre zu einfach«, sagte er grinsend. »Viel zu schnell für dich, Schmierfink. Du sollst leiden und plaudern. Du kannst deine Leiden allerdings vermeiden, wenn du gleich redest.«

Harte hatte seinen Oberkörper wieder aufgerichtet und erwiderte: »Das habe ich doch getan. Ich sollte Ihnen alles erzählen, was ich weiß. Da habe ich mir gedacht, ich fange bei der Allgemeinbildung an.«

Die freche Antwort trug ihm einen weiteren Stiefeltritt ein. Doch diesmal war der Gefangene darauf vorbereitet.

Seine Feinde hatten ihn nicht gefesselt. Dafür sollten sie jetzt büßen!

Harte packte den Fuß des anderen, hielt ihn fest und drehte ihn herum.

Der Dandy verlor das Gleichgewicht, ruderte für kurze Sekunden hilflos mit den Armen in der Luft und fiel mit einem schweren Krachen zu Boden.

Harte stieß sich von der Wand ab und warf sich auf den benommenen Gegner. Er griff an dessen rechte Hüfte, umklammerte den Perlmuttgriff des Revolvers und wollte ihn aus dem Holster ziehen.

Da krachte etwas schwer gegen den Kopf des Journalisten. Mit solcher Wucht, daß der Getroffene vor den gut gekleideten Gegner stürzte. Das Perlmutt der rettenden Waffe entglitt seinen Händen.

Mulholland ließ den großen Eimer fallen, mit dem er Harte geschlagen hatte. Der Tätowierte sprang auf den am Boden liegenden Journalisten. Der Aufprall schien alle Luft aus Hartes Lungen zu pressen.

Als der Journalist wieder atmen konnte, war es zu spät. Mulhollands Fäuste sandten Schmerz auf Schmerz durch seinen Kopf.

Das stoppelbärtige Gesicht verschwamm vor Hartes Augen.

Wieder wurde alles um ihn herum finster.

*

»Verdammt, Seamus, er ist schon wieder ohnmächtig!« fluchte der kleine Roy Laverty, der mit gezücktem Messer herbeigesprungen war. Enttäuschung zeichnete das flache Sommersprossengesicht. »Warum hast du nicht auf mich gewartet? Ich hätte mich auch gern mit dem Lackaffen beschäftigt.« Sehnsüchtig betrachtete Laverty die Klinge seines Messers und fügte mit einem Kichern hinzu: »Auf meine ganz besondere Weise.«

»Ihr seid Idioten, alle beide!« bellte Claude Dana, der Mann mit dem perlmuttverschalten Revolver. »Wir sollten den verfluchten Schmierfinken zum Reden bringen und ihn nicht wieder in den Schlaf zurückschicken. Über dieses Ergebnis wird der Boß gar nicht zufrieden sein.«

Der Boß!

Bei seiner Erwähnung zuckte Roy Laverty zusammen, und Seamus Mulhollands Augen zeigten den Ausdruck von Furcht. Ihr Boß war der Hai von Frisco. Und der war dafür bekannt, keine Versager in seinen Reihen zu dulden.

»Pah, ist doch halb so schlimm«, versuchte der Tätowierte die Sache herunterzuspielen. »Ich hole einen neuen Eimer Wasser. Wir haben den Schmierfinken eben auf diese Art wach gekriegt, dann wird es jetzt auch klappen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, knurrte Dana, der sich über den Bewußtlosen beugte. »Sein Atem ist ziemlich flach.«

»Was heißt das?« kreischte Laverty besorgt.

Auf einmal war er sehr froh, daß Mulholland allein es dem Gefangenen gegeben hatte. Falls der Schmierfink nicht mehr aufwachte, fiel wenigstens keine Schuld auf Laverty.

»Er wird wohl nicht sterben«, sagte Dana. »Aber er wird eine ganze Weile benötigen, um sich von Mulhollands Spezialbehandlung zu erholen. Heute nacht wird es wohl nichts mehr mit dem Verhör. Wir sollten ihn in Ruhe lassen.«

»Und wenn er doch früher aufwacht?« wandte der Tätowierte ein. »Der Lackaffe hat bewiesen, daß er gefährlich ist.«

»Stimmt«, gab Dana zu, während er sich erhob und seine zerknitterte Kleidung ordnete. »Holt starke Seile und fesselt ihn so, daß er keinen Finger mehr krümmen kann!«

Er verließ den fensterlosen Raum und trat auf einen finsteren Gang hinaus. Dana benötigte kein Licht, er kannte sich hier aus. Er schlug die Richtung ein, aus der leiser, aber beständiger Lärm zu ihm drang.

Es war das Klimpern eines schlecht gestimmten Pianos und die Melodie von When Johnny Comes Marching Home. Der alte Pinky haute mit mehr Leidenschaft als Können in die Tasten. Ein paar unionistisch gestimmte Patrioten - oder zumindest ein paar Kerle, die sich dafür hielten - grölten lautstark und falsch den Text des Marschliedes. In ihren Gesang mischte sich Gelächter und Geschrei.

Als Dana den großen Schankraum des Red Whale erreichte, hatte Pinky zur gerade noch erkennbaren Melodie von There Was An Old Soldier gewechselt. Dana kämpfte sich durch die Tanzfläche, wo Tanzmädchen mit angeheiterten Gästen ihre Runden drehten, zur Bar durch und bestellte bei dem fast glatzköpfigen Keeper einen doppelten Bourbon.

»Aber den guten«, fügte Dana im drohenden Unterton hinzu. »Nicht den billigen Fusel, den du Betrunkenen für teures Geld andrehst.«

»Gewiß doch, Mr. Dana«, erwiderte der Barmann respektvoll. »Für Sie nur das Beste, Sir.«

Dana setzte das nicht ganz saubere Glas an die Lippen, als Molly Reynolds ihre vielen Pfunde an die Bar schob und fragte: »Wie ist es gelaufen, Claude? Du siehst nicht gerade fröhlich aus.«

»Das bin ich auch nicht«, antwortete Dana, nachdem er das Glas bis zur Hälfte geleert hatte. »Dieser Schwachkopf von Mulholland hat den Schmierfinken mit seinen Fäusten zurück ins Reich der Träume geschickt. Jetzt können wir ein paar Stunden warten, bis der Schreiberling wieder ansprechbar ist!«

Dana fühlte die Wut auf Holland in sich hochsteigen und trank den Rest Bourbon aus seinem Glas.

Die fette, rothaarige Frau blickte ihn mitleidig an.

Erst hatte sie sich geärgert, als der Hai Claude Dana anschleppte. Dana war die neue rechte Hand des Hais und nahm die Stelle ein, die vorher Henry Black innegehabt hatte. Dana benahm sich ganz, als gehörte ihm das Red Whale, und das hatte Molly verärgert.

Jetzt aber hätte sie um kein Geld der Welt mit dem äußerlich dandyhaften, in Wahrheit aber knallharten Mann tauschen mögen. Es war Danas Aufgabe, vor den Hai zu treten und ihm die peinliche Schlappe zu melden.

Mulholland schob seine knochige Gestalt zwischen die Tanzenden hindurch, stellte sich neben Dana und Molly und sagte: »Auftrag erledigt, Mr. Dana. Der Lackaffe ist fest verschnürt. Wenn er aufwacht, denkt er bestimmt, er ist ein Überseepaket.«

Weder Dana noch Molly fielen in das abgehackte Lachen des Tätowierten ein.

Der wurde wieder ernst und erklärte: »Roy hält vor der Tür Wache. Wer soll ihn ablösen?«

Dana überlegte kurz und meinte: »Kann gut sein, daß ich sämtliche Männer noch brauche. Kommt ganz drauf an, was der Schmierfink alles ausgeplaudert hat.« Er blickte die Frau an. »Hast du einen geeigneten Wächter, Molly?«

»Meine beiden neuen Rausschmeißer machen sich gut«, sagte die Frau und blickte durch die Tabakrauchschwaden hinüber zur Eingangstür, wo die beiden massigen Iren standen. »Einer von ihnen schafft die Arbeit auch. Der andere kann auf den Gefangenen aufpassen.«

»Wenigstens etwas«, seufzte Dana und stieß sich von der Theke ab. »Ich gehe jetzt zum Boß. Er wartet sicher schon auf Nachricht.«

Molly nickte nur, aber in Gedanken sagte sie: Paß bloß auf, daß der Hai dich nicht in einem Wutanfall auffrißt!

*

Am nächsten Morgen.

»War er das?« fragte Jacob zweifelnd und starrte dem untersetzten Mann nach, den er nur von hinten sah. Der Unbekannte bog gerade um eine Ecke, womit er die Dean Street und das Blickfeld der beiden Auswanderer verließ.

Jacob und Irene hatten das Boarding-House nach dem einfachen, aber kräftigen Frühstück verlassen. Beide wollten zur Arbeit. Jacob zu Reverend Humes abgebranntem Waisenhaus und Irene hinauf auf einen der Hügel zum Anwesen von Senator William Basehart. >Big Bill< hatte ihr eine Stellung als Dienstmädchen angeboten, die sie heute antreten wollte. Wie auch Jacobs Anstellung als Zimmermann, eine willkommene Gelegenheit, die arg zusammengeschrumpfte Reisekasse aufzubessern. Irene durfte sogar ihren kleinen Sohn mitbringen.

Irene sah ebenfalls in die Richtung, wo der Fremde verschwunden war.

Langsam wiegte sie den Kopf hin und her und sagte: »Ich weiß nicht, Jacob. Es hätte der Mann von gestern abend sein können.«

»Dann ist er tatsächlich hier untergekommen. Er muß vor uns gefrühstückt haben.«

»Und wenn schon?« fragte die junge Frau mit dem kleinen Kind auf dem Arm. »Was hast du bloß gegen diesen Mann?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie beunruhigt er mich.«

Baseharts prächtiges Anwesen nahm die Kuppe eines mit bunten Blumen bewachsenen Hügels ein. Es war ein wunderschönes Bild, zumal die Wolken fortgezogen waren. Jetzt badete, wie fast das ganze Jahr über, die Sonne San Francisco in ihren wärmenden Strahlen.

Der Senator empfing die beiden Deutschen persönlich und machte ihnen ein verlockendes Angebot: »Der Weg von der Dean Street nach hier oben ist weit. Ich schlage deshalb vor, daß Sie beide bei mir wohnen. Kost und Logis sind selbstverständlich frei. Ich habe bereits zwei Zimmer herrichten lassen und Ihnen auch passende Kleidung besorgt. Ihre restliche Habe lasse ich von einem meiner Leute aus dem Boarding-House holen. Ist Ihnen das recht?«

Begeistert stimmten Jacob und Irene zu. Ein eigenes Zimmer war etwas anderes als die großen Schlafsäle in Mrs. Marshs Boarding-House.

Den ganzen Tag verbrachte Jacob in der Bolding Street und überwachte den Abtransport der Trümmer von Reverend Humes Waisenhaus. Er untersuchte alles genau nach brauchbaren Teilen, aber er fand so gut wie nichts. Das hungrige Feuer hatte gefressen, was es nur bekommen konnte. Das ganze Viertel war ebenso verwüstet wie das angrenzende Chinatown, wo das durch die Männer des Hais gelegte Feuer ausgebrochen war.

Das Waisenhaus und die Nähe der Chinesenstadt ließen Jacob immer wieder an Wang Shu-hsien denken. Hier im Waisenhaus hatte er eine kurze Zeit voller Zärtlichkeit und Lust mit der schönen jungen Chinesin verbracht.

Aber als Jacob Shu-hsien aus den Händen des Hais befreite, ging ein seltsamer Blick von ihren smaragdschimmernden Katzenaugen aus. Kälte und Abweisung lagen darin. Die schrecklichen Vorfälle der Nacht - das Abbrennen Chinatowns und die Folter durch den Hai - schienen alle Gefühle in ihr getötet zu haben.

Seitdem hatte Jacob sie nicht mehr gesehen. Einerseits spürte er Sehnsucht und Verlangen nach Shu-hsien. Andererseits fühlte er, daß das Band der Liebe zwischen ihnen endgültig zerrissen war. Er glaubte, in Shu-hsiens Augen den Entschluß gelesen zu haben, nie wieder etwas mit einem weißen Mann zu tun zu haben.

Jacob und die Männer, die Senator Basehart angeheuert hatte, arbeiteten bis in die Dämmerung hinein. Auch Reverend Alister Hume packte mit an. So schafften sie es, den Platz, an dem Humes Waisenhaus gestanden hatte, bis zum Abend von allen Trümmern zu befreien.

»Morgen können wir schon mit dem Wiederaufbau anfangen«, sagte Jacob zufrieden.

Der Reverend sah ihn mit leuchtenden Augen an.

»Danke, Mr. Adler. Ich werde Ihnen das niemals vergessen.«

»Noch steht das Haus nicht«, wehrte der junge Zimmermann ab. »Außerdem haben Sie mir selbstlos geholfen, als die Männer des Hais hinter mir her waren. Ich freue mich, mich dafür revanchieren zu können.«

Hume blickte hinauf in den blauen Himmel und sagte: »Gute Taten werden belohnt.«

»Und schlechte bestraft?« fragte Jacob.

»Aber ja doch!«

»Hoffentlich«, seufzte der Deutsche und dachte dabei an Max Quidor und den Hai von Frisco, die höchstwahrscheinlich ein und dieselbe Person waren.

*

Bret Harte hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Als er irgendwann erwachte, war um ihn herum nur Dunkelheit gewesen.

Und in ihm drin ein ungeheurer Schmerz. Besonders in seinem Kopf. Dort, wo ihn Mulhollands Fäuste getroffen hatten.

Da es derart finster war, nahm der Journalist an, daß er sich noch in dem fensterlosen Raum befand.

Überprüfen konnte er es nicht. Er war zu nichts in der Lage, außer auf dem Boden zu liegen. Fesseln, die schmerzhaft in sein Fleisch schnitten, hinderten ihn nicht nur am Aufstehen, sondern an der geringsten Bewegung.

Selbst das Nachdenken bereitete seinem Kopf Schmerzen. Also lag er einfach nur da und wartete.

Manchmal hörte er Geräusche, die ihn an Schritte erinnerten. Selten vernahm er leise Stimmen, ohne die Worte zu verstehen. Ein- oder zweimal glaubte er, das Klimpern eines Pianos zu hören.

Dann war da plötzlich das schabende Geräusch eines schweren Riegels, der zurückgezogen wurde - ganz nah!

Der Gefangene riß die Augen auf.

Mit einem Quietschen schwang die schmale Tür auf. Licht flutete in den Raum und stach schmerzend in Hartes daran nicht mehr gewöhnte Augen.

Schritte kamen näher, begleitet von leiser Pianomusik. Es war die schnelle, lustige Melodie von Cluck OldHen.

Harte gewöhnte sich schnell an das Licht. Es war weniger stark, als er anfangs glaubte. Wieder kam es nur aus einer Petroleumlampe.

Und wieder besuchten ihn die drei Männer, die der Gefangene vor seiner Ohnmacht gesehen hatte.

Draußen auf dem Gang war noch ein Mann, der jetzt die Tür schloß. Harte sah ihn nur undeutlich, kaum mehr als einen Schatten. Ein sehr massiger Schatten.

»Wie sieht es aus, Schreiberling?« erkundigte sich Claude Dana. »Möchtest du uns jetzt das erzählen, was wir wissen wollen?«

»Was wollen Sie den wissen?« krächzte Harte.

Seine Stimme war rauh, der Mund pelzig. Er hatte lange nichts mehr gegessen und getrunken. Jetzt sehnte er sich fast danach, mit einem Eimer Wasser übergossen zu werden.

»Erzähl uns erst mal, was du deinem Freund erzählen wolltest. Diesem Clemens oder Twain, oder wie auch immer er heißen mag. Du hattest es doch so eilig, dich mit ihm zu unterhalten.«

»Es ging nur um berufliche Dinge«, log Harte. »Da der Call nach dem Brand so gut läuft, wollte ich ihn fragen, wen wir als zusätzlichen Journalisten einstellen könnten.«

Dana durchschaute die Lüge und bestrafte sie mit einem schnellen Stiefeltritt in Hartes Unterleib.

»Möchtest du, daß Mulholland die Behandlung von letzter Nacht fortsetzt?« fragte Dana scharf. »Oder soll ich dich lieber unserem Freund Roy überlassen? Er ist schon ganz wild darauf, dich als Wetzstein für sein Messer zu benutzen.«

Zur Bestätigung dieser Worte zückte der kleine Ire die besagte Waffe und strich verträumt mit dem Daumen , über die Klinge.

»Geben Sie mir etwas Wasser«, bat Harte. »Dann kann ich besser reden.«

»Beweis erst mal, daß du etwas Vernünftiges zu sagen hast!« blieb Dana hart.

»Wer sind Sie überhaupt?« fragte Harte. »Ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Der Dandy grinste, zog mit einer übertriebenen Geste seinen Hut und machte eine ebenso übertriebene Verbeugung.

»Verzeihen Sie, werter Sir, daß ich mich vorzustellen vergaß. Meine Name ist Dana, Claude Dana.«

Er brach in ein rauhes Lachen aus und setzte den Hut wieder auf.

»Claude Dana«, murmelte der Journalist und überlegte krampfhaft, woher er den Namen und den Mann kannte.

Plötzlich hatte er es und rief: »Sie sind doch dieser Spieler, der überall kräftig abkassiert. Man sagt, Sie hätten mehr Glück als Verstand oder unglaublich gut gezinkte Karten.«

Dana lächelte spöttisch. »Vielen Dank für so viele Komplimente.«

»Ich habe Sie neulich erst gesehen«, fuhr Harte fort, seine Gedanken laut auszusprechen. »Sie haben sich in der Nähe der Münze herumgetrieben. Zweimal habe ich Sie dort in den letzten Tagen gesehen!«

»Fein, daß wir endlich beim Thema sind«, sagte der Spieler. »Was weißt du noch über die Münze?«

»Einiges. Schließlich arbeite ich dort.«

»Ich meine nicht deine Arbeit!«

»Was dann?«

»Ich meine das verschwundene Gold!«

»Yeah«, knurrte der Journalist. »Darüber würde ich auch gern mehr wissen.«

»Das glaube ich dir gern.« Dana grinste. »Aber du hast Pech, Schmierfink. Ich bin es, der hier die Fragen stellt. Spuck also endlich aus, was du alles über das verschwundene Gold in Erfahrung gebracht hast!«

»Den Teufel werde ich tun!« bellte Harte und fing sich einen weiteren Stiefeltritt ein, diesmal an seinen Kopf.

»Wir werden dich schon zum Reden bringen«, sagte Dana. »Du wirst noch darum betteln, endlich auspacken zu dürfen!«

*

»Ich komme mir vor wie in einem Traum«, sagte Irene und sah dabei an ihrem neuen Kleid hinunter, dessen tiefblauer Stoff unter dem ebenfalls neuen roten Umhang leuchtete. Ihre Hände griffen an den federgeschmückten Hut. »Senator Basehart ist wirklich großzügig.«

»Ja, das ist er«, brummte Jacob und betrachtete seine ebenfalls neuen Kleider.

Er trug einen breitkrempigen Hut, eine beigefarbene Jacke über einem frischen weißen Hemd mit Binder und eine Nietenhose der erfolgreichen in San Francisco ansässigen Firma >Levi Strauss & Co.<.

»Du klingst nicht gerade begeistert, Jacob.«

»Von selbst erarbeitetem Geld gekaufte Sachen sind mir lieber als Almosen.«

Die blonde Frau warf dem Mann, der neben ihr in dem offenen Wagen saß, einen langen Blick zu. Das anfängliche Befremden wechselte schnell in Stolz.

»Ich verstehe dich«, sagte Irene. »Aber der Senator meint es gut. Außerdem hat er ganz recht. Du hast dich in der Brandnacht für San Francisco eingesetzt. Da ist es nur gerecht, wenn die Stadt etwas für dich tut.«

»Die Stadt oder der Senator?« fragte Jacob.

Irene lächelte.

»Für Basehart scheint es dasselbe zu sein. Ihm ist es eine Freude, und wir sollten es einfach genießen.«

»Du hast wohl recht«, seufzte Jacob und blickte hinaus in die Straßen, durch die sie kutschiert wurden wie ein hochherrschaftliches Paar.

Basehart hatte ihnen auch einen Wagen zur Verfügung gestellt, der von einem Schwarzen in dunkler Livree gelenkt wurde. Der Kutscher hieß Nat. Er brachte Jacob und Irene zu ihrem Treffen mit Mark Twain alias Sam Clemens.

Jamie war wohlbehütet in Baseharts Haus zurückgeblieben. Mary, die Tochter des Senators, hatte das kleine Kind zu ihrem Liebling erkoren.

Vor dem Verlagsgebäude des Call verließen die beiden Deutschen die Kutsche, und Nat kehrte zu Baseharts Anwesen zurück.

Twain schien bereits auf sie gewartet zu haben. Kaum hatten sie den Vorbau betreten, da stürzte der Journalist aus der Tür und lief ihnen mit hastigen Schritten entgegen.

»Sie haben es aber eilig«, wunderte sich Jacob. »Sind wir etwa so spät dran?«

»Nein, daran liegt es nicht«, erklärte Twain. »Aber zwischenzeitlich hat sich einiges ergeben, das Eile geboten sein läßt.«

Der Zimmermann runzelte die Stirn.

»Ich dachte, wir wollten gemütlich essen.«

»Ja, natürlich, die Einladung steht. Allerdings bezweifle ich, daß unser Essen sehr gemütlich werden wird. Ich habe heute abend nämlich noch einiges vor.«

Der Journalist führte seine Gäste zu dem Fischrestaurant zwei Straßen weiter und steuerte einen abgelegenen Tisch in einem Hinterzimmer an. Sofort kam ein junger Chinese, um ihre Bestellungen aufzunehmen.

Als der Kellner wieder verschwunden war, sagte Twain: »Erzählen Sie mir alles, was Sie über den Hai von Frisco wissen, bitte! Es ist sehr wichtig!«

Twain war sichtlich nervös. Nervös und besorgt. Seine Besorgnis ging weit über das normale journalistische Interesse hinaus.

Deshalb sagte Jacob: »Wollen Sie uns nicht erst erzählen, was los ist, Mr. Twain? Ich verstehe Ihre Aufregung nicht.«

»Sie haben wohl recht«, meinte der Journalist und strich mit einer fahrigen Bewegung durch sein rotbraunes Lockenhaar. »Wenn Sie wissen, worum es geht, können Sie mir besser helfen.«

Er berichtete ausführlich von dem Treffen mit Bret Harte, zu dem dieser nicht erschienen war.

Nachdem der chinesische Kellner die Suppe aufgetragen und sich wieder entfernt hatte, griff der Journalist in eine Tasche und legte eine große, golden glänzende Scheibe auf den Tisch.

»Das ist eine der Münzen, die ich im Bauch der toten Ratte fand«, sagte Twain.

Jacob nahm sie auf, klemmte sie zwischen Zeigefinger und Daumen und hielt sie gegen das nur schummrige Licht der rotbeschirmten Lampe über ihrem Tisch. Ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln reflektierte das Licht. Um ihn herum stand zu lesen: >San Francisco California< und >Twenty D.<.

»Zehn dieser sogenannten Doppeladler, Zwanzig-Dollar-Stücke, habe ich in der Ratte gefunden.«

»Stammt die Münze aus Kalifornien?« erkundigte sich Jacob. »Die Inschrift scheint es zu sagen.«

»Right, Mr. Adler. Sie ist hier in Frisco geprägt worden, in der hiesigen Zweigniederlassung der Münze der Vereinigten Staaten.«

»Das gute Stück sieht ziemlich neu aus«, stellte Irene fest. Sie hatte sich zu Jacob gebeugt, um den Doppeladler genau zu betrachten. »Man sieht nicht den kleinsten Kratzer.«

Twain stieß mit dem Suppenlöffel in Richtung der Frau, und seine Augen leuchteten auf.

»Sie haben es erkannt, Miß Sommer. Übrigens sehen sämtliche zehn Münzen so nagelneu aus. Und alle sind in der hiesigen Münzanstalt geprägt worden.«

Jacob wollte die Münze an Twain zurückgeben, hielt aber mitten in der Bewegung inne, weil er sich an etwas erinnerte.

»Mr. Twain, sagten Sie bei unserer ersten Begegnung nicht, Ihr Freund Harte hätte einen Posten in der Münze inne?«

Der Journalist nickte.

»So ist es. Bret ist dort einer der leitenden Beamten.«

»Dann könnte sein Verschwinden.«

»... mit seiner Tätigkeit in der Münze in Zusammenhang stehen«, fiel Twain dem deutschen Auswanderer ins Wort. »Genau das ist auch meine Überlegung. Ich denke, Bret war einer großen Schweinerei auf der Spur und wollte gestern mit mir darüber sprechen. Leider bin ich zu spät gekommen!«

Irene fragte: »Warum wollen Sie in diesem Zusammenhang alles über den Hai von Frisco wissen, Mr. Twain?«

»Sie sprachen es gerade aus, Miß Sommer, ich vermute einen Zusammenhang zwischen Brets Verschwinden und den Umtrieben des Hais.«

Das machte die beiden Deutschen neugierig. Aber sie mußten ein paar Minuten auf eine Erklärung warten.

Twain schwieg, bis der Kellner das Suppengeschirr ab- und die Hauptspeisen aufgetragen hatte. Dann endlich fuhr er fort: »Ich habe den heutigen Tag benutzt, um einige Nachforschungen anzustellen. Als Journalist habe ich so meine Quellen. Es heißt, seit der Brandnacht sind viele Männer des Hais in Barbary Coast gesehen worden. Und zwar am Raddampfer-Hafen, in der Nähe eines anrüchigen Lokals, dem Red Whale.«

»Und der Wagen, auf dem vermutlich ihr entführter Freund gelegen hat, ist in Richtung Barbary Coast gefahren!« rief Jacob aus. »Jetzt verstehe ich allmählich. Sie vermuten, der Hai hat sich irgendwie an den Geldbeständen der Münze bereichert.«

»Yeah«, sagte Twain. »Bret ist der Sache auf die Spur gekommen, war aber nicht vorsichtig genug. So denke ich es mir.«

»Dann sollten Sie sofort die Behörden unterrichten«, fand Irene.

Twain schüttelte den Kopf.

»Der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Erst muß ich mehr in Erfahrung bringen. Ich will nicht durch unbedachtes Handeln den Faden zerreißen, der mich vielleicht zu Bret führt. Außerdem hat Bret aus irgend einem Grund auch nicht die Behörden verständigt, sondern wollte mit mir über die Sache reden.«

»Was wollen Sie dann unternehmen?« fragte die junge Frau.

»Nach Barbary Coast gehen und mich dort umsehen.« Twain blickte Jacob an. »Begleiten Sie mich, Mr. Adler?«

»Warum Jacob?« entfuhr es der erschrockenen Irene.

»Weil er den Hai von Frisco kennt. So ist es doch - oder?«

»Wenn Irenes Vermutung stimmt, daß es sich bei dem Hai um unseren alten Bekannten Max Quidor handelt, dann ist es in der Tat so«, bestätigte Jacob und erzählte dann von den unliebsamen Begegnungen, die er und Irene mit Quidor gehabt hatten.

»Sie müssen mit mir kommen, Adler!« bat der Journalist eindringlich. »Zusammen können wir den Hai vielleicht endlich unschädlich machen!«

»Ich halte das für zu gefährlich«, wandte Irene ein.

»Wir werden vorsichtig sein«, sagte Jacob.

Irenes grünblaue Augen blickten den Freund sorgenvoll an.

»Du. du gehst also mit, Jacob?«

»Ja, es muß sein. Wir beide wissen, wie gefährlich Quidor ist. Wenn ihm nicht endlich das Handwerk gelegt wird, müssen noch viele Menschen unter seiner Gier und seiner Bosheit leiden. Vorher aber bringe ich dich zurück zu Baseharts Haus.«

»Und wenn ich mit will nach Barbary Coast?«

Erneut schüttelte der Journalist seinen lockenumwallten Kopf.

»Barbary Coast ist nicht der richtige Ort für junge Ladies, jedenfalls nicht für solche, die keiner verrufenen Tätigkeit nachgehen. Ich werde einen Wagen kommen lassen, der Sie zurückbringt, Miß Sommer. Dann können Mr. Adler und ich gleich aufbrechen.«

Bevor Irene vor dem Restaurant in den Wagen stieg, wandte sie sich noch einmal an Jacob. Sie blieb vor ihm stehen, legte ihre Hände auf seine Arme und sagte leise, aber eindringlich: »Versprich mir, daß du gut auf dich aufpaßt! Jamie und ich, wir brauchen dich.«

Jacob versprach es. Und er fragte sich, wie Irene den letzten Satz gemeint hatte.

*

Die Kleidung hing in Fetzen an dem großen Mann herab. Er wand sich schmerzerfüllt auf dem Boden, aber seine Peiniger ließen ihm keinen Raum und keine Möglichkeit zum Ausweichen.

Immer wieder schnitt die über der Flamme der Petroleumlampe glühend heiß gemachte Klinge in sein Fleisch.

Bei jedem Schrei, den Bret Harte ausstieß, leuchtete das flache, verschlagene Sommersprossengesicht des kleinwüchsigen Iren befriedigt auf.

»Rede doch endlich!« verlangte Claude Dana. »Am Ende tust du es doch. Du ersparst dir nur eine Menge Schmerzen.«

Dabei blickte der Dandy gleichgültig auf die blutenden Wunden überall an Hartes Oberkörper.

Die rasenden Schmerzen drängten den Journalisten, Danas Verlangen endlich nachzugeben. Aber sein Stolz und der Wunsch, niemanden in Gefahr zu bringen, waren stärker -noch. Harte biß die Zähne zusammen und schwieg.

Dana gab Roy Laverty ein Zeichen, und wieder fuhr die heiße Klinge in das Fleisch des Gefangenen. Sie öffnete Hartes Zähne, aber nur zu einer Mischung aus Schreien und Stöhnen, nicht zu einer Antwort.

Blut quoll aus der neuen Wunde, wie es auch aus den anderen gequollen war. Es waren schmerzhafte Schnitte, doch sie drangen nicht tief in den Körper des Mißhandelten ein. Schließlich wollten die anderen Männer ihn nicht umbringen, noch nicht.

Aber irgendwann war es zuviel für den blutenden Mann am Boden. Er verlor wiederum das Bewußtsein.

Seamus Mulholland blickte Dana an und fragte: »Soll ich 'nen Eimer Wasser holen, um ihn wieder auf die Beine zu bringen?«

»Das hat im Augenblick wenig Sinn, schätze ich. Der Schmierfink ist zäher, als ich gedacht hatte. Es wird nichts bringen, mit dieser Behandlung fortzufahren. Gehen wir erst mal an die Bar und überlegen wir uns etwas anderes.«

»An die Bar.« Der Mann mit den Tätowierungen grinste breit. »Ein guter Vorschlag.«

*

Zögernd betrat der Mann aus Deutschland das laute, nach Rauch, Alkohol und Ausdünstungen stinkende Innere des auf Land liegenden Schiffes.

Während er sich nach allen Seiten umsah, ging er auf die lange Bar zu. Um ihn herum herrschte der übliche Trubel des ausgelassenen Lebens, das mit Einbruch der Dämmerung erst so richtig in Barbary Coast begann. Der alte Mann am Piano klimperte laut und falsch vor sich hin, doch niemand störte sich daran. Die Girls tanzten oder tranken mit den Männern an den Tischen. Letztere spielten, sangen oder befingerten das warme Fleisch der Mädchen.

Ein schiefgesichtiger Keeper fragte den Besucher nach seinem Wunsch.

»Ich suche jemanden.«

Das Gesicht des Keepers verfinsterte sich.

»Und trinken wollen Sie nichts?«

»Doch, natürlich«, sagte der Deutsche schnell. »Ein Bier, bitte.«

Als der Keeper das große Glas mit dem gelben, schäumenden Inhalt auf die Theke setzte, sagte der neue Gast: »Vielleicht können Sie mir helfen, Sir. Hier soll es einen Mr. Dana geben.«

»Claude Dana?«

»Ja, so heißt er. Ich würde ihn gern sprechen. Ist er hier?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Keeper mit unbewegtem Gesicht. »Ich werde mich erkundigen.«

Der Keeper ging zum anderen Ende der Theke, wo Molly Reynolds das Lokal mit ihrem Lachen erfüllte. Offenbar hatte einer der Männer, die sie umstanden, gerade einen umwerfenden Witz erzählt. Es war allgemein bekannt, daß Molly für anzügliche Witze sehr empfänglich war.

»Molly«, sagte der Keeper. »Da ist einer, der Claude Dana sprechen will.«

Sofort erstarb das schrille Lachen der unglaublich fetten Frau. Ihr Gesicht wurde ernst, als sie sich dem Keeper zuwandte und fragte: »Wer?«

»Der da hinten.« Der Keeper zeigte auf den neuen Gast. »Der so lustlos an seinem Bier nippt. Scheint ein Dutch zu sein.«

»Frag ihn nach seinem Namen«, ordnete Molly an. »Dann gehst du zu Dana und sagst ihm den Namen. Soll Dana doch selbst entscheiden, ob er mit ihm sprechen will. Ah, da kommt er ja!«

Gerade betraten Dana, Mulholland und Laverty den großen Saloon.

»Right.«

Der Keeper nickte, ging zurück zu dem neuen Gast und fragte ihn nach dem Namen.

Der untersetzte Mann zögerte kurz und sagte dann: »Ich heiße Franz Pape.«

»Ich frage Mr. Dana, ob er sie sprechen will.«

*

Als Claude Dana sein Büro betrat, blickte der Mann, den alle nur den Hai von Frisco nannten, auf und fragte: »Gibt es Neuigkeiten von diesem Journalisten, Claude? Haben Sie ihn endlich zum Reden gebracht?«

»Nein, leider nicht, Sir. Er ist ein zäher Brocken. Mancher andere hätte bei dieser Behandlung gesungen wie Lola Montez. Aber dieser Harte hielt so lange durch, bis er ohnmächtig wurde. Wenn er wieder bei Sinnen ist, beschäftigen wir uns weiter mit ihm.«

Das Gesicht des Hais wurde düster, wirkte auf einen Schlag hart und grausam.

»Warum stören Sie mich dann?«

»Weil ich andere Neuigkeiten habe, die wichtig sein könnten. Sagt Ihnen der Name Midas Lode etwas?«

»Natürlich. Das ist die unglaublich ergiebige Goldader drüben am San Joaquin River. Man sagt, je mehr Gold man dort fördert, desto mehr kommt zum Vorschein. Deshalb hat man sie nach dem sagenhaften König Midas benannt, dessen Berührung alles in Gold verwandelt hat. Mit dem Gold könnte ich alle Verluste, die ich durch die Aufgabe des Golden Crown erlitten habe, auf einen Schlag ausgleichen. Ich wünschte, die Midas Lode gehörte mir.«

»Das kann schon bald der Fall sein«, verkündete Dana zur Verblüffung des Hais. »Draußen ist ein Kerl, ein Deutscher, der die Besitzurkunde für die Mine hat.«

»Was?«

Die Hand des Hais schlug mit solcher Macht auf die Schreibtischklappe, daß sogar Buster zusammenzuckte, der bislang ungerührt neben der Tür gestanden hatte.

Dana fuhr fort: »Der Mann hat nur ein Problem: Die Urkunde lautet nicht auf seinen Namen. Deshalb ist er hier. Er hat gehört, daß ich im Red Whale bin und viele Dinge vermitteln kann. Er sucht einen Mann, der eine neue Urkunde für ihn anfertigt, eine Fälschung, die nicht zu erkennen ist, mit seinem Namen natürlich.« »Das läßt sich machen.« Der Hai grinste. »Allerdings sollten wir die neue Urkunde auf einen Mann unseres Vertrauens ausstellen.«

Dana nickte.

»Allerdings. Ich werde alles veranlassen. Was machen wir mit dem Trottel da draußen? In die Bucht?«

»Im Augenblick noch nicht«, entschied der Hai. »Wir könnten ihn noch brachen. Sperrt ihn einstweilen zu dem Journalisten, sobald ihr ihm die Urkunde abgenommen habt. Oder trägt er sie nicht bei sich?«

»Doch. Er scheint sich keine Sekunde von ihr trennen zu können. Ich durfte nur einen kurzen Blick darauf werden.«

»Würde mich interessieren, wie er darangekommen ist«, murmelte der Hai. »Wie heißt der Kerl überhaupt?«

»Pape.«

»Das sagt mir nichts. Und der wirkliche Besitzer der Midas Lode?«

»Das ist laut der Urkunde ein gewisser Dilger.«

Der Hai riß die Augen auf und fragte erregt: »Wie war der Name?«

»Dilger. Carl Dilger.«

»Verdammt«, zischte der Hai. »Das riecht nach einer Falle!«

Dana blickte ihn verständnislos an.

*

Ungefähr eine Stunde nach Franz Pape betraten Jacob Adler und Mark Twain das Red Whale.

Der atemberaubende Dunst der vielen Menschen verursachte bei dem Journalisten einen Hustenreiz. Nachdem er ihn überwunden hatte, sagte Twain: »Ein mieser Schuppen, aber nichts Besonderes. Barbary Coast quillt geradezu über von solchen gastlichen Orten.«

»Falls der Hai hier seine Finger im Spiel hat, wird er es sicher nicht an die Eingangstür schreiben«, erwiderte Jacob. »Und ob es so ist, das finden wir heute abend vielleicht heraus.«

»Wahr gesprochen, mein Freund.« Twain klopfte auf die rechte Außentasche seiner Jacke, die von seinem Sechsunddreißiger ausgebeult wurde. »Jedenfalls bin ich froh, daß ich nicht nur Sie, sondern auch meinen sechsschüssigen Gefährten an meiner Seite weiß.«

»Kann ich verstehen«, sagte Jacob, der ebenfalls bewaffnet war. Als er zu dem Treffen mit Twain aufbrach, hatte er seine beiden Revolver eingesteckt.

Scheinbar gelassen schlenderten sie zur Bar. Jacob bestellte ein Bier und Twain einen Brandy.

»Einiges los hier heute abend«, bemerkte der Journalist, als der schiefgesichtige Keeper die Getränke brachte. »Ist das jeden Abend so?«

»Yeah, Mister«, brummte der Keeper.

»Gut für den Besitzer«, sagte Twain mit einem unverbindlichen Lächeln. »Wer ist das eigentlich?«

»Miß Molly führt das Red Whale«, erklärte der Keeper und zeigte zu der fetten Frau, die an einem der Spieltische saß und an einer Partie Monte teilnahm.

»Führt sie es nur, oder gehört es ihr auch?« bohrte der Journalist tiefer.

Der Keeper legte den Kopf fragend zur Seite.

»Wie meinen Sie das, Mister?«

»Ich habe gehört, das Red Whale soll einem Mann gehören.«

»Wer sagt das?« wollte der Keeper wissen.

»Das weiß ich nicht mehr. Ich habe es irgendwo aufgeschnappt.«

»Davon weiß ich nichts«, meinte der Keeper. »Miß Molly ist schon lange die Chefin hier. Seit kurzem wird sie allerdings von Mr. Dana unterstützt.«

»Claude Dana?« Twain nickte. »Yeah, jetzt sehe ich ihn. Er ist der Mann neben Miß Molly, der mit dem Rücken zu uns sitzt.«

Der Keeper entfernte sich.

»Wer ist dieser Dana?« fragte Jacob seinen Begleiter.

»Ein stadtbekannter Spieler. Man sagt allerdings, das Spiel sei nicht seine Haupteinnahmequelle. Er soll in einigen trüben Gewässern fischen. Vielleicht ist er ja einer der vielen kleinen Fische, die im Gefolge eines Hais mitschwimmen und sich von den Resten seiner Beute ernähren.«

»Sie sprechen von dem Hai, Twain?«

»Natürlich. Da, sehen Sie doch, Adler! Ganz unauffällig bringt unser Keeper eine Flasche an den Spieltisch von Dana und Miß Molly. Dabei sind noch sämtliche Gläser voll. Könnte gut sein, daß wir der Anlaß dieses Manövers sind. Schade, daß wir nicht hören können, was gesprochen wird.«

*

»Miß Molly, Mr. Dana!«

Letzterer hielt gerade ein paar Karten in der Hand, wandte seinen Kopf dem Keeper zu und fragte reichlich unwirsch: »Was gibt's denn? Siehst du nicht, daß wir spielen?«

»Doch, Sir, aber ich glaube, er ist da!«

»Wer?«

»Der Mann, auf den wir achten sollen. Der Dutch mit dem goldenen Ring im rechten Ohr.«

»Bist du dir sicher?«

»Ich glaube, er ist es. Ein junger, großer Kerl mit hellem Haar. Gesprochen hat meistens sein Freund. Aber als der mit dem Ohrring ein Bier bestellte, hörte er sich an wie ein Dutch.«

»Wo stehen Sie?« fragte Dana.

»In der Mitte der Theke.«

Der Dandy drehte den Kopf noch ein Stück weiter, dann sah er die beiden.

»Verflucht, der Keeper hat recht«, zischte er. »Der Hai muß wirklich über hellseherische Fähigkeiten verfügen. Und selbst wenn es nicht dieser Jacob Adler ist, liegt Ärger in der Luft. Sein Begleiter ist nämlich ein Freund von unserem Gefangenen. Clemens heißt er und nennt sich auch Twain, glaube ich.«

»Was tun wir?« fragte Molly.

»Dasselbe wie bei diesem Pape«, antwortete Dana und grinste. »Ich verlasse mich auf dich, Molly-Schatz.«

Achtlos legte er die Karten auf den Tisch, stand auf und ging langsam die Theke entlang.

*

»Er kommt zu uns«, flüsterte Jacob, als Dana aufstand und zur Theke ging. »Was sollen wir tun?«

»Abwarten und anhören, was er uns zu sagen hat«, erwiderte Twain. »Schließlich sind wir hergekommen, um etwas in Erfahrung zu bringen.«

»Guten Abend, Gentlemen«, sagte Dana, als er die beiden anderen erreichte; dabei tippte er mit der Hand an die Hutkrempe. »Der Keeper hat mir gesagt, Sie interessieren sich für mich. Was kann ich für Sie tun?«

»Meine Name ist Sam Clemens. Als Mark Twain schreibe ich für den Call.«

Dana nickte wissend.

»Yeah, ich kenne das Blatt und Sie auch. Ich schätze Ihre Artikel sehr, Sir.«

»Vielen Dank.« Twain deutete eine Verbeugung an. »Dann lassen Sie sich vielleicht hinreißen, meinem jungen Kollegen und mir zu helfen. Wir wollen nämlich einen Artikel über die berühmtesten Vergnügungsstätten von San Francisco schreiben. Einen Leitfaden für Vergnügungssüchtige, wenn Sie so wollen.«

»Und dabei wollen Sie auch das Red Whale berücksichtigen?«

»In der Tat, Mr. Dana. Schließlich ist auch Barbary Coast ein Teil von San Francisco, und sicher nicht der unbekannteste.«

»Nein, sicher nicht«, lachte Dana und zeigte auf eine Tür hinter der Theke. »Ich freue mich, daß Sie das Red Whale auserkoren haben, und stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Gehen wir in ein Hinterzimmer. Hier ist es zu laut für eine vernünftige Unterhaltung.«

Da hatte Dana recht. Der zahnlose Alte am Piano klimperte Dolly Varden zwar viel zu schnell herunter, aber das hielt eine ganze Anzahl der Gäste nicht davon ab, den Gassenhauer mitzusingen. Ihr vielstimmiges Gegröle erfüllte den Raum.

Jacob warf seinem Begleiter einen warnenden Blick zu. Twain erwiderte das mit einer knappen Handbewegung, die zu sagen schien: >Ich weiß, es könnte eine Falle sein, aber wir müssen es riskieren.< »Sehr schön«, sagte Twain zu dem Spieler. »Wir nehmen Ihr Angebot dankend an, Mr. Dana. Gehen Sie voran?«

»Natürlich«, sagte Dana lächelnd und stieß sich von der Theke ab.

»Ach ja, Mr. Clemens, Ihr Begleiter hat sich mir noch nicht vorgestellt.«

»Mein Kollege heißt Carpenter«, sagte Twain schnell, bevor Jacob sich vielleicht durch die Nennung seines richtigen Namens verraten konnte. Falls das Red Whale das neue Hauptquartier des Hais war und falls jener Max Quidor der Hai war, konnte die Erwähnung des Namens Jacob Adler nichts Gutes bewirken.

»Freut mich, Mr. Carpenter«, sagte Dana.

»Mich auch, Sir«, erwiderte Jacob knapp.

Dana öffnete die Tür hinter der Theke und trat mit zielsicheren, energischen Schritten in einen halbdunklen Gang.

Jacob und Twain folgten ihm und achteten darauf, daß Danas Rechte dem perlmuttverschalten Revolvergriff an seiner Hüfte nicht zu nahe kam. Feinde konnten ihnen in dem engen Gang, in dem es keine Seitentüren gab, nicht auflauern.

Aber sie achteten weder auf den Fußboden noch auf das, was am anderen Ende der Theke vor sich ging. Dort stand Molly Reynolds und legte - wie schon eine Stunde zuvor im Fall von Franz Pape - einen hinter der Theke verborgenen Hebel um.

Als Jacob und Twain das Knirschen und Ächzen vernahmen, war es schon zu spät. Unter ihren Füßen verschwand der Boden, klappte einfach nach unten weg.

»Vorsi...«, konnte Jacob noch schreien, dann stürzte er auch schon in die dunkle Tiefe.

Vergeblich suchten seine Hände nach einem festen Halt. Und dann war es auch schon vorbei.

Ein harter Aufprall. Schmerzen in seiner Schulter, seinem Arm, dem Bein - der ganzen rechten Seite.

Und völlige Dunkelheit, als die beiden eingeklappten Bodenhälften sich wieder schlossen.

Über sich hörte er Schritte.

War es Claude Dana?

Oder der Hai von Frisco?

Dann ein Fluch ganz nah an seinem Ohr. Der längste und schlimmste Fluch, den Jacob in seinem ganzen Leben gehört hatte. Selbst die Seeleute auf der ALBANY und den anderen Schiffen, auf denen Jacob gewesen war, hatten nicht so geflucht.

»Sind Sie das, Twain?«

»Ja, bei allen Höllenhunden des oberen und unteren Mississippi. Ich bin es und könnte mich vor Wut dorthin beißen, wo anständige Menschen drauf sitzen, aber nicht drüber sprechen!«

»Warum?«

»Warum? Das fragen Sie noch? Wie ein Anfänger bin ich diesem vermaledeiten Dana auf den Leim gegangen. Wie ein Säugling, der noch nichts von der Schlechtigkeit der Welt gehört hat. Die Kaschemmen in Barbary Coast sind für solche Spielereien wie diese Falltüren bekannt. Meistens dienen sie zum shanghaien von Seeleuten. Ich eselsdämlicher Volltrottel falle darauf herein. Verflucht! Verflucht! Verflucht!«

»Solche Vorwürfe bringen uns nicht weiter«, sagte Jacob ruhig. »Wir sollten lieber nach einem Ausweg aus der Falle suchen.«

»Der einzige Weg führt vermutlich direkt in den Rachen des Hais!«

»Dann haben wir immer noch unsere Revolver.«

Twain atmete tief durch und sagte: »Verdammt, Sie haben recht, Adler. Meine Hochachtung vor Ihrer Gelassenheit. Ich werde.«

Eine fremde Stimme - die von Claude Dana - unterbrach den Journalisten und sagte: »Sie werden nur das tun, was ich Ihnen befehle. Gleich wird sich eine Tür einen Spalt öffnen. Sie werden Ihre Revolver durch den Spalt schieben, hübsch langsam. Erst danach werden Sie das Gefängnis verlassen.«

»Warum sollten wir das tun?« fragte Twain.

»Weil Ihr Freund Harte unser Gefangener ist. Wenn Sie sich weigern, stirbt er!«

Twain stieß einen weiteren Fluch aus, diesmal im Flüsterton. Im selben Tonfall fragte er: »Was sollen wir tun, Adler?«

»Gehorchen«, antwortete der Auswanderer ohne Zögern. »Der Hai ist zu allem fähig.«

»Also gut«, seufzte der Journalist. »Geben Sie mir einen Ihrer Schießprügel, aber nur einen!«

Jacob befolgte die Anweisung, nicht ohne sich zu wundern.

»Was ist?« rief Dana ungeduldig.

»Wir sind einverstanden«, antwortete Twain laut.

Ein leichtes Knarren ertönte, und ein Lichtschimmer zeigte den schmalen Spalt an.

»Jetzt die Kanonen«, verlangte Dana. »Aber schön ruhig!«

»All right«, erwiderte Twain und schob nacheinander beide Waffen durch den Spalt. »So, erledigt.«

»Keineswegs, Mr. Clemens«, entgegnete Dana. »Ein Revolver fehlt noch.«

»Wieso?« spielte der Journalist den Unwissenden. »Sie haben doch beide Waffen!«

»Es sind aber drei. Oder glauben Sie, ich hätte nicht bemerkt, daß sich die Taschen des angeblichen Mr. Carpenter an beiden Seiten ausbeulten?«

»So ein ausgekochter Hund!«

In Twains Worten schwang Enttäuschung, aber auch Anerkennung mit.

»Es hat nicht sollen sein«, murmelte Jacob und schob auch seinen zweiten Revolver durch den Türspalt.

Draußen wurden die Waffen aufgehoben. Dann wurde der Lichtspalt breiter.

Jacob und Twain blickten in die Mündungen mehrerer Waffen, darunter ihre eigenen.

Dana, der seinen Revolver auch gezogen hatte, war von vier Männern umgeben, unter ihnen Mulholland und Laverty.

»Willkommen in der Höhle des Hais«, sagte Dana mit falschem Lächeln. »Da wolltet ihr doch hin, oder?«

»Allerdings«, erwiderte Twain. »Wollen Sie uns erzählen, Sie sind der Hai?«

»Ich bin doch nicht anmaßend. Ihr werdet den Hai schon noch kennenlernen.« Dana richtete seinen Blick auf Jacob. »Er hat Sie nämlich bereits erwartet, Herr Adler.«

*

Jacob und Twain folgten Dana durch ein Gewirr von Gängen und Treppen im Bauch des ehemaligen Schiffes.

Ihre bewaffneten und aufmerksamen Wächter ließen ihnen keine Möglichkeit zur Flucht, zumal die Hände der beiden Gefangenen auf den Rücken gefesselt worden waren.

Vor einer unscheinbar wirkenden Tür blieben sie stehen, und Dana sagte: »Mal sehen, ob der Hai euch sprechen will.«

Er wollte. Dana brachte sie herein. Seine vier bewaffneten Männer blieben draußen.

Der Raum war groß und fensterlos, luxuriös eingerichtet, mit Ledermöbeln und einer breiten Bücherwand. Ein Arbeitsraum, der von einem großen Schreibtisch beherrscht wurde. Auffällig waren die Lederschlaufen, die in regelmäßigen Abständen von der Decke hingen. Wie in dem Raum im Golden Crown, das zuvor das Hauptquartier des Hais gewesen war.

Außer Dana und den beiden Gefangenen befanden sich noch zwei Männer im Raum. Beide trugen gute Anzüge, wirkten sonst aber sehr verschieden.

Einer war ein hünenhafter, knochiger, kahlköpfiger Schwarzer. Unbeweglich wie eine Statue stand er neben der Tür. Aber der unbeteiligte Eindruck täuschte, wie die wachsamen, stets hin und her huschenden Augen des Negers verrieten. Buster, der Leibwächter des Hais, war jederzeit zum Eingreifen bereit, sollte seinem Herrn und Meister Gefahr drohen.

Der andere Mann war ein Weißer, der hinter dem Schreibtisch saß und an einem Glas Brandy nippte. Es war ein schlanker Mittdreißiger, etwas mehr als mittelgroß. Dunkles, leicht gewelltes und sorgfältig gescheiteltes Haar und ein herbes, aber gutaussehendes Gesicht ließen ihn fast sympathisch erscheinen.

Doch Jacob wußte nur zu gut, daß sich das Gesicht mit dem auffällig eingekerbten Kinn blitzartig in eine Fratze verwandeln konnte. Eine Fratze, die jene Bösartigkeit ausdrückte, die dem Mann zu eigen war.

»Guten Abend, Herr Adler«, grüßte der Mann hinter dem Schreibtisch auf deutsch. »Sie wirken nicht überrascht, mich hier zu sehen.«

»Das bin ich auch nicht, Quidor. Irene hat Ihre Stimme erkannt, als sie Ihre Gefangene im Golden Crown war. Da war ich allerdings überrascht zu hören, daß Sie noch am Leben sind.«

»Unangenehm überrascht?«

»Sehr unangenehm.«

Max Quidor, der Hai von Frisco, lachte und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er stellte es auf den Tisch und sagte: »Ich dagegen freue mich über unser Wiedersehen. So sehr, daß ich es mit einem Glas des besten Brandys feiere, der in ganz Frisco aufzutreiben ist. Es bedeutet nämlich, daß Sie meine Pläne nie mehr durchkreuzen werden!«

»Sie wollen mich also aus dem Weg schaffen.«

»Natürlich.« Quidor lachte erneut. »Was dachten Sie denn, Adler?«

»Nichts anderes. Würden Sie mir zuvor ein paar Fragen beantworten?«

Der Hai lehnte sich zurück. Er wirkte entspannt.

»Unser Wiedersehen unter diesen Umständen versetzt mich in Gönnerlaune, Adler. Also schießen Sie los. Was wollen Sie wissen?«

»Zunächst einmal, wie Sie den Untergang der ONTARIO überlebt haben.«

»Die Frage habe ich mir selbst schon oft gestellt. Wissen Sie, zu welcher Erkenntnis ich gelangt bin?«

»Nein.«

»Es ist die Macht des Schicksals, Adler. Männer wie mich gibt es nicht viele auf dieser Welt. Ich bin dazu geboren, Großes zu schaffen. Und ein kleiner Zimmermann wie Sie wird mich nicht daran hindern!«

Die Gelassenheit hatte Quidor verlassen. Sein Blick flackerte und schien Jacob durchbohren zu wollen.

»Vom Ende der ONTARIO weiß ich kaum etwas«, fuhr der Hai fort. »Ich weiß nur noch, daß ich Sie und Ihren Freund, diesen Bauer, vor dem Revolver hatte. Danach wurde alles dunkel um mich herum. Ich kam erst wieder zu mir, als ich an einem Lagerfeuer auf einer Lichtung lag. Buster hat mich aus dem Fluß gefischt und mich wieder aufgepäppelt. So hat er es mir erzählt, in seiner Sprache der Zeichen.«

»Was ist mit Buster? Warum kann er nicht sprechen?«

»Weil Weiße ihm die Zunge herausgerissen haben. Er ist ein flüchtiger Sklave. Kentucky gehört zwar zu den Nordstaaten, aber die Sklavenhaltung ist dort erlaubt. Buster hatte gewaltigen Ärger mit seinem Herrn, der ihm die Zunge herausreißen ließ. Darauf brachte Buster ihn um und floh. Erst wollte er auch mich töten, weil ich ein Weißer war. Aber dann kam ihm der Gedanke, daß ein weißer Verbündeter sehr nützlich sein kann. Außerdem konnte ich ihm nicht gefährlich werden. Nach dem verfluchten Schuß in den Rücken konnte ich mich nicht bewegen. Selbst jetzt fällt es mir sehr schwer. Sehen Sie!«

Langsam erhob sich Quidor und stützte sich dabei auf die Tischplatte. Eine Hand griff in eine der Lederschlaufen. So ging - besser zog sich - der mächtige Hai von Frisco durch den Raum, immer mit einer Hand in einer Lederschlaufe. Die Arme gehorchten ihm, aber die Beine so gut wie gar nicht. Er wirkte erleichtert, als er sich wieder in den Stuhl sinken ließ.

»Ich war bei ein paar guten Ärzten, Spezialisten, aber besser haben sie mich nicht hinbekommen. Es liegt an der verfluchten Kugel in meinem Rücken. Sie klemmt einen Nerv ein. Und niemand kann sie herausholen.«

Quidor beugte sich so weit vor, daß er fast auf der Tischplatte lag. Wieder brannte sich sein Blick in Jacob. Fast hypnotisch. Die Welt schien aus nichts anderem mehr zu bestehen als aus den beiden Männern.

»Wer war es, Adler?« fragte Quidor. »Wer hat auf mich geschossen?«

»Vivian Marquand.«

»Sie also«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch leise und fügte lauter hinzu: »Was ist mit ihr geschehen?«

»Auch sie hat den Untergang der ONTARIO überlebt«, antwortete Jacob und berichtete von seinem erneuten, dramatischen Zusammentreffen mit der fanatischen Agentin der Südstaaten.

»Schön, daß sie soviel leiden mußte«, fand Quidor. »Schade nur, daß ich ihr nicht dabei zusehen konnte.«

Jacob hatte noch ein paar Fragen und stellte sie: »Wie sind Sie nach San Francisco gekommen, Quidor? Wie konnten Sie wieder so mächtig werden?«

»Ich war immer mächtig, weil ich immer Geld hatte. Ich hatte einiges Geld hier in Frisco investiert. Da es mir an der Ostküste aus Gründen, die Sie wohl kennen, zu heiß geworden war, zog ich mit Buster nach San Francisco, um an dem neuen Goldrausch teilzuhaben. Und ich muß sagen, Buster und ich erwiesen uns als ein hervorragendes Gespann. Wir arbeiten Hand in Hand, besser als ein Mann allein. Der muß sich nämlich auf Geist und Körper konzentrieren.«

Der Hai tippte an seine Stirn.

»Ich dagegen kann mich ganz allein aufs Denken besinnen, weil Buster die Handarbeit übernimmt.«

Quidor nahm einen großen Schluck Brandy.

»Sonst noch Fragen, Adler?«

»Allerdings. Ihr Freund Mr. Dana sagte, Sie hätten mich erwartet. Warum?«

»Weil mir die Sache mit diesem Carl Dilger gleich nicht geheuer vorkam.«

»Carl Dilger?« wiederholte Jacob überrascht. »Was ist mit ihm?«

»Das hier«, erwiderte Quidor und legte ein Stück Papier so auf den Tisch, daß der Auswanderer es lesen konnte.

Es war die Eigentumsüberschreibung einer Goldmine namens Midas Lode an einen Carl Dilger aus Hamburg, Germany. Jacob verstand es nicht und schüttelte den Kopf.

»Wie kommen Sie an das Papier, Quidor?«

»Es stammt also nicht von Ihnen?« antwortete der Hai mit einer Gegenfrage.

»Von mir?«

»Ja, Adler. Ich witterte eine Falle, als dieser Pape mit dem Dokument hier aufkreuzte. Ich wußte, daß Dilger der Mann ist, den Ihre Freundin Irene zu heiraten gedenkt. Deshalb wies ich meine Leute an, ganz besonders auf den großen Deutschen mit dem goldenen Ring im rechten Ohr zu achten. Zu recht, wie sich herausgestellt hat.«

Quidor nahm das Papier auf und hielt es hoch.

»Sie wissen wirklich nichts hierüber?«

»Aber nein!«

Ein Lächeln zog über das Gesicht des Hais.

»Dann ist die Urkunde vielleicht doch echt«, sagte er leise, mehr zu sich selbst. »Und die Midas Lode ist in meiner Hand!«

In Jacobs Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Name Pape, den Quidor erwähnt hatte, war ihm nicht unbekannt. In Oregon hatten Jacob und Irene erfahren, daß Carl Dilgers Freund und Begleiter auf dem Weg nach Oregon Franz Pape hieß.

»Dieser Pape, von dem Sie sprachen, heißt er mit dem Vornamen Franz?«

»So ist es.«

»Und was ist mit ihm?«

»Jetzt ist er mein Gefangener. Er suchte jemanden, der ihm durch eine gefälschte Urkunde die Midas Lode überschreibt.«

»Aber Sie überschreiben sich die Mine lieber selbst.«

Der Hai grinste und nickte.

»Aber was ist mit Dilger?« fragte Jacob. »Er wird sich die Mine nicht einfach so wegnehmen lassen.«

»Nach Papes Worten ist er tot. Ich habe es überprüfen lassen. Tatsächlich ist ein Carl Dilger an Bord der PERSIA gewesen, die kürzlich in Frisco angekommen ist. Dilger ist allerdings nicht an Land vergangen. Er hat das Schiff schon vorher verlassen, ist in dunkler Nacht über Bord gefallen.«

»Eine unglaubliche Geschichte«, murmelte Jacob, der das alles erst verarbeiten mußte.

Er und Irene hatten Dilger in Kalifornien vermutet. Was hatte er dann auf der PERSIA gemacht, die doch von New York kam?

Und wie kam Dilger in den Besitz einer offenbar wertvollen Goldmine?

Und ausgerechnet der Sohn eines Reeders sollte über Bord gehen und ertrinken?

Twain trat einen Schritt vor und sagte: »Vielleicht können wir mal wieder die Landessprache sprechen. Ich habe nämlich kaum etwas verstanden und auch noch ein paar Fragen an den Hai von Frisco.«

»Fragen Sie nur«, sagte Quidor, ebenfalls auf englisch. »Die Antworten werden Sie allerdings nicht in Ihrem Blatt drucken können.«

»Sind Sie für die goldgefüllten Ratten verantwortlich?« wollte Twain wissen.

»Ja. Ich habe sowohl ungeprägtes Gold, als auch neue Münzen aus der Münzanstalt in meinen Privatvorrat - hm -nennen wir es verlagert. Ich hatte ein paar Helfer in der Münze. Wir inszenierten dort eine Rattenplage, und die toten Tiere transportierten meinen neuen Reichtum, um die strengen Kontrollen zu umgehen.«

»Warum ist Bret damit nicht gleich zur Polizei gegangen?« überlegte Twain laut.

»Fragen Sie ihn das doch selbst«, schlug Quidor vor und wandte sich an Dana: »Schaffen Sie die beiden zu den anderen Gefangenen! Ich werde mir überlegen, wie wir uns ihrer entledigen.«

*

Nur kurz fiel das Licht vom Gang auf die beiden gefesselten und übel zugerichteten Männer in dem dunklen Verließ. Der eine war Bret Harte und der andere jener Mann, dem Jacob und Irene nach der Ankunft der PERSIA den Weg gewiesen hatten!

War das Franz Pape? Hatten Irene und Jacob mit ihm unter einem Dach genächtigt? Mit Carl Dilgers Freund?

Jacob wollte ihn fragen, aber Twains aufgeregtes Organ durchschnitt vorher die Dunkelheit: »Bret, was haben die verwünschten Strauchdiebe mit dir angestellt?«

»Ein paar schlimme Sachen, Sam. Und mit dir?«

»Nicht viel. Ich bin nur ziemlich übel hereingefallen.«

Twains eigentümlicher Humor verließ ihn auch in dieser ernsten Lage nicht. Er kicherte über seinen Scherz, wurde dann aber wieder ernst und fragte: »Warum hast du auf eigene Faust herumgeschnüffelt, Bret? Warum hast du nicht die Polizei eingeschaltet?«

»Wäre ich dann ein guter Journalist?«

»Stimmt«, gab sein Freund zu. »Aber ich habe das Gefühl, daß da noch mehr hintersteckt.«

»Tut es auch«, gestand Harte ein. »Ein Mann überlegt schon zwei- bis dreimal, ob er sich sein Lebensglück vermasselt.«

»Du sprichst in Rätseln, Bret.«

»Ganz einfach. Ich halte ein ziemliches hohes Tier in der Münze für verantwortlich an den Golddiebstählen. Um nicht zu sagen, das höchste Tier überhaupt.«

»Etwa Bennett?«

»Yeah, der ehrenwerte Huston Bennett, Leiter der Zweigstelle San Francisco.«

»Das ist allerdings ein Problem!« entfuhr es Twain.

»Weshalb?« schaltete sich Jacob in das Gespräch ein. »Wenn dieser Bennett schuldig ist, wird man ihn verurteilen. Er kann Mr. Harte keine Probleme mehr bereiten.« »Beruflich vielleicht nicht, aber privat schon«, entgegnete Twain. »Mein Freund ist nämlich bis über beide Ohren in Bennetts liebreizende Tochter Loretta verliebt. Nicht war, Bret?«

»Würde ich's leugnen, wäre ich ein Lügner.«

»Das ist wirklich ein Problem«, sagte Jacob.

»Deshalb wollte ich mich hundertprozentig vergewissern, ehe ich gegen Bennett Anschuldigungen erhebe«, erklärte Harte.

»Tja«, meinte Twain. »Und nun sitzen wir alle hundertprozentig in der Tinte.«

Da Twain und Harte fertig waren, fragte Jacob auf deutsch in die Richtung, in der er den vierten Gefangenen vermutete: »Sind Sie Franz Pape?«

»Ja«, kam zögernd die Antwort. »Warum?«

»Weil Sie mir dann mehr über Carl Dilger erzählen sollen!«

»Dilger?« Es klang fast ängstlich. »Was haben Sie mit Dilger zu tun?«

»Erinnern Sie sich an mich, Pape?«

»Ja. Sie sind der Mann vom Hafen.«

»Erinnern Sie sich auch an meine Begleiterin?«

»Ja, natürlich.«

»Sie heißt Irene Sommer. Sie will Carl Dilger heiraten, den Vater ihres Kindes.«

Vergeblich wartete Jacob auf eine Antwort. Aus Papes Richtung kam nur ein Schlucken und heftiges, erregtes Atmen.

»Was haben Sie, Mann?« fragte Jacob.

»Carl. er ist tot!« preßte Pape hervor.

»Das habe ich schon von unserem Gastgeber gehört. Wie ist es passiert?«

»Es war auf der PERSIA. In der letzten Nacht, bevor wir San Francisco erreichten. Wir standen an der Reling. Carl beugte sich zu weit vor - und plötzlich war er weg.«

»Und die Goldmine?« fragte Jacob weiter. »Wie ist Dilger an sie gekommen?«

»Er hat sie gewonnen.«

»Gewonnen?«

»Ja, beim Kartenspiel, beim Vingtetun.«

»Und nach dem Tod Ihres Freundes haben Sie beschlossen, sich die Mine unter den Nagel zu reißen, wie?«

»Ja«, antwortete Pape kleinlaut. »Andere haben immer Glück. Warum nicht auch mal ich?«

»Eine seltsame Entschuldigung«, meinte Jacob. »Überhaupt ist das eine seltsame Geschichte. Wieso kamen Sie beide mit dem Schiff aus New York, wenn Dilger eine Goldmine hier in Kalifornien gehört?«

»Die Männer in der Mine arbeiten auch ohne die Anwesenheit des Besitzers. Carl reiste nach New York, um seiner Braut eine Nachricht zu hinterlassen, wo sie ihn finden kann.«

»Und deshalb mußte er persönlich nach New York?«

»Er hoffte, seine Braut dort vielleicht zu finden oder zumindest Nachricht von ihr zu erhalten. Wir hörten in der Einwanderer-Registratur, daß Irene Sommer in Amerika angekommen ist. Carl beauftragte eine Detektivagentur mit der Suche nach ihr. Dann schifften wir uns auf der PERSIA ein.«

Jacob kam nicht dazu, weitere Fragen zu stellen. Die vier Gefangenen horchten auf, als sie hörten, wie der Riegel draußen zurückgezogen wurde. Mit leisem Knarren und Quietschen wurde die Tür geöffnet.

Gegen das vom Gang hereinfallende Licht zeichnete sich die massige Gestalt eines Mannes ab, der in einer Hand einen länglichen Gegenstand trug: ein Messer mit langer Klinge.

»Jetzt... massakrieren sie uns...!« rief Pape mit bebender Stimme.

Jacob handelte. Es schien nur einer der Gangster zu sein. Darin sah er seine Chance. Darin und in dem Umstand, daß bei Jacob und Twain im Gegensatz zu den beiden anderen Gefangenen nur die Hände gefesselt waren, nicht aber die Beine.

Schon als er den Riegel hörte, hatte der Zimmermann sich halb erhoben. Jetzt sprang er ganz auf und stürmte mit gesenktem Kopf auf den Unbekannten zu. Da er die Hände nicht einsetzen konnte, mußte er den Kopf als Waffe benutzen. Er sah aus wie ein angreifender Stier.

Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder traf ihn das Messer, oder Jacob traf vorher den Mann mit dem Messer.

Nein, falsch, das tatsächliche Geschehen bot eine dritte Möglichkeit: Der Mann mit dem Messer wich zur Seite aus.

Jacob schoß an ihm vorbei, verlor das Gleichgewicht und fiel gegen eine Wand, wo er zu Boden rutschte.

Der Unbekannte stand jetzt über ihm, das Messer noch in der Rechten und sagte: »Keine Angst, Mr. Adler. Ich bin's doch nur. Ich will Ihnen helfen.«

Jacob kannte die Stimme. Er blickte auf, direkt in das grobe Gesicht über sich.

»Connor!« stieß er überrascht hervor. »Bartly, vermutlich. Gypo hätte nicht soviel an einem Stück geredet.«

»Stimmt, Mr. Adler. Gypo paßt draußen auf. Halten Sie still, damit ich die Fesseln durchschneiden kann.«

Als er seine Hände wieder bewegen konnte, fragte Jacob: »Was machen Sie hier, Bartly?«

»Auf Sie aufpassen. Eigentlich sollten Gypo und ich im Saloon aufpassen. Daß wir jetzt Gefangene bewachen sollen, gefällt uns nicht. Jemand zu fesseln und einzusperren, ist nämlich sehr unfreundlich. Als ich Sie vorhin erkannte, Mr. Adler, mußte ich Ihnen einfach helfen. Sie haben soviel für mich und meine Familie getan.«

Während Bartly auch die anderen Gefangenen von ihren Fesseln befreite, meinte Jacob: »Ich dachte, Sie wollten auf die Goldfelder. Warum sind Sie noch in der Stadt?«

»Um das Geld für Ausrüstung und Proviant zusammenzukriegen.«

Bret Harte war der letzte, der noch von seinen Fesseln befreit werden mußte, als ein Mann in den Raum trat, der Bartly Connor zum Verwechseln ähnelte: sein Zwillingsbruder Gypo.

»Männer kommen!« stieß er halblaut hervor, und das war für den schweigsamen Iren schon eine lange Ansprache.

»Wie viele?« fragte sein Bruder.

Gypo hob die Hand und streckte drei Finger aus.

»Vielleicht das Hinrichtungskommando«, sagte Twain.

Jacob wandte sich an Bartly und fragte ihn: »Seid ihr bewaffnet?«

»Nein, Miß Molly wollte das nicht.« Der kräftige Ire hob das große Messer, mit dem er gerade Harte von den Fesseln befreit hatte. »Bevor ich reinkam, habe ich mir das hier besorgt. Das ist alles.«

Von draußen waren Schritte und laute Stimmen zu hören.

»Sie sind gleich hier!« flüsterte Pape erschrocken. »Wir sind verloren!«

»Nur wer aufgibt, ist verloren«, widersprach Jacob. »Wir müssen alles auf eine Karte setzen und einen Ausfall wagen.« Wieder blickte er Bartly an. »Es ist nicht euer Kampf, Bartly. Seid ihr trotzdem dabei?«

»Für Sie tun wir alles, Mr. Adler.«

»Harte und Pape sind ziemlich mitgenommen«, stellte der Zimmermann fest. »Also liegt es an Ihnen, Twain, an Bartly, Gypo und mir. Die anderen sind gleich hier, wie man hört. Also los!«

Mit blanken Fäusten - nur Bartly trug sein Messer - stürmten die vier Männer nach draußen. Jacob als erster, dann Bartly, Gypo und schließlich Mark Twain.

Der Zeitpunkt war gut abgepaßt. Die drei anderen hatten gerade den Eingang zum Verließ erreicht und wunderten sich über die offene Tür und das Fehlen einer Wache. Es waren Claude Dana, Seamus Mulholland und Roy Laverty.

Jacob stürzte auf den ungläubig dreinblickenden Mulholland zu und hieb ihm ohne Vorwarnung die geballte Faust ins stoppelbärtige Gesicht.

Der tätowierte Mann taumelte zurück, und die Seemannsmütze rutschte von seinem kantigen Kopf. Mulholland fing sich wieder und zog einen Revolver.

Jacob sprang zu ihm und packte mit beiden Händen die Waffenhand des Tätowierten. Eine schnelle kräftige Drehung von Mulhollands Handgelenk in entgegengesetzte Richtung, und die Waffe fiel polternd auf den hölzernen Boden.

Aus den Augenwinkeln sah Jacob, daß seine Begleiter gegen Dana und Laverty kämpften.

Twain rang mit Laverty, der sein Messer gezogen hatte. Der kleine Ire stieß die leicht gebogene Klinge in den linken Arm des Gegners.

Der Journalist brüllte auf. Aber es klang mehr wie ein Wut-als ein Schmerzensschrei.

Seine rechte Faust traf Laverty mit solcher Wucht, daß der Mann mit dem Sommersprossengesicht mit dem Hinterkopf gegen die Wand prallte, dort zu Boden rutschte und reglos liegenblieb.

Dana gelang es, sich von den Connor-Brüdern zu lösen. Er zog seinen Revolver und gab schnell hintereinander zwei Schüsse ab.

Bartly ließ sich instinktiv fallen und entging der über seinen Kopf hinwegpfeifenden Kugel.

Gypo ahmte das Manöver nach, war aber nicht schnell genug. Er stieß einen kurzen Schrei aus, als ihn die Kugel erwischte.

Der Dandy nutzte die Gelegenheit, um sich mit schnellen Schritten abzusetzen.

Jacob hatte seine Aufmerksamkeit dem Geschehen um ihn herum eine Sekunde zu lange gewidmet. Mulholland nutzte das aus und zog ruckartig ein Knie an, das er in den Unterleib des Deutschen rammte.

Dieser stöhnte gequält auf und taumelte zurück. Er kämpfte gegen die Schmerzen an, die seinen ganzen Körper durchzogen.

Der Tätowierte bückte sich, um seinen Revolver aufzuheben. Dann schrie er auf, als seine Hand am Boden festgenagelt wurde. Schuld daran war Lavertys Messer, das Twain geschleudert hatte.

Mulholland war zäh. Er griff mit der Linken nach dem Revolver.

Jacob sprang erneut vor und legte seine ganze Kraft in einen Faustschlag, der Mulhollands Stirn traf. Der Stoppelbärtige verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden.

Mit zwei schnellen Griffen brachte Jacob Revolver und Messer an sich. Den Revolver richtete er auf Mulholland und spannte den Hahn.

»Schluß jetzt!« zischte der Auswanderer. »Meine Geduld ist zu Ende.«

Mulholland war schwer angeschlagen und fügte sich.

Twain trat an Jacobs Seite und sagte: »Leider nur ein halber Sieg. Dana ist entkommen und hat den Hai wahrscheinlich schon gewarnt. Wenn nicht, haben es die Schüsse getan. Außerdem hat es einen dieser ebenso bulligen wie hilfsbereiten irischen Jungs erwischt.«

»Und mich hätte es wohl auch erwischt, wenn Sie nicht gewesen wären«, erwiderte Jacob und hielt Twain das Messer hin. »Nehmen Sie das zurück. Vielleicht brauchen Sie es noch. Immerhin sind Sie ein Künstler mit dem Messer.«

»Ein reiner Glückstreffer.« Twain nahm das Messer wieder an sich und grinste. »Eigentlich hatte ich auf die Brust gezielt.«

Jacob drehte sich zu den Connors um und fragte: »Wie geht es Gypo?«

»Zum Glück ist es nur ein Schulterschuß«, antwortete Bartly, der die Wunde mit einem Streifen Stoff seines Hemdes verbunden hatte.

Dann fuhr er seinen stöhnenden Bruder an: »Los, hab dich nicht so! Steh endlich auf, Gypo! Soll Mr. Adler die Connors für Schwächlinge halten?«

Tatsächlich kam Gypo mit Hilfe seines Bruders wieder auf die Beine. Erst schwankte er noch, aber dann ging es wieder.

Jacob verband derweil Twains Armwunde und besorgte sich den Verband auf ähnliche Weise wie Bartly Connor. Daß dabei das neue, von Senator Basehart spendierte Hemd in Fetzen ging, war jetzt vollkommen unwichtig.

Sie sperrten Mulholland und Laverty in das Verließ. Aus Zeitgründen fesselten sie die beiden nicht. Der starke Eisenriegel vor der Tür mußte genügen.

Vor Verlassen des Raums bückte sich Jacob und nahm seinen breitkrempigen Hut auf. Es war ein schöner Hut. Neu und schön. Viel zu schade, um ihn zurückzulassen.

»Und jetzt?« fragte Twain.

»Wir müssen Quidor finden, bevor er wieder verschwinden kann«, sagte Jacob. »Der Hai von Frisco muß endlich unschädlich gemacht werden!«

»Ein lobenswertes Ziel«, befand Twain. »Aber reichen unsere Kräfte dazu aus? Wir sind reichlich angeschlagen und verfügen zudem nur über zwei Revolver und drei Messer. Nicht gerade eine beeindruckende Streitmacht.«

Bret Harte hatte Lavertys Taschenrevolver an sich genommen. Außerdem hatten sie bei Mulholland noch ein Messer gefunden, mit dem sich Gypo bewaffnete.

»Wir müssen es versuchen«, beharrte der junge Zimmermann. »Es ist zu wichtig!«

»Aber es ist nicht unsere Aufgabe«, widersprach Pape. »Dafür ist die Polizei zuständig. Wir sollten auf dem schnellsten Weg verschwinden und die Behörden benachrichtigen.«

»Nein!« sagte Jacob scharf. »Dann entkommt Quidor erneut, und alles geht wieder von vorn los. Sie können ja abhauen, Pape, aber ich kümmere mich um den Hai.«

Die beiden Journalisten und die Connors waren auf Jacobs Seite. Da Pape nicht allein zurückbleiben wollte, schloß er sich der Mehrheit an.

Die nicht gerade beeindruckende Streitmacht, wie Mark Twain es ausgedrückt hatte, lief zu Quidors Büro - dem Hauptquartier des Hais.

*

Die sechs Männer erreichten Quidors Büro in dem Augenblick, als Claude Dana aus der Tür trat. Er hatte dem Hai also berichtet, was sich ereignet hatte.

Diesmal ließ sich der Dandy nicht überrumpeln. Mit einer schnellen Bewegung zog er den Revolver und eröffnete das Feuer auf die entflohenen Gefangenen.

Sie warfen sich zu Boden.

Twain stöhnte und fluchte.

»Was ist?« fragte Jacob. »Hat es Sie erwischt, Twain?«

»Nein, aber ich bin auf meinen verletzten Arm gefallen.«

Zwei weitere Männer erschienen in der Tür: der hünenhafte Buster und der von ihm gestützte Max Quidor.

Letzterer rief: »Dana, bleiben Sie hier!«

Aber der Dandy hörte nicht auf seinen Boß und verschwand um eine Ecke.

»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff!« sagte Jacob laut, während er aufstand und den erbeuteten Revolver auf Buster und Quidor richtete. »Geben Sie auf, Quidor! Ihr Spiel ist aus!«

Doch der Hai von Frisco gab nicht auf. Er und Buster verschwanden wieder in dem Büro.

Jacob wollte ihnen nachsetzen, als ohrenbetäubender Lärm ihn in der Bewegung verharren ließ. Schüsse, Schritte und Schreie erfüllten das Red Whale.

»Ein Kampf!« rief Harte. »Irgend jemand kommt uns zu Hilfe, wer auch immer!«

Während der Journalist noch sprach, stürmte Jacob schon auf den Eingang von Quidors Büro zu.

Die unerwartete Hilfe war ein Glücksfall. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer die Helfer waren.

Der Auswanderer dachte an die Rutsche und den unterirdischen Stall mit der Kutsche im Golden Crown. Damit hatte der Hai sich die Flucht ermöglicht. Jacob wollte nicht, daß Quidor so etwas noch einmal gelang.

Als der Zimmermann durch die Tür lief, zersplitterte der Rahmen zu seiner Linken. Eine Kugel hatte sich in das Holz gebohrt. Wäre Jacob nicht in stark geduckter Haltung ins Büro gestürmt, hätte ihn das Stück Blei erwischt.

Der Auswanderer ließ sich fallen und rollte sich auf dem Boden ab. Ein Kugelregen folgte ihm. Schließlich fand er Deckung hinter einem Aktenschrank.

Zwei Männer hatten auf ihn geschossen, Quidor und Buster vermutlich. Sie hatten sich hinter dem umgestürzten Schreibtisch verschanzt.

Vergeblich wartete Jacob darauf, daß seine Gefährten ebenfalls das Büro stürmten. Die Verteidiger nahmen die Tür unter Beschuß, sobald sich dort auch nur eine Nasenspitze zeigte.

»Geben Sie doch auf, Quidor!« versuchte es der Auswanderer noch einmal. »Hören Sie nicht die Schüsse überall? Ihr Versteck wird gestürmt. Ein weiterer Kampf ist sinnlos!«

»Nicht, wenn ich dich erwischen kann, Adler!« antwortete Quidor. »Du bist mir so oft in die Quere gekommen, daß ich dich mitnehmen werde, wenn es ab in die Hölle geht!«

Plötzlich tauchte Quidors Gesicht hinter der Tischplatte auf, dann sein Oberkörper. Der Hai stemmte sich hoch und griff mit der linken Hand in eine der Lederschlaufen, an der er sich festhielt. Der Revolver hing locker in der Rechten und zeigte mit der Mündung nach unten.

»Hier stehe ich, Adler!« schrie Quidor. »Willst du nicht aufstehen und es von Angesicht zu Angesicht mit mir austragen? Hast du etwa Angst vor einem Krüppel?«

»Ich habe keine Angst«, erwiderte Jacob, während er sich langsam erhob. »Ich finde nur, daß es sinnlos ist, sich gegenseitig umzubringen.«

»Das habe ich auch nicht vor«, sagte der Hai mit einem seltsamen Grinsen.

Dann ging alles sehr schnell. Jacob erkannte die Falle, in die er getappt war.

Zu spät!

Quidor meinte es nicht ehrlich - natürlich nicht!

Hinter dem umgestürzten Tisch erhob sich Busters dunkle Gestalt. Der Neger zielte mit zwei Revolvern auf den Auswanderer.

Da schob sich etwas zwischen Jacob und Buster. Gleichzeitig fielen Schüsse.

Franz Pape, der in den Raum gesprungen und sich vor Jacob geworfen hatte, brach vor diesem zusammen.

Aber auch Buster hatte es erwischt. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser, dessen Klinge man einschlug. Sein Oberkörper hing über der Tischplatte. Die beiden Revolver fielen zu Boden.

In der offenen Tür stand Mark Twain und sagte fast tonlos, ein wenig ungläubig: »Diesmal habe ich die Brust erwischt.«

Quidor stieß einen seltsamen schrillen Laut aus, Ausdruck seines Zorns.

»Dann muß ich es doch selbst machen!« kreischte er und riß den Revolver hoch.

Die Mündung zielte auf Jacob.

Mehrere Schüsse fielen kurz hintereinander.

Quidors Hand glitt aus der Lederschlaufe. Er knickte ein und verschwand hinter dem Schreibtisch.

Jacob war schneller gewesen. Zwei seiner Kugeln hatten Quidors linke Brust erwischt.

Der Hai war erlegt.

Twain sprang vor, um Buster und Quidor zu untersuchen. Hinter ihm kamen die anderen in den Raum.

»Beide sind tot«, verkündete Twain. »Und ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut.«

»Sie haben mir schon wieder das Leben gerettet«, sagte Jacob zu dem Journalisten. »Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

»Irrtum«, sagte Twain. »Ohne den da wären Sie jetzt tot!«

Er zeigte auf den reglos am Boden liegenden Pape.

Jacob kniete sich neben ihn. Pape atmete noch, aber nur sehr schwach. Zwei große Löcher in seiner Brust ließen keinen Zweifel daran, daß es mit ihm zu Ende ging.

»Ich muß Ihnen danken«, sagte Jacob. »Warum haben Sie sich für mich geopfert?«

Pape röchelte, sprach leise und spuckte zwischendurch immer wieder Blut: »Ich wollte. wiedergutmachen. was ich. getan.«

»Was haben Sie getan?«

»Carl. ich habe ihn getötet. über Bord gestoßen. die Mine. wollte sie für mich. allein.«

Sein Kopf fiel zur Seite. Seine Stimme und sein Atem erstarben. Er war tot.

»So etwas habe ich bereits geahnt«, sagte Jacob leise. »Arme Irene!«

Als sich Schritte näherten, drehten sich die Männer zur Tür und hoben ihre Waffen. Sie ließen die Revolver und Messer sinken, als sie die dunklen Polizeiuniformen erkannten.

»Der Hai ist tot«, sagte Jacob und zeigte auf Quidor. »Wem verdanken wir Ihr Eingreifen?«

»Senator Basehart«, antwortete ein Polizeioffizier. »Er hat uns hergeschickt.«

*

Die Männer des Hais hatten sich ergeben, und das Red Whale befand sich in der Hand der Polizei.

Aber noch herrschte einiges Chaos. Verschreckte Gäste, die nach draußen flüchteten, wurden darauf kontrolliert, ob es sich um Männer des Hais handelte.

Jacob trat allein an die frische Luft. Mark Twain, Bret Harte und Gypo Connor wurden von einem Arzt behandelt. Bartly Connor machte eine Aussage vor der Polizei.

Der junge Zimmermann wollte nicht auf sie warten. Er mußte raus aus dem stickigen Dunst der Kaschemme. Die würzige Seeluft, die mit einer sanften Brise über Barbary Coast strich, würde ihm sicher helfen, seine Gedanken zu ordnen.

Carl Dilger war tot!

Schon einmal hatten sie das geglaubt, und es hatte sich als Irrtum herausgestellt. Aber diesmal gab es kaum Zweifel. Warum hätte Franz Pape einen Mord gestehen sollen, den er nicht begangen hatte? Wie sollte Jacob das Irene beibringen? Würde sie - ein zweites Mal - die Nachricht vom Tod des Mannes verkraften, wegen dem sie nach Amerika gefahren war, der der Vater ihres Kindes war, den sie zu heiraten gehofft hatte?

Den ganzen nordamerikanischen Kontinent hatten sie auf der Suche nach Dilger durchquert. Sie hatten gegen Flußpiraten, brandschatzende Freischärler, Indianer und weiße Banditen gekämpft und sogar geholfen, ein Attentat auf den Präsidenten Abraham Lincoln zu verhindern. Sie hatten reißende Ströme und die riesigen Gebirge der Rocky Mountains überquert. Sie hatten Freunde gewonnen und verloren.

Und jetzt mußte er Irene sagen, das alles vergeblich gewesen war!

Die Stimme einer Frau riß den Auswanderer aus den trüben Gedanken. Er dachte an Irene, sah aber sofort, daß er sich getäuscht hatte. Es war eines der Animiermädchen aus dem Red Whale in einem auffälligen, aber billigen Flitterkleid.

»Sind Sie Mr. Adler?« fragte das Mädchen und trat langsam näher.

In ihrer Haltung und in ihren Augen lag Vorsicht, vielleicht sogar Angst.

»Ja«, antwortete Jacob. »Und wer sind Sie?«

»Ich heiße Cora und arbeite im Red Whale. Ich muß Ihnen etwas Wichtiges sagen, Mr. Adler?«

»Was?«

Die nicht mehr ganz junge Frau blickte sich um, vorsichtig, ängstlich.

»Nicht hier«, sagte sie. »Hier ist zuviel los. Können wir nicht wohin gehen, wo es ruhiger ist?«

»Wohin?«

»Ich kenne einen ruhigen Ort. Kommen Sie mit!«

Die Frau ging vom Red Whale weg auf den Hafen zu, wo sich die Aufbauten und Schornsteine der Flußdampfer vom sternenübersäten Nachthimmel abzeichneten.

Jacob folgte ihr. Er war neugierig, was Cora ihm zu sagen hatte. War es ein letztes Geheimnis, das den Hai von Frisco -Max Quidor - umgab?

»Geh nicht weiter, Adler, das genügt!«

Jacob wirbelte herum.

Cora lief an ihm vorbei zu dem Mann, dessen Stimme den Auswanderer alarmiert hatte. Sie wollte sich in seine Arme werfen, aber er drängte sie zur Seite, um ein freies Schußfeld für seinen gezogenen Revolver zu haben.

Jacobs Hand fuhr zu der Waffe in seiner Jackentasche. Der Revolver, der dem Tätowierten gehört hatte.

»Ich würde das nicht tun!« sagte Claude Dana scharf. »Ich bin auf jeden Fall schneller, Dutch.«

Der Deutsche hob die Hand wieder. Dana hatte recht - leider.

»Was wollen Sie von mir?« fragte Jacob, um Zeit zu gewinnen.

»Das vollenden, was der Hai nicht mehr geschafft hat. Du trägst einen großen Teil der Schuld daran, daß die Organisation des Hais zerschlagen wurde, Adler. Unsere Organisation. Aber du sollst es nicht überleben!«

Das Flackern in Danas Augen verriet seinen Entschluß, zu schießen.

Jacob ließ sich fallen. Aber diesmal war er nicht schnell genug. Der Schlag, den er in seiner Brust spürte, war gewaltig. So stark, daß er das Leben aus dem kräftigen Körper herauspreßte.

Jacobs letzter Gedanke, bevor er zu Boden stürzte und von Dunkelheit umfangen wurde, galt seiner Familie, die er in Amerika zu finden gehofft hatte.

Sollte dies das Ende der Suche sein?

*

Jacob erwachte im Paradies.

Überall um ihn herum waren bunte Blumen. Vögel zwitscherten. Und ein blonder Engel beugte sich lächelnd über ihn. Der Engel hatte das schöne, ebenmäßige Gesicht von Irene, ihre grünblauen Augen und ihr lockiges Haar, das im Sonnenlicht golden schimmerte.

Sanft strich die Hand des Engels über seine Stirn und sein Haar.

»Wie geht es dir, Jacob?« fragte der Engel, und sogar seine Stimme glich der von Irene.

»Wo bin ich?«

»Da, wo ein Verwundeter hingehört: im Bett.«

Also doch nicht das Paradies, sondern Senator Baseharts Haus. Die Blumen prangten auf der Tapete. Sonnenlicht und Vogelgezwitscher kamen durch das hochgeschobene Fenster herein. Und der Engel war wirklich Irene.

Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Jacob sah wieder Claude Dana vor sich, der mit dem Revolver auf den Deutschen zielte und abdrückte.

»Dana!« stieß er hervor. »Was ist mit ihm?«

»Er hätte dich besser nicht in die Falle locken sollen. Die Schüsse alarmierten die Polizei. Er hat versucht, seine Freundin als Geisel zu nehmen. Aber die Polizisten schossen ihn an und nahmen ihn fest.«

»Die letzte Nacht war ziemlich hart«, sagte Jacob.

»Die letzte Nacht?« Irene lächelte, wie eine Lehrerin über einen dummen Fehler lächelte. »Die vorvorletzte, solltest du besser sagen, Jacob. Zwei Tage lang war nicht sicher, ob du überlebst. Zum Glück ist die Kugel glatt durch dich durchgegangen, ohne wichtige Organe zu verletzen. Sonst wäre es aus gewesen, hat der Arzt gesagt.«

Das Lächeln war aus Irenes Gesicht verschwunden. Mit tiefem Ernst blickte sie Jacob an.

»Ich hätte es nicht ertragen, dich zu verlieren, Jacob. Nicht nur, weil es dann meine Schuld gewesen wäre.«

»Wieso deine Schuld?«

»Ich hatte solche Angst um dich, daß ich Senator Basehart von eurem Ausflug nach Barbary Coast erzählt habe. Er nahm es sehr ernst und informierte gleich den Polizeichef. Fast zeitgleich kam Henry Black zu sich und plauderte so munter wie die Vögel da draußen. Er verriet auch, daß das Red Whale der Stützpunkt des Hais in Barbary Coast sei. Deshalb entschloß sich der Polizeichef zum Großeinsatz.«

Irene schluckte und fuhr dann fort: »Wenn du dabei. dein Leben verloren hättest, hätte ich mir das nie verziehen. Es wäre der größte Fehler meines Lebens gewesen!«

»Es war kein Fehler. Du hast richtig gehandelt, Irene. Ohne das Eingreifen der Polizei hätten Quidors Männer den Kampf vielleicht gewonnen. Und Quidor wäre abermals entkommen und hätte als Hai von Frisco noch mehr Unglück über die Menschen bringen können.«

Irene schluckte abermals und sagte: »Ich habe so sehr gebetet, daß der Herr nicht auch noch dich zu sich nimmt.«

»Nicht auch noch...«, wiederholte Jacob langsam. »Heißt das, du weißt von Carl?«

Irene nickte traurig und sagte: »Der Senator meint, die Mine würde jetzt mir gehören, da ich Carls Verlobte bin und Carls Vater ihn verstoßen hat. Aber das ist unwichtig. Für Carl wäre die Mine wichtig gewesen. Sie hätte ihm geholfen, etwas eigenes aufzubauen. Damit hätte er beweisen können, daß er nicht auf seinen Vater angewiesen ist.«

»Er hätte es nicht nur für sich getan, sondern auch für dich und Jamie.«

»Ich weiß nicht.«, sprach Irene zögernd und blickte durch das offene Fenster nach draußen.

»Was meinst du, Irene?«

»Vielleicht sollte ich das nicht sagen, so kurz nach Carls Tod. Aber ich bin mir nicht sicher, daß ich noch immer seine Frau geworden wäre. Die letzten Tage und Nächte, als nicht sicher war, ob du es schaffst. da schwor ich mir, dir bei nächster Gelegenheit das zu sagen, was ich dir schon lange sagen wollte.«

Gespannt und zugleich von Hoffnung erfüllt blickte Jacob die junge Frau an, die sich vorsichtig auf die Bettkante setzte.

»Ich will dir sagen, daß du mehr als ein Freund für mich bist, Jacob. Mehr als der Pate meines Sohns. Ich habe mir so oft gewünscht, du wärst nicht nur Jamies Pate, sondern auch sein Vater!«

Jacobs Augen ruhten auf Irene, lange, für kleine Ewigkeiten.

»Du. du sagst nichts dazu?« fragte Irene schließlich.

»Doch. Ich habe eine Frage an dich.«

»Was für eine Frage?«

»Eine, die ich schon längst hätte stellen sollen: Willst du meine Frau werden?«

»Ich wäre sehr stolz und glücklich, Irene Adler zu heißen.«

Als Irene in seinen Armen lag, war Jacob der glücklichste Mann auf Erden.

Er fühlte sich plötzlich daheim, obwohl er in einem fremden Land und in einem fremden Haus war. Aber in den Armen dieser Frau war er kein Fremder. Ihre Nähe, ihre Wärme und ihr Duft schienen ihm so unendlich vertraut.

Irene und Jacob gehörten zusammen. Gespürt hatten es beide schon lange. Jacob liebte die Frau, wie er auch ihren kleinen Sohn liebte.

Aber Carl Dilger hatte stets zwischen ihnen gestanden.

Die Suche nach Dilger war ebenso zu Ende wie die Suche nach dem Hai.

Jacob mußte noch seinen Vater und seine Geschwister finden. Doch auf einmal schien ihm das nicht mehr schwer.

Gewiß, es konnte noch lange Zeit dauern, bis er seine Familie endlich wiedersah. Seinen Vater, den Zimmermannsmeister Heinrich Adler. Seine Brüder Fritz und Lukas und seine Schwester Marthe.

Er vermutete sie in Texas, auf der Plantage seines Onkels Nathan Berger, war sich dessen aber nicht sicher.

Doch Irene gab ihm das Gefühl, daß Zeit keine Rolle spielte. Mit ihr an seiner Seite konnte er alles schaffen.

Sie hatten alle Möglichkeiten in diesem großen neuen Land: Amerika!

ENDE DIESER GESCHICHTE

Liebe !AMERIKA!-Leser,

nach 22 spannenden Abenteuern um den deutschen Auswanderer Jacob Adler und seine Gefährten ist es jetzt leider soweit: Die Serie muß aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt werden. Offenbar war die >Nische< zwischen Abenteuerroman und Western nicht groß genug, um ausreichend Leser zu finden. Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei allen, die !AMERIKA! die Treue gehalten und uns mit Briefen motiviert haben. Wir hoffen, daß Ihnen die Erlebnisse Jacob Adlers, gewürzt mit wahren historischen Begebenheiten aus dem >Wilden Westenc, sowohl Spannung als auch Entspannung und so manche fesselnde >Schmökerstunde< bereitet haben.

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