Gemma Malley


Das letzte Zeichen


Die Verschwundenen


Aus dem Englischen von Gabriele Burkhardt




DIE AUTORIN



Foto: © Daniel Snyder


Gemma Malley wusste schon als Kind, dass sie später Autorin werden würde. Sie studierte Philosophie in Reading, wo sie sich einer Band anschloss, mit der sie in Frankreich und Japan auf Tournee ging. Anschließend arbeitete sie als Journalistin und Beamtin, bevor sie sich endgültig dem Schreiben zuwandte. Gemma Malley lebt mit ihrer Familie in London.


Weitere lieferbare Titel der Autorin bei cbt:


Das letzte Zeichen (30817)



cbt ist der Jugendbuchverlag


in der Verlagsgruppe Random House


1. Auflage


Deutsche Erstausgabe September 2013


Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2013 by Gemma Malley


Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Disappearances« bei Hodder & Stoughton, einem Teil der Hachette UK Verlagsgruppe, London.


© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe bei cbj/cbt Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Übersetzung: Gabriele Burkhardt


Lektorat: Monika Hofko, Scripta Literaturagentur München Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München Umschlagmotiv: Shutterstock Images (Oksa, Silver Tiger) Umschlaggestaltung: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorf/init.büro für gestaltung, Bielefeld KK · Herstellung: kw


Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering ISBN: 978-3-641-09324-2


www.cbt-jugendbuch.de



Für Abigail und Johnnie



Im Krieg gelangt der Staat zu wahrer Größe: Er gewinnt an Macht, an Zahl, an Stolz und hat die absolute Herrschaft über Wirtschaft und Gesellschaft.


Murray Rothbard, 1963



Vorwort


Thomas sah seinen Chef herausfordernd an. »Der Typ ist ein Genie, und Sie wollen, dass ich ihn feure?«


»Er ist sechzehn. Mit sechzehn ist man kein Genie. Und selbst wenn, er ist noch ein Kind. Gib ihm ein paar Jahre, bis er erwachsen ist.«


Thomas bekam einen starren Gesichtsausdruck, wie immer, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen konnte. Wen kümmerte schon das Alter? Er selbst war erst neunzehn, und in der Computerwelt fühlte er sich wie einer aus der alten Garde, der krampfhaft versuchte, mitzuhalten. Mit sechzehn war man kein Kind mehr. Mit sechzehn war man im besten Alter.


Aber niemand sonst begriff das. Alle sahen nur, dass das »Kind« sich aufplusterte, dass es sein Ding durchzog und sich nicht darum scherte, was die anderen dachten. Und dann war da noch der kleine Vorfall mit dem FBI …


Prosser setzte sein onkelhaftes Lächeln auf, mit dem er normalerweise jeden entwaffnete. »Er muss einfach noch ein bisschen erwachsen werden«, meinte er mit einem leichten Achselzucken. »Er muss lernen, dass wir uns nicht auf diese Weise in die Privatsphäre der Leute einmischen dürfen. Wir halten uns hier an die Regeln.«


»Privatsphäre?« Thomas sah ihn ungläubig an. »Kapieren Sie denn nicht? Keiner kümmert sich heutzutage noch um die Privatsphäre. Die gibt es nicht mehr. Und was diesen Burschen angeht … der ist allen um Jahre voraus. Er sagt uns nicht nur, was die Leute kaufen, er kann uns auch sagen, was sie denken und warum. Das ist die Zukunft. Um die Arbeit, die er heute macht, werden sich einmal alle reißen.«


»Und trotzdem werden wir ihn gehen lassen«, sagte Prosser ruhig, aber bestimmt, mit dem unverwechselbaren Ich-bin-der-Boss-und-du-solltest-dich-lieber-daran-gewöhnen-Ausdruck im Gesicht, den Thomas so hasste. »Herrgott noch mal, er hat sich in FBI-Files gehackt!«


»Er hat dazu gerade mal fünf Minuten gebraucht«, erwiderte Thomas und verschränkte die Arme. »Fünf Minuten, Prosser.«


Prossers Gesicht wirkte wie versteinert. »Sonst noch was?«


Thomas schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Prosser kapierte es einfach nicht und würde es nie kapieren. Die anderen sahen nicht, was Thomas sah, nämlich dass in dem Verstand des Jungen die Zukunft lag, dass dessen unglaubliche Ideen alles revolutionieren würden. Die anderen erkannten nicht die unglaublichen Möglichkeiten, die sich ihnen dadurch bieten würden.


Sie waren blind.


Nur Thomas nicht.


Er drehte sich um und verließ das Büro seines Chefs. Sobald Prosser ihn nicht mehr durch die Glasscheiben seines Büros sehen konnte, lief er rasch durch den Flur, die Treppe hinunter und über den Korridor, der zu seiner Abteilung führte. Thomas öffnete die Tür des Großraumbüros, dem er vorstand, blieb ein paar Minuten stehen und beobachtete den Jungen, das Genie. Dieser surfte gerade auf Websites mit Autos, mit Luxusautos. Thomas hatte ihn eigentlich noch nie richtig arbeiten sehen, und einen Moment lang war er fast neidisch, weil er und der Junge anscheinend so wenig gemeinsam hatten; weil Arbeit für Thomas ständige Plackerei bedeutete, um vorwärtszukommen. Aber der Junge … Der lebte in einer ganz anderen Welt als Thomas. Wer so begabt war, dessen Arbeit wurde nicht in Stunden oder Minuten gemessen, sondern nach Produktivität bewertet. Er konnte in einer Minute mehr leisten als andere in einer ganzen Woche. Thomas hatte ihn monatelang beobachtet und ihm gleich, nachdem er die Schule beendet hatte, eine Arbeit angeboten, damit er Berufserfahrung sammeln konnte. Und nun sollte er ihn verlieren? Nein, ausgeschlossen.


Vorsichtig ging Thomas zu dem Jungen hin. »Na, wie läuft’s denn so?«, fragte er.


Der Junge zuckte die Schultern. »Ganz gut.« Er klickte die Mercedes-Website weg und widmete sich wieder seiner eigentlichen Arbeit, dem Programmieren.


Thomas nickte, zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Wie lange noch bis zum Start?«


»Start?« Der Junge sah ihn spöttisch an, aber Thomas ließ sich nicht verunsichern. Die meiste Zeit seines Lebens war er verspottet, ignoriert und ausgelacht worden; man hatte ihn als Trottel, Streber und dergleichen beschimpft. Aber das kümmerte ihn jetzt nicht mehr. Es war ihm nicht mehr wichtig, cool und beliebt zu sein. Wenn man Macht hatte, spielte es keine Rolle, ob die Leute einen mochten. Und er würde Macht haben. »Unser kleines Projekt«, sagte er. »Das Programm, über das wir gesprochen haben. Wann ist es fertig?«


Der Junge zuckte die Schultern. »Ich hab doch schon gesagt, das wird nie was.«


»Nie?« Thomas spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Wie kannst du so etwas sagen, natürlich wird es was. Wie lange brauchst du? Brauchst du mehr Hilfe? Ich kann dir Hilfe beschaffen.«


»Es hat wirklich keinen Sinn«, meinte der Junge, und es schien ihm gar nichts auszumachen. Wie konnte er nur so gleichgültig sein?


Thomas räusperte sich. »Natürlich hat es einen Sinn. Was du hier machst, ist unglaublich. Mehr als unglaublich. Es muss unbedingt umgesetzt werden. Die anderen verstehen das nicht, aber ich schon. Ich werde dich aus eigener Tasche bezahlen. Arbeite für mich. Ich richte dir ein Büro ein, wo du willst …«


Der Junge seufzte, drehte seinen Stuhl herum und sah Thomas ins Gesicht. »Vergiss es, Thomas. Sieh mal, es hat Spaß gemacht, aber mir ist klar, dass man mich hier raushaben will. Das ist schon okay. Und der Tee schmeckt sowieso scheiße. Man braucht eine Teekanne und frische Teeblätter.«


»Ich besorge alles«, sagte Thomas und versuchte, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. »Du musst deine Arbeit zu Ende bringen.«


»Warum?« Der Junge durchbohrte Thomas mit seinem Blick, als könnte er dessen Gedanken lesen.


Enttäuscht erhob sich Thomas von seinem Stuhl. »Weil wir uns einig waren. Weil es eine großartige Idee ist. Und weil du einen Vertrag unterschrieben hast«, erklärte Thomas mit ruhiger Stimme. Der Vertrag war ein Wagnis gewesen, aber der Junge hatte ihn bereitwillig unterschrieben, nachdem Thomas ihm den Zugang zum gesamten Infotec-Server versprochen und ihm volle Handlungsfreiheit zugesichert hatte. Wochenlang hatte er Ausreden erfunden, wenn der Junge Mist baute, und den Kopf für ihn hingehalten, und das hatte er nicht aus reiner Herzensgüte getan.


Der Junge schien das nicht vergessen zu haben. »Ich weiß«, erwiderte er. »Aber wie gesagt, es funktioniert nicht. Bis später.«


Der Junge stand auf. Thomas musste sich beherrschen, um ihn nicht wieder auf den Stuhl zu drücken.


»Okay«, sagte er stattdessen und versperrte ihm den Weg, um etwas Zeit zu gewinnen und um Luft zu holen. »Warum funktioniert es nicht? Oder besser gesagt: Unter welchen Bedingungen würde es funktionieren?«


»Unter gar keinen Bedingungen. Jedenfalls nicht in der realen Welt“, meinte der Junge geringschätzig.


»Und in der nicht realen Welt?«, bohrte Thomas mit einem Funken Hoffnung weiter. »Was wäre da?«


»Willst du das wirklich wissen?«, fragte der Junge. Sein Interesse war geweckt.


»Ja.« Thomas nickte.


»Okay.« Der Junge ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und drehte Däumchen. »Also, zuerst bräuchte man eine kleinere Population, weil man klein anfangen muss. Sie muss organisch wachsen, verstehst du? Und es bringt nichts, nur eine Kontrollgruppe auszuwählen, weil das wegen den vielen anderen Verbindungen und Netzwerken nicht funktionieren würde. Am besten wäre eine einsame Insel. Ein Dorf auf einer einsamen Insel mit ein paar Hundert oder vielleicht ein paar Tausend Menschen.«


»Weiter«, sagte Thomas.


Der Junge dachte einen Moment lang nach. »Alle müssten damit einverstanden sein, dass sie Tag und Nacht überwacht werden, damit wir Diskussionen über Politik oder Bürgerrechte und Unstimmigkeiten vermeiden, denn das wäre das Ende.«


»Verstehe«, sagte Thomas. »Und was noch?«


Der Junge lachte. »Reicht das noch nicht? Sieh mal, das wird nie funktionieren und es wird nie passieren.«


»Was noch?«, wiederholte Thomas, und seine Stimme klang angespannt.


Der Junge lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, als würde er ein Sonnenbad nehmen. Thomas rechnete fast damit, dass er gleich die Füße auf den Schreibtisch legen würde, direkt auf die Tastatur.


»Sie müssen es wollen«, sagte der Junge schließlich mit einem Achselzucken. »Sie müssen es wirklich wollen. Es geht darum, was die Menschen glauben, nicht, was real ist. Man kann das tollste System haben und den Menschen ein tolles Leben bieten, aber wenn sie denken, dass ihnen alles aufgezwungen wird, werden sie es hassen. Aber wenn sie etwas selber wollen und man gibt es ihnen … Na ja, das ist was ganz anderes.« Er stand auf. »Also, danke erst mal.«


Er streckte die Hand aus und Thomas schüttelte sie. »Wirst du das Programm in Angriff nehmen, wenn diese Bedingungen erfüllt sind? Wird es dann funktionieren? Steht unser Vertrag noch?«


»Klar.« Der Junge grinste. »Du machst das Unmögliche möglich, und ich werde tun, was du willst«, meinte er beim Hinausgehen.



1


»Morgen.« Evie sah hoch. Neben ihr stand Raffy mit zwei Tassen heißem Tee. Hastig setzte sie sich auf und nahm ihm eine Tasse ab. »Wie spät ist es?«, murmelte sie.


»Es ist noch früh«, sagte Raffy und legte sich wieder ins Bett. »Ich konnte nicht schlafen.«


Evie machte ihm ein bisschen Platz und trank einen Schluck Tee. »Wie früh?«


»Halb fünf.«


Eine halbe Stunde vor der üblichen Weckzeit. Evie versuchte die Augen ganz aufzumachen, aber sie gehorchten ihr nicht. Deshalb stellte sie die Tasse weg, schloss die Augen wieder und ließ den Kopf auf das Kissen fallen.


»Wird ein aufregender Tag heute. Wir haben Anprobe«, sagte Raffy. Er rückte näher und beugte sich über sie. Evie wusste, dass er jetzt erwartete, dass sie die Augen aufmachte, deshalb öffnete sie sie und lächelte gezwungen, dann schloss sie die Augen wieder.


Anprobe für ihr Kleid und für seinen Anzug. Nächste Woche sollte ihre Begrüßungszeremonie stattfinden, ihre offizielle Aufnahme in die Siedlung.


Und gleichzeitig sollte es ihr Hochzeitstag sein.


»Du wirkst gar nicht aufgeregt.«


Evie sah Raffy besorgt an, aber im selben Moment merkte sie, dass er nur einen Scherz machen und sie aufziehen wollte.


»Natürlich bin ich aufgeregt«, sagte sie und zwang sich wieder, zu lächeln, ein unbeschwertes Gesicht zu machen. Schließlich war sie tatsächlich aufgeregt. Jedes Mal, wenn Raffy die Hochzeit erwähnte, durchfuhr es sie wie ein Blitz. Aufregung, Angst; das war so ziemlich dasselbe.


Sie schloss kurz die Augen. »Das wird bestimmt toll.«


»Nicht wahr?«, flüsterte Raffy, rollte sich auf die Seite, stieg aus dem Bett und grinste. »So richtig verheiratet. Hättest du dir das damals in der Stadt je träumen lassen?«


Evie wollte ihm erklären, dass sie eigentlich die offizielle Aufnahme in die Siedlung gemeint hatte, schwieg dann aber lieber. Natürlich hätte sie an die Heirat denken sollen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Irgendetwas lief total falsch, und sie musste Raffy schützen, auch wenn sie sich selbst nicht schützen konnte.


Sie lebten jetzt ungefähr ein Jahr hier. Nachdem sie die Stadt endgültig verlassen und das System zerstört hatten, das ihr Leben kaputt gemacht hatte, waren sie nach Base Camp zurückgekehrt, wo Linus und dessen Freunde lebten, aber nach ein paar Tagen hatte Linus ihnen erklärt, dass sie sich jetzt einen eigenen Platz zum Leben suchen müssten, dass Base Camp nur eine vorübergehende Bleibe sei und dass sie irgendwo ein richtiges Zuhause finden müssten. Zunächst hatte Evie sich geweigert, das hinzunehmen, sie hatte Linus beschimpft und ihm erklärt, dass sie zusammenbleiben müssten, dass sie hier eine neue Familie gefunden habe und dass sie diese nicht verlieren wollte. Aber Linus hatte nur gelächelt und ihr mit einem entwaffnenden Augenzwinkern von der Siedlung erzählt, einem Ort, an dem er noch nie gewesen war, aber über den er großartige Dinge gehört hatte, von einer Gemeinschaft aus lauter guten Menschen, wo sie leben könnten.


Schließlich hatte Evie zugestimmt, nicht weil sie in diese Siedlung wollte, sondern weil sie begriffen hatte, dass für Linus hier Schluss war; die Schlacht war gewonnen. Er musste weiterziehen und die anderen verlassen. Linus war anders als alle Menschen, die sie kannte. Er war klug, knallhart, verschlossen, er hatte die Stadt mitbegründet und aus dem Nichts das System aufgebaut, als wohltätige Kraft, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und dafür zu sorgen, dass alle glücklich waren. Doch das System war verfälscht worden, der Bruder hatte die Kontrolle übernommen, und aus Angst um sein Leben war Linus geflohen und hatte eine Basis errichtet, von der aus er heimlich mit der Stadt kommunizierte und wo er auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um das System ein für alle Mal zu deaktivieren und das Ungeheuer zu töten, das er ungewollt erschaffen hatte.


Jetzt war seine Aufgabe erledigt und Linus brauchte Base Camp nicht mehr. Evie sah ein, dass sie und Raffy gehen mussten, denn bald würden alle fort sein und sie stünden vor dem Nichts.


Deshalb waren sie in die Siedlung gekommen, mit einer Botschaft von Linus an Benjamin, den Anführer, den Linus in den Anfangstagen der Stadt kurz kennengelernt hatte, einen Mann mit gütigen Augen, und das genügte Linus offenbar, um sich ein Urteil über die gesamte Siedlung zu bilden.


Und er hatte wie immer recht gehabt.


Die Siedlung war eine Gemeinschaft, die Benjamin vor zwanzig Jahren gegründet hatte. Laut Stern, seinem Stellvertreter, der Evie und Raffy nach ihrer Ankunft herumgeführt hatte, war es am Anfang nur eine kleine Zeltstadt gewesen, aber mit den Jahren war sie immer weiter gewachsen. Mittlerweile standen auf einer ausgedehnten Fläche Häuser und Farmen, und die Menschen dort arbeiteten nicht, weil ein System es ihnen vorschrieb, sondern weil sie es wollten und weil es die Voraussetzung war, damit sie hier leben konnten.


Denn hier war das Leben härter als in der Stadt, hatte Stern ihnen erklärt. Wenn die Menschen das Land nicht bewirtschafteten, gab es nichts zu essen; und die Fundamente für die Gebäude mussten sie selbst graben. Hier gab es keine Computer, keine Regierungsjobs und keine Läden; es gab nur einen Markt, auf dem Tauschhandel betrieben wurde, und die Tage waren ausgefüllt mit harter Arbeit.


Stern hatte Evie und Raffy nachdenklich angesehen, als würde er darauf warten, dass sie etwas sagten. Aber sie hatten beide geschwiegen, weil Benjamin gerade vorbeigegangen war, Benjamin, dessen Name stets voller Ehrfurcht ausgesprochen wurde und dessen Gegenwart schon zu spüren war, noch bevor er einen Raum betrat.


In der Siedlung war Benjamin so etwas wie ein Gott; seine Geschichte hatte etwas von einem Mythos, von einer Legende. Er war ein Kämpfer, der sich von der Schreckenszeit nicht unterkriegen lassen wollte, der weiterkämpfte, der strebte, motivierte, führte, der die Siedlung gründete als Lohn für diejenigen, die ihm beigestanden hatten, der von den Menschen nur das Beste dachte und der, weil er an sie glaubte, in der Regel auch nicht enttäuscht wurde. Keiner wusste, woher Benjamin kam oder wie er vor der Schreckenszeit gelebt hatte. Natürlich gab es Gerüchte: er sei Soldat, Priester, Sportler, Politiker gewesen. Aber Benjamin sprach nie über die Vergangenheit. Er und Stern hatten gemeinsam die Schreckenszeit überlebt und beschlossen, aus den Trümmern etwas aufzubauen, was den Menschen wieder Hoffnung gab und eine Zukunft.


Und genau das hatte die Siedlung Evie und Raffy gegeben. Stern hatte recht gehabt, als er sagte, dass die Tage in der Siedlung mit harter Arbeit ausgefüllt seien, aber das Leben hier war nicht mühsamer als in der Stadt, jedenfalls nicht für Evie. Ihr kam es hier vor wie im Paradies; so weit weg von der Stadt mit all den Vorschriften und Restriktionen, dass sie kaum glauben konnte, dass sie sich noch auf demselben Planeten befand.


Und das alles hatten sie Benjamin zu verdanken.


»Ah, endlich lernen wir uns kennen.«


Evie spürte immer noch, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten, wenn sie an ihre erste Begegnung mit Benjamin dachte. Eine Woche nach ihrer Ankunft in der Siedlung war Stern bei ihnen aufgetaucht und hatte sie aufgefordert, ihm zu folgen. Als Benjamin sie zu seiner Privatunterkunft führte, hatte ihr Herz schneller geschlagen und sie hatte Raffys aufrechte Haltung und seine leicht geweiteten Augen bemerkt; auch er hatte begriffen, was da gerade vor sich ging und zu wem sie gebracht wurden. Zuvor hatte Raffy noch versucht, die Sache mit der Beurteilung herunterzuspielen, und Evie erklärt, die Siedlungsgemeinschaft müsse sie genauso einschätzen, wie sie selbst die Siedlung einschätzen müssten, aber wie er jetzt so schweigsam hinter Stern her trottete, wurde ihr klar, dass ihm diese Begegnung ebenso viel bedeutete wie ihr. Seit sie hierhergekommen waren, hatte Raffy sich verändert; diesmal schien es ihm wirklich darum zu gehen, dass er einen guten Eindruck machte und dass er akzeptiert wurde.


Als sie Benjamins Zimmer betraten, ließ Evie den Blick umherschweifen und nahm alles in sich auf: die spärlichen Sitzgelegenheiten, die wenigen Einrichtungsgegenstände und die Schlichtheit des Raumes. »Nun«, hatte Benjamin gefragt, »wie gefällt euch unsere Siedlung?«


Evie blickte zu ihm auf. Er war doppelt so groß wie Raffy und breitschultrig, ein Mann wie ein Baum. Und obwohl er ein langes Gewand aus Sackleinen trug, verriet die Art, wie er sich bewegte, dass er stark und muskulös war, ein Mann, mit dem man sich lieber nicht anlegte. Aber er hatte freundliche Augen und ein ehrliches Gesicht. Evie wusste sofort, dass sie alles tun würde, damit er sie gernhatte, damit er sie beide gernhatte und damit sie hierbleiben durften.


Beide nickten eifrig.


Benjamin lächelte. »Wisst ihr, als wir mit dem Bau dieser Siedlung angefangen haben, war ich sehr wütend. Wütend über das, was passiert war, über die Zerstörung, die Verwüstungen, die die Schreckenszeit angerichtet hatte. Aber ich erkannte, dass Wut selbst eine destruktive Kraft ist und dass ich sie überwinden musste, wenn wir einen wirklich guten Ort zum Leben aufbauen wollten.«


Er sah erst Raffy an, dann Evie, und beide wurden blass. Es war, als würde Benjamin tief in ihr Inneres blicken und die Wut, die Enttäuschung und den Groll darin entdecken.


Evie wollte Benjamin gerade versichern, dass auch sie bereit seien, ihre Wut zu vergessen, aber zu ihrem Erstaunen ergriff Raffy als Erster das Wort. »Wut dient einem Zweck, wenn sie sich gegen etwas richtet«, sagte er und trat einen Schritt vor. »Jetzt sind wir bereit, unsere Wut zu vergessen. Wir wollen glücklich sein. Wir wollen hier sein.«


Evie hörte Raffy mit offenem Mund zu, weil sie ihn noch nie so ernst erlebt hatte: kein sarkastischer Unterton, kein vielsagender Blick. Er spürte ihren Blick und drehte sich zu ihr um. Ein tiefes Glücksgefühl stieg in Evie auf, denn zum ersten Mal wirkte Raffy so, als hätte er seinen Weg gefunden. Er machte keinen gequälten Eindruck, er war nicht wütend oder düster. Stattdessen war seine Miene entschlossen und konzentriert, und das war ansteckend.


Benjamin lächelte erneut. »Freut mich zu hören. Seht ihr, wir sind dabei, uns hier ein neues Leben, eine neue Zukunft aufzubauen. Die Vergangenheit ist woanders. Eure, meine, unser aller Vergangenheit. Wir können sie nicht ungeschehen machen, aber wir müssen uns auch nicht länger damit aufhalten. Wir können aus dem Geschehenen lernen und wir können weitermachen und in die Zukunft blicken. Aus dem schlimmsten Schmerz kann Stärke erwachsen, aus Leiden Entschlossenheit, aus Verzweiflung Liebe und Gemeinschaft. Und das haben wir hier. Gemeinschaft. Einen Ort, der denen gehört, die dort leben, der von ihnen regiert und organisiert wird. Ein Ort, wo jeder eine Funktion hat und wo jeder seinen Beitrag leistet. Hört sich das nach einem Ort an, wo ihr leben möchtet?«


»Ja«, sagte Raffy sofort, und Evie nickte.


»Gut«, meinte Benjamin. »Dann will ich euch jetzt ein bisschen über die Siedlung erzählen. Vor vielen Jahren gab es hier nicht viel. Aber der Fluss im Norden und die Hügel ringsherum haben uns Schutz geboten; ich wusste, dass das ein guter Platz für einen Neuanfang sein würde. Zuerst waren wir nur wenig Leute, ungefähr zehn Familien. Vor etwa dreißig Jahren haben wir die ersten Häuser gebaut und die ersten Felder bewirtschaftet. Wir wollten eine sichere, friedliche Gemeinschaft aufbauen, wo niemand Hunger leiden oder Angst haben musste. Aber vor allem wollte ich eine Siedlung errichten, wo die Menschen sich selbst verwirklichen, wo sie lernen und neue Dinge entdecken konnten und wo niemand an seiner Entfaltung gehindert wurde. Wo alle für die Kinder Verantwortung tragen, nicht nur deren Eltern. Wo jeder angespornt wurde, seine Aufgabe im Leben, seine Erfüllung zu finden. Das Leben ist nichts wert, wenn es nicht erfüllt ist, wenn wir keine Wertschätzung erfahren, stimmt’s?«


Evie nickte, aber wieder war es Raffy, der das Wort ergriff und ein lautes Ja vernehmen ließ. Und als Benjamin fortfuhr, bemerkte Evie mit Verwunderung, wie Raffy sich vor ihren Augen verwandelte, wie sein Zynismus einer blauäugigen Verehrung Platz machte. Er hatte Benjamins Worten gelauscht, fasziniert von dessen Geschichte und dessen Hoffnungen für die Siedlung und für deren Bewohner. Raffy hatte schweigend zugehört, ohne den Blick zu senken oder wie sonst von einem Fuß auf den anderen zu treten, und Benjamin mit großen Augen aufmerksam angesehen. Wie ein Hund, dachte Evie unwillkürlich. Wie die Hunde in der Stadt, die ihrem Herrchen auf Schritt und Tritt folgten, die ihm nie von der Seite wichen und geduldig auf etwas zu fressen warteten.


»Nun«, sagte Benjamin schließlich, nachdem er ihnen von der Gründung der Siedlung erzählt hatte, davon, dass alle gleich waren, und von der Zurück-zur-Natur-Philosophie, und dass er dafür sorgen wollte, dass alle genug Kleidung hatten und es keinem an Nahrung für Leib und Seele mangelte. »Was meint ihr, könnt ihr etwas beitragen zu unserer Gemeinschaft? Was bringt ihr beide in die Siedlung mit ein?«


Evie hatte besorgt zu Benjamin aufgesehen. Obwohl dies nicht die Stadt war und obwohl sie nicht mehr von dem System, von Rängen und von einer Mutter beherrscht wurde, die sie ständig kritisierte und zurechtwies, fiel es ihr dennoch schwer, ihre Angst vor denjenigen abzuschütteln, die Verantwortung trugen. »Wir werden hart arbeiten«, brachte sie schließlich heraus. »Wir sind geschickt. Ich kann nähen. Und wir sind entschlossen.«


»Das freut mich zu hören«, hatte Benjamin geantwortet und sich dann an Raffy gewandt. »Und was ist mit dir, junger Mann?«


In diesem Moment hatte Evie den Atem angehalten. Während sie schon immer Angst hatte vor denen, die Macht besaßen, hatte Raffy für solche Leute bisher nur Abscheu und Verachtung übriggehabt; wenn ihm in der Stadt so eine Frage gestellt worden war, hatte er immer eine patzige Antwort parat gehabt, die ihm oft irgendeine Strafe eingebracht hatte. Aber stattdessen trat Raffy wieder einen Schritt vor.


»Was wir mit einbringen?«, fragte er und sah Benjamin direkt in die Augen. »Wir bringen uns selbst mit ein. Voll und ganz.« Evie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten, denn sie hatte Raffy noch nie so überzeugend reden hören.


Benjamin hatte gelacht, aber nicht unfreundlich. »Mehr kann ich nicht verlangen«, meinte er augenzwinkernd. »Dann bin ich froh, dass ihr euch uns anschließen wollt. Genau genommen freue ich mich immer, wenn junge Leute in unsere Siedlung kommen, weil wir die Jugend hier brauchen; wir brauchen eure Energie, eure Ideen. Aber wir brauchen auch die nächste Generation. Habt ihr beide vor, zu heiraten und Kinder zu bekommen?«


Evie hatte zu Raffy hinübergesehen, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, aber er war nicht so zurückhaltend. »Ja, natürlich«, hatte er sofort geantwortet.


Wenn es eine Gelegenheit für Evie gegeben hatte, einzugreifen und zu erklären, dass eigentlich noch nichts entschieden war, dann hatte sie sie verpasst. Und jetzt war es zu spät. Denn wenn sie Raffy widersprochen hätte, würde das bedeuten, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte – kein guter Anfang für zwei Menschen, die in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollten.


Und außerdem liebte sie Raffy. Sie hatte ihn schon immer geliebt und sie wollte ihn heiraten.


Oder?


Evie öffnete die Augen. Sie waren in ihrem Schlafzimmer und Raffy sah sie immer noch an. Dunkle Locken umrahmten sein Gesicht. Er grinste. »Warte nur, bis uns alle an unserem Hochzeitstag sehen«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Warte nur, bis allen ein für alle Mal klar ist, dass du mein bist.«


Evie atmete tief aus. Auch wenn sie sich bemühte, sie konnte ihm das nicht durchgehen lassen. »Raffy«, sagte sie in einem wohlüberlegten, achtsamen Ton, den sie in letzter Zeit oft anschlug. »Raffy, ich wünschte, du würdest nicht so sprechen. Als wäre ich dein Eigentum …«


»Ich weiß«, erwiderte er schnell und sah sie mit einem treuherzigen Hundeblick an. »Es tut mir leid. Aber ich kann nichts dafür. Ich möchte dir gehören und du sollst mein sein. Und alle sollen es wissen.«


Er sah so ernst aus, dass Evie dahinschmolz. »Das werden sie auch«, versprach sie. »Wir werden einander ganz gehören.«


Raffy lächelte. »Und dann wird dich kein anderer mehr ansehen«, sagte er leichthin. »Keiner wird dich mehr ansehen und sich Chancen bei dir ausrechnen.«


Evie starrte ihn an, alle zärtlichen Gefühle waren auf einmal verschwunden. »Keiner sieht mich an«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Keiner, Raffy. Diese Vorstellung ist nur in deinem Kopf.«


Raffy blickte sie ungläubig an. »Du weißt ja gar nicht, wie schön du bist.« Er setzte sich aufs Bett und sah ihr beim Anziehen zu. »Du hast ja keine Ahnung, wie die Männer sind.«


Evie antwortete nicht. Stattdessen ging sie zu dem kleinen Badezimmer, das sie sich mit vier anderen Paaren teilten, mit denen sie oft zusammen aßen, redeten und lachten. Zumindest Evie. Vor allem mit den Mädchen. Wenn sie mit deren Partnern sprach und Raffy war nicht dabei und wenn er es später herausfand, wurde er wütend. In der Stadt hatte das System sie auf Schritt und Tritt überwacht, aber inzwischen hatte Evie den Eindruck, dass Raffy jetzt die Aufgabe übernommen hatte, sie zu überwachen, zu kontrollieren, mit wem sie gesprochen und wer versehentlich ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.


Obwohl seine Eifersucht nervenaufreibend, frustrierend und einengend war, wusste Evie, dass es nicht seine Schuld war. Es war ihre Schuld. Denn vor einem Jahr, an einem Tag, an dem ihre Welt zerbrochen war, an dem Tag, an dem sie und Raffy geflohen waren, hatte sie Lucas, Raffys Bruder, geküsst. Sie hatte Raffy von dem Kuss erzählt in der Hoffnung, er könnte ihr verzeihen oder sie vielleicht sogar verstehen. Aber das konnte er nicht. Und seit damals hatte er sie nicht mehr aus den Augen gelassen.


Ein paar Minuten später kam Evie zurück ins Schlafzimmer, mit dem festen Vorsatz, heute alles besser zu machen, Raffy nicht zu reizen und ihm keinen Grund zur Eifersucht zu geben.


Ihr Zimmer war eines von vielen in einem niedrigen einstöckigen Gebäude, in dem fast hundert Menschen untergebracht waren und wo die Räume je nach Platzbedarf verteilt wurden. Ihr Zimmer war nur mit einem Bett, einem Stuhl, einem Schreibtisch und einem Bücherregal ausgestattet. Am Ende des Korridors befand sich die Dusche, die sie sich mit den anderen Paaren teilten. Die viereckige Rasenfläche hinter dem Haus durften alle Bewohner benutzen. Ringsherum lagen zugeteilte Parzellen, auf denen Obst und Gemüse angepflanzt werden konnten, um die wöchentliche Ration der Siedlung aufzubessern; in einigen Gärten wurden jedoch nur Blumen gepflanzt, weil, wie Benjamin zu sagen pflegte, Nahrung für die Seele genauso wichtig war wie Nahrung für den Körper.


»Was arbeitest du heute?«, fragte Evie.


»Ich helfe auf einem der etwas abgelegenen Felder beim Pflügen«, erwiderte Raffy und gähnte, »obwohl meine Schultern höllisch wehtun.« Evie drehte sich um und sah auf Raffys Schultern: Sie waren breit und die Muskeln spielten unter der Haut, ganz anders als noch vor einem Jahr. Offenbar war Raffy hier in der Siedlung plötzlich ein Mann geworden. Er war auch größer, aber seine breite Figur beeindruckte Evie am meisten. Sie passte zu ihm, genauso wie das sonnengebräunte Gesicht, das von widerspenstigen, zerzausten Haaren umrahmt wurde, die er sich nicht schneiden lassen wollte. Die harte Arbeit tut ihm gut und das Lachen und Herumalbern mit den Kollegen, dachte Evie. Jeden Abend kam er voller Schwung heim, auch wenn er sich dann gleich erschöpft aufs Bett fallen ließ.


Davon hatte sie immer geträumt, als sie noch in der Stadt lebten, wo selbst eine harmlose Unterhaltung als schlimmes Verbrechen angesehen wurde. Hier konnten sie und Raffy Hand in Hand die Straße entlangschlendern, ohne dass jemand darüber Meldung machte, sie anstarrte oder ihnen sagte, wie verkommen sie seien.


Und es gab keinen Lucas.


Evie holte tief Luft, wie immer, wenn sie an Lucas dachte und sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte.


»Okay, Zeit zum Aufstehen«, sagte Raffy, stellte seine Tasse ab und beugte sich über sie. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie zärtlich auf den Mund, ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten und zog sie an sich. Evie liebte seine sonnengebräunten Hände, die so stark waren und doch so zärtlich.


Sie schloss kurz die Augen und genoss den Moment, dann öffnete sie sie schweren Herzens wieder und sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es war fast fünf. Punkt sechs begann die Arbeit in der Siedlung. Jeder Bezirk hatte einen eigenen Gemeinschaftsspeisesaal, wo das Frühstück serviert wurde. Wenn man später als 5.40 Uhr dort ankam, waren nach ihrer Erfahrung die guten Sachen alle schon aufgegessen.


»Heute wird ein guter Tag«, meinte Raffy auf einmal, sprang vom Bett auf und schnappte sich ein Handtuch. »Nicht nur wegen der Anprobe. Alles ist gut, Evie. Wenn wir unsere Arbeit gut machen, wird auf dem neuen Feld so viel wachsen, dass es für einen ganzen Monat reicht. Simon will es mir zeigen.«


Evie lächelte. Simon war ein erfahrener Bauer. Er hatte Raffy unter seine Fittiche genommen, und Raffy hatte schon eine Menge gelernt. Vor ein paar Wochen hatte er Evie erzählt, dass er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl habe, etwas zu leisten, Teil von etwas zu sein und seinem Leben einen Sinn zu geben.


»Man traut dir wirklich zu, ein ganzes Feld zu pflügen?«, zog Evie ihn auf.


Raffy schlug mit seinem Handtuch nach ihren Knöcheln. »Pass auf, was du sagst«, meinte er grinsend. »Hier zollt man den Bauern Respekt.«


Evie sah ihn nachdenklich an. Das ist es, schoss es ihr auf einmal durch den Kopf. Deshalb war er hier so glücklich. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Raffy von anderen respektiert und konnte aufrecht durch die Straßen gehen. Und dieser aufrechte Bauer liebte sie und hatte sie immer geliebt.


Als er zur Tür ging, rief sie ihm nach: »Warte mal.«


»Was ist?«, fragte Raffy, und als er sich umdrehte, schlang Evie ihm die Arme um den Hals. Ihre Zukunft. Die einzige Zukunft, die zählte. Wenn sie erst einmal verheiratet wären, wäre er bestimmt nicht mehr so eifersüchtig; dann würde er wissen, dass er sie hatte. Und alles würde gut werden.


»Ich liebe dich«, sagte sie. »Das ist alles.«


»Ich liebe dich auch«, erwiderte Raffy, zog sie fest an sich, beugte sich über sie und küsste sie zärtlich. »Mehr als du dir vorstellen kannst.« Dann lächelte er und verließ das Zimmer.



2


Es war früh am Morgen. Gabby bemerkte, dass die Straße, die sie hinunterging – eine der größeren Straßen in der Stadt – fast menschenleer war, und sie ging etwas schneller. Sie war schon fünf Minuten zu spät dran, und das war nicht gut, aber es war auch nicht das Ende der Welt. Nicht mehr. Zehn Minuten Verspätung wären allerdings schon das Äußerste, sonst müsste sie einen Teil ihrer Mittagspause opfern.


Die Mittagspause war eine der Verbesserungsmaßnahmen, seit das System ausgeschaltet worden war. Oder »abgeschafft«, wie ihre Eltern es ausdrückten, mit Furcht in den Augen und mit Groll in der Stimme. Ihre Eltern mochten Lucas, den neuen Anführer der Stadt, nicht. Sie waren der Meinung, dass er wieder Zerstörung und Verderben in die Stadt brachte. Der Hauptgrund war jedoch, dass ihre Eltern das System jetzt nicht mehr als Druckmittel einsetzen konnten; zumindest schien sie das am meisten zu ärgern. Sie konnten ihr nicht mehr vorschreiben, wann sie abends zu Hause sein sollte, und sie konnten nicht mehr darauf bestehen, dass sie nach dem Abendessen bei ihnen am Tisch sitzen blieb und zuhörte, wie ihr Vater ihnen einen Vortrag hielt über die Bedeutung von innerer Einkehr oder über ein anderes langweiliges Thema. Jetzt konnte sie nach der Arbeit ausgehen und sich mit Freunden auf dem Rasenplatz treffen. Jetzt konnte sie selbst entscheiden, wen sie heiraten wollte; sie konnte alles selbst bestimmen.


Allerdings, rief sie sich in Erinnerung, während sie in einen leichten Laufschritt fiel, gab es immer noch gewisse Regeln, was das pünktliche Erscheinen am Arbeitsplatz betraf. Aber jedenfalls wollte sie noch keine großen Entscheidungen treffen. Sie konnte sich nicht vorstellen, verheiratet zu sein, ein Haus zu haben und immer so ernst zu sein wie ihre Eltern. Sie wollte einfach auf dem Rasen Ball spielen, die freudige Erregung spüren, wenn man hinter dem Ball herlief und ihn bekam, die Begeisterung über den Sieg und den Schmerz über die Niederlage. Bis es abgeschaltet wurde, entschied in der Stadt das System über Sieg und Niederlage, und zwar in Bezug auf die Ränge: eine Aufwertung war ein Sieg, eine Abwertung eine Niederlage. Aber das System war kein Spiel, es entschied alles: wo man arbeitete, wen man heiratete, mit wem man Umgang hatte. Egal, ob man gewann oder ob man verlor, die Dinge konnten sich trotzdem gegen einen wenden. Man hatte keine Kontrolle darüber.


Andererseits verschwand damals auch niemand. Gabby blieb einen Moment stehen, um zu verschnaufen, und blickte sich um. Wurde sie etwa beobachtet? Verfolgte sie jemand? Sie schüttelte sich. Natürlich nicht.


Was Clara, ihre beste Freundin, ihr erzählt hatte, war vermutlich sowieso erfunden. Es gab keine Spitzel in der Stadt. Es konnte nicht stimmen, was Clara über die Verschwundenen gesagt hatte. Es musste eine andere Erklärung geben. Aber Claras große Angst schien echt gewesen zu sein. Gabby hatte bemerkt, wie Claras Hände zitterten, als sie ihr die Geschichte erzählte, und sie hatte die Furcht in ihren Augen gesehen. Allerdings war Clara leicht in Angst zu versetzen, denn sie glaubte alles, was man ihr erzählte. Und Gabby wollte nicht glauben, dass sie, Gabby, verschwinden würde, nur weil Clara ihr von den Leuten in dem Krankenhaus erzählt hatte. Sonst wäre Clara selbst schon längst verschwunden.


In Wahrheit hatte Gabby genauso viel Angst wegen der Verschwundenen wie alle anderen, aber sie weigerte sich, die Angst zuzulassen. Denn unter dem System hatten die Menschen ständig Angst gehabt, sie waren nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus gegangen und hatten sich Sorgen um die Zukunft gemacht. Irgendetwas Schreckliches ging hier vor, da hatte sie keinen Zweifel, aber sie wollte es nicht an sich heranlassen. Sie wollte nicht, dass es wieder so wurde wie früher. Lieber wollte sie sterben.


Vielleicht nicht gerade sterben, berichtigte sie sich. Aber auf keinen Fall wollte sie wegen der Verschwundenen in Panik geraten, so wie alle anderen. Denn sie fing gerade an, ihr Leben als etwas Wertvolles zu begreifen, als etwas, wofür es sich lohnte, morgens aufzuwachen.


Bis zu dem großen Wandel hatte es in der Stadt keine öffentlichen Sportveranstaltungen gegeben. Es gab auch keine Tanz-oder Musikevents, ja nicht einmal richtige Gespräche. Die Menschen hatten zu große Angst und tuschelten nur heimlich miteinander. Und ständig saß ihnen die Furcht im Nacken, vertrauliche Bemerkungen könnten ans Licht kommen und das System könnte irgendetwas bemerkt haben. Mittlerweile sah man die Leute an den Straßenecken zusammenstehen und sich unterhalten, man lud sich gegenseitig zum Abendessen ein, alte Gitarren und Akkordeons wurden hervorgeholt, und nach getaner Arbeit erklang überall Musik.


Für Gabbys Eltern war das der Anfang vom Ende; für Gabby aber war es ein Wunder.


Sie beschleunigte den Schritt; in einer Minute würde sie bei der Töpferwerkstatt sein, in der sie arbeitete. Sie fragte sich, ob Clara wohl schon da war. Sie beide waren gestern Nacht spät ins Bett gekommen, deshalb hatte Gabby heute Morgen auch verschlafen, obwohl ihre Mutter versucht hatte, sie zu wecken.


Als Clara ihr mit zitternder Stimme von den geheimnisvollen Fremden in dem Krankenhaus erzählt hatte, hatte Gabby nur mit halbem Ohr zugehört, und sie hatte Clara nicht sehr überzeugend beruhigt. Denn als sie Clara gebeten hatte, ihr zu sagen, was sie wusste, hatte Gabby gehofft und erwartet, endlich zu erfahren, dass es mit den Verschwundenen etwas ganz anderes auf sich hatte, dass sie geflohen waren, um irgendwo etwas Aufregenderes, Besseres zu finden. Deshalb hatte sie Clara nicht richtig zugehört und sich eingeredet, dass Clara alles nur erfunden hatte und dass es nicht stimmen konnte, weil … Weil …


Erst als sie um die Ecke bog, bemerkte sie den Schatten unter ihren Füßen, und als die Werkstatt in Sicht kam, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, und sie ging noch etwas schneller. Die Spitzel. Clara hatte ihr erzählt, dass sie alles wussten, dass sie alle aufspürten, die etwas wussten, alle, die sie gesehen hatten. Alle außer Clara.


Das konnte nicht wahr sein. Und trotzdem lief Gabby ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die schnellen Schritte hinter sich hörte. Denn jetzt gab es keinen Zweifel mehr, dass sie verfolgt wurde. Clara hatte also die Wahrheit gesagt. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie um ihr Leben rannte.



3


Sie durfte nicht mehr so viel über alles nachdenken, dachte Evie auf dem Weg zur Arbeit. Sie hatte schon immer zu viel nachgedacht und an allem gezweifelt. Vielleicht sollte sie einfach lernen, die Gegebenheiten zu akzeptieren; vielleicht wäre sie dann richtig zufrieden.


Sie und Raffy waren hier zweifellos glücklich. Und sie wollte auch keinen anderen heiraten. Raffy zu heiraten war absolut vernünftig. Und sie wollte es auf keinen Fall vermasseln und alles aufs Spiel setzen. Trotz aller Herzlichkeit, Offenheit und Freundlichkeit, die sie in der Siedlung erlebten, mussten Raffy und Evie feststellen, dass es gar nicht so leicht war, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, und Evie wollte auf keinen Fall, dass alles wieder von vorn anfing. Raffy und Evie waren bereits ausführlich befragt worden; sie hatten sich mit verschiedenen Gruppen von Leuten getroffen, hatten eine Probezeit absolviert und waren vor die Ratsversammlung zitiert worden. Wie Benjamin gesagt hatte, gehörte die Siedlung den Menschen, die dort lebten; die allein konnten entscheiden, wer sich ihnen anschließen durfte. Und jeder, der zu der Gemeinschaft dazugehören wollte, musste sich als ihrer würdig erweisen und zeigen, dass er engagiert und anpassungsfähig war.


All das hatten sie getan. Raffy hatte Arbeit auf einem der vielen Bauernhöfe gefunden, welche die Gemeinschaft mit Nahrungsmitteln versorgten, und Evie hatte in der Küche angefangen und war dann in die Näherei gewechselt, wo man ihre Fähigkeiten zu schätzen wusste, auch wenn sie etwas aus der Übung war. Und Raffys Freude an der Arbeit hatte auf sie abgefärbt. Während sie in der Stadt das Nähen gehasst hatte und etwas ganz anderes machen wollte als die Frau, die sich als ihre Mutter ausgegeben hatte, war sie hier dankbar, dass es eine Arbeit für sie gab, die sie gut konnte; hier machte es ihr nichts aus, dass ihre Finger zerstochen waren und schmerzten, ja, sie war seltsamerweise beinahe stolz darauf. Stolz auf ihre Arbeit und darauf, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die so ganz anders war als die Stadt.


Benjamin hatte sie von Zeit zu Zeit beobachtet; dabei hob sich das Weiße in seinen Augen leuchtend von seiner ebenholzfarbenen Haut ab. Wenn er sah, dass man ihn bemerkt hatte, lächelte er freundlich, winkte kurz und ging weiter, wobei ihm sein langes Gewand um die Knöchel schwang. Obwohl diese Gewänder keine Uniform darstellten, folgten die meisten Männer und Frauen in der Siedlung Benjamins Beispiel und trugen lange fließende Gewänder und lange wallende Haare, die ihre ehrlichen und glücklichen Gesichter umrahmten, wenn sie arbeiteten, redeten, lachten und aßen.


Die Menschen in der Siedlung sprachen nicht viel über die Vergangenheit, was Evie und Raffy nur recht sein konnte. Es war so, wie Benjamin gesagt hatte: Die Menschen hier bauten sich ein neues Leben auf, eine neue Zukunft. Die Vergangenheit war abgeschlossen und nicht mehr zu ändern und die Bewohner der Siedlung erkannten diese Tatsache an. Wie alle anderen hatten sie während der Schreckenszeit gelitten, so wie es die Absicht von denen gewesen war, die sie entfesselt hatten. Doch die Bewohner der Siedlung hatten überlebt, und mit dem Überleben kam die Verantwortung. Die Verantwortung, zu leben, zu wachsen, zu lernen, einen Schlussstrich zu ziehen und weiterzumachen.


Und genau das hatte Evie davon überzeugt, dass dies ein Ort war, wo sie nicht nur überleben konnten, sondern auch leben. In der Stadt wurde ständig von der Schreckenszeit und von dem Bösen gesprochen, das die Welt beinahe zerstört hatte. In der Stadt wurde alles und jedes analysiert, abgestempelt und eingestuft. Hier in der Siedlung dagegen lebten die Leute ihr Leben, den Blick in die Zukunft gerichtet, und suchten nach dem Guten im Menschen, anstatt sich vor dem Bösen zu fürchten. Hier lag immer Musik in der Luft; die Leute spielten Gitarre, sangen und summten bei der Arbeit vor sich hin. Bücher wurden verteilt und öffentlich besprochen; unterschiedliche Ansichten wurden begrüßt. Fragen wurden nicht mit einem Stirnrunzeln quittiert, sondern waren ausdrücklich erwünscht. Man konnte sich unterhalten, mit wem man wollte und wann immer man wollte.


Zumindest war das die Idee.


»Hey, Evie!«


Evie drehte sich um und sah Neil auf sich zukommen. Neil war einer der Lehrer in der Siedlung. Die Lehrtätigkeit galt in der Siedlung als höchste Berufung, und jeder wurde angehalten, so viel zu lernen wie möglich. Es gab regelmäßig Kurse in Kunsthandwerk, Literatur, Töpfern, Tischlern, Technik und Kochen, und es wurde Lesen, Schreiben und Rechnen angeboten für diejenigen, die nur sporadisch Unterricht gehabt hatten, und für diejenigen, die überhaupt keine Vorkenntnisse hatten.


»Neil!« Evies Augen leuchteten auf und sie eilte ihm erwartungsvoll entgegen. Neil, ungefähr Mitte fünfzig, war vor zehn Jahren in die Siedlung gekommen. Seit dem Ende der Schreckenszeit hatte er quasi als Einsiedler gelebt. Nach den Geschichten, die man Evie erzählt hatte, war er damals in Lumpen gekleidet gewesen, und die Haare reichten ihm bis zur Taille. Er war halb verhungert, und wochenlang war es nicht sicher, ob er überhaupt überleben würde. Aber allmählich war er wieder zu Kräften gekommen und mit jeder Woche hatten seine Pfleger mehr über ihn erfahren. Der ausgemergelte Mann, der da vor ihnen im Bett lag, war vor der Schreckenszeit ein führender Akademiker gewesen, hatte Preise gewonnen und war um die ganze Welt gereist. Er war Matrose gewesen und Pianist und hatte ein umweltschonendes Verfahren für den Fischfang entwickelt; den Erlös – viele Millionen Pfund – hatte er für wohltätige Zwecke gespendet. Evie hatte sich das alles angehört, aber es sagte ihr nicht viel; sie fand Geschichten von früher verwirrend und seltsam. Was ihr an Neil gefiel, war die Begeisterung in seinem Gesicht, wenn er über ein Buch oder über ein Konzept sprach; die Art, wie er mit den Augen rollte, wenn einer seiner Schüler etwas Wichtiges verstanden hatte.


Mittlerweile hütete er tagsüber das Vieh, und abends gab er Unterricht in kreativem Schreiben, musikalischer Bildung, Knotenknüpfen und Gesang. Dabei erklärte er jedem, der es hören wollte, dass er noch nie so glücklich gewesen sei und dass er hier alles habe, was er sich wünsche. Aber Evie wusste, dass das nicht ganz stimmte. Sie sah, wie hastig er jeden Abend die mageren Rationen in der Siedlung hinunterschlang, und sie wusste, dass er zu sehr mit seinem Unterricht beschäftigt war, um sich um seine Parzelle zu kümmern. Deshalb brachte sie ihm jedes Mal, wenn sie seinen Unterricht besuchte, ein Stück Brot, ein bisschen Obst oder etwas von ihrem eigenen Essen mit. Er wollte es zwar nie annehmen, aber Evie bestand darauf, weil sie nicht so viel brauchte wie er und weil sie außerdem unbedingt etwas lernen wollte, und deshalb war es eigentlich ein fairer Handel.


Raffy erzählte sie nichts davon, denn sie war sich nicht sicher, ob er sie verstehen würde.


In Wahrheit wusste Evie, dass Neil mehr Essen bekäme, wenn er nur darum bitten würde, denn die Nahrung wurde nur deshalb gleich verteilt, weil das wohl am vernünftigsten und am fairsten war. In der Siedlung gab es keine Reglementierung, es war ein Ort der Gemeinschaft, wie Benjamin, Stern und die anderen immer wieder betonten. Alles durfte diskutiert werden, und jeder hatte das Recht, anderer Meinung zu sein oder vorzuschlagen, wie man etwas anders machen könnte.


Aber niemand hatte je darum gebeten, dass irgendetwas geändert werden sollte.


»Ich habe das Buch dabei, das ich erwähnt habe.« Neil hielt es in die Höhe, und auf Evies Gesicht erschien ein Lächeln. Er warf ihr das Buch zu und sie sprang hoch und fing es auf.


»Danke«, sagte Evie und strahlte, als sie das Buch in den Händen drehte. Neil hatte ihr in seinem Kurs Kreatives Schreiben, der jeden Mittwochabend stattfand, von dem Buch erzählt. Benjamin hatte Evie den Kurs vorgeschlagen, weil er dachte, das Schreiben könnte vielleicht eine reinigende Wirkung haben. Anfangs hatte Raffy sie begleitet, weil er angeblich seine Gedanken auch so gern niederschreiben wollte wie sie, aber schließlich war er abgesprungen und einem anderen Klub beigetreten, weil ihm die Ausreden ausgegangen waren, warum sie allein in ihren Kurs gehen sollte.


Evie liebte die Sprache und wie sich durch ein einziges Wort ein ganzer Satz verändern ließ, wie Gefühle, Spannung oder Angst erzeugt wurden, wie all das Schreckliche, das sie erlebt hatte, durch das Niederschreiben nur noch zu Worten auf einer Seite wurde und wie das Schreiben ihr half, sich davon zu befreien.


»Ich bin sicher, es wird dir gefallen«, meinte Neil. »Die Autorin hat vor über hundert Jahren gelebt, aber ihre Bücher sind immer noch aktuell, weil sie über allgemeine Themen schreibt und weil in ihren Worten Wahrheit liegt. Du wirst sehen, was ich meine.«


Evie lächelte dankbar. In der Stadt hatte sie Lernen immer gehasst; die Zahlen und Fakten, die sie auswendig lernen und wortwörtlich wiedergeben musste; wo keine Fragen, keine Fantasie und nichts Neues erlaubt waren. Jeder, der anders war, war gefährlich, und man durfte ihm nicht trauen. Jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr Angst die Stadt beherrscht hatte; Angst, etwas falsch zu machen; Angst, mit jemandem zu sprechen, der einen womöglich mit dem Bösen ansteckte; Angst, im Rang herabgestuft zu werden; Angst, dass einem nahestehenden Menschen dasselbe widerfuhr; Angst vor den Bösen außerhalb der Stadtmauern; Angst davor, was passieren würde, wenn die Mauern niedergerissen wurden, wenn die Entschlossenheit schwand, wenn das Böse wieder die Herrschaft übernahm. Angst lähmte und schwächte. Angst machte die Menschen unsicher, nervös, unglücklich und verschlossen.


»Sehen wir uns am Mittwoch?«, fragte Neil, und Evie nickte und strahlte ihn an.


»Also, bis dann«, sagte sie, öffnete ihre Tasche und steckte das Buch hinein. Es hatte den Titel Alle Menschen sind sterblich. Als sie das Buch in die Tasche schob, streiften ihre Finger einen harten, metallenen Gegenstand, und sie errötete schuldbewusst. Sie beschleunigte den Schritt, so als hätte sie Angst, jemand könnte ihr folgen, könnte wissen, was das war.


Es war eine Uhr.


Lucas’ Uhr.


Die Uhr, die er ihr an dem Tag gegeben hatte, als sie und Raffy die Stadt für immer verlassen hatten.


Die Uhr, die Lucas’ und Raffys Vater gehört hatte. Lucas hatte sie gebeten, sie Raffy zu geben, und dann hatte er ihr gesagt, dass er sie liebe und dass er sie immer geliebt habe.


»Alles okay, Evie?« Neil ging mit besorgtem Gesicht auf sie zu. Evie spürte, dass sie heftig errötete.


»Alles in Ordnung«, erwiderte sie rasch, obwohl sie wusste, dass sie alles andere als überzeugend klang. »Wirklich, mir geht es gut.«


Es hatte einige Wochen gedauert, bis sie den Moment für gekommen hielt, Raffy die Uhr zu geben. Sie hatte gewartet, bis sie dachte, Raffy würde es verstehen, er würde seinem Bruder vergeben und Lucas so sehen, wie er wirklich war, und nicht als den unterdrückerischen älteren Bruder, als der er sich gab.


Evie hatte Raffy die Uhr in die Hand gedrückt, so wie Lucas es bei ihr getan hatte, und ihm erklärt, dass Lucas wollte, dass er sie bekäme. »Er hat gesagt, sie hat immer dir gehört. Euer Vater hatte ihn gebeten, für dich darauf aufzupassen. Er konnte sie dir nicht früher geben. Aber jetzt … jetzt sollst du sie tragen.«


Raffy betrachtete die Uhr eine Weile und stopfte sie dann in seine Tasche.


»Willst du sie nicht umtun?«, fragte Evie, fing sich aber nur einen wütenden Blick ein.


»Umtun? Nein«, entgegnete Raffy schroff.


Und damit war die Sache erledigt – dachte Evie zumindest. Ein paar Wochen später nahm sie noch einmal ihren ganzen Mut zusammen und fragte Raffy, ob er sich vorstellen könnte, die Uhr zu tragen.


»Lucas’ Uhr?«, meinte Raffy spöttisch. »Die hab ich gar nicht mehr. Ich hab sie beim Bäcker gegen Kuchen eingetauscht. Erinnerst du dich an den Schokoladenkuchen? Der ist mehr wert als eine goldene Uhr.«


Evie hatte ihn ungläubig angestarrt. »Aber Lucas hat die Uhr extra für dich aufgehoben. Jahrelang. Sie hat doch deinem Vater gehört. Er … «


»Nicht«, unterbrach Raffy sie. Er ging auf Evie zu mit einem Gesichtsausdruck, der ihr völlig fremd war. Sein Blick war so kalt, als wäre er jemand anders, jemand, den sie nicht kannte und den sie auch nicht kennen wollte. »Erwähne Lucas mir gegenüber nie wieder. Oder meinen Vater. Oder diese Uhr. Hast du verstanden?« Sein Gesicht war ganz nah, aber es lag keine Vertrautheit, keine Zärtlichkeit in seinem Blick. Er nahm sie überhaupt nicht wahr. Er sah nur seinen Groll, sah nur seine eigene selbstsüchtige Wut.


Evie hatte nur genickt. Sie schäumte innerlich vor Wut und konnte Raffy kaum ansehen, geschweige denn mit ihm reden. Doch vier Monate später hatte der Bäcker eine ganze Garnitur Vorhänge und Kissenbezüge bekommen, die Evie selbst aus Stoffresten aus den Arbeitsräumen genäht hatte, und sie hatte die Uhr wieder.


Jetzt brachte sie die Uhr regelmäßig zu einem Versteck und ließ sie nie längere Zeit am selben Ort. Noch etwas, was sie vor Raffy geheim halten musste, eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Aber dieses Risiko ging sie ein. Raffy war ja vielleicht froh, wenn er nicht mehr an Lucas denken musste, wenn er dessen Opfer vergessen und so tun konnte, als hätte Lucas nie existiert. Aber Evie konnte das nicht. Und sie wollte es auch nicht.


Lucas existierte. Und Evie hoffte, dass er glücklich war, dass er endlich in der Stadt den Frieden gefunden hatte, den er gesucht hatte. »Gut, dann sehen wir uns am Mittwoch«, meinte Neil achselzuckend, lächelte ihr ein letztes Mal zu und ging davon.



4


Lucas atmete tief durch und musterte die Frau, die ihm gegenübersaß. Amy Jenkins. Er hatte schon oft mit ihr gesprochen; er hatte dafür gesorgt, dass ihre Zeitung The City News erscheinen konnte, weil er dachte, die Bürger der Stadt würden die Einführung der Pressefreiheit, des eigenständigen Denkens, begrüßen und dadurch ermutigt, wieder an sich selbst zu glauben und gemeinsam eine neue Welt aufzubauen.


Das war vor einem Jahr gewesen. Vor einer Ewigkeit.


Doch jetzt war alles anders.


Jetzt durchstreiften Suchmannschaften die Straßen der Stadt; vor seinen Büros versammelten sich Menschenmassen und forderten seinen Kopf. Er sah überall nur noch wütende Gesichter und hörte verzweifelte Appelle. Und alle wollten nur das eine: das System sollte wieder errichtet werden, die Neutaufe sollte wieder eingeführt werden. Zurück zum Bruder. Zur Unterwürfigkeit.


Lucas spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte.


»Wir sollten nicht vergessen«, sagte er betont kühl, ohne sich seine innere Unruhe anmerken zu lassen, »dass das System uns zu Sklaven gemacht hat. Die Urteile waren willkürlich, sie wurden vom Bruder kontrolliert, um den Menschen Angst zu machen, um sie auseinanderzubringen, um seine Freunde zu belohnen und seine Feinde zu bestrafen. Das System war korrupt.«


»Aber trotzdem«, erwiderte Amy und kniff die Augen zusammen, »war die Stadt ein Ort der Sicherheit und des Friedens. Heute verschwinden unsere jungen Leute einfach. Jede Woche wird jemand entführt, zu Hause oder auf der Straße, und ist wie vom Erdboden verschluckt. Sie haben dir vertraut, ihre Familien haben dir vertraut. Sie haben gedacht, sie wären sicher und du würdest die Bösen von der Stadt fernhalten. Aber du hast sie enttäuscht und du enttäuschst sie immer noch. Was sagst du dazu?«


Lucas schloss die Augen. Man nannte sie die Verschwundenen. Jungen und Mädchen, Teenager, alle vermisst. Noch vor ein paar Wochen hatten Jane Anderson, Bill Grainger, Edward Ashleigh und all die anderen ganz normal gearbeitet, gegessen, geschlafen … Und dann war plötzlich einer nach dem anderen verschwunden. Sechs Jugendliche, in einer Stadt mit hohen Mauern, die zum Schutze aller errichtet worden waren. Verschwunden in einer Stadt, die jahrelang als sicher galt und in der es angeblich nichts Böses mehr gab. Verschwunden ohne eine Erklärung, ohne irgendeinen Hinweis darauf, was mit ihnen passiert war.


Lucas öffnete die Augen wieder, stand auf und ging zum Fenster, eine schmale Öffnung, die genügend Tageslicht hereinließ, aber die Kälte draußen hielt. Zweckmäßig eben, wie alles andere in der Stadt. Bis vor Kurzem war es Lucas gar nicht aufgefallen, wie trostlos alles war und dass es innerhalb der Stadtmauern kaum etwas Schönes gab. Er hatte sich viel zu sehr auf die Machenschaften der Regierung konzentriert und darauf, Raffy und Evie zu schützen und mit einem alten Kameraden seines Vaters irgendwo da draußen heimlich zu kommunizieren. Aber jetzt waren sein Bruder und Evie fort, jetzt gab es keine Tricks, kein Doppelleben und keine Geheimnisse mehr. Lucas hatte gehofft, er würde sich jetzt besser fühlen und wäre glücklicher, aber stattdessen fühlte er sich einfach nur leer.


Und jetzt das. Früher war Lucas den anderen immer einen Schritt voraus gewesen und wusste Bescheid über Dinge, von denen sie nichts wussten. Doch jetzt fühlte er sich hilflos, aber Hilflosigkeit passte nicht zu ihm.


»Wir suchen Tag und Nacht nach ihnen«, erklärte er. »Wir haben schon jeden Quadratzentimeter dieser Stadt abgesucht.«


»Und trotzdem habt ihr sie nicht gefunden«, erwiderte Amy mit brüchiger Stimme. »Meine kleine Schwester zum Beispiel. Sie ist seit drei Wochen verschwunden. Sie war zu Hause. Ich hab ihr noch Gute Nacht gesagt, und am nächsten Morgen war sie weg. Und du erzählst mir was von Suchmannschaften? Was nützen Suchmannschaften, wenn sie nichts finden? Wenn du, unser selbst ernannter Anführer, uns so etwas antust? Bist du froh, wenn wir alle verschwunden sind? Ist es das, was du willst?«


Amy hatte Tränen in den Augen, aber Lucas blinzelte nicht, er ging einfach zu ihr hin. »Ich möchte die Stadt zu einem guten Ort machen«, erklärte er, »wo die Menschen frei entscheiden und ohne das Stigma von Rängen leben können.«


»Wo man von den Bösen verschleppt wird?«, fragte Amy mit erstickter Stimme. »Wo man Angst haben muss, allein auf die Straße zu gehen? Wo man sich nur in großen Gruppen durch die Stadt bewegen kann? Wo nachts alle Fenster geschlossen und Möbel vor die Tür geschoben werden müssen? Ist es das, was du dir für uns wünschst?«


Ihre Unterlippe zitterte, während sie sprach. Mit ihrem herausfordernden Blick und ihrer Weigerung, etwas anderes zu akzeptieren als die Wahrheit, erinnerte sie Lucas an Evie. Er fragte sich, was Evie jetzt wohl zu ihm sagen würde. Würde sie ihm vorwerfen, dass er nicht genug tat? Würde sie ihn genauso wütend anstarren wie Amy und ihm erklären, dass er die Menschen und die Stadt im Stich gelassen hatte? Ja, das würde sie. Und sie hätte recht.


Lucas nahm seinen ganzen Mut zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Natürlich nicht.«


Amy sah Lucas prüfend an. »Und was willst du uns sagen, um uns zu beschwichtigen?«, fragte sie. »Den Eltern der vermissten Kinder? Ihren Familien? Und allen, die Angst haben, schlafen zu gehen? Was willst du ihnen und uns sagen?«


Lucas wich ihrem Blick nicht aus. »Ich werde herausfinden, wer dahintersteckt. Ich werde die Schuldigen finden und sie bestrafen. Ich will Gerechtigkeit. Und ich werde unsere jungen Leute finden und sie zu ihren Familien zurückbringen.«


»Wie denn?«, wollte Amy wissen, aber Lucas war schon zur Tür gegangen, öffnete sie und gab ihr damit zu verstehen, dass das Gespräch beendet war.


Denn er hatte keine Antwort auf ihre Frage. Und er war sich nicht sicher, ob er überhaupt auf irgendetwas eine Antwort hatte.


Aber er wusste, dass er eine Antwort finden würde, und er würde nicht ruhen, bis derjenige, der das tat, gefasst war und ihm der Prozess gemacht wurde. Sonst wäre alles umsonst, wofür er und sein Vater gekämpft hatten. Wer diese jungen Leute entführte, der raubte damit der Stadt ihren Frieden. Und es war seine Aufgabe, den Frieden wiederherzustellen.


Lucas verließ sein Büro, er musste hinaus an die frische Luft. Amy hatte recht: Er hatte die Menschen enttäuscht. Er hatte das System aufgelöst, das System, das jeden verfolgt hatte, das System, das ihm jetzt zeigen könnte, wo die Verschwundenen waren und was mit ihnen passiert war. Er, Linus, Evie und Raffy hatten das System freudig und triumphierend zerstört. Aber Lucas hatte dabei nicht erkannt, was für eine Stütze es für die Stadt gewesen war, und dass ohne das System allmählich alles zerfallen würde.


Eigentlich stimmte das nicht ganz. Linus hatte versucht, es Lucas zu erklären, aber Lucas hatte nicht zugehört, oder besser gesagt, er wollte nicht zuhören. Er wollte einfach sein neues Leben anfangen und die Aufgabe weiterführen, mit der sein Vater ihn Jahre zuvor betraut hatte.


Es war jetzt fast ein Jahr her, dass Linus, Raffy, Evie und die anderen mit Lucas’ Hilfe die Stadt gestürmt hatten. Sie hatten das System, das die Bürger so lange kontrolliert hatte, außer Kraft gesetzt und die Wahrheit ans Licht gebracht, die der Bruder ihnen vorenthalten hatte. Das System hatte alles gewusst, alles gesehen, alles verstanden. Linus hatte es ursprünglich aufgebaut, um die Bedürfnisse der Menschen zu erkennen und eine neue Welt zu schaffen, in der Glück nicht nur Wunschdenken war, sondern wo es Glück tatsächlich gab. Doch schon bald hatte der Bruder das System für seine Zwecke missbraucht und manipuliert. Er spielte Polizist statt den Wohltäter und überwachte die Bürger der Stadt, um sicherzugehen, dass sie nicht aus der Reihe tanzten.


Linus hatte Lucas erklärt, dass es nicht genügen würde, das System abzuschalten, sondern dass jedes Überbleibsel des alten Regimes zerstört werden müsse, damit die Menschen keine andere Wahl hatten, als den Wandel zu akzeptieren. Aber Lucas hatte ihm nicht geglaubt. Genauso wenig wie er Linus’ Vorhersage geglaubt hatte, dass die Menschen ihm nicht dankbar sein, sondern dass sie ihm die Schuld geben und ihn am Ende hassen würden.


Und nun kam er zu dem verzweifelten Schluss, dass Linus recht gehabt hatte. Die Menschen hassten ihn tatsächlich. Er sah es in ihren Augen. Die Bürger der Stadt hatten jetzt mehr Angst als je zuvor, und das war seine Schuld, denn trotz seinem ganzen Gerede von einem Neuanfang konnte er nicht verhindern, dass immer wieder Jugendliche verschwanden. Und er hatte absolut keine Erklärung dafür.


Als er auf den Korridor hinaustrat, sah er sofort, dass der Bruder in Begleitung zweier Wachmänner auf ihn zukam. Lucas bemerkte reuevoll, dass die Wachen eher aussahen wie Dienstboten als wie Gefängniswärter.


»Lucas. Harte Zeiten, was?«, sagte der Bruder mit einem Lächeln auf den Lippen. Lucas starrte ihn an.


»Ja«, erwiderte er mit versteinerter Miene, damit der Bruder ihm seine inneren Qualen und seine Selbstzweifel nicht anmerkte. »Und bitte, erspar dir diesen triumphierenden Gesichtsausdruck. Ich weiß ja, dass du dich im Grunde nur für dich selbst interessierst, aber du könntest ja wenigstens so tun, als wärst du besorgt wegen dem, was passiert ist, anstatt so ausgesprochen gut gelaunt aufzutreten.«


»Lucas, das ist eine furchtbare Anschuldigung«, meinte der Bruder, ohne dass das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. »Natürlich bin ich besorgt. Nicht wegen dir, sondern wegen den armen Menschen in dieser Stadt, die sich darauf verlassen, dass du sie beschützt. Aber sie wurden immer wieder enttäuscht. Du bist deinem Vater sehr ähnlich, Lucas. Ich verstehe nicht, warum ich das nicht schon früher erkannt habe.«


Lucas wandte den Blick ab vor Abscheu. Sein Vater war ein Opfer der Regierung des Bruders geworden. Er war zum K herabgestuft worden, als er die Lügen aufgedeckt hatte, auf denen der Bruder die Stadt aufgebaut hatte. K stand für Killable. Lucas erschauerte, wenn er an den Blick seines Vaters dachte, als der ihm sagte, was geschehen würde, dass er sterben würde, dass er Lucas’ Hilfe brauche, dass Lucas niemandem etwas sagen dürfe …


Und jetzt weidete sich der Bruder an Lucas’ Unglück. Lucas hatte noch nie solche Verachtung empfunden wie in diesem Moment. Hätte er Linus’ Rat befolgt und den Bruder vor den Toren der Stadt sterben lassen, wie der Bruder es mit Lucas’ Vater und mit so vielen anderen Opfern getan hatte, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber Lucas hatte es nicht fertiggebracht. Er wollte eine gute und freie Stadt nicht auf einem so rachsüchtigen und barbarischen Akt aufbauen. Stattdessen hatte er gedacht, er könnte die Macht der neuen Regierung demonstrieren, indem er dem Bruder vergab. Und der Bruder war so dankbar gewesen – ja, geradezu mitleiderregend – und hatte versprochen, Lucas zu unterstützen, ihm zu helfen und Teil dieser neuen Stadt zu werden.


Doch trotz der Wachen, die den Bruder in Schach halten sollten, und trotz des Hausarrests, bei dem es ihm nur gestattet war, von seinem Haus zur Arbeit und wieder zurück zu fahren, setzte der Bruder alles daran, zu intrigieren, zu manipulieren und Unruhe zu stiften. Lucas hatte zwar keinerlei Beweise, aber er sah, was hier vorging, und er verdächtigte seine eigenen Leute, an diesen Machenschaften beteiligt zu sein. Die Menschen hatten Angst vor dem Bruder; sie glaubten immer noch an ihn. Aber Lucas wollte dafür sorgen, dass sich das änderte.


»Ich muss gehen«, sagte er wütend. »Ich muss die jungen Leute suchen.«


»Und du glaubst im Ernst, dass du sie findest?« Der Bruder schüttelte den Kopf. »Lucas, die Mauer ist verstärkt und auf Bruchstellen untersucht worden. Du selbst hast alle Schlüssel der Torwächter konfisziert. Niemand kann aus der Stadt hinaus und niemand kann herein. Du musst akzeptieren, dass sich das Böse innerhalb der Stadtmauern befindet. Du musst akzeptieren, dass du nicht alles kontrollieren kannst und dass du das System brauchst.«


Lucas schüttelte verwundert den Kopf. »Und das sagt ausgerechnet der Mann, der die Menschen in einem Ausmaß kontrollieren wollte, dass sie ohne seine Zustimmung nicht einmal Freundschaften schließen durften?«


Der Bruder zuckte die Achseln. »Ich kümmere mich eben um meine Schäfchen. Das ist doch kein Verbrechen, Lucas. Aber konzentrier dich ruhig auf die Mauer, wenn du dich dann besser fühlst. Ich bin sicher, Rab freut sich über Gesellschaft.«


Rab war der Wächter des Osttores. Dieser Abschnitt der Stadtmauer war eine besondere Schwachstelle wegen des Sumpflands ringsherum, sodass dort keine Wachen aufgestellt werden konnten. Aber eben wegen dieser Sümpfe war es auch unwahrscheinlich, dass von dort her jemand in die Stadt eindrang, worauf Rab jedes Mal hinwies, wenn Lucas ihn aufsuchte, befragte und die Mauer überprüfte. Schließlich hatte Lucas den Schlüssel konfisziert, weil er irgendwie dachte, er hätte alles besser unter Kontrolle, wenn nur er allein alle Schlüssel verwahrte. Jedenfalls hatte der Bruder recht. Die Mauer und die Tore wiesen keine Beschädigungen auf, niemand hatte versucht, gewaltsam in die Stadt einzudringen, und Rab schwor Stein und Bein, dass er keinen herein-oder hinausgelassen hatte. Der, der das tat, befand sich entweder bereits in der Stadt oder gelangte auf unbekannten Wegen hinein oder hinaus. Lucas wurde jedoch den Verdacht nicht los, dass der Bruder mehr wusste, als er zugab.


»Ich werde jeden Stein umdrehen und jeden Winkel der Stadt durchsuchen«, sagte Lucas mit leiser Stimme. »Ich werde herausfinden, wer dahintersteckt.«


»Mach, was du willst«, meinte der Bruder abweisend. »Das Dumme ist nur, dass wir kein System mehr haben, das unsere Bürger beschützt. Aber das weißt du ja, nicht wahr, Lucas?«


Lucas musterte ihn mit eiskaltem Blick. »Das System hat sie nie beschützt. Es hat sie mit eiserner Faust regiert und sie auf Schritt und Tritt überwacht«, sagte er ruhig.


Der Bruder zuckte die Achseln. »Und trotzdem haben sich die Menschen sicherer gefühlt. Und sie waren auch sicherer. Du hast das System abgeschaltet. Deshalb bist du für das Verschwinden der jungen Leute verantwortlich. Such sie, Lucas. Erklär den Familien, warum ihre Lieben verschwunden sind. Oder tu etwas, damit es endlich aufhört. Du könntest das System wiederherstellen und dafür sorgen, dass jeder Bürger wieder überwacht wird. Du könntest endlich etwas Sinnvolles tun und den Menschen beweisen, dass du dich um sie kümmerst.«


»Immer das System. Das ist deine Antwort auf alles.«


»Es war tatsächlich die Antwort auf alles«, entgegnete der Bruder mit eisigem Blick. »Und du und deine Terroristen-Freunde, ihr habt es zerstört.«


Lucas holte tief Luft. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er seine Gefühle versteckt, doch jetzt kamen sie hoch, obwohl ihm klar war, dass er sie kontrollieren musste. Sonst würden sie ihn übermannen und er wäre so wütend und verzweifelt, dass er nicht mehr den Willen hätte, weiterzumachen.


»Du bist hier der Terrorist, Bruder«, sagte er schließlich. »Du bist derjenige, der die Macht mit Gewalt, durch Unterjochung, an sich gerissen hat. Das System hat das Leben von Menschen zerstört, es hat meinen Vater zum Tod verurteilt, nur weil er die Wahrheit herausgefunden hat.«


Der Bruder runzelte die Stirn. Er war enttäuscht. »Du verstehst es immer noch nicht, Lucas, oder?«, fragte er herablassend.


»Was verstehe ich nicht?«


Der Bruder kam näher und stellte sich ganz dicht vor Lucas hin. »Ich habe dich immer für einen cleveren Burschen gehalten«, flüsterte er mit einem Funkeln in den Augen. »Ich hab gedacht, du hättest es verstanden. Aber in Wahrheit bist du genau so naiv wie dein Freund Linus. Du scheinst nicht zu begreifen, dass die Menschen geführt werden wollen. Sie wollen, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen. Und genau das habe ich getan. Ich habe ihnen die Freiheit geschenkt, nicht selbst denken zu müssen. Und du hast sie ihnen genommen. Darum hassen sie dich, Lucas.«


»Die Menschen wollen richtig frei sein«, sagte Lucas und trat einen Schritt zurück.


»Glaub doch, was du willst«, meinte der Bruder achselzuckend. »Aber an deiner Stelle würde ich hoffen, dass keine jungen Leute mehr verschwinden. Denn wenn das nicht aufhört, wird der wütende Mob, der deinen Kopf fordert, noch größer und selbstbewusster und entschlossener. Und ich habe ganz bestimmt nicht die Absicht, ihn aufzuhalten.«


Der Bruder sah Lucas direkt in die Augen. Lucas riss sich zusammen, damit seine Augen nicht flackerten. »Danke für deine Hilfe«, sagte er. »Aber du kannst sicher sein, dass ich jeden Einzelnen, der verschwunden ist, finde, und ich finde auch heraus, wer dahintersteckt. «


Der Bruder lächelte und ging in Begleitung der beiden Wächter weiter.


»Armer Lucas«, sagte er mit einem leisen Seufzer. Dann blieb er stehen und drehte sich mit einem mitleidigen Blick zu Lucas um. »Musst du deine Schlacht mal wieder ganz allein austragen. Wo sind denn deine Freunde, Lucas? Wo sind die Menschen, für die du alles geopfert hast?«


Lucas schwieg.


»Was ist mit dem Mädchen, mit dem du verlobt warst?«, fuhr der Bruder fort und begann sich für das Thema zu erwärmen. »Sie hat deinem Bruder den Vorzug gegeben, nicht wahr? Deinem Bruder, der dich hier verrotten lässt, nach allem, was du für ihn getan hast. Vielleicht solltest du die Tatsachen akzeptieren, Lucas. Niemand braucht deine Hilfe. Niemand will die Freiheit, die du den Leuten unbedingt schenken willst.«


Lucas wollte etwas erwidern, aber er wurde durch das Geräusch von sich nähernden Schritten unterbrochen, die nur eines bedeuten konnten. Er drehte sich um und bereitete sich mental auf die Nachricht vor.


Es war Christopher, der Chef der Polizeigarde, das Gesicht kreidebleich. »Es wird schon wieder jemand vermisst«, stieß er hervor, und sein Keuchen verriet, dass er den ganzen Weg vom Polizeigebäude hierher gerannt war. »Gabrielle Marchant. Ich habe bereits einen Suchtrupp losgeschickt, aber …«


»Nichts aber«, meinte Lucas entschlossen und biss die Zähne aufeinander. »Wir werden jeden Winkel in der Stadt durchkämmen. Wir werden sie finden.«


Gabby stolperte, fiel hin und rappelte sich wieder auf. Die Straßen waren menschenleer, alle waren bei der Arbeit, und sie war jetzt sowieso schon viel zu weit weg. Sie hätte in ein Haus laufen können, in die Bäckerei, aber irgendwie war ihr klar, dass sie sie schnappen würden, bevor sie die Tür öffnen konnte. Deshalb musste sie aus dem Stadtzentrum ins umliegende Niemandsland fliehen. Ihre einzige Chance war, dass sie schneller war als ihre Verfolger. Sie konnte sie hinter sich hören. Sie hatte keine Ahnung, wie viele es waren oder wie sie aussahen. Sie wusste nur, dass sie hinter ihr her waren, wie Clara es vorausgesagt hatte. Sie wollten sie holen, wie sie schon die anderen geholt hatten.


Es hatte abstrus geklungen, was Clara gesagt hatte, so wie die Geschichten, die ihre Eltern ihr über die Welt vor der Gründung der Stadt erzählt hatten, über die Bösen, die außerhalb der Stadtmauer lebten, und über die tausend Gefahren, von denen sie ständig bedroht waren. Und obwohl sie die Furcht in Claras Augen und das Zittern in ihrer Stimme bemerkt hatte, hatte sie es nicht richtig verstanden. Clara hatte sie gewarnt. Sie hatte ihr gesagt, dass alle, die etwas wussten, verschwunden waren, dass die Fremden irgendwie davon erfuhren; dass sie alles vergessen musste, was Clara ihr erzählt hatte, und dass sie es keiner Menschenseele verraten durfte. Aber Gabby hatte nur gelächelt und genickt, weil Clara selbst nicht verschwunden war. Nach Gabbys Ansicht war das eine wesentliche Schwachstelle in der Geschichte.


Jetzt begriff sie, wie dumm sie gewesen war. Aber jetzt war es zu spät.


Nein, es war noch nicht zu spät. Es war nie zu spät.


Gabby holte tief Luft. Sie wusste, dass sie jedem entkommen konnte, wenn sie es versuchte. Sie würde es schaffen. Sie musste es schaffen. Wenn sie nur irgendwie über die Stadtmauer kommen könnte, dann würde sie einfach immer weiterrennen und ihre Verfolger würden aufgeben. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, und auf einmal blieb ihr fast das Herz stehen, als sie hinter sich das Laub rascheln hörte. Sie waren ihr dichter auf den Fersen, als sie gedacht hatte.


Mit angstgeweiteten Augen beschleunigte sie das Tempo. Sie war noch zu weit von der Stadtmauer entfernt. Sie überlegte, ob sie sich einfach auf den Boden fallen lassen und ihre Verfolger anflehen sollte …


Aber das hätte keinen Sinn. Flucht war ihre einzige Hoffnung. Angsterfüllt rannte sie in Richtung der Sümpfe auf die Mauer zu, die die Bewohner vor den Bösen beschützt hatte, die Mauer im Osten, die jetzt die einzige Chance war, ihren Verfolgern zu entkommen. Es war der einzige Abschnitt der Mauer, der nicht bewacht wurde, der einzige Abschnitt, wo ein Fluchtversuch gelingen könnte. Den Gedanken, dorthin zu laufen, wo die Wachen standen, und diese um Hilfe zu bitten, verwarf sie rasch wieder. Die Wachen hatten die anderen ja auch nicht beschützt. Wenn Clara recht hatte, mussten die Wächter die Fremden in die Stadt gelassen haben. Sie konnte niemandem trauen.


Gabby näherte sich jetzt der Mauer und sah das Tor. Wenn sie es doch nur bis dorthin schaffte, wenn sie diesen Ort doch nur verlassen könnte…


Vor ihr tauchte ein kleines baufälliges Haus auf, umgeben von Sumpfland. Das Haus des Torwächters. Sie stürzte darauf zu, hämmerte gegen die Tür und versuchte, den Riegel zu öffnen. Aber ihre Hände waren schweißnass, und sie war zu verzweifelt, um den Sinn und Zweck der Türklinke vor ihr zu verstehen. Sie schrie um Hilfe und begann zu zittern, als sie ihre Verfolger näher kommen hörte. Sie drehte sich um, und ihr stockte der Atem, als sie sie zum ersten Mal sah. Sie waren zu zweit und kamen lächelnd auf sie zu. Sie lachten über sie, über ihre Angst, ihr Entsetzen, lachten, weil sie nirgendwohin konnte, weil es vorbei war, weil sie gewonnen hatten … Gabby schloss die Augen und wartete.



5


Die Nachricht hatte sich rasch verbreitet und Männer und Frauen auf die Straße getrieben. Als Lucas ins Freie trat, kam es bereits zu Menschenansammlungen. Das Verschwinden der jungen Leute hatte den Menschen in der Stadt Angst gemacht. Die Mauer, die Regeln, die ganze Stadt gründete auf dem Bestreben, die Bürger vor dem Bösen zu beschützen. Die Tatsache, dass Jugendliche einfach aus der Stadt verschwanden, war nur schwer zu ertragen und erschütterte die Stadt in ihren Grundfesten.


Die Leute musterten Lucas argwöhnisch, als er in das Gedränge trat, aber keiner sagte ein Wort. Immerhin war er ihr Anführer, und trotz allem, was passiert war, war man ihm noch nicht mit offener Feindschaft begegnet, auch wenn er täglich damit rechnete. In gewisser Weise hatte er das dem Bruder zu verdanken; nicht weil der Bruder etwas dafür tat, sondern weil dieser ein Klima der Angst geschaffen hatte, das immer noch fortbestand. Das System war zwar seit einem Jahr abgeschaltet, aber die Bürger der Stadt hüteten sich noch immer, Fragen zu stellen oder etwas zu tun, was unter dem alten Regime als verdächtig angesehen wurde. Außerdem war Lucas ein A, war immer ein A gewesen. Obwohl er den Leuten ständig erklärte, dass Ränge nichts bedeuteten und dass man Menschen nicht auf diese Weise in Kategorien einteilen konnte, war er sich bewusst, dass sein früherer Rang ihn immer noch schützte und ihm eine Autorität verlieh, die er sonst nicht hätte. Dafür war er dankbar, auch wenn der Gedanke ihn belastete. Manchmal jedenfalls.


»Mit wem war sie zuletzt zusammen? Wer kennt sie? Wo sind ihre Freunde?« Lucas stellte dieselben Fragen, die schon früher gestellt worden waren, obwohl er wusste, was ihn erwartete: ausdruckslose Gesichter, sprachlose Teenager. Die Freunde und Bekannten der Verschwundenen waren unermüdlich vernommen worden, einzeln und gemeinsam, und alle hatten beteuert, dass sie nichts wüssten und nichts sagen könnten.


»Ihr habt sie gestern zuletzt gesehen?« Die Teenager sahen ihn verdutzt an, alle zuckten die Achseln und nickten. Sie hatten Angst. Natürlich. Jeder hatte Angst. »Und was dann?«


»Heute Morgen sind wir zur Arbeit gegangen, aber sie kam nicht«, sagte ein Mädchen.


»Wie heißt du?«


»Clara«, antwortete das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen. Sie fürchtet sich, dachte Lucas. Aber da war noch etwas anderes.


»Sie wissen nichts«, meinte ein Mann herablassend. »Sie war heute Morgen zu Hause. Sie ist zwischen 7.30 Uhr, als sie das Haus verlassen hat, und 8.00 Uhr, als sie nicht am Arbeitsplatz erschienen ist, verschwunden. Wir müssen anfangen zu suchen und dürfen keine Zeit verlieren.«


»Und dir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen, als du sie das letzte Mal gesehen hast? Hat sie nichts zu dir gesagt?«, fuhr Lucas fort und behielt das Mädchen dabei genau im Auge, um herauszufinden, woran es lag, dass er den Drang verspürte, weiter nachzuforschen.


Das Mädchen schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ich weiß nicht. Wir haben gestern Abend Ball gespielt. Nur gespielt …« Die Kleine schluckte und Tränen stiegen ihr in die Augen. Ein Mann stellte sich schützend neben sie. Ihr Vater.


»Sie weiß nichts. Wir sollten keine Zeit mehr vergeuden und mit der Suche anfangen.«


Lucas nickte zögernd. »Okay«, sagte er. »Das übliche Vorgehen.«


Die Leute teilten sich in Gruppen auf, bestimmten die Gebiete, wo gesucht werden sollte, und einigten sich darauf, wie sie die Berichterstattung organisieren wollten für einen schnellen und effektiven Informationsaustausch. Sie suchten den ganzen Tag, ohne Pause, und bis in den Abend hinein. Als es dunkel wurde, wurden die Frauen und die jüngeren Leute nach Hause geschickt, und die Männer setzten die Suche fort. Bei Tagesanbruch waren nur noch Lucas und Gabrielles Vater, Gabrielles Onkel und die Arbeitskollegen ihres Vaters unterwegs. Sie vermieden es, einander anzusehen, und keiner wagte auszusprechen, was insgeheim jedem klar war – dass Gabrielle verschwunden war, genau wie die anderen Jugendlichen, und dass sie sie nicht finden würden.


Am Morgen gingen die Menschen wie gewohnt zur Arbeit. Übernächtigt brach Lucas die Suche ab, schickte die Männer nach Hause zum Schlafen und entband sie für den restlichen Tag von ihren Pflichten. Sie gehorchten nur widerstrebend. Lucas sah ihnen mit ernstem Gesicht nach, dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Er wollte nicht schlafen. Er konnte nicht. Er hatte das Gefühl, als würde er nie mehr schlafen können.


Die Menschen starrten Lucas an, als er vorbeiging, aber Lucas achtete kaum darauf. Mittlerweile war er immun gegen diese Art Aufmerksamkeit, und er hatte gelernt, es zu verdrängen. Er senkte den Kopf, zog den Mantel fest um sich und ging weiter. Der Bruder hatte recht, er konnte nicht gut mit Menschen umgehen, und es fiel ihm schwer, beruhigende Worte zu finden und Kontakt herzustellen. Ein Leben lang hatte er seine Gefühle unterdrückt, und jetzt war er nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt welche hatte. Er wusste nur, wie man ruhig, cool und gefasst blieb und so tat, als hätte man keine Angst und als hätte man alles im Griff.


Aber er hatte beileibe nicht alles im Griff. Während er so ging, begann er plötzlich zu zittern, nicht vor Kälte, sondern weil die Gefühle ihn übermannten. Er hatte versagt. Er hatte die Stadt im Stich gelassen.


Er hatte seinen Vater im Stich gelassen.


Auf einmal merkte er, dass er einen Bärenhunger hatte. An der Ecke war eine Bäckerei. Er ging hinein und kaufte einen Laib Brot und zwei Brötchen. Essen würde dafür sorgen, dass er durchhielt, und ihm helfen, gegen die Zweifel anzukämpfen, die in seinem Kopf kreisten wie Geier, um beim kleinsten Anzeichen von Schwäche zuzuschlagen. Das durfte er nicht zulassen. Sobald er die verschwundenen Teenager gefunden hätte, wollte er eine Entscheidung treffen: Vielleicht würde er dann die Stadt verlassen. Aber bis dahin musste er stark und konzentriert sein.


Er senkte wieder den Kopf und ging weiter. Als er gerade um die Ecke auf die Hauptstraße bog, wo sich die Regierungsgebäude befanden, blieb er stehen, weil plötzlich ein Mädchen neben ihm auftauchte, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Dann fiel ihm ein, dass es das Mädchen von letzter Nacht war.


»Clara?«, sagte er.


Sie sah überrascht aus, weil er sich an ihren Namen erinnerte, und nickte.


»Ist dir noch etwas eingefallen? Etwas, was du mir erzählen willst?«


Das Mädchen sah ihn misstrauisch an. Ihre Fingernägel waren abgekaut, ihre Augen blutunterlaufen. Lucas nahm an, dass sie auch nicht geschlafen hatte.


»Erzähl mir, was du weißt«, sagte er ruhig. »Du kannst mir vertrauen. Ich möchte nur deine Freundin finden.«


Sie biss sich auf die Lippen. »Sie haben früher das System geleitet, nicht wahr?«


Lucas nickte. »Ja.«


»Und Ihr Bruder … Raffy, meine ich. Er hat den Fehler entdeckt. Wegen ihm haben Sie … wurde das System abgeschaltet?«


»Mehr oder weniger«, erwiderte Lucas achselzuckend. »Das System hätte nie in Betrieb genommen werden dürfen. Nicht so. Eigentlich sollte es uns beschützen, aber stattdessen hat es sich zu einem Tyrannen entwickelt und uns kontrolliert. Deshalb haben wir es abgeschaltet.«


Clara nickte unsicher.


»Niemand hört uns«, sagte Lucas. »Wenn du mir etwas sagen willst, wird es niemand anders erfahren.«


Clara blickte erschrocken auf. »Aber das ist es ja gerade. Sie werden es doch erfahren. Wenn ich es Ihnen erzähle, werden Sie auch verschwinden«, flüsterte sie. »Sie können alles hören.«


Lucas sah sie zweifelnd an. »Sie


Clara schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wichtig«, sagte sie und ging.


»Und ob das wichtig ist«, erwiderte Lucas und lief hinter ihr her. »Clara, rede mit mir. Von wem redest du? Wer kann alles hören?«


Clara schüttelte wieder den Kopf, sie hatte Tränen in den Augen. »Ich kann nicht«, flüsterte sie.


»Doch, du kannst«, sagte Lucas bestimmt. »Und du musst. Von wem redest du? Wer sind diese Leute?«


Clara sah sich verstohlen um. Angst lag in ihrem Blick, und sie biss sich besorgt auf die Lippen. »Die Spitzel«, flüsterte sie. »So nennen wir sie. So haben wir sie genannt, meine ich. Sie lassen alle verschwinden. Und ich bin die Nächste. Ich weiß es. Ich bin die Einzige, die noch übrig ist.« Ihre Stimme bebte, und als Lucas näher kam, bemerkte er, dass sie am ganzen Körper zitterte.


»Du wirst nicht die Nächste sein«, sagte er mit grimmiger Miene. »Sag mir, was du weißt, und ich werde dich beschützen.«


Clara schüttelte den Kopf und sah sich nervös um.


»Sind sie hier?«, fragte Lucas.


»Sie sind überall«, flüsterte das Mädchen.


Lucas überlegte eine Weile, dann nahm er ihre Hand. »Komm mit«, sagte er, schlug den Mantelkragen hoch und senkte den Kopf. »Ich kenne einen sicheren Ort, wo wir reden können.«


Während Lucas und Clara mit etwas zittrigen Beinen losliefen, dachte Lucas daran, wie Evie sich gefühlt haben musste, als sie sich Nacht für Nacht aus dem Haus schlich und denselben Weg nahm, wohl wissend, dass ihr Leben eine schreckliche Wendung nehmen würde, falls sie erwischt wurde.


Er musste daran denken, wie ihm zumute gewesen war, als er auf dem Bildschirm des Systems beobachtet hatte, wie sich der kleine rote Punkt, der für das Mädchen stand, das er heiraten sollte, auf einen anderen Punkt, seinen Bruder, zubewegte. Er erinnerte sich, dass er wie angewachsen auf dem Stuhl saß, unfähig sich zu bewegen, als die Punkte sich einander näherten und schließlich zu einem Punkt verschmolzen. Nach etwa einer Stunde trennten sie sich wieder. Lucas wartete immer, bis Evies Punkt wieder im Haus war, wo er hingehörte. Dann löschte er die Information fein säuberlich, um Evie und seinen Bruder zu schützen und sämtliche Beweise für ihre heimlichen Treffen zu vernichten. Dabei redete er sich ein, dass seine Magenschmerzen von der Angst um die beiden kamen und nichts mit Neid oder dem verzweifelten Verlangen zu tun hatten, der Punkt zu sein, den ihr Punkt suchte …


Lucas hatte Evie immer geliebt. Und jetzt, da sie fort war, hatte er das Gefühl, als wäre er von dunklen Wolken umgeben. Ohne sie gab es für ihn in der Stadt nichts, woran er sich erfreuen konnte. Ohne sie war er zum Scheitern verurteilt, denn er wusste nicht, was er tun sollte, und es gelang ihm nicht, gegen die Wogen der Verzweiflung anzukämpfen, die ihn mitzureißen drohten.


Doch es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Sie war fort und sie würde nicht zurückkommen. Sie gehörte ihm nicht und würde ihm auch nie gehören. Er hatte die Stadt, und um die musste er kämpfen, so wie er es sein Leben lang getan hatte.


Nach zehn Minuten waren Lucas und Clara am Ziel. Der Baum, wo sich die beiden Punkte gefunden hatten, war riesig, eindrucksvoll und großartig; er war höher als alle Gebäude, die aus der Vergangenheit übrig geblieben oder die seither erbaut worden waren. Lucas ging dorthin, fand die Öffnung und führte Clara ins Innere, wo sie sich erstaunt umsah. In dem Stamm war es behaglich, wie im Mutterleib, ein sicherer Hafen. Weiter hinten lag eine Decke. Lucas hob sie auf und breitete sie auf dem feuchten Boden aus.


»Setz dich«, sagte er zu Clara. »Hier sind wir sicher. Erzähl mir alles, was du weißt, und ich verspreche dir, dass du beschützt wirst.«


Clara sah sich zaghaft um.


»Was ist das für ein Ort?«, flüsterte sie.


»Nur ein Versteck«, erklärte Lucas und setzte sich ihr gegenüber. Er versuchte, die Leere, die sich in ihm ausgebreitet hatte, und das verzweifelte Verlangen nach Evie, das ihn schon den größten Teil seines Lebens quälte, zu verdrängen. »Hast du Hunger?«


Er holte das Brot hervor, brach für Clara ein Stück ab und gab ihr dazu noch ein Brötchen. Den Rest schlang er in Sekundenschnelle hinunter. Clara folgte seinem Beispiel. Dann holte sie tief Luft.


»Wollen Sie es wirklich wissen?«, fragte sie. »Denn die werden es erfahren. Und sie werden kommen, um Sie zu holen. Deshalb ist Gabby … Wissen Sie, ich habe es ihr erzählt. Sie hat geahnt, dass ich etwas weiß. Sie hat gesehen, wie wir miteinander geflüstert haben. Ich und die … die Verschwundenen. Sie hat mich regelrecht angefleht. Ich wollte es nicht, aber … Ich hatte niemanden, mit dem ich sonst hätte reden können. Ich hatte Angst, weil ich dachte, ich wäre die Nächste. Ich hätte eigentlich die Nächste sein müssen. Und jetzt ist sie weg. Verschwunden. Sie wollten mich bestrafen, weil sie uns eingeschärft hatten, es keinem zu erzählen. Und jetzt sind sie hinter mir her. Oder hinter Ihnen. Vielleicht stehen sie jetzt schon draußen. Sie könnten auch hinter Ihnen her sein …« Sie zog die Knie an und schluchzte leise. »Und es macht mir noch nicht mal was aus, ich will einfach nur, dass es vorbei ist. Ich will nur, dass es aufhört.«


Clara sah Lucas ängstlich an.


»Erzähl mir, was du weißt«, sagte er ruhig. »Sag, wer dahintersteckt, und ich werde …« Er brach ab, er konnte den Satz nicht beenden. Er würde sie töten. Ja, das würde er. Diesmal würde er keine Gnade walten lassen und seine Rachsucht unterdrücken. Ehre zählte bei solchen Leuten nicht. Er begegnete Claras Blick. »Ich werde sie aufhalten. Verstehst du?«


Clara hob eine Braue. »Dabei wollte ich gar nicht gehen«, schniefte sie und blickte zu Boden. »Ich wollte nicht in das blöde Krankenhaus.«


»Das Krankenhaus?« Lucas runzelte die Stirn.


»Da hat alles angefangen«, sagte das Mädchen zitternd. »Da haben wir sie gesehen.«


»Die Spitzel?«


Clara nickte.


Es sei ein Wagnis gewesen, erklärte sie, weil der Seitenflügel des Krankenhauses, in dem die Neutaufen vorgenommen wurden, verschlossen gewesen sei und sie sich unbedingt dort umsehen wollten.


Es war die Idee ihres Freundes Edward gewesen, in das Krankenhaus einzubrechen. Er hatte geprahlt, hatte sich einen Kuss von Clara ausbedungen, mit einem Funkeln in den Augen, das sie aufregend fand. Also waren sie zu siebt losgezogen, durch den Haupteingang geschlüpft, die Treppe hochgerannt und so in den Fisher-Flügel gelangt. Dort gab es jedoch nur eine verschlossene Tür und undurchdringliche, fensterlose Wände.


»Los, gehen wir wieder«, hatte Clara sofort gesagt. Da gab es nichts, jedenfalls nichts Interessantes, und das Krankenhaus war ihr nicht geheuer. Aber Edward wollte noch nicht aufgeben.


»Ich dachte, in der Stadt darf es keine Geheimnisse mehr geben«, sagte er und zog eine Braue hoch, als betrachtete er das als Herausforderung. »Wir sollen doch jetzt selbstständig denken, oder? Wurde das System nicht genau aus diesem Grund zerstört? Also, ich denke gerade selbstständig. Und ich denke, ich will sehen, was hinter dieser Wand ist. Ihr nicht? Los, wir gehen von hinten rein.«


Edward zwinkerte Clara zu, nahm sie bei der Hand, lief den Korridor zurück und bog kurz darauf links um die Ecke. Die anderen rannten hinterher. Sie wussten, was hinter der Tür war und was Edward sehen wollte. Der Fisher-Flügel. Der Ort, wo die Neutaufen stattfanden. Oder die Verstümmelungen, je nachdem, wem man glauben wollte.


Sie gingen eine Schleife und gelangten in einen kleinen Raum, wo es nach Wäsche roch. Dort suchten sie nach einer anderen Möglichkeit, in den Seitenflügel zu gelangen, nach einer Hintertür oder so etwas.


»Hier!«, rief Clara plötzlich, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Da war eine schmale Öffnung in der Wand. Verschlossen zwar, aber leicht aufzubrechen. Eine Durchreiche für die Wäsche. »Meint ihr, wir kommen da durch?«, fragte sie die anderen, die gleich zu ihr gerannt waren, und sie begann innerlich zu glühen, als Edward ihr einen triumphierenden Blick zuwarf.


»Ich denke, das schaffen wir auf jeden Fall«, meinte er grinsend und zog sich an der Öffnung hoch. Gerade als er sich hindurchzwängen wollte, waren auf der anderen Seite der Öffnung Schritte und gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Männer. Im Fisher-Flügel. Leise ließ sich Edward wieder auf den Boden gleiten.


»Und wenn das System nicht mehr zu retten ist?«


»Natürlich ist es zu retten. Der Bruder will uns nur hinhalten, das ist alles. Er meint, je länger es dauert, desto besser kann er verhandeln. Aber wir brauchen ihn nicht. Wir brauchen den Jungen. Raffy. Wenn wir ihn finden, können wir den Bruder beseitigen. Er wird allmählich zu anstrengend. Zu schwierig.«


»Was ist mit Lucas?«


Ein Seufzer war zu hören. »Zuerst müssen wir seinen Bruder Raffy finden. Dann kümmern wir uns um Lucas.«


Clara hatte nicht bemerkt, dass Harriet rot anlief und dass ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. Erst als sie hustete und ein Taschentuch hervorzog, um das Geräusch zu dämpfen, begriff Clara, dass Harriet verzweifelt versuchte, den Husten zu unterdrücken.


In dem Moment waren die Schritte und die Stimmen verstummt. Clara und ihre Freunde waren wie erstarrt und warfen sich ängstliche Blicke zu. Nur Sekunden später standen die Männer hinter ihnen im Wäscheraum und starrten sie an. Sie trugen schwarze Jacken und schwarze Hosen. Ihre Gesichter waren streng und undurchdringlich.


»Sie sind hier«, rief einer der Männer. Sie traten zur Seite und ein weiterer Mann betrat den Raum. Nachdem er sich einen Überblick über die Szene verschafft hatte, kniff er die Augen zusammen und betrachtete prüfend jedes einzelne Gesicht.


»Ihr wisst, wer wir sind?«, fragte er dann, und Clara erkannte die Stimme sofort: Das war der Mann, der zuvor über Lucas und den Bruder geredet hatte.


Clara schüttelte den Kopf. Sie sah, dass Harriet am ganzen Leib zitterte.


Der Mann starrte sie an. »Wir sind die Spitzel. Wir erstatten Bericht über Leute, die gegen die Regeln verstoßen. Und ihr habt gegen die Regeln verstoßen. Das werdet ihr noch bereuen. Und falls ihr mit irgendeiner Menschenseele darüber sprecht, wird derjenige es ebenfalls bereuen. Das ist keine leere Drohung. Wir sind aus einem bestimmten Grund in der Stadt. Habe ich mich klar ausgedrückt? Vielleicht sollte ich noch deutlicher werden. Du. Edward. Komm mit.« Er sah Edward mit ernstem Gesicht an und der wich zurück.


»Ich sagte, komm mit«, wiederholte der Mann mit gedämpfter, aber bedrohlicher Stimme. Die beiden anderen Männer gingen auf Edward zu. Der begann zu zittern, und als er weglaufen wollte, packten sie ihn und schleiften ihn aus der Wäschekammer. Clara hörte ihn eine Weile schreien und rufen, dann war es plötzlich still.


»Ihr solltet jetzt gehen«, sagte der Mann mit einem leisen Lächeln. »Und bitte denkt daran: Wenn ihr auch nur ein Wort ausplaudert von dem, was ihr gesehen oder gehört habt, dann seht ihr Edward nie wieder. Und natürlich wissen wir, wer ihr seid und wo ihr wohnt.« Er lächelte sie an, verließ mit einem Achselzucken den Raum und schloss die Tür hinter sich.


»Was ist dann passiert?«, fragte Lucas atemlos, und sein Herz klopfte wie wild.


Clara atmete tief durch. »Wir haben das Krankenhaus verlassen und sind davongerannt, so schnell wir konnten.«


»Und habt ihr es irgendjemandem erzählt?«


Clara schüttelte den Kopf. »Das konnten wir nicht. Wegen Edward. Wegen dem, was der Mann gesagt hat. Die wissen, wer wir sind. Wir konnten es nicht erzählen. Wir konnten nicht …«


Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie wischte sie verstört weg.


»Was ist dann passiert?« Lucas versuchte, ruhig zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, wie wütend er war und wie gern er gleich zum Krankenhaus gelaufen wäre, um diese Männer mit bloßen Händen in Stücke zu reißen. Wer waren sie? Was hatten sie in seiner Stadt zu suchen? Wie konnten sie es wagen, über Raffy zu reden, als ob sie ihn kennen würden?


»Nichts. Wir haben darauf gewartet, dass Edward zurückkommt. Aber er kam nicht. Eine Woche später ist Harriet verschwunden und eine Woche darauf ihr jüngerer Bruder. Ich weiß, dass keiner von ihnen irgendjemandem etwas erzählt hat. Sie hatten so große Angst, dass sie nicht einmal mit mir darüber gesprochen haben. Trotzdem sind sie verschwunden. Und dann auch alle andern. Schließlich war nur noch ich übrig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte nicht rausgehen, ich konnte nicht schlafen, ich konnte nicht in den Spiegel schauen vor lauter Angst, sie könnten plötzlich hinter mir stehen. Und dann …«


Sie hielt inne.


»Was dann?«, sagte Lucas sanft, um sie zum Weiterreden zu bewegen.


»Dann habe ich es Gabby erzählt. Sie ist meine beste Freundin, und sie hat geahnt, dass ich etwas wusste. Sie hat gesagt, ich müsste ihr das große Geheimnis verraten, und sie wollte wissen, warum ich nicht mehr mit ihr rede und warum ich nicht über die Verschwundenen sprechen will, so wie die anderen. Und … dann habe ich ihr alles erzählt. Ich … ich habe meine beste Freundin auf dem Gewissen.« Sie schluchzte und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Mit flehendem Blick sah sie zu Lucas auf.


»Was machen wir jetzt?«, fragte sie, wischte die Tränen weg und schniefte verzweifelt.


Lucas sah sie eine Weile an, bis er das eben Gehörte richtig begriffen hatte. Zugleich versuchte er, die Wut zu unterdrücken, die in ihm hochstieg. Gerade jetzt musste er besonnen bleiben. Es war seine Pflicht, Clara zu beschützen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: Es war seine Schuld, dass Clara und ihre Freunde sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatten. Hätten er und Linus das System nicht zerstört, wären sie und ihre Freunde zu Hause geblieben, hätten ihre Aufgaben erledigt und es nicht gewagt, miteinander zu sprechen, es sei denn, es wäre ausdrücklich erlaubt gewesen. Die Regeln, die sie eingeschränkt hatten, hatten sie gleichzeitig geschützt. »Bist du die Letzte aus der Gruppe? Gibt es noch jemanden, der die Spitzel gesehen hat oder der etwas über sie weiß?«


»Ich bin die Letzte.« Clara nickte.


Demnach war niemand sonst in unmittelbarer Gefahr. Aber Clara … Er konnte Clara beschützen. Eine von sieben. Es war erbärmlich. Einfach zum Heulen. Aber immerhin etwas. Rache und Gerechtigkeit mussten warten. »Wenn das so ist«, meinte Lucas, »müssen wir dich jetzt von hier wegbringen. Verstehst du? Wir müssen die Stadt verlassen, und zwar auf der Stelle.«


Clara sah zu ihm auf, und er war erstaunt, dass keine Angst in ihrem Blick lag, sondern Erleichterung. Erleichterung darüber, dass er ihr geglaubt hatte und dass er verstand. »Ja«, sagte sie ruhig und erhob sich.



6


Lucas nahm nicht an, dass sie noch verfolgt wurden. Sie hatten keine Spuren hinterlassen und nirgends haltgemacht. Durch dunkle Seitenstraßen und auf verborgenen Pfaden waren sie bis an den Stadtrand gelangt und dann durch das umliegende Ödland gerannt, bis sie den Wachposten am Osttor erreichten, eine kleine Hütte in der Nähe eines großen Sumpfgebiets, die Lucas schon ein paarmal aufgesucht, die er aber wegen des widerlichen Gestanks nie betreten hatte.


Die offizielle Bezeichnung für Rab war »Torwächter«, obwohl er und der Bruder genau wussten, dass Rab keine Kontrollgänge machte. Er war ein fieser Kerl, ein kleiner untersetzter Schlägertyp, für den in der Stadt kein Platz war. Aber er hatte keine Angst vor dem Alleinsein, keinerlei Skrupel, eine Waffe zu benutzen, und keine Achtung vor den Menschen, auch nicht vor dem Bruder – die idealen Voraussetzungen, um in dieser baufälligen Hütte beim Osttor zu wohnen und zu kontrollieren, was dort vor sich ging.


In Wahrheit hatte es noch nie jemand ohne Erlaubnis aus der Stadt hinausgeschafft. Von Zeit zu Zeit waren die »Bösen« zur Stadtmauer gebracht worden, um den Menschen, die in der Stadt lebten, Angst einzujagen, aber sie waren keine wirkliche Bedrohung. Sie waren nur Opfer misslungener Hirnoperationen, Gefangene der Stadt, die wie Tiere behandelt und in Lagern außerhalb der Stadt gehalten wurden. Nur hin und wieder waren sie dort herausgeholt worden, damit sie mit ihrem Schreien und ihrem Stöhnen die Stadtbewohner daran erinnerten, wie froh sie sein konnten, dass sie innerhalb der Mauer lebten.


Mittlerweile wurden die Versehrten anständig versorgt und nicht mehr ausgebeutet, und sie lebten friedlich etwas entfernt von der Stadt, die sie zerstört hatte. Die einzigen Fremden, die durch die Stadttore kamen, waren zukünftige Bürger, die von den teils wahren, teils falschen Gerüchten angelockt worden waren, dass es in der Stadt sauberes Wasser im Überfluss und genug zu essen gebe und dass man dort sicher sei; ein Ort, wo gute Menschen lebten und wo Ordnung herrschte. Vor ein paar Jahren hatte der Große Anführer seine stümperhaften Experimente abgebrochen. Jetzt, da keine Notwendigkeit mehr bestand, mit Menschen zu experimentieren und sie zu verstümmeln, wurden die erwartungsvollen Einwanderer abgewiesen und ins Ödland zurückgeschickt, von wo sie gekommen waren. Die eigentliche Aufgabe der Wachposten hatte darin bestanden, die Bürger daran zu hindern, die Stadt zu verlassen und mit eigenen Augen zu sehen, was außerhalb der Stadtmauer war. Indem der Bruder die Angst der Bürger schürte vor dem, was jenseits der Mauer lag, hoffte er, sein totalitäres Regime durchsetzen zu können, und das bedeutete, dass er ein Gefängnis schaffen musste, aus dem es kein Entkommen gab.


Gleich zu Anfang hatte Lucas es sich zum Ziel gesetzt, die Tore zu öffnen und den Menschen die Welt dort draußen zu zeigen. Aber aus Vorsicht hatte er sein Vorhaben aufgeschoben, denn er fürchtete, dass die Bürger noch nicht so weit waren. Und dann war durch das Verschwinden der jungen Leute alles anders geworden. Jetzt war es undenkbar, die Tore zu öffnen.


»Rab«, rief Lucas. Obwohl er den Wächter des Osttors nicht mochte, musste dieser ihm noch ein paar Fragen beantworten, bevor er die Stadt verließ. Nach einer Weile erschien Rab. Vor zwanzig Jahren hatte er in einer Menschenschlange vor der Stadtmauer gewartet und um Einlass gebettelt. Wie alle zukünftigen Bürger war er bereit gewesen, sich der Neutaufe zu unterziehen und die »böse« Amygdala aus seinem Gehirn entfernen zu lassen, nicht wissend, dass die Operation ihn keineswegs von schlechten Gedanken befreien, sondern dass sie aus ihm einen Gehirnamputierten machen würde. Durch Zufall war der Bruder auf Rab aufmerksam geworden, als dieser sich in einem Wartezimmer des Krankenhauses mit einem anderen Patienten stritt, und hatte ihn für nicht therapierbar erklärt. Auf dem Weg zurück zur Stadtmauer hatte Rab gebettelt und gefleht und versprochen, dass er alles tun würde, wenn er nur bleiben dürfe. Der Bruder erkannte, dass er Rabs Verzweiflung, dessen Wut und dessen Hang zur Selbstzerstörung für seine Zwecke nutzen konnte. Schließlich stimmte er der Operation zu, ließ Rab einen Chip ins Gehirn einpflanzen und schickte ihn los, damit er für ihn arbeitete. Am Tag, als der Bruder Lucas das erste Mal zu Rab mitgenommen hatte, hatte er ihm die Geschichte voller Stolz erzählt. Damals war Lucas der Goldjunge des Bruders gewesen, die Person, der er am meisten vertraute. Damals sagte der Bruder die Wahrheit, weil er überzeugt war, dass Lucas ihn verehrte und dass er die Welt mit seinen Augen sah, die Welt, in der nur eines zählte: Macht.


Aber jetzt war alles anders.


»Da bist du ja endlich.« Rab sah ihn misstrauisch an. »Ich habe schon gewartet.«


Lucas starrte ihn an. »Tatsächlich?«


»Die Fliegen. Deswegen bist du doch gekommen?«


»Fliegen?«, fragte Lucas unsicher.


»Ja«, erwiderte Rab und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf Clara. Rab redete nur wenig; seit Lucas ihn kannte, hatte er ihn kaum ein Wort sagen hören. Rab zog es vor zu grunzen, wenn er eine Anordnung befolgen wollte, oder er äußerte sein Missfallen mit einem verächtlichen Blick. »Schrecklich«, sagte er und sah dabei wieder Lucas an. »Es sind Tausende. Sie kommen von da drüben. Irgendwas liegt in der Luft.«


Lucas drehte sich um und schaute in die Richtung, in die Rab deutete.


Tatsächlich war in der Ferne eine kleine schwarze Wolke zu erkennen. Obwohl sie noch ein paar Hundert Meter weit weg war, konnte Lucas ein schwaches Summen vernehmen, eine Armee, die sich für die Schlacht rüstete. Er dachte einen Moment nach, bevor er eine Entscheidung traf.


»Das ist Clara«, sagte er. »Sie arbeitet mit mir zusammen. Also, die Fliegen. Wie lange sind sie schon da?«, fragte Lucas schroff. Er ging in Richtung Sumpf, zu dem Pfad, der zum Tor führte, und forderte Clara mit einem Wink auf, ihm zu folgen. »Ich war erst letzte Woche hier. Da waren sie noch nicht da.«


Rab zuckte die Schultern. »Ein paar Tage«, sagte er. »Ich hab es dem Bruder gesagt. Der hat gesagt, er würde jemanden schicken. Aber es kam niemand. Ich hätte selber nachgesehen, wenn du mir nicht den Schlüssel weggenommen hättest.«


Lucas zählte stumm bis drei. »Du hast es dem Bruder gesagt? Nicht mir? Obwohl ich dir ausdrücklich befohlen habe, an mich Meldung zu machen?«


Wieder zuckte Rab die Schultern. »Jetzt bist du ja da.«


Lucas wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders; es hatte keinen Sinn, mit Rab zu streiten. Nicht jetzt. Stattdessen ging er in Richtung der Wolke, und Rab folgte ihm. »Erzähl mir was über die Spitzel«, sagte er.


Rab sah ihn lange an. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Spitzeln«, grunzte er. »Fliegen sind kein gutes Zeichen.«


»Nein«, stimmte Lucas zu. Dann blieb er stehen und sah Rab in die Augen. »Du weißt nichts über die Spitzel? Bist du sicher?«


Rab blickte ihn eine Weile an und zuckte dann die Achseln. »Kümmere dich um die Fliegen. Vielleicht fällt mir ja inzwischen was ein«, meinte er.


Lucas wurde allmählich ungeduldig, aber schließlich beruhigte er sich wieder. Er wollte Clara nicht erschrecken. Außerdem hatten sie nicht viel Zeit und sie brauchten Informationen. Das bedeutete, er musste Rabs Spiel mitspielen und durfte nicht die Beherrschung verlieren.


Schweigend gingen sie um Rabs Hütte herum und gelangten zu dem aufgeschütteten Pfad, der durch den Sumpf zum Osttor führte. Rab ging voraus, gefolgt von Lucas, und dahinter Clara. Obwohl Lucas hinsichtlich der Körpergröße gegenüber Rab im Vorteil war, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass er sich beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Je näher sie dem Tor kamen, desto lauter wurde das Summen. Es war fast unerträglich. Die Fliegen surrten um ihre Köpfe und das Geräusch war ohrenbetäubend. Der Gestank, der in der Luft lag, machte das Atmen schwer, und Lucas’ Nackenhaare stellten sich auf. Was auch immer die Fliegen angelockt hatte, es bedeutete nichts Gutes.


Als sie sich dem Tor näherten, verlangsamten sie den Schritt. Rab wartete, bis Lucas zu ihm aufschloss. »Bereit?«, fragte Rab.


Lucas warf einen Blick auf Clara und suchte dann den Horizont ab. »Du wartest hier«, sagte er.


»Hier?«, fragte Clara erschrocken. »Nein. Ich komme mit. Sie haben es versprochen. Sie dürfen mich nicht allein lassen …«


Lucas sah sie an. »In Ordnung«, lenkte er ein. »Aber wenn ich dir sage, dass du umkehren sollst, tust du das, okay?«


Zögernd stimmte Clara zu. Lucas nickte und nahm den Schlüssel ab, den er wie alle anderen, die er konfisziert hatte, um den Hals trug. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und zog an dem schweren Tor, das sich mit einem lauten Rasseln langsam öffnete. Lucas zog wieder, um sie noch ein Stück weiter aufzumachen, dann trat er hindurch.


Als sie sich dem Fliegenschwarm näherten, wurde der Gestank unerträglich. Clara wich mit vor Schreck geweiteten Augen zurück, und Lucas gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie bleiben sollte, wo sie war, während er und Rab weitergingen, bis sie mitten in dem Schwarm standen. Lucas beugte sich unwillkürlich vornüber, er bekam Magenkrämpfe, sank auf die Knie und übergab sich. Rab, der neben ihm stand, streckte die Hand aus und half ihm hoch. »So was hab ich mir schon gedacht«, meinte er schroff. Als Lucas wieder auf den Beinen stand, wanderte sein Blick in die Richtung, in die Rab durch den Fliegenschwarm hindurchschaute. Und da sah er sie. Eine verwesende Mädchenleiche.


Lucas rannte hin. Ihre Gesichtszüge waren noch zu erkennen. Sie kam zweifellos aus der Stadt; ihre Kleidung stammte aus dem Tuchviertel, und ihre Schuhe entsprachen der aktuellen Mode. Sie hatte langes dunkles Haar, und ihr Körper, oder was davon übrig war, war stark und athletisch.


Es war Gabrielle, eine der Verschwundenen.


Lucas konnte sich einen Augenblick lang nicht bewegen, und er war nicht imstande, die Situation zu erfassen. Ihr Körper verrottete am Boden, ihr Schädel war eingedrückt, und ihr Mund stand offen, als würde sie schreien vor Schmerz. Lucas fühlte sich elend und er war wütend und verzweifelt.


Er drehte sich um und sah nach Clara; die hockte auf dem Boden und starrte verständnislos zu ihnen herüber. Er hob die Hand, um sie auf sich aufmerksam zu machen, und bedeutete ihr, zurückzugehen. Er und Rab schritten auf den großen Haufen ein Stück entfernt von Gabrielle zu, und als sie näher kamen, merkte Lucas, dass Rab dasselbe dachte wie er, denn er verlangsamte den Schritt und wich instinktiv zurück. Der Geruch verriet ihm, was sie finden würden, noch bevor sie etwas sehen konnten. Obwohl Lucas versucht hatte, sich gegen den Anblick zu wappnen, blieb er dennoch wie angewurzelt stehen und öffnete den Mund zu einem stummen Schrei aus Wut, aus Angst und aus Schmerz.


Da lagen sie, die Verschwundenen, alle sechs auf einem Haufen, halb aufgefressen von wilden Tieren, weggeworfen wie Müll. Jungen und Mädchen, nicht viel jünger als Evie und Raffy, weggerissen von ihren Familien, ermordet und dem Fäulnisprozess überlassen.


Rab zog einen Flachmann aus der Tasche, schenkte einen Fingerhut voll in den Deckel und gab ihn Lucas. Der zögerte, nahm ihn jedoch schließlich und leerte ihn in einem Zug. Rab schenkte nach, gab den Deckel wieder Lucas und nahm selbst einen kräftigen Schluck aus der Flasche.


»Wer hat das getan?«, hörte Lucas sich sagen, zuerst leise zu sich selbst, dann etwas lauter. Schließlich ging er auf Rab los. »Wer hat das getan?«, schrie er ihn an. »Erzähl mir nicht, dass du nichts weißt. Sie sind hier. Vor dem Tor, das du bewachen sollst. Sag mir, wie sie hierhergekommen sind. Sag mir, was mit ihnen passiert ist.«


Rab blickte ihn mürrisch an. »Ich weiß nichts«, sagte er, aber Lucas sah etwas in seinen Augen: Abscheu. Rab war schließlich auch ein Mensch, und sein Blick verriet, dass er nicht der Ansicht war, dass diese jungen Leute es verdient hatten, ermordet und entsorgt zu werden wie Müll.


»Man hat sie vor deinem Tor liegen lassen«, sagte Lucas mit rauer Stimme. »Meinst du nicht, dass das etwas zu bedeuten hat? Meinst du nicht, dass man mit dem Finger auf dich zeigen wird? Warum gerade hier? Warum gerade jetzt? Sag es mir, Rab. Sag mir, was du weißt. Sag es mir auf der Stelle.«


Rab sah ihn unbehaglich an. »Du glaubst, dass ich etwas weiß?« Sein Ton war anklagend. »Du glaubst, ich weiß etwas über diese Leichen? Da liegst du falsch. Ich weiß gar nichts. Ich wollte nur die Fliegen loswerden, das ist alles. Meinst du vielleicht, ich hätte Meldung gemacht, wenn ich gewusst hätte, was hier passiert ist?«


»Du musst etwas wissen«, sagte Lucas und sah stur geradeaus. Er trank den Rest seines Whiskys aus, spürte das Brennen im Hals und genoss den herben Geschmack, der den Geruch von verwesenden Leichen überdeckte. »Du bist der Torwächter, auch wenn du zu betrunken bist, um etwas zu unternehmen. Die jungen Leute da draußen vor deinem Tor sind tot, und ich habe Grund zu der Annahme, dass es Fremde in der Stadt gibt, die diese Morde begangen haben, obwohl es dort angeblich sicher ist. Sag mir, was du weißt, und ich garantiere dir, dass du für deine Beteiligung an dem Verbrechen nicht bestraft wirst. Sonst … sonst wird man dir die Schuld geben, wenn die Eltern der Toten kommen und sie besuchen wollen. Denn sie werden sie besuchen wollen. Wir werden sie begraben, jeden Einzelnen von ihnen.«


Rab schien zu überlegen. Er holte tief Luft, dann wanderte sein Blick zu Lucas. »Ich tue, was man mir gesagt hat«, erklärte er vorsichtig. »Ich beobachte, halte Ausschau und gebe dem Bruder Bescheid, was vor sich geht.«


»Und hast du dem Bruder auch über die Leichen Bescheid gegeben?«


Rab schüttelte energisch den Kopf. »Ich wusste nichts von irgendwelchen Leichen. Ich habe nur vor ein paar Tagen die Fliegen bemerkt«, sagte er abwehrend, und sein Ton wurde aufgeregter.


Lucas beugte sich vor. »Aber Rab, wie sind denn die Leichen hierhergekommen? Wie sind sie unbemerkt durch dein Tor gelangt?«


Rab antwortete nicht sofort. Schließlich stand er auf. »Mir reicht’s«, stieß er wütend hervor und wollte davongehen, Richtung Stadt. Doch Lucas war schneller. Er packte Rab am Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Rab war zwar stark, aber Lucas wusste, was zu tun war. Gleich darauf lag Rab mit dem Gesicht zum Boden, die Arme auf den Rücken gedreht. Er trat um sich, aber vergeblich.


»Erzähl mir alles«, sagte Lucas, und seine Stimme klang jetzt tiefer wegen der Anstrengung, die es ihn kostete, Rab in Schach zu halten. »Erzähl es mir, oder es wird dir noch leidtun. Allem Anschein nach hast du etwas mit diesen Todesfällen zu tun, und ich warne dich, ich werde nicht zögern, dich zu töten, hast du verstanden? Das ist keine leere Drohung. Wenn du nicht in einem dieser Gräber enden willst, dann rede jetzt.«


Es herrschte Schweigen und Lucas packte fester zu.


»Okay«, stieß Rab schließlich keuchend hervor, »ich werde dir alles sagen.« Lucas ließ eine Hand los und Rab sackte wieder zu Boden. Er sah frech zu Lucas hoch. »Aber danach will ich mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Danach will ich nur noch meine Ruhe. Ist das klar?«


»Gar nichts ist klar«, sagte Lucas mit düsterer Miene. »Sag mir, was du weißt.«


Rab rappelte sich auf. »Du willst doch die Leichen begraben, oder?«, brummte er. »Dann machen wir das zuerst. Danach erzähle ich dir, was ich weiß. In meiner Hütte, da sind wir ungestört.«


Lucas nickte grimmig. Dann legte er die Verschlusskappe von Rabs Flasche weg, hielt die Luft an und ging zu dem Berg Leichen. Er verscheuchte die Fliegen und bemühte sich, die verwesenden Körper und das angefressene Fleisch nicht anzusehen.


Schweigend trug er jede Leiche zu einem Fleckchen Erde, das ihre Grabstätte werden sollte. Es war hart; die meisten Leichen waren nur noch Skelette, an denen verfaultes Fleisch hing. Sie waren übel zugerichtet, voller Maden, die sich durch das hindurchfraßen, was noch von ihnen übrig war.


Rab beobachtete Lucas eine Weile, schüttelte den Kopf und spuckte auf den Boden. »Wir brauchen ein paar Spaten«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«


»Sag Clara nichts. Sie soll es nicht sehen«, meinte Lucas.


»Soll ich sie zur Hütte bringen?«, knurrte Rab.


Lucas schüttelte den Kopf. »Sie wird sich sicherer fühlen, wenn ich ein Auge auf sie habe«, erklärte er.


Rab ging achselzuckend davon.


Lucas sah ihm eine Weile nach, dann kümmerte er sich wieder um die Leichen, bis Rab zurückkam und beide anfingen zu graben. Ein Grab pro Person. Diejenigen, die in dem Haufen zuunterst gelegen hatten, waren nicht mehr zu erkennen, während die, die weiter oben lagen, leichter zu identifizieren waren – an einem Stück von der Kleidung etwa oder an einem Teil des Gesichts, der noch nicht von Tieren zerfleischt war oder verfault oder von Insekten befallen. Jedenfalls kannte Lucas jeden von ihnen, weil er sich ihre Fotos so oft auf der Vermisstenliste angeschaut hatte.


Sobald die Leichen unter der Erde waren und Lucas jedes Grab mit einem Stein markiert hatte, folgte er Rab zu der ersten Leiche, Gabrielle Marchant. Lucas begrub auch sie und dann ging er zusammen mit Rab zum Tor zurück. Unterwegs nahmen sie Clara mit, die kein Wort sagte, und gemeinsam marschierten sie zur Hütte, wo Rab und Lucas sich draußen unter dem Wasserhahn sehr lange die Hände wuschen.


»So«, sagte Lucas.


»So«, sagte Rab und ging in seine Hütte.


Lucas folgte ihm, den Arm schützend um Clara gelegt. Er war noch nie in Rabs Behausung gewesen. Von außen war es nur eine Bretterbude, eine schäbige Holzkonstruktion. Aber als Lucas durch die Tür trat, war er erstaunt über die wohlige Wärme, die ihn empfing, über die Decken über den Stühlen und über den kleinen Ofen in der Ecke neben dem Bett. Über dem Ofen hing ein Kessel und auf einem kleinen Tisch stand eine Tasse.


Lucas bedeutete Clara, auf einem hölzernen Schaukelstuhl Platz zu nehmen, und sie setzte sich sofort hin und zog die Knie an die Brust. Lucas beobachtete sie eine Weile und fragte sich, wie viel sie wohl mitbekommen hatte und was wohl in ihrem Kopf vorging. Dann wandte er sich an Rab. »So, Rab, hier wohnst du also.«


»Ich würde euch ja einen Tee anbieten, aber ich habe nur eine Tasse«, sagte Rab sarkastisch, aber keineswegs unfreundlich. Er deutete auf einen der Stühle, und Lucas setzte sich.


Rab ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder und füllte zwei Gläser mit Whisky. Lucas wollte den Whisky nicht, den Rab ihm einschenkte, deshalb bot Rab ihn Clara an. Die zögerte zunächst, lehnte dann aber ebenfalls ab. »Der wärmt besser als Tee«, sagte Rab, als ob es einer Erklärung bedürfte. Lucas sagte kein Wort, er wartete einfach ab, während Rab sich auf dem Stuhl zurücklehnte und langsam ausatmete.


»Ich habe nicht gewusst, was sie gemacht haben«, begann er schließlich. »Ich hatte keine Ahnung. Der Bruder hat nur gesagt, ich soll sie hereinlassen, wenn sie kommen.«


»Wen?«, fragte Lucas und beugte sich vor. »Wer sind ›sie‹?«


Rab zuckte die Achseln. »Ich weiß keine Namen«, entgegnete er mit wiederkehrendem Sarkasmus. »Der Bruder hat sie nur unsere Spitzel genannt.«


Lucas blickte hinüber zu Clara, die sichtlich blass wurde.


»Spitzel?«, fragte Lucas. »Warum wusste ich nichts davon?«


Rab sah ihn eine Weile an und fing dann an zu lachen. »Du?«, meinte er kopfschüttelnd. »Glaubst du wirklich, du hättest hier das Sagen? Glaubst du wirklich …« Er schüttelte wieder den Kopf, wischte sich eine Träne aus dem Auge und machte ein ernstes Gesicht. »Du weißt gar nichts. Du tanzt doch nur nach seiner Pfeife.«


Lucas kniff die Augen zusammen. »Die Lage hat sich geändert«, sagte er ruhig. »Der Bruder hat nicht mehr die Kontrolle.«


»Nein, Lucas«, erwiderte Rab, beugte sich vor und packte ohne Vorwarnung Lucas’ Hand. »Der Bruder hat nicht mehr die Kontrolle. Aber nicht wegen dir. Nicht wegen dem, was du und deine Freunde getan haben. Du denkst, dass sich deswegen alles geändert hat? Du hast ja keine Ahnung.«


»Keine Ahnung wovon?«, fragte Lucas verärgert und schob Rabs Hand weg. »Du weißt ja nicht, wovon du redest, Rab. Du bist ein Säufer. Du lebst hier draußen im Niemandsland … Erzähl mir einfach von den Spitzeln. Was machen sie hier?«


Rab holte tief Luft. »Sie bringen Sachen. Lieferungen. Nahrungsmittel, Getreide. Aus anderen Lagern und Siedlungen. Abgaben, nennt es der Bruder.«


Lucas zog ungläubig die Stirn in Falten. »Aber ich verstehe nicht. Ich habe die Lieferungen, die von den Versehrten kamen, doch gestoppt«, sagte er unsicher. Er musste daran denken, wie er dahintergekommen war, dass die »Bösen«, die Opfer der angeblichen Neutaufe, auf Bauernhöfen außerhalb der Stadt arbeiten mussten und dass deren Erzeugnisse direkt wieder in die Stadt gebracht wurden.


»Du hast gar nichts gestoppt«, sagte Rab und schüttelte müde den Kopf. »Die Stadt kann ohne die Vorräte, die die Spitzel bringen, nicht überleben. Sie kommen mitten in der Nacht, bringen die Lebensmittel, und die Männer des Bruders tragen sie zusammen. Das ist alles, was ich weiß. Das geht schon so lange, wie ich hier bin.«


Lucas stand auf und ihm schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Er ging in dem kleinen Raum auf und ab und Rab und Clara beobachteten ihn dabei.


»Okay«, sagte Lucas auf einmal und setzte sich wieder. »Erzähl mir alles, was du über diese Spitzel weißt. Alles.«


Rab verzog das Gesicht. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erwiderte er barsch.


Lucas beugte sich weit vor und sah Rab direkt ins Gesicht. »Eine Meile von hier befinden sich sechs Gräber«, sagte er mit leiser Stimme. »Und hier sitzt ein Mädchen, deren Freunde …« Er hielt inne, weil er nicht wollte, dass Clara von den Leichen erfuhr. »… deren Freunde verschwunden sind.«


»Die tot sind, meinen Sie«, warf Clara ein. »Die Fliegen? Die Spaten? Wissen Sie, ich bin nicht blöd. Ich weiß, was Sie da draußen gemacht haben.«


Mit leerem Blick schaukelte sie auf dem Stuhl vor und zurück.


»Die tot sind«, wiederholte Lucas mit etwas ruhigerer Stimme. »Dieses Mädchen hat solche Angst, ebenfalls zu verschwinden, dass sie nicht mehr schlafen und ihre Aufgaben nicht mehr erledigen kann. Sie hat sich nicht getraut, jemandem etwas zu erzählen, weil sie weiß, dass das ihr Todesurteil wäre. Und jetzt erfahre ich, dass schon seit Jahren Fremde unbemerkt in die Stadt gelangen und dort herumlaufen, als ob sie ihnen gehören würde. Sag mir, was du weißt, und zwar sofort.«


Rab seufzte und genehmigte sich noch einen Drink. Er war nervös, und sein Blick huschte durch den Raum, als hätte er Angst, jemand könnte sie belauschen. Dann begann er zu erzählen, den Blick auf Lucas gerichtet. »Wie gesagt, sie kommen schon lange. Vielleicht einmal im Monat. Sie kommen und gehen, und immer bei Nacht.«


Lucas runzelte die Stirn. »Jeden Monat? Und woher kommen sie?«


»Keine Ahnung. Ich habe nur das Tor aufgemacht und bin dann wieder zum Haus zurück, so wie der Bruder gesagt hat.«


Lucas schnitt eine Grimasse, weil er an den verärgerten Blick des Bruders denken musste, als er die Schlüssel der Torwächter konfisziert hatte. »Du hast sie nicht beobachtet?«


Rab sah zu Boden. »Ich sollte sie nicht beobachten.«


»Aber du hast es getan. Du musst es getan haben. Wie viele sind es? Wie sehen sie aus?«


Rab zuckte unbehaglich die Schultern. »Ich habe sie vielleicht ein-oder zweimal gesehen. Bloß ganz flüchtig. Normalerweise sind es zwei oder drei. Mit einem Lastwagen.«


»Und was machen sie?«, wollte Lucas wissen.


»Sie sind ein paar Stunden in der Stadt, laden ihr Zeug ab und verschwinden dann wieder«, sagte Rab barsch. »Ich weiß nicht, was sie machen, und ich weiß auch nicht, warum. Ich weiß nur, dass ich das Tor wieder zumachen muss, wenn sie weg sind. Und mehr will ich auch gar nicht wissen.«


Lucas schüttelte den Kopf. Er versuchte, die Informationen zu verarbeiten und einen Sinn darin zu erkennen. »Nein«, sagte er. »Nein, das nehm ich dir nicht ab. Sie müssen gesehen worden sein. Das System hätte sie entdeckt. Ich hätte sie entdeckt.«


»Diese Leute können sich verstecken«, erklärte Rab, und seine Stimme klang plötzlich düster. »Diese Leute können alles.«


»Zum Beispiel Menschen umbringen? Sie aus der Stadt schleppen, ohne dass jemand es sieht? Ohne dass du es siehst? Rab, das ergibt doch keinen Sinn.«


»Ich sage ja nicht, dass sie es waren. Nur, dass es sie gibt.«


Lucas nickte. »Wann waren sie das letzte Mal hier? Vermutlich, bevor ich dir den Schlüssel weggenommen habe, oder?«


»Vor drei Monaten.«


»Vor drei Monaten?« Lucas machte ein finsteres Gesicht. »Aber das ergibt auch keinen Sinn. Das … verstehe ich nicht.«


Rab zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck vor. »Das ist es ja gerade«, sagte er leise. »Diesmal war es anders.«


»Wie anders?«, fragte Lucas ungeduldig.


Rab lächelte. Offenbar freute er sich darüber, wie frustriert Lucas war. Er trank noch einen Schluck Whisky, dann spuckte er auf den Boden. »Anders eben«, sagte er, hielt sein Glas in der Hand und sah Lucas vielsagend an. »Wie gesagt, sie sind vor drei Monaten gekommen, aber diesmal sind sie nicht wieder gegangen.«


Lucas schlug das Herz bis zum Hals, und er spürte Claras Blick, der sagte: »Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt.«


»Dann waren sie die ganze Zeit hier?«, fragte er, aber Rab gab keine Antwort, stattdessen hob er die Hand und bedeutete Lucas, still zu sein.


»Hörst du das?« Lucas schüttelte den Kopf. »Sind sie euch etwa hierher gefolgt?«


Lucas war überrascht, auf einmal so etwas wie Furcht in Rabs Gesicht zu erkennen. »Habt ihr sie zu mir geführt?«, fragte Rab und stand verwirrt auf. »Verschwindet. Sollen sie euch doch schnappen. Ich will nur meine Ruhe. Ich will nichts damit zu tun haben.«


»Du steckst schon bis zum Hals mit drin«, flüsterte Lucas, denn jetzt hörte auch er draußen Schritte. »Du hast diese Leute in die Stadt gelassen. Und du hast mit mir die Leichen entdeckt.«


»Ich habe nur die Fliegen bemerkt, das ist alles«, zischte Rab. Dann packte er Lucas am Arm. »Hier entlang«, sagte er und bugsierte Lucas und Clara durch die Küche, in der es nach Schimmel und saurer Milch roch. »Verschwindet, versteckt euch und lasst euch nicht erwischen, kapiert?« Rab öffnete eine Tür, schob beide hinaus und schloss die Tür hinter ihnen.


Lucas packte Clara und zog sie mit sich in Richtung Sumpf und tauchte mit ihr in die nach Fäulnis riechenden Tiefen ein. Seine Hände tasteten nach dem schmalen Steg, der zum Tor führte. Mit einer Hand hielt er Clara fest, mit der anderen klammerte er sich an den Steg. Dann warteten sie schweigend.



7


Draußen war es dunkel und seine Glieder begannen zu schmerzen. Thomas bemerkte, dass er schon seit mehreren Stunden in derselben Haltung dasaß. Er hatte Hunger und Durst. Aber solche banalen Dinge konnten ruhig noch ein paar Minuten warten. Er war so nah dran, dass er es fast spüren konnte.


Während er die Informationen vor sich auf dem Bildschirm durchsah, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Unglaublich, wie einfach das alles war. Vor vier Jahren war er noch Unterabteilungsleiter in einem Technologieunternehmen gewesen und musste einem blöden Chef, der nichts kapierte, Rechenschaft ablegen. Und jetzt … jetzt hatte er seine eigene Abteilung, ein Budget, das niemand infrage stellte, und einen umfassenden Aufgabenbereich. Er war verantwortlich für die Sicherheit, für das Archiv und für Ermittlungsverstöße. Mit seinem Einverständnis konnte das gesamte Netzwerk verändert, ausgeschaltet und manipuliert werden. Seine Untersuchungen waren so geheim, dass er auf Spesen für eine Woche in die Karibik fliegen konnte, ohne dass jemand Fragen stellte. Das war nur möglich, weil er wusste, wie man Menschen für seine Zwecke einsetzte, wie man sich die Technik zunutze machte und wie man Menschen Angst machte, sie begeisterte und ihnen einredete, dass sie einen brauchten.


Und sie brauchten ihn tatsächlich. Sie brauchten ihn, weil er als Einziger wusste, was möglich war. Der Einzige, der sich hohe Ziele setzte.


Und Thomas setzte sich in der Tat sehr hohe Ziele. Er scrollte durch die Liste der Kandidaten und prüfte immer wieder die Informationen, die er über sie hatte. Und er hatte jede Menge Informationen. Er kannte jedes traurige Detail ihres armseligen Lebens. Er musste lächeln, wenn er daran dachte, wie sein ehemaliger Boss ihm erklärt hatte, dass die Privatsphäre geschützt werden müsste. Prosser war jetzt nicht mehr da, er war der Umstrukturierung zum Opfer gefallen und aus dem Geschäft gedrängt worden. Es waren Informationen über eine Affäre durchgesickert, über dubiose Spesenabrechnungen. In dem Fall war es einfach gewesen. Ziemlich traurig.


Doch vor ihm lag eine wirkliche Herausforderung. Er würde Geduld, Zeit, Geschick, Gerissenheit und Selbstvertrauen brauchen. Es war fast unmöglich, so etwas durchzuziehen. Aber eben nur fast.


Thomas grinste vor sich hin. Endlich eine echte Herausforderung. Und wenn es funktionierte …


Was sollte das denn heißen? Natürlich würde es funktionieren.


Er öffnete ein Fenster auf dem Bildschirm und starrte in das Gesicht eines offenbar verzweifelten Mädchens mit völlig ausdruckslosem Blick. Dieses Mädchen war eine seiner besten Kandidatinnen. Er scrollte zu einem weiteren angehenden Kandidaten, einem dunkelhäutigen Jungen mit grimmigem Blick, voller Zorn und voller Misstrauen. Er betrachtete das Gesicht ein paar Minuten, dann blätterte er zu dessen Akte. Er war der perfekte Kandidat. Aber es würde lange dauern und es würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Und er würde Hilfe brauchen.


Thomas stand auf, öffnete die Tür und rief seinen Assistenten, der im Vorzimmer an seinem Schreibtisch saß. »Komm mal rüber.«


Zwei Minuten später erschien sein erst vor Kurzem eingestellter neuer Mitarbeiter, Adrian Crouch, in seinem Büro. »Trägst du dein Abzeichen?«, fragte Thomas.


Adrian schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe es in meiner Tasche«, sagte er, als ob das alles wiedergutmachen würde.


Thomas verengte die Augen.


»In deiner Tasche?«, sagte er scharf. »Steck es an. Ich habe dir doch gesagt, dass das Abzeichen wichtig ist. Es hebt dich heraus aus der Menge. Türen werden sich für dich öffnen. Es wird Leute geben, die auf dich aufpassen.«


Adrian hob eine Augenbraue. Thomas wollte ihn anschreien, ihn auf der Stelle feuern, aber dann überlegte er es sich anders. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. »Mike?«, sagte er. »Mike, komm mal in mein Büro.«


Kurz darauf erschien Mike. »Hey«, sagte er.


»Adrian hat sein Abzeichen nicht getragen«, erklärte Thomas.


Mike betrachtete den Neuen misstrauisch. »Ach nein?«


»Ich bin eigentlich nicht der Typ für Abzeichen«, meinte Adrian achselzuckend.


Thomas zögerte. Adrian war erst seit wenigen Wochen in der Firma. Ein Mitglied aus Thomas’ derzeitigem Team hatte ihn als einen der begabtesten Hacker bezeichnet. Und seitdem war er seinem Ruf mehr als gerecht geworden; er war der Beste, den Thomas je kennengelernt hatte. Na ja, fast der Beste. Keiner würde es mit seinem Schützling, seinem ehemaligen Praktikanten, aufnehmen können. Aber das Problem war, dass Adrian wusste, wie gut er war; das machte ihn arrogant, und er dachte, er könne machen, was er wollte. Thomas rückte mit seinem Stuhl näher.


»Die Sache ist die«, erklärte er. »Wenn du das Abzeichen trägst, wenn du damit deine absolute Loyalität beweist, wird keiner den Vorfall mit deinem Onkel erwähnen. Niemand wird je etwas davon erfahren.«


Adrian wurde sofort rot vor Furcht und Scham. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Thomas an, und auf seiner Stirn stand deutlich die Frage geschrieben: Wie haben Sie das herausgefunden? Thomas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er konnte alles herausfinden. Das war der Sinn der Sache.


Thomas stand auf, ging zu Adrian, legte ihm den Arm um die Schultern und führte ihn zu seinem Computer. »Wir gestalten hier die Zukunft, Adrian«, flüsterte er. »Wir wollen die Welt verändern. Aber dafür brauche ich Leute, denen ich vertrauen kann. Leute, die mir vertrauen. Die widerspruchslos das tun, was ich von ihnen verlange. Verstehst du? So wie Mike hier. Wie alle in dieser Abteilung und noch viele andere darüber hinaus. Polizisten, Richter, Politiker, Schauspieler, Terroristen, Journalisten. Sie alle arbeiten gemeinsam auf dasselbe Ziel hin. Alle sind stolz, dass sie dazugehören. Verstehst du jetzt, warum das Abzeichen so wichtig ist, Adrian?«


Adrian nickte. Thomas bemerkte, dass er zitterte. Das war gut.


»Trag das Abzeichen, und du bist geschützt, Adrian. Du stehst über dem Gesetz. Dieses Abzeichen ist so etwas wie ein Ausweis. Verstehst du? «


Adrian fing an zu schwitzen. Thomas dachte einen Moment lang nach. »Und niemand wird je erfahren, was du getan hast. Oder wo die Leiche deines Onkels ist. Er hat es verdient, oder? Er hat dafür bezahlt, was er dir und deinem Bruder angetan hat. Wir verstehen das. Wir sind auf deiner Seite, Adrian. Wir sind ein Team. Okay? Ich will nicht, dass du unglücklich bist oder dich unwohl fühlst. Ich will nicht, dass du vor irgendjemandem Angst hast. Wir alle haben eine Vorgeschichte, aber in diesem Team lassen wir das alles hinter uns, verstehst du? Es spielt keine Rolle mehr. Was zählt, sind Informationen. Wer hat sie und wer kontrolliert sie. Heute zählt nicht die Realität, sondern das, was wir der Welt als Realität verkaufen. Wer wir sind, was wir getan haben … das liegt in unserer Hand. Wir löschen alles, was bisher passiert ist, und geben dir eine neue, eine bessere Vergangenheit.« Mit einem Mausklick erschien auf dem Bildschirm ein Foto von Adrian inmitten einer Gruppe Studenten.


»Möchtest du ein Akademiker sein?«, fragte Thomas. »Mit einem super Examen von Oxford?«


Adrian runzelte die Stirn. »Ich war nie an einer Universität.«


»Die Belege sagen etwas anderes«, meinte Thomas lächelnd. »Und das werden potenzielle Freundinnen lesen, wenn sie dich googeln. Oder wie wär’s mit einer großen Erbschaft?«


Adrian zog eine Augenbraue hoch. »Sie fälschen also ein paar Fotos und Dokumente. Na und? Ich bin trotzdem immer noch ich.« Er versuchte, cool zu klingen, aber Thomas sah das Verlangen in seinem Blick.


»Nein, das bist du nicht. Nicht, wenn du es nicht willst«, erklärte Thomas aalglatt. »Ich spreche nicht von digitaler Bildbearbeitung. Es geht darum, eine Geschichte, eine Person zu entwerfen.«


»Aber das ist nicht real«, entgegnete Adrian unsicher.


Thomas lachte. »Real? Was ist schon real? Das, was du im Fernsehen siehst oder im Internet liest? Verstehst du denn immer noch nicht? Wir kontrollieren die Suchmaschine, wir kontrollieren die Informationen, die die Leute sehen, wir kontrollieren die Realität. Verstehst du? Ist dir klar, was wir hier tun können?«


»Ja.« Adrian nickte, und er sah wie gebannt auf den Bildschirm.


Jetzt hatte Thomas ihn so weit, die Angst war verschwunden. Man musste behutsam mit ihm umgehen, ihn direkt ins Zentrum bringen, mit einbinden und unterstützen. Aber er würde es schon schaffen. Thomas hatte ein gutes Gefühl.


»Gut«, sagte er. »Also, nimm dein Abzeichen nie wieder ab …«



8


Devil starrte in die Augen des Jungen. Er sah die Angst darin, aber es sprach für den Jungen, dass er nicht blinzelte und den Blick nicht senkte, wie die anderen es getan hatten. Seine Arme hingen seitlich herunter, er trug eine helle Jeans und sah aus, als wäre er gerade erst aufgestanden.


»Verstehst du mich? Hast du gehört, was du tun sollst?«


Der Junge nickte.


»Dann sag’s mir.«


Der Junge wiederholte Wort für Wort, was Devil ihm aufgetragen hatte.


»Und was passiert, wenn du es nicht tust?«


Nicht einmal seine Lippen bebten. Vielleicht war dieser Junge tougher, als er aussah. Vielleicht sollte er ihn im Auge behalten.


»Ich komme in die Hölle«, sagte der Junge mit leiser, hoher Stimme. Wie ein Chorknabe, dachte Devil und lachte in sich hinein. Hier in der Gegend gab es gar keinen Chor. Der einzige Gesang kam von den Junkies, den Landstreichern, die sich unter der Brücke herumtrieben und die vor lauter Verzweiflung grölten.


»Du weißt Bescheid über die Hölle?«, fragte Devil. Er wollte eine Weile sein Spielchen mit dem Jungen treiben, um sicherzugehen, dass der wusste, mit wem er redete und womit er es hier zu tun hatte. Der Junge nickte. »Hast du das in der Kirche gelernt? Oder von deiner Mama?« Devil betonte das Wort in der Absicht, den Jungen vor dem Rest der Gang als Waschlappen hinzustellen. Gedämpftes Lachen war zu hören. Die anderen kannten die Übung schon. Sie hatten das alles selbst durchgemacht. Manche stießen Beleidigungen aus, aber der Junge schien keine Notiz davon zu nehmen. Er nickte nur wieder.


»Na gut, dann hast du also keine Ahnung«, fuhr Devil fort und erwärmte sich jetzt so richtig für das Thema. Er wusste, wie man den Leuten Furcht einflößte und sie aufwühlte. Sein Dad hatte ihm alles beigebracht, was er wissen musste. Er hatte seinem Dad immer zugehört, wenn dieser auf der Kanzel stand und wenn die Gemeinde ihm huldigte. Die Leute hingen an seinen Lippen, als wäre er Jesus Christus höchstselbst. Das war, bevor sie erkannten, dass er ihnen ihr Geld stahl, und bevor die Polizei kam und ihn mitnahm.


Und bevor seine Mutter mit ihnen in dieses Dreckloch zog.


»Die Kirche hat keine Ahnung von der Hölle. Jedenfalls nicht von der Hölle, in die du kommen wirst. Die Kirche glaubt, die Hölle sei ein Ort, wo man hinkommt, wenn man stirbt. Aber es gibt auch eine Hölle auf Erden. Und von dieser Hölle rede ich.« Devil erhob sich und baute sich drohend vor dem Jungen auf. Devil war groß und breitschultrig, wie sein Vater. Er wusste, dass er von seiner Statur her so ziemlich jeden einschüchtern konnte, wenn er wollte. Und er wollte meistens. »Ich habe meine eigene Hölle für Leute, die mich ärgern. Verstehst du, was ich meine? Eine Hölle voller Schmerzen. Für dich, für deinen kleinen Bruder, für deine kleine Schwester, für deine Mutter. Willst du deine kleine Schwester schreien hören, wenn wir ihre Hände in kochendes Wasser tauchen? Soll deine Mutter an Fußketten gefesselt meine Pisse aufwischen? Das ist die Hölle, die ich meine. Daran musst du denken, wenn du dich entscheidest, ob du deinen Gegner erledigen willst oder nicht. Hörst du? Das ist ein Kampf jeder gegen jeden. Da gibt es keine Überlebenden.«


Der Junge nickte schweigend. Er zittert zwar nicht, aber er weiß, wer der Boss ist, dachte Devil. Er würde tun, was man von ihm verlangte.


»Gut.« Devil zog ein Messer aus der Tasche und wischte es sorgfältig ab, wegen der Fingerabdrücke. Eines Tages würde er etwas Besseres haben als ein Messer. Bald würde die Dalston-Bande groß und stark genug sein, um es mit den Großen aufzunehmen, gegen sie zu kämpfen und zu gewinnen. Bald würde er den ganzen Londoner Osten kontrollieren, nicht nur dieses Scheißviertel. Jeder würde wissen, dass er der Boss war. Jeder würde Angst vor ihm haben. »Und hinterher versteckst du das gut für mich, ja? So lange, bis ich es wieder brauche. Du wirst es mir nicht zurückbringen. Und was machst du, wenn die Bullen kommen und nachschauen?«


»Ich weiß von nichts«, sagte der Junge und plapperte nach, was man ihm gesagt hatte.


»Und wenn sie dich anschwärzen? Wenn sie hinter dir her sind? Wenn die Polizei deine Mama mit auf die Wache nimmt und sie dich anfleht, die Wahrheit zu sagen, zu sagen, wo du das Messer herhast und wer dich zu der Tat angestiftet hat? «


»Ich sage ihnen, dass der Kerl mich gereizt hat und dass es ganz allein meine Idee war. Dass ich das Messer gefunden habe.« Die Stimme des Jungen wurde ruhiger, sein Blick verfinsterte sich.


Devil lächelte. Ein entwaffnendes Lächeln, das die Menschen glauben machte, er habe vielleicht doch menschliche Gefühle. Auf diese Weise kontrollierte er sie. Im einen Moment hatten sie Angst vor ihm und im nächsten Moment wollten sie ihm helfen und waren ihm treu ergeben. So mochte er das. Es hatte lange gedauert, bis er sich diese Position erobert hatte.


»Okay«, sagte er, »ich bin so weit fertig mit dir. Erledige deinen Job. Und dann steht ihr ein Leben lang unter dem Schutz der Dalston-Bande. Hast du verstanden? Du, deine Mutter, deine Schwester und dein kleiner Bruder. Alle werden sicher sein. Keine eingeschlagenen Fensterscheiben mehr, kein verschwundenes Geld, kein Feuer in eurer Wohnung. Klar?«


»Klar.«


Der Junge nahm das Messer und steckte es in seinen Hosenbund. Erst als er sich zum Gehen wandte, bemerkte Devil, dass die Hose des Jungen nass war. Im Schritt war ein großer dunkler Fleck zu erkennen. Einen Moment lang fühlte Devil sich irgendwie schuldig, und er fragte sich, wer er eigentlich war und was er war. Was aus ihm geworden war. Einen Augenblick lang sah er Leona vor sich, die ihn wütend anstarrte, und er verachtete sich selbst, so wie damals, als er sie wegen ihrer Zahnspange gehänselt hatte. Er schüttelte sich. Nein, er war nicht mehr derselbe wie damals. Er war jetzt Devil und er ließ sich nicht unterkriegen.


Er verdrängte den Gedanken an Leona und lächelte. Der Junge war doch nicht so tough, er hatte Angst, und er war anständig. Aber er würde tun, was man von ihm verlangte, solange Devil das wollte.



9


Lucas wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und mit der anderen hielt er Clara umklammert. Er versuchte, die Blasen an seinen Füßen, die Schürfwunden an seinen Beinen und die Enge in seiner Brust zu ignorieren, doch es wurde immer schlimmer und drohte ihn zu übermannen. Lucas hatte das Gefühl, als wären er und Clara schon tagelang auf den Beinen, dabei waren es gerade mal vierundzwanzig Stunden, mit ein paar kurzen Ruhepausen dazwischen. In den letzten Stunden hatte er Clara getragen. Sie hatte sich zwar bemüht, mit ihm mitzuhalten, doch sie war immer wieder gestolpert vor Erschöpfung. Und Lucas wusste, dass sie weitergehen mussten, bis sie weit genug weg waren. Bis sie in Sicherheit waren.


Eine ganze Stunde hatten sie im Sumpf ausgeharrt. Dabei hatten ihre Köpfe gerade so weit aus dem Schlamm herausgeragt, dass sie atmen konnten. Erst als Lucas sicher war, dass niemand mehr in der Nähe war, hatte er Clara aus dem Sumpf herausgeholfen, und sie waren in Richtung Mauer gekrochen. Sie hatten das Tor geöffnet und waren losgerannt.


Sie waren den ganzen Tag und fast die ganze Nacht unterwegs gewesen und demselben Pfad gefolgt, den Raffy und Evie vor etwas über einem Jahr genommen hatten. Sie waren hungrig und durstig und erschöpft. Keiner von ihnen war jemals zuvor außerhalb der Stadtmauer gewesen, und obwohl Lucas wusste, dass keine Bösen die Gegend durchstreiften, sah er dennoch die Furcht in Claras Augen. Auch ihm war beklommen zumute und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen beim Anblick der weiten grünen ausgestorbenen Landschaft außerhalb der Stadtmauer.


Aber sie hatten keine Zeit für Erkundungen, für Fragen oder Nachforschungen, und jetzt hatte Lucas sowieso kein Interesse an einer Entdeckungsreise. Die Anweisungen, die Linus ihm vor langer Zeit gegeben hatte, waren ihm jetzt von Nutzen. Lucas konnte in der Ferne die Lichter von Base Camp sehen, wie ein Leuchtturm, der ihn leitete.


Eigentlich hatte er nie hierherkommen wollen, er hatte sich eingeredet, das sei nicht sein Platz. Er hatte es ernst gemeint, als er Evie beim Stadttor Lebewohl gesagt hatte; er wollte sie nie wiedersehen. Base Camp gehörte ihr und Raffy; die Welt da draußen war ihre Welt, nicht seine. Aber er hatte keine Wahl. Außerdem war er nicht gekommen, um hier zu leben, sondern weil er Hilfe brauchte, weil er gegen einen Feind kämpfte, den er weder kannte noch verstand.


Die Spitzel.


Was Clara ihm erzählt hatte, war … unglaublich. Unvorstellbar. Und dennoch war ihm jetzt klar, dass das, was sie wusste, nur ein Bruchteil der ganzen Geschichte war; und dafür hatten ihre Freunde mit dem Leben bezahlt.


Lucas schloss die Augen, wappnete sich, zwang sich, weiterzugehen, und nahm Clara an der Hand, um ihr zu helfen. Kurz darauf tauchte er vor ihnen auf und kam näher, dieser sagenumwobene Ort, von dem sein Vater ihm erzählt, den er aber noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. In Base Camp wäre Clara in Sicherheit. In Base Camp könnte er seine Gedanken ordnen und überlegen, was als Nächstes zu tun war.


Sie waren jetzt nur noch knapp eine Meile entfernt. Einen Moment lang hatte Lucas Angst, sie könnten noch immer verfolgt werden und dass er die Spitzel direkt nach Base Camp führte, aber kurz darauf schob er den Gedanken weg. Er hatte extra einen Umweg gemacht, und außerdem hätte er es gemerkt, wenn sie verfolgt worden wären. Er merkte es immer.


Die Lichter wurden heller und bald konnte er das Lagerfeuer und die Zelte erkennen. Clara stolperte und Lucas hob sie hoch. Er holte noch einmal alles aus seinen Beinen heraus und mit letzter Kraft erreichte er das Lager. Er hatte es geschafft. Er war am Ziel.


Lucas legte Clara auf den Boden, dann brach er vor dem Feuer zusammen. Sofort eilte eine Frau herbei. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, es sei Evie, und er erstarrte vor Sehnsucht und vor Furcht. Aber es war nicht Evie, es war jemand anders, eine ältere Frau, die er kannte. »Martha«, stieß er hervor, ehe er das Bewusstsein verlor. »Martha, das ist Clara. Sie muss in Sicherheit gebracht werden …«


Irgendjemand murmelte vor sich hin und er spürte etwas in seinem Gesicht. Träumte er? Es war eine Hand, die ihn zärtlich streichelte, und Lucas hätte am liebsten laut geschrien, denn er konnte sich nicht erinnern, wann sich das letzte Mal jemand so um ihn gekümmert oder wann ihn das letzte Mal jemand berührt hatte.


War es ihre Hand? Sein leerer Magen rebellierte. Sie konnte es nicht sein. Oder doch? Lucas wagte nicht, die Augen zu öffnen, er wollte die Illusion nicht zerstören. Die Realität mit all ihren Hindernissen, mit ihrem Chaos und ihrer Traurigkeit sollte diesen Moment nicht auslöschen.


»Lucas? Lucas, kannst du mich hören?«


Das war nicht sie. Die Enttäuschung war groß, aber Lucas riss sich zusammen und machte die Augen auf.


»Wo ist Clara? Ist sie okay?«


»Es geht ihr gut.« Martha lächelte ihn beruhigend an. Lucas hatte sie kennengelernt, als sie zusammen mit Linus, Raffy und Evie in die Stadt gekommen war, um das System außer Kraft zu setzen. »Du siehst furchtbar aus.«


»Mir geht es gut.« Er wollte sich aufrichten, doch er sank gleich wieder zurück. »Ist Raffy hier? Ich muss mit ihm sprechen.«


»Du musst erst etwas essen«, berichtigte Martha ihn. »Und dich ausruhen.«


Lucas setzte sich erneut auf, und diesmal schaffte er es. »Martha, ich werde etwas essen, aber ich kann mich nicht ausruhen. Vor der Stadt liegen Leichen, und Spitzel bringen Leute um. Sie …«


»Schhh«, machte Martha und erhob sich. »Ich werde dir ein bisschen Suppe und Brot bringen. Raffy ist nicht hier, aber er ist in Sicherheit. Morgen kannst du dich auf den Weg zu Linus machen. Er wird dir alles erklären.«


Lucas runzelte die Stirn. »Ist er denn nicht hier? Er hat mir versprochen, sich um Evie und Raffy zu kümmern. Er hat versprochen – «


Martha lächelte ihn traurig an. »Das hat er getan, und das tut er immer noch. Nur nicht hier. Linus war schon lange nicht mehr hier«, sagte sie. »Die Dinge haben sich … geändert. Aber ich werde dir verraten, wo du ihn finden kannst. Wenn du dich ausruhst und die Suppe isst, die ich dir bringe.«


»Morgen? Nein, ich muss ihn heute noch sehen«, sagte Lucas und quälte sich aus dem Bett, in dem er gelegen hatte. Seine Glieder schmerzten, und sein Magen fühlte sich an, als würde er sich nach innen wölben; sofort fiel er zurück auf die Matratze. »Ich muss wissen, wo Raffy ist. Woher weißt du, dass er in Sicherheit ist?«


Martha hob eine Augenbraue. »Weil Linus es nicht anders wollen würde. Er wird es dir morgen erzählen«, meinte sie ernst. Dann lächelte sie. »Mir hat sowieso Gesellschaft gefehlt. Bitte bleib.«


Lucas sah sie eine Weile an, dann gab er nach. »Vielleicht ist es ja ganz gut, dass Raffy nicht hier ist.«


Martha nickte. »Linus weiß normalerweise, was er tut.«


»Ich weiß, ich weiß – und er wird es mir bestimmt morgen sagen?«, fragte Lucas zweifelnd.


»Bestimmt«, erwiderte Martha mit einem Lächeln und schloss die Tür hinter sich.


Lucas streckte sich, schwang die Beine aus dem Bett, stellte vorsichtig die Füße auf den Boden, hielt sich am Bettpfosten fest und stand auf. Seine Füße waren nicht gerade im besten Zustand, aber es war nichts Ernstes. Er musste ohnmächtig geworden sein vor Erschöpfung. Eine warme Mahlzeit würde ihm guttun. Er ging zur Tür, blieb stehen und konnte sich gerade noch fangen. Schwarze Punkte tanzten ihm vor den Augen. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und verließ das Zimmer.


Lucas war noch nie in Base Camp gewesen. Er hatte es sich irgendwie geschäftiger vorgestellt, voller Menschen. Stattdessen war es unheimlich ruhig, nur das Flattern einer Plane im Wind durchbrach die Stille.


Linus hatte das Camp vor vielen Jahren aufgebaut, nachdem er die Stadt, die er mitbegründet hatte, verlassen hatte. Die Art und Weise, wie sein wunderschön entworfenes System korrumpiert worden war, um die Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren, hatte ihn krank gemacht. Vor der Schreckenszeit war Linus ein Computergenie gewesen. Mit dem Aufbau eines Computersystems, das in der Lage war, die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen vorauszuberechnen, wollte er eine Art Utopia erschaffen. Nur hatte es leider nicht ganz so funktioniert. Deshalb hatte er schließlich die Stadt verlassen, Base Camp errichtet und insgeheim den Plan gefasst, den Bruder zu stürzen und dessen korruptes System ein für alle Mal zu zerstören.


Woche für Woche hatte Lucas seine Mitteilungen an einen der Computer in Base Camp geschickt. Nur wenn er das tat, konnte er aufrichtig und wirklich er selbst sein.


Und jetzt war er also hier. Er blieb in einer Türöffnung stehen und sah, dass Clara in dem Zimmer schlief. Er beobachtete sie eine Weile und spürte dabei die ungeheure Last der Verantwortung, die er für sie, für ihre Familie und für ihre Freunde trug. Das Mädchen war ungefähr fünfzehn und das ganze Leben lag noch vor ihr. Genau wie ihre Freunde, denen man das Leben genommen hatte. Bei dem Gedanken zog sich seine Brust zusammen vor Zorn. Die Spitzel würden bezahlen für das, was sie getan hatten.


Lucas atmete tief durch und ging weiter. Plötzlich stieg ihm der köstliche Geruch von Hühnchen in die Nase. Er folgte dem Duft und gelangte in eine Art Küche. Martha drehte sich um und lächelte.


»Verstehst du das unter ausruhen?«


Lucas zuckte die Achseln und grinste. »Hier riecht es einfach zu gut.«


»Setz dich«, sagte Martha und deutete auf einen Tisch hinter einem Durchgang. »Ich bring dir schon mal etwas Brot.«


Lucas begab sich in den Nebenraum. Dort standen mehrere Tische, aber alle waren verwaist. Martha folgte ihm, stellte ein Glas vor ihn auf den Tisch und legte ein Stück Brot daneben.


»Wo sind denn die anderen alle?«, fragte Lucas. Er hatte Linus so gern zugehört, wenn er von Base Camp erzählte, von den rund fünfzig Leuten, die dort lebten und arbeiteten, darunter Martha und Angel, Linus’ engste Vertraute. Lucas hatte oft davon geträumt, einmal selbst dort zu leben, unabhängig von der Stadt und von allem, was sie verkörperte.


Martha zögerte. »Die meisten Männer sind bei der Arbeit«, sagte sie schließlich. »Sie holen Nahrungsmittel und erledigen Reparaturen. Angel ist mit drei anderen auf Erkundungstour. Aber hier leben nicht mehr so viele wie früher.« Ihre Blicke trafen sich, und Martha lächelte traurig. »Ich nehme an, du hast nie erlebt, wie es vorher war, oder? Schade. Es hätte dir gefallen. Es war … aufregend.«


»Vorher?«, fragte Lucas neugierig.


»Bevor wir getan haben, was wir uns vorgenommen hatten, und unsere Daseinsberechtigung verloren haben«, erklärte Martha achselzuckend.


»Und jetzt ist es so, als hätte die Revolution stattgefunden, aber nichts hat sich verändert?«, fragte Lucas.


Martha verzog das Gesicht. »Es hat sich sehr wohl etwas verändert«, sagte sie mit einer Spur von Traurigkeit in der Stimme. »Nur nicht …« Sie schüttelte sich. »Hör nicht auf mich«, meinte sie und stand auf. »Ich hole dir deine Suppe.«


Nach ein paar Minuten kam sie mit einer dampfenden Suppenschale zurück, stellte sie vor Lucas auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber.


Im Nu hatte er alles aufgegessen.


»Noch mehr?«, fragte Martha mit einem Lächeln. Lucas nickte dankbar und kurz darauf stand eine zweite Schale vor ihm. Gierig aß er alles auf.


»Bekommt ihr in der Stadt nichts zu essen?«, fragte Martha mit einem leichten Augenzwinkern.


Lucas zog eine Augenbraue hoch. »Es gibt genug zu essen, aber das, was gerade in der Stadt vor sich geht, verdirbt einem den Appetit.« Es tat gut, es auszusprechen, auch wenn er dabei gequält lächelte. Lucas spürte, wie allein er sich in dem letzten Jahr gefühlt hatte, ohne Linus als Kommunikationspartner.


Martha legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Dann erzähl mal, was los war«, sagte sie und sah ihn dabei ernst an.


Lucas erzählte ihr alles so knapp wie möglich: von der Stadt, vom Bruder, der an der Macht festhielt, von dem Misstrauen der Bürger ihm gegenüber, von den Verschwundenen und von den Fliegen. Obwohl er sich bemühte, seine Gefühle im Zaum zu halten, als er ihr von dem Berg Leichen erzählte, den Rab und er entdeckt hatten, versagte ihm fast die Stimme, als er schilderte, in was für einem Zustand die Leichen der jungen Leute waren, die man entsorgt hatte wie Müll. Anschließend erzählte er ihr von Rab und von den Spitzeln. Martha hörte Lucas schweigend zu, nickte ein paarmal, zuckte manchmal zusammen und rang nach Luft. Dann streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine.


»Und du? Wie geht es dir?«


Lucas runzelte die Stirn. »Mir geht es gut«, sagte er. Er wollte noch etwas anderes fragen, etwas, was er schon hatte fragen wollen, als er hier angekommen war, und worüber er seit seiner Entscheidung, hierherzukommen, nachgedacht hatte. Aber dann überlegte er es sich anders.


»Du willst bestimmt wissen, was Evie macht«, sagte Martha, als könnte sie seine Gedanken lesen.


Lucas wurde rot. »Sie ist bei Raffy und in Sicherheit«, erklärte Martha beruhigend.


Lucas nickte und lächelte. »Das ist gut«, sagte er schnell.


»Du musst bestimmt oft an sie denken«, meinte Martha und sah ihn dabei auf eine Weise an, die Lucas etwas verwirrte. »Du hast … Evie nahegestanden, nicht wahr? Ich weiß, dass sie dich sehr schätzt.«


Lucas nickte wieder. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und das Denken und Atmen fiel ihm auf einmal schwer. »Ja«, brachte er hervor. »Ich … ich habe sie auch sehr geschätzt. Ich schätze sie, meine ich. Ich –«


Lucas schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich zusammenzureißen und das Gefühl der Einsamkeit zu vertreiben, das plötzlich wieder in ihm hochkam.


Martha machte ein mitfühlendes Gesicht. »Es ist bestimmt schwer, so allein zu sein.«


Lucas fing ihren Blick auf und errötete. »Ich war immer allein«, meinte er achselzuckend. »Das ist nichts Besonderes.«


Martha schien darüber nachzudenken. »Ich glaube, die Menschen sollten nicht allein sein«, sagte sie schließlich. »Wir müssen Kontakte knüpfen. Wir müssen Teil von etwas sein. Deshalb haben Leute wie der Bruder Erfolg. Weil die Menschen am meisten Angst vor dem Alleinsein haben. Es gibt nicht viele, die so sind wie du, Lucas. Nicht viele, die so stark sind wie du. Aber versuch nicht, zu stark zu sein. Auch du brauchst andere Menschen, so wie jeder von uns.«


Marthas Stimme klang brüchig und Lucas spürte einen Kloß im Hals. Wusste sie es? Waren seine Gefühle so offensichtlich?


»Ich nicht«, sagte er. »Mir geht es gut.«


Martha schüttelte traurig den Kopf. »Du bist genau wie Linus. Er denkt auch, dass er niemanden braucht.«


Lucas musste das eben Gehörte erst einmal verdauen. »Und wo ist er? Linus, meine ich.«


Martha hob eine Augenbraue und lächelte bitter. »Er ist in einer Höhle in den Bergen und arbeitet wie ein Wilder.«


Lucas sah sie fragend an. »Woran arbeitet er?«


Martha seufzte. »Ich bin sicher, er wird es dir morgen erzählen. Ich kann es dir unmöglich erklären – ich verstehe es selbst kaum. Aber er hat sich in etwas verbissen, es geht um ein Lager, das vor ein paar Monaten an der Küste aufgetaucht ist. Eine neue Zivilisation, und ziemlich klein, glaube ich. Sie ist auf einmal auf dem Überwachungssystem aufgetaucht und dann offenbar wieder verschwunden, mitsamt einem Stück Küste.«


»Verschwunden?«, fragte Lucas ernst. Sein Interesse war geweckt.


Martha zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß nicht. Er hat immer gesagt, dass er nicht wüsste, wo sie hergekommen sind. Sie mussten ja von irgendwoher gekommen sein, aber laut den Satellitenbildern gab es jenseits dieser Insel nichts. Das heißt, dass es diese Leute entweder nicht gibt oder dass seine Informationen falsch waren. Als alle plötzlich verschwunden waren, hat er sich aufgeführt wie ein Verrückter, ist die ganze Zeit auf und ab gegangen, hat vor sich hin gemurmelt und stundenlang, nein, tagelang an seinem Computer gesessen.«


»Und dann ist er gegangen?«, fragte Lucas.


Martha nickte. »Linus ist nun mal ein Genie. Er hat das System aufgebaut. Er sieht die Welt mit anderen Augen als wir, er erkennt Zusammenhänge, die wir nicht erkennen, er ist den anderen immer zwanzig Schritte voraus. Das heißt, dass andere Menschen ihn einfach erdrücken, ihm im Weg stehen. Er musste arbeiten, er musste diesem … diesem Problem auf den Grund gehen. Und er musste es tun, ohne dass wir ihn aufhalten. Deshalb ist er in die Berge gegangen. Ich hoffe nur, dass er bald die Lösung findet, damit er wieder nach Hause kommt.«


»Ist das hier sein Zuhause? Ich dachte, Base Camp ist nur eine Übergangslösung.«


»Nein«, meinte Martha achselzuckend, »dieser Ort ist nicht das Zuhause; es sind die Menschen. Wir sind immer gemeinsam herumgezogen, und Linus hat uns immer gesagt, wann und wohin. Wir brauchen ihn. Und im Grunde braucht er uns auch – als Ausgleich, damit wir ihn daran erinnern, dass das Leben manchmal auch einfach gelebt werden muss, dass gemeinsam essen, schlafen, arbeiten … dass das alles genauso wichtig sein kann, wie die Welt zu retten.«


»Und du willst auf ihn warten? Hast du nicht manchmal den Wunsch, von hier wegzugehen?«


Martha schüttelte den Kopf. »Ich kenne Linus schon sehr lange. Er ist ein guter Mensch. Ein bisschen verrückt, auf jeden Fall ein Genie, aber anständig. Er wird es zwar nie zugeben, aber er braucht uns hier. In seiner Nähe. Er muss wissen, dass wir, wenn es sein muss, alles für ihn aufgeben würden.«


»Und du wärst bereit, das für ihn zu tun?«, fragte Lucas neugierig.


»Wir würden alle für Linus sterben«, sagte sie schlicht. »Er wird zwar schnell wütend, ist oft unausstehlich und völlig unmöglich, aber alles, was er tut, hat einen Sinn, auch wenn es manchmal nicht so aussieht. Wie gesagt, er ist uns zwanzig Schritte voraus. Man muss einfach darauf vertrauen, dass man ihn letztendlich einholt. So weit hat er bis jetzt immer recht behalten. Und so weit hat er keinen falschen Schritt gemacht.«


»Also, wo ist er? Wie ist sein neues Lager?«, fragte Lucas.


Martha lachte. »Ich würde es nicht gerade als Lager bezeichnen. Es ist eher eine armselige Behausung. Er lebt in einer Höhle, nur mit seinem Generator und seinen Computern. Angel wollte ihm helfen, ein paar Zelte aufzustellen, aber er hat abgelehnt. Unter einem Vorwand musste er Linus eine Küche einrichten, sonst wäre er verhungert. Alle vierzehn Tage bringt Angel ihm Vorräte, zuletzt vor zwei Tagen. Es müsste also noch etwas Essbares da sein. Aber du solltest dich auf etwas gefasst machen. Das letzte Mal, als ich Linus gesehen habe, hatte er einen Bart.«


»Einen Bart?« Lucas rang sich ein Lächeln ab.


»Einen langen.« Martha grinste, wischte sich die Hände mit einer Serviette ab und ging zurück in die Küche.



10


Devil blickte auf die ausgestreckte Hand vor ihm und schüttelte den Kopf. »Nö!«


Seine Jungs boten ihm ständig ihre Joints an, aber er lehnte jedes Mal ab. Gras machte die Menschen schwach und a-pa-thisch. Devil grinste in sich hinein. »Apathisch« war sein neuestes Wort. Es gefiel ihm, jeden Tag ein neues Wort zu benutzen. Das hielt seinen Verstand auf Trab. Und »apathisch« war eines der besten, die er bislang entdeckt hatte. Nach Devils Meinung waren die meisten Menschen apathisch. Zumindest in dieser Gegend. Keiner tat irgendetwas. Keiner außer ihm.


Er sprang von der Mauer, und sofort folgten die anderen seinem Beispiel, aber er scheuchte sie mit einer Handbewegung zurück. »Ihr bleibt hier«, befahl er. Sie waren an ihrem üblichen Treffpunkt mitten in der Siedlung, auf der Treppe, die zum Spielplatz führte. Der Spielplatz war nicht so, wie er sein sollte. Die Schaukeln und ein schäbiges Karussell standen still; nur Devil und seine Jungs setzten sich gelegentlich darauf und fuhren eine Runde damit und lachten lauthals, aber Kinder kamen nicht mehr hierher. Keiner wagte den Spielplatz zu betreten, es sei denn, Devil hatte es ausdrücklich erlaubt. Der Spielplatz gehörte jetzt ihm. Dreckloch oder nicht, das wollte immer noch etwas heißen.


Devil marschierte mit leicht gebeugten Knien los, sein Kopf wippte beim Gehen, als würde er tanzen. Er war stolz auf seinen Gang, und er hatte lange gebraucht, um ihn zu perfektionieren. Als er hierherkam, war er gegangen wie ein ganz normaler Junge. Spießig. Er war dahingetrottet und hatte herumgetrödelt wie früher auf dem Schulweg mit Leona.


Mittlerweile erkannten ihn die Leute schon aus einiger Entfernung an seinem unverwechselbaren Gang. Und sie wussten sofort, wenn er da war, auch ohne dass er den Mund aufmachte. Das ist alles eine Frage der Präsenz, hatte sein Vater ihm einmal gesagt. Sorge dafür, dass die Leute wissen, wer du bist und was du bist. Wenn du in der Menge untergehst, gibt es keinen Grund, warum man dich beachten sollte. Wenn du jemand sein willst, musst du als jemand angesehen werden. Du musst dafür sorgen, dass man von dir Notiz nimmt.


Devils Vater hatte das schon vor langer Zeit herausgefunden. Man konnte nicht mit ihm die Straße entlanggehen, ohne dass die Leute auf ihn zugerannt kamen, seinen Namen riefen und ihm zuwinkten. Die Leute liebten Pastor Jones. Sie brauchten ihn und sie verehrten ihn.


Ja, sein Vater wusste, was er tat. Er wusste, wie man es besser machte.


Und Devil wusste es auch – er hatte gleich am ersten Tag nach seiner Ankunft in der Siedlung erkannt, dass sich etwas ändern musste. Wenn er überleben wollte, musste er die Kontrolle übernehmen. Er hatte sich im Spiegel betrachtet und eine Verwandlung vollzogen. Den Jungen aus der Mittelschicht, für den schwarz bloß die Farbe seiner Haut war und der die Schultern hochzog, damit seine kräftige Statur niemandem Angst einjagte, den gab es nicht mehr. Stattdessen war Devil geboren: groß, breitschultrig, unverschämt, arrogant, zornig. Einer, vor dem die Menschen Angst hatten und mit dem sie sich nicht anlegen wollten.


Devil lief durch die Unterführung zwischen den beiden Hochhäusern, in deren Nähe sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand wagte, außer den Junkies und den Schlampen, Menschen, denen alles egal war, die keinerlei Selbstachtung mehr hatten. Devil hatte auch keine Achtung vor ihnen. Er hatte vor niemandem Respekt, außer vor sich selbst. Sogar seine Bande war wie eine Herde Schafe, die ihrem Schäfer auf Schritt und Tritt folgte. Die Jungs hatten nicht den Mut, etwas selbst in die Hand zu nehmen.


Sie waren nicht wie er. Devil zuckte schon bei dem Geruch von Urin, Exkrementen, billigem Fusel und schmutzigen Klamotten zusammen. Als er zum ersten Mal durch die Unterführung ging, hätte er sich beinahe selbst angepinkelt. Er war vorher noch nie an einem solchen Ort gewesen; bis dahin kannte er nur die grüne Vorstadt in Hertfordshire, wo alle in hübschen neuen Häusern mit Garten wohnten, vor denen Autos parkten, und wo alle ihn kannten, ihm zulächelten und ihm Geschenke mitbrachten, wenn sie zu seinem Vater kamen. Wo er Leona immer zuhörte, wenn sie Klavier übte, und sie mit Grimassenschneiden abzulenken versuchte.


Aber Devil hatte gelernt, dass sich das Leben veränderte, dass man sich auf nichts verlassen konnte außer auf sich selbst.


Als er aus der Unterführung kam, traf ihn ein frühherbstlicher Sonnenstrahl, und er lächelte und genoss die Wärme auf der Haut. Es lief gut. Die Green Lanes Massive Gang hatte kapiert, was auf sie zukam. Der Junge hatte seinen Job gemacht. Das blöde Arschloch hatte sich zwar erwischen lassen, aber er war selber schuld. Anscheinend war er nach der Tat wie erstarrt gewesen und mit dem Messer in der Hand neben der Leiche stehen geblieben wie ein Idiot. Aber das war okay. Diejenigen, die es anging, wussten, dass Devil dahintersteckte. Die Polizei hatte den Jungen zwar verhaftet, brachte ihn aber nicht mit der Dalston-Bande in Verbindung. Deshalb war alles in bester Ordnung.


Natürlich würden die Green Lanes Massive zurückschlagen, aber darauf war Devil gefasst. Seine Jungs waren tougher, hungriger; sie würden weitergehen. Devil hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass es genau darum ging. Es war eine Art Mutprobe. Man musste bereit sein, weiterzugehen als die anderen. Man durfte keine Angst haben. Angst bedeutete Schwäche und machte einen angreifbar. Wer nicht angreifbar war, hatte Macht und war unbesiegbar.


Devil nahm den langen Weg durch das öde Buschland hinter der Siedlung. Früher war einmal geplant gewesen, das Land in ein Freizeitgelände für Kinder und Jugendliche zu verwandeln, mit einem großen Fußballplatz und einem Jugendklub; das Fundament war sogar schon ausgehoben worden. Aber an dem Tag, als das Holz für den Bau geliefert wurde, war alles abgefackelt worden, und kurz darauf wurden die Pläne aufgegeben.


Jetzt schlenderte Devil, die Hände in den Hosentaschen, die Straße hinunter Richtung Spielhalle. Normalerweise verließ er die Siedlung nicht allein, weil man zu mehreren sicherer war. Aber heute war er voller Selbstvertrauen. Außerdem wollte er nicht die ganze Zeit mit seinen Jungs herumhängen. Die redeten einen ziemlichen Scheiß, lachten über die blödesten Sachen und waren einfach nur langweilig. Infantil. Seit ein paar Wochen war das eines seiner Lieblingswörter. In-fan-til. Kindisch. Bei jeder Gelegenheit warf er den Leuten dieses Wort an den Kopf. Die Leute mochten es nicht, weil es ein langes Wort war, und das war ein Beweis dafür, wie dumm sie waren. Sie hätten etwas gegen ihre Dummheit tun können, indem sie sich eine Wörterbuch-App herunterluden, so wie er. Aber die dachten gar nicht daran. Sie waren zufrieden mit dem Leben in der Gosse. Sein Vater hatte recht gehabt: Die anderen bekamen, was sie verdienten. Sie hatten es sich selbst zuzuschreiben. Sie waren schon froh, dass sie überhaupt lebten.


Draußen vor dem Zeitschriftenladen stand ein Mädchen und hielt ein Fahrrad fest. Zögernd schaute sie in den Laden und dann wieder auf das Rad. Es war rosa. Und ganz neu. Billiger Mist, es würde bald auseinanderfallen, und die rosa Farbe würde abblättern. Aber jetzt sah es ganz okay aus. Das Mädchen trug einen passenden blassrosa Helm. Vorne an dem Rad war ein Korb befestigt. In der linken Hand hielt sie ein Fahrradschloss, und sie sah sich um, wo sie es am besten festmachen konnte.


Devil ging zu ihr hin. Er verspürte auf einmal den Drang, ihr das Rad wegzunehmen und ihr zu zeigen, dass er der Boss war und dass er alles in der Siedlung mitnehmen konnte, sogar ein Scheißkinderfahrrad.


»Du kannst das Rad bei mir lassen.«


Das Mädchen blickte mit großen Augen zu ihm auf. Die Kleine war sechs, zu jung, um zu wissen, dass man ihm nicht in die Augen sehen durfte, aber alt genug, um zu zögern. Er erinnerte sich an die Zeit, als sie noch ein Baby war. Ihre Mutter sah früher einmal gut aus. Aber heute nicht mehr. »Mum hat gesagt, ich soll es abschließen.«


»Deine Mum möchte eben, dass dein Rad sicher ist. Bei mir ist es sicher.« Er lächelte und bekam plötzlich ganz weiche Gesichtszüge. Das hatte er von seinem Vater gelernt. Erst weich, dann hart; erst hart, dann weich.


Das Mädchen war hin und her gerissen.


»Wenn du in den Laden gehen willst, musst du das Rad hierlassen. Ich passe darauf auf.«


Devil lächelte wieder. Zögernd ging sie zu dem Laden, drehte sich aber alle paar Sekunden um, um sich zu vergewissern, dass das Rad noch da war.


»Dein Helm«, sagte Devil. Das Mädchen runzelte die Stirn. »Ich brauche deinen Helm.«


Das Mädchen wollte etwas sagen, aber dann sah sie Devils Gesichtsausdruck. Das Lächeln war verschwunden. Er saß auf dem Fahrrad, die Knie an die Brust gepresst. Die Kleine rührte sich nicht.


»Du gibst mir jetzt deinen Helm«, sagte Devil in bedrohlichem Ton. »Ich will mir dein Rad nur kurz ausleihen und für dich darauf aufpassen.«


Das Mädchen versuchte sich rückwärts durch die Ladentür zu schieben, aber Devil war mit einem Satz bei ihr, packte sie und riss ihr den Helm vom Kopf. Dann zog er sie zu ihrem Fahrrad, das auf dem Gehweg lag. Er packte das Mädchen im Nacken und drückte sie mit der Nase gegen das Rad. »Jetzt kannst du deiner Mama erzählen, dass Devil dein Rad hat. Sag ihr: Wenn sie will, dass du es wiederkriegst, muss sie mich fürs Aufpassen bezahlen. Hast du verstanden? Hörst du, was ich sage?«


Das Mädchen weinte. Einen Moment lang sah Devil die Kleine an. Unwillkürlich wollte er ihr die Tränen abwischen, wie er es bei Leona getan hatte, damals, als er sie in den Armen wiegte und ihr versicherte, dass es keine Monster gebe, dass er sie beschützen werde und dass er immer für sie da sei. Aber dieses Mädchen war nicht Leona. Und ihre Mutter, die Schlampe, hatte ihnen kein bisschen geholfen, als sie hierhergekommen waren; sie hatte für Leona nicht einmal ein Lächeln übriggehabt. Plötzlich stieß er das Mädchen grob auf das Pflaster vor lauter Wut und Hass. »Richte ihr aus, was ich dir gesagt habe.«


Devil radelte davon und drehte sich nicht um. Es war ihm egal, ob das Mädchen weinte oder nicht. Leona hatte kein Fahrrad. Leona hatte gar nichts. Welches Recht hatte dieses Mädchen? Das Rad war mit dem Geld bezahlt worden, das eigentlich der Dalston-Bande zustand. Zwanzig Prozent vom Einkommen, das war alles, was er von der Mutter der Kleinen verlangte. Nicht viel für die Sicherheit ihrer Familie. Aber er wusste, dass sie ihn bestahl, dass sie heimlich Kunden hatte. Er wusste, dass sie sich Geld ergaunerte, dass sie trickste, log und ihn hinterging. Und jetzt sollte sie erfahren, dass er Bescheid wusste.


Obwohl das Fahrrad viel zu klein für ihn war, fuhr er trotzdem damit. Es erinnerte ihn an sein BMX-Rad, als er noch klein war. Er hatte dieses Rad geliebt und war damit überallhin gefahren. Manchmal hatte Leona sich auf seine Knie gesetzt und er war mit ihr losgeradelt. Sie hatte gekichert, sich am Lenker festgekrallt und laut gekreischt, wenn er nur auf dem Hinterrad fuhr.


Devil stieg vom Rad, warf es angewidert hin und verbannte die Gedanken an seine kleine Schwester aus seinem Kopf. Leona war nicht mehr da. So war das nun mal. Die Dinge hatten sich geändert.


Er lief schnell, vorbei an der Spielhalle, vorbei an dem chaotischen Durcheinander von hohen und niedrigen Häusern in der Umgebung der Siedlung, mit Gärten voller Wäscheleinen und kaputten Autos und mit Wegen, die übersät waren mit zerbrochenen Flaschen und Zigarettenkippen. Kippen von billigen Zigaretten.


Devil rauchte Silk Cut, die Marke seines Vaters. Nur um anders zu sein. Mit mehr Stil. Man würde ihn nie mit einer dieser Billigmarken erwischen, die so scheiße schmeckten.


Endlich blieb er stehen und sah sich um. Ein paar Jungs sahen ihn vorsichtig an und liefen dann mit gesenktem Kopf davon. Er befand sich auf sicherem Terrain. Eine Meile weiter hätte er seine Gang gebraucht. Nur für den Fall. Aber hier würde niemand es wagen, sich mit ihm anzulegen. Keine andere Gang würde sein Revier betreten.


Devil ging weiter, vorbei an den Häusern, bog um die Ecke und grinste spöttisch, als er die Leute bei ihren alltäglichen Verrichtungen beobachtete: streiten, Wäsche waschen, die Kinder anschreien. Ein Scheißort zum Leben. In den Zeitungen wurde es als Problemviertel bezeichnet. Als würde irgendjemand hier Zeitung lesen. Man sah sich allenfalls mal die Fotos an oder starrte auf die Titten, aber sonst nichts. Ungefähr einen Monat nachdem Devil hierher gezogen war, hatte er begriffen, was diese Gegend zum Problemviertel machte. Es waren nicht die Wohnungen und die Häuser, obwohl die Wände so dünn waren, dass man drinnen den feuchten Fleck sah, wenn draußen jemand dagegenpinkelte. Nein, es waren die Leute hier – träge, dumme, ignorante Leute. Sein Dad hätte damit aufgeräumt, dachte er bei sich. Aber dann fiel ihm ein, dass sein Dad fort war und dass er nicht zurückkommen würde. Also beschloss er, stattdessen selbst aufzuräumen. Diese Siedlung würde ihm gehören, so wie die Vorstadt in Hertfordshire seinem Vater gehört hatte.


Als er seinen Vater das erste Mal im Fernsehen gesehen hatte, hatte er das Ganze für ein Spiel gehalten. Er hatte gedacht, sein Dad würde mit der Kamera irgendetwas Schlaues anstellen, so wie damals, als er die Bilder von Devil mit Leona auf dem Fahrrad auf seinen Computer geladen hatte, damit sie sie anschauen konnten. Doch es war kein Spiel. Es war Realität. Sein Dad sprach zu Millionen von Menschen.


»Sie lieben mich«, hatte sein Dad voller Stolz erklärt und dabei gelächelt. »Sie lieben mich so sehr, dass sie mir ihr Geld schicken. Sogar aus Amerika und aus Afrika. Eines Tages gehen wir nach Amerika, mein Sohn. Sie werden mir aus der Hand fressen.«


Devil hatte damals einen anderen Namen. Aber damals war vieles anders.


»Devil? Na so was, du hier?«


Devil blieb abrupt stehen und verfluchte sich, weil er so in Gedanken versunken war, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich die Bullen an ihn heranschlichen.


»Ja. Soviel ich weiß, leben wir hier in einem freien Land«, sagte er und sah dem Polizisten direkt in die Augen. Der hatte eine Polizeibeamtin bei sich. Ganz schön sexy, wenn man auf so was stand. Sie hatte dunkelbraune Haare; der Polizist war rothaarig.


»Wie ich gehört habe«, sagte die Frau, »steckst du hinter der Messerstecherei von letzter Woche. Hast du was dazu zu sagen?«


Devil zuckte die Schultern. »Ich stecke hinter keiner Messerstecherei. Das ist nicht mein Stil. Meine Gang ist ganz friedlich, Officer.«


Auf Devils Gesicht erschien ein breites, selbstbewusstes Grinsen. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand. Der Junge würde nichts sagen, nicht, wenn seine Familie ihm am Herzen lag.


»Friedlich, soso.« Der Polizist verengte die Augen zu Schlitzen. »Du bist ein kleiner Scheißkerl, weißt du das? Weißt du auch, dass die kleine Schwester deines Handlangers im Krankenhaus liegt? Das war die Rache für den Mord, zu dem du ihn angestiftet hast. Die Green Lanes Massive haben gedroht, dass sie sie beim nächsten Mal töten. Dieser Junge dachte, er stünde unter deinem Schutz. Aber dir ist das scheißegal, oder? Meinst du, dass er weiter dichthalten wird? Meinst du nicht, dass er es sich gut überlegen wird, ob er uns erzählen soll, was du von ihm verlangt hast? «


Devils Augen weiteten sich. Seine Schwester? Verdammt. Er hatte ja keine Ahnung. »Tja«, meinte er und verschränkte unbekümmert die Arme, »dann viel Glück, denn ich habe nichts damit zu tun.«


Devil wandte sich rasch um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Er hatte ein ungutes Gefühl. Was war, wenn der Junge redete?


»Treib es nicht zu weit, Devil«, rief der Polizist hinter ihm her, aber Devil drehte sich nicht um. Er schob einfach die Hände in die Taschen und ging zurück zur Siedlung.



11


Die Näherei befand sich am nördlichen Ende der Siedlung und bestand aus zwei Räumen; in dem einen wurde die Kleidung sortiert und maschinell gefertigt, in dem anderen wurden kompliziertere Arbeiten gemacht. Evie arbeitete im zweiten Raum. Manchmal musste sie besondere Kleidungsstücke von Hand nähen, meistens aber war sie mit dem Ausbessern und Stopfen von bereits getragener Kleidung beschäftigt, die schon bessere Tage gesehen hatte. Da die meisten Sachen aus Wolle waren und neue Stoffe teuer in der Herstellung, wurden die alten Kleider wiederverwendet. Der Großteil ihrer Arbeit bestand darin, die Bauern einzukleiden, die rund um die Uhr ackerten, damit die Gemeinschaft immer etwas zu essen auf dem Tisch hatte. Nach den Lehrern wurden die Bauern in der Siedlung am meisten geachtet. Die meisten Männer zwischen sechzehn und vierzig bestellten die Felder und kümmerten sich um die Tiere, da die Nahrung, wie Benjamin erklärte, die Energie für alle anderen Tätigkeiten lieferte; ohne diese Energie war alles zum Scheitern verurteilt.


Im Gegensatz dazu bekam man die Bauern in der Stadt nur selten zu Gesicht, außer wenn sie ihre Waren zum Markt brachten. Ihre Arbeit wurde als selbstverständlich betrachtet und nie besonders hervorgehoben, und Landwirt galt nicht als besonders wichtiger Beruf. Erst nachdem Evie die Stadt verlassen hatte, verstand sie, warum: Die Stadt konnte sich nicht selbst versorgen, und Landwirtschaft war deshalb nichts Besonderes, weil es außerhalb der Stadtmauern stattfand – ein schmutziges kleines Geheimnis, das der Bruder gern für sich behielt.


Evie wurde immer noch wütend, wenn sie daran dachte, was Linus ihr über die Bösen erzählt hatte, die außerhalb der Stadt unter furchtbaren Bedingungen Nahrung für deren Bürger produzierten. Im Gegensatz zu den Bauern in der Siedlung wurden sie so schlecht behandelt, dass es Evie bei dem bloßen Gedanken kalt über den Rücken lief. Meistens jedoch versuchte sie, nicht an die Stadt zu denken, sondern nur an das Hier und Jetzt, an die Siedlung und an ihre Zukunft.


Das Problem war nur, dass es sie auch dabei manchmal schauderte.


Evie arbeitete gern hier. In der Stadt hatte sie Nähen gehasst und sich bei jeder Gelegenheit davor gedrückt. Das lag daran, dass es die Arbeit ihrer Mutter war. Der Mutter, die gar nicht ihre Mutter war, die sie ihren richtigen Eltern weggenommen und es versäumt hatte, ihr dafür Liebe zu geben. Jetzt genoss Evie die Kameradschaft unter den Kolleginnen, denn es waren nur Frauen in der Näherei beschäftigt. »Nicht, weil Männer nicht nähen können«, hatte Benjamin ihr mit einem Augenzwinkern erklärt. »Aber ich habe noch keinen Mann gefunden, der mutig genug gewesen wäre, sich an einer Unterhaltung zu beteiligen.«


Und die Gespräche waren für Evie eine Offenbarung gewesen. Die Frauen unterhielten sich bei der Arbeit, tauschten Geheimnisse aus, erzählten sich Geschichten aus ihrer Vergangenheit, sprachen über ihre Träume von der Zukunft, neckten einander und halfen sich gegenseitig. Hier war alles ganz anders als in der Stadt, wo die Menschen schweigend ihrer Arbeit nachgingen und wo man seine gesellschaftliche Stellung und seinen Rang gefährdete, wenn man sich jemandem anvertraute.


Hier tratschten die Frauen über andere, was meist nicht böse gemeint war. Evie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Menschen in der Siedlung niemanden verurteilten, verachteten oder fürchteten. Vielmehr suchten sie nach Dingen, die sie mit anderen gemeinsam hatten, nach gemeinsamen Werten und Hoffnungen. Und das war Benjamins Verdienst. Denn Benjamin hatte ihr beigebracht, dass Liebe stets die Angst besiegte und dass Frieden weit stärker war als Gewalt. Evie liebte die freundliche Atmosphäre in der Näherei, das Surren der Maschinen, das durch die dünnen Wände drang, und das schallende Gelächter, das von Zeit zu Zeit ihre Gespräche unterbrach.


Heute jedoch wurde nur über ein Thema gesprochen: die Begrüßungszeremonie. Der Tag der Aufnahme in die Gemeinschaft, der gleichzeitig Evies Hochzeitstag sein sollte. Das Kleid, das sie an diesem Tag und künftig bei allen Feierlichkeiten tragen würde, bis sie schwanger wurde. Nach der Geburt würde sie ein neues Kleid bekommen zum Zeichen, dass nun ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte.


»Dein Kleid ist fast fertig«, sagte Sandra, eine der älteren Frauen, lächelnd. »Du wirst darin sehr hübsch aussehen.«


Evie errötete. »Es ist schon fertig?« Sie versuchte, das seltsame Gefühl in der Magengrube nicht zu beachten. »Hoffentlich hat es nicht zu viel Zeit gebraucht.«


»Nein, das ging ruck, zuck. Meine Tochter braucht ihr Kleid nicht mehr, weil sie jetzt ein Baby hat. Ich habe nur noch ein paar Schleifen drangenäht und es ein bisschen enger gemacht. Für jemanden, der in der Stadt gelebt hat, hast du nicht viel auf den Rippen.« Diese spitzzüngige, kritische Bemerkung wäre für eine Frau aus der Stadt typisch gewesen. Aber Sandra lächelte nachsichtig bei ihren Worten und Evie ließ sich wie immer von der Wärme im Raum einhüllen. »Hier, probier mal an«, meinte Sandra und reichte Evie das Kleid.


Evie betrachtete es und versuchte sich vorzustellen, wie sie darin voller Glück ihr Eheversprechen gab. Dann legte sie es wieder weg. »Vielleicht probiere ich es in der Mittagspause an«, stammelte sie. »Ich möchte nicht während der Arbeitszeit essen.«


Sandra zuckte die Schultern. »Für jemanden, der im Überfluss aufgewachsen ist, hast du allerdings eine erstaunliche Arbeitsmoral«, sagte sie lächelnd.


»Und wie geht es dem Baby?«, erkundigte sich Kathy, eine andere Frau, zu Evies Erleichterung plötzlich bei Sandra.


Sandra strahlte vor Freude. »Einfach wunderbar. Ein ganz entzückender kleiner Kerl«, sprudelte es aus ihr heraus, und die anderen Frauen ließen gurrende Laute vernehmen.


»Wie alt ist der Kleine jetzt? Neun Monate? Dann dauert es ja nicht mehr lange bis zu seiner Willkommensfeier«, meinte Kathy kopfschüttelnd und stieß einen lauten Seufzer aus. »Wie die Zeit vergeht, nicht wahr?«


»Ach ja«, stimmte Sandra zu, legte einen Arbeitshandschuh weg und begann den nächsten zu stopfen.


Obwohl Babys in der Siedlung nichts Besonderes waren, löste die Geburt eines Kindes immer noch große Aufregung und Freude aus. Jedes Kind wurde möglichst bald nach dem ersten Geburtstag offiziell in der Siedlung willkommen geheißen. Die Begrüßungszeremonie wurde abgehalten, um die Kinder – sowie alle neuen Kandidaten – an die Siedlung zu binden. Jedes Jahr fanden zwei Zeremonien statt. Evie und Raffy hatten bereits als Zuschauer an einer Zeremonie teilgenommen, da Neuankömmlinge ein Jahr warten mussten, bevor eine formelle Aufnahme möglich war. Trotzdem hatte Evie bei der Feier weinen müssen, weil sie so voller Hoffnung, voller Liebe gewesen war, ganz anders als in der Stadt, wo Fremde gefürchtet wurden, wo Kinder als minderwertige Wesen galten, die von ihrer angeborenen Bösartigkeit befreit, der Neutaufe unterzogen und anschließend zu guten Bürgern gemacht werden mussten.


»Also«, meldete sich plötzlich Lucy, eine andere Frau, zu Wort. »Was meint ihr, wann es regnet? Hoffentlich bald.«


Seit zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Das war zwar noch kein Grund, sich ernsthaft Sorgen zu machen, aber als Gesprächsstoff eignete sich das Wetter allemal. Kein Regen hieß Ernteausfall, und Ernteausfall hieß, dass die Menschen in der Siedlung Hunger leiden mussten. Die Siedlung lag am Fluss Humber, aber das Flussbett war schon vor Jahren ausgetrocknet. Daher war die Siedlung auf Regenwasser angewiesen, das in großen Reservoirs gesammelt wurde. Und der Vorrat an Regenwasser musste regelmäßig aufgefüllt werden.


»Es wird schon noch regnen«, sagte Sandra sofort. Sie war sozusagen die Mutter der Gruppe und hatte immer beruhigende und weise Worte parat.


»Das sagt sich so leicht«, entgegnete Lucy. »Aber was, wenn nicht?«


»Es wird schon regnen«, sagte Sandra bestimmt. »Wir sollten uns keine allzu großen Sorgen machen. Hat Benjamin uns nicht gewarnt, dass lautes Jammern die Gedanken anstecken kann? Sollten wir nicht positive und hoffnungsvolle Gedanken verbreiten?«


»Das ist ja alles schön und gut, aber wir wissen doch genau, dass wir nicht so abhängig vom Regen wären, wenn das Wasser nicht in die Stadt geleitet werden würde.«


Obwohl dieser Vorwurf weit hergeholt war und Benjamin ihm regelmäßig widersprach, hielten die Menschen an der Behauptung fest, weil sie so einen Sündenbock hatten, gegen den sie ihren ganzen Zorn und Groll richten konnten, wenn der Regen ausblieb. Doch wie bei den meisten Gerüchten war auch an dieser Geschichte etwas Wahres dran: Die Stadt hatte mehrere Dämme errichten lassen, um den eigenen Wasservorrat zu erhöhen, und die umliegenden Siedlungen einfach von dem lebensnotwendigen Wasser abgeschnitten.


Evie wurde rot, wie immer, wenn ihr früheres Zuhause erwähnt wurde, als ob sie in irgendeiner Weise dafür verantwortlich wäre. Bis sie in die Siedlung gekommen war, hatte sie nichts von den Dämmen gewusst, sie hatte keine Ahnung gehabt, dass die Stadt so skrupellos war, nur auf das Wohl ihrer Bürger bedacht. Sie wusste, dass die Menschen in der Stadt leben wollten, aber es hatte immer geheißen, sie suchten nach Erlösung, nach einer Möglichkeit, in einer Welt ohne das Böse zu leben. In Wahrheit hatte die Stadt dafür gesorgt, dass in allen anderen Siedlungen im Land die Vorräte knapp waren.


»Lucy«, sagte Sandra mit drohendem Unterton.


»Was ist? Es stimmt doch, oder?«, entgegnete Lucy trotzig.


Es dauerte eine Weile, bis die Frauen, die auf Holzstühlen im Halbkreis saßen, das eben Gehörte verdaut hatten.


»Sie dürften nicht ungestraft davonkommen«, stimmte Carlotta, eine kleine, stämmige Frau mit dunklen Haaren und dunklen Augen, schließlich zu. »Wer gibt ihnen das Recht, jeden Fluss zu stauen? Wer?«


Lucy nickte energisch. »Genau. Benjamin sollte irgendetwas tun. Es ist ja gut und schön, wenn man ein Volk des Friedens ist, aber wenn man uns bestiehlt –«


»Schluss jetzt«, sagte Sandra und erhob sich. Sie sah sich im Kreis um. »Bist du hier etwa nicht glücklich?«, fragte sie Lucy. »Möchtest du lieber woanders leben?«


Lucy schüttelte den Kopf.


»Und hältst du Benjamin für einen guten Anführer, der sich bisher um uns gekümmert und alles getan hat, damit es uns gut geht?«


Lucy nickte und blickte zu Boden.


»Gut«, sagte Sandra und setzte sich wieder. »Sprich in diesem Raum nie wieder so über ihn, hörst du? Und mach Evie keine Angst. Es geht uns gut. Es wird regnen. Okay?«


Noch während sie sprach, verdunkelte sich der Himmel, und ein plötzlicher Donnerschlag ließ alle hochfahren. Kurz darauf prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben. Sandra lächelte triumphierend.


»Netter Trick«, meinte Kathy kichernd. »Du hast gewusst, dass es gleich regnen würde, oder?«


Sandra zuckte die Achseln und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Vielleicht habe ich ja heute Morgen ein paar dunkle Wolken am Himmel entdeckt«, meinte sie leichthin.


Eine Weile widmeten sich die Frauen schweigend ihrer Näharbeit. Dann sah Kathy zu Evie hinüber. »Wahrscheinlich musstest du dir in der Stadt nie Gedanken darüber machen, dass du nicht genug zu essen hast, oder?«


Evie schüttelte vorsichtig den Kopf. Die Menschen in der Stadt mussten nicht hungern, das stimmte, aber das hieß nicht, dass sie glücklich waren. »Nein«, sagte sie leise. »Aber ich bin lieber hier und bin hungrig als dort mit Essen im Überfluss.«


Kathy verzog neugierig das Gesicht. »War es dort wirklich so schlimm?«, fragte sie. »Denkst du nicht manchmal daran, ob du zurückgehen sollst?«


Evie schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte ihren Kolleginnen bereits von den Rängen erzählt, von den strengen Regeln, mit wem man sprechen und mit wem man sich anfreunden durfte, von dem System und von den Ks, die vor der Stadtmauer ausgesetzt wurden, damit die Bösen sie töteten. Aber viele ihrer neuen Freunde konnten das kaum glauben; sie hatten immer nur von der Stadt des Überflusses, der Guten und der Glücklichen gehört, und Evie merkte ihnen an, dass sie manchmal am Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten zweifelten.


»Ich will nie mehr zurück«, sagte sie gefasst. »In der Stadt gab es zwar Essen, Wasser und Unterkunft für alle, aber dort wurde auch ständig gelogen, die Menschen wurden von einem System ungerechterweise in Ränge eingeteilt, man hat ihnen eingeredet, sie hätten eine Zukunft, aber stattdessen wurden sie einer Gehirnoperation unterzogen, die ihr Leben zerstörte. Ich will nie wieder dorthin zurück.«


»Du würdest tatsächlich lieber verhungern?«, fragte Lucy und hob demonstrativ die Augenbrauen.


»Lucy, niemand hier verhungert. Es regnet doch, oder? Lass das Mädchen in Ruhe«, meinte Sandra leicht angespannt.


Lucy schnaubte missbilligend.


»Akzeptanz, Liebe, Lernen und Hoffnung«, sagte Sandra leise. »Das ist alles, was hier zählt. Bitte, Evie, hör nicht auf Lucy. Sie hat heute einfach keinen guten Tag. Stimmt‘s, Lucy? Wahrscheinlich ist sie zu spät zum Frühstück gekommen. Vielleicht hätte sie lieber im Bett bleiben sollen und jetzt bereut sie es. Oder?«


Lucy wollte schon protestieren, meinte dann aber lachend: »Okay, erwischt.«


»Wenn mich nicht alles täuscht, ist es schon fast Mittag«, sagte Sandra. »Evie, sollen wir dir nicht bei der Anprobe helfen? Wir wollen doch sehen, wie hübsch du in deinem Kleid aussiehst.«



12


»Hey, Wajid. Wie geht’s?« Wajid starrte Thomas frech an und sah dann zu dem Gefängniswärter hinüber. »Beschissen«, sagte er. »Aber was geht dich das an?«


Wajid war ein angenommener Name, den man ihm gegeben hatte, nachdem er Erlösung gefunden hatte, nachdem er im Gefängnis über eine Gruppe Jungs gestolpert war, die ihm zugehört, ihn verstanden und ihn beschützt hatten. Das war jetzt zehn Jahre her. Seitdem war er vier Mal im Gefängnis gewesen.


Aber diesmal würde er nicht wegen guter Führung vorzeitig entlassen werden. Diesmal würde er hier drin verrotten, und er brauchte keinen Fremden, der hier aufkreuzte und ihn verhöhnte.


Thomas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Es geht mich deshalb was an, Wajid, weil ich nicht glücklich darüber bin, wie du hier behandelt wirst. Und ich bin auch nicht glücklich über die Dauer deiner Strafe.«


»Meiner Strafe?« Wajid beugte sich mit funkelnden Augen zu Thomas vor. »Was weißt du über mich und meine Strafe? Wer zum Teufel bist du überhaupt?«


Eine Weile hielt er Thomas’ Blick stand, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und musterte ihn eingehend. Dieser seltsame Mann, der aussah wie ein Freak, der aber teure Klamotten trug, hatte ihn schon drei Mal besucht. Beim dritten Mal hatte er Wajid dumme, sinnlose Fragen gestellt, bevor er aufstand und wieder ging. So als wäre Wajid eine Art billige Unterhaltung für ihn, so etwas wie eine Witzfigur. Er hatte auch nie seinen Nachnamen genannt, sondern sich nur als »Thomas« vorgestellt, als wäre er ein Freund oder so was.


Thomas erblasste nicht unter Wajids prüfendem Blick. »Ich kann dir helfen«, sagte er. »Aber wenn du meine Hilfe nicht annehmen willst, wenn du hier glücklich bist, dann ist das auch okay. Dann vergeude ich offenbar meine Zeit.«


Wajid schlug mit der Faust auf den Tisch. Er hatte diese Spielchen satt. »Sag mir auf der Stelle, was du hier machst. Wer hat dich geschickt? Für wen arbeitest du?«


Der Gefängniswärter kam herüber. »Alles in Ordnung?«, fragte er.


Thomas nickte hastig. »Alles okay, Officer.«


Der Wärter trottete davon.


Thomas sah Wajid vorsichtig an. »Ich bin Teil eines Netzwerks«, erklärte er. »Ein Netzwerk, das dir helfen kann, hier herauszukommen.«


Wajid verengte die Augen zu Schlitzen. »Verarsch mich nicht.«


Thomas lachte. »Nein, Wajid. Ich spreche nicht von Flucht. Ich spreche von Richtern, die dein Urteil überprüfen sollen, von einer Entschädigung wegen eines Fehlurteils. Ich weiß, dass du kein Terrorist bist, Wajid. Ich weiß, dass du die Ungerechtigkeit auf der Welt satthast. Dass du es satthast, dass die falschen Leute am Ruder sind und dass du kein Gehör findest.«


Wajid schwieg eine Weile.

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