Robert Silverberg Der Mann im Labyrinth

Eins

1

Mittlerweile kannte Muller das Labyrinth ziemlich genau. Er wußte um seine Todesfallen, seine Schlingen und Täuschungen, seine Fallgruben. Neun Jahre lebte er jetzt hier. Das war lange genug, um sich zurechtzufinden, und es hatte auch gereicht, sich mit der Situation abzufinden, die ihn dazu gezwungen hatte, im Labyrinth Zuflucht zu suchen.

Er bewegte sich immer noch vorsichtig. Drei- oder viermal hatte er erfahren müssen, daß seine Kenntnis des Labyrinths, obwohl grundlegend und ausreichend, noch nicht ganz vollständig war. Mindestens einmal hatte er am Rand der Vernichtung gestanden, und nur sein unwahrscheinliches Glück hatte ihn im letzten Moment zurückfahren lassen, als völlig unerwartet ein Flammenstrahl vor ihm aufgetaucht war und direkt vor ihm ein Strom reiner Energie den Weg zum Kochen gebracht hatte. Muller hatte diesen Flammenstrahl auf seiner Karte vermerkt, ebenso fünfzig weitere. Als er sich durch das Labyrinth mit den Ausmaßen einer Stadt bewegte, wußte er, daß für ihn keine Garantie bestand, nicht auf eine bisher unerfaßte Falle zu stoßen.

Über ihm verdunkelte sich der Himmel. Das tiefe, volle Grün des Spätnachmittags wich der Schwärze der Nacht. Muller hielt auf seiner Jagd einen Moment inne und sah zu dem Sternhimmel hinauf. Selbst der war ihm nun nicht mehr fremd. In den Jahren auf dieser einsamen Welt hatte er sich seine eigenen Sternbilder zusammengestellt; hatte den Himmel nach auffälligen Konstellationen abgesucht, die zu seiner besonders rauhen und bitteren Stimmung paßten. Und jetzt erschienen sie: der Dolch, der Rücken, der Schaft, der Affe, die Kröte. In der Stirn des Affen flimmerte der kleine, trübe Stern, der, wie Muller glaubte, die Sonne der Erde war. Er war sich jedoch nicht sicher, weil er seinen Kartenbehälter vernichtet hatte, nachdem er hier gelandet war. Aber er spürte, dieser kleine Feuerball dort oben mußte die Sonne sein. Der trübe Stern bildete auch das linke Auge der Kröte. Manchmal sagte sich Muller, Sol könne auf dieser neunzig Lichtjahre von der Erde entfernten Welt gar nicht sichtbar sein. Aber dann war er wiederum fest davon überzeugt. Über der Kröte befand sich eine Konstellation, die Muller Libra, die Waage, genannt hatte. Allerdings war diese Waage, wie so manches, arg aus dem Gleichgewicht geraten.

Drei kleine Monde gingen glitzernd auf. Die Welt besaß eine dünne, aber atembare Atmosphäre. Muller achtete schon lange nicht mehr auf den zu hohen Stickstoff- und den zu geringen Sauerstoffgehalt. Auch der Anteil an Kohlendioxid lag etwas zu niedrig, woraus sich unter anderem der Effekt ergab, daß Muller auf dieser Welt kaum jemals gähnen mußte. Aber darüber machte er sich keine Gedanken. Er umfaßte den Kolben seiner Waffe fester und ging auf der Suche nach seinem Abendessen langsam durch die fremde Stadt. Auch das gehörte zu seinem festgelegten Tagesablauf. Einen halben Kilometer weiter hatte er Nahrungsmittelvorräte für ein halbes Jahr in einem strahlungssicheren Schrank gelagert. Trotzdem ging er jede Nacht auf die Jagd, damit er die Lücken in seinem geheimen Lager immer wieder ergänzen konnte. Darüber hinaus war das ein sinnvoller Zeitvertreib. Und er brauchte ein aufgefülltes Lager für den Tag, an dem das Labyrinth ihn verkrüppeln oder lähmen würde. Seine scharfen Augen suchten die verwinkelten Straßen vor ihm ab. Um ihn herum erhoben sich die Mauern, Blenden, Fallen und Täuschungen des Labyrinths, in dem er lebte. Er atmete tief durch. Jedesmal setzte er einen Fuß fest auf den Boden, bevor er den anderen hob. Er sah sich nach allen Richtungen um. Das dreifache Mondlicht zerlegte und teilte seinen Schatten, spaltete ihn in reduplizierte Abbilder, die vor ihm tanzten und sich ausbreiteten.

Der über seinem linken Ohr angebrachte Massedetektor gab ein hochtöniges Geräusch von sich und sagte Muller damit, daß das Gerät die Körperwärme eines Tieres im Bereich zwischen fünfzig und hundert Kilogramm registriert hatte. Er hatte den Detektor auf drei Größenordnungen programmiert. Bei diesem Tier handelte es sich um eines der mittleren, der Lauftierordnung. Die Bandbreite des Detektors reichte von Wesen ab zehn oder zwanzig Kilogramm — Beißtierordnung — bis zu solchen von über fünfhundert Kilogramm —, die in die Kategorie Riesentiere fielen. Die Kleintiere waren angriffslustig und sprangen einem sofort an die Kehle, die Riesenbiester hingegen trampelten alles kurz und klein. Muller jagte nur Tiere aus der mittleren Ebene und mied die anderen.

Nun duckte er sich und hielt die Waffe bereit. Die Tiere, die hier auf Lemnos das Labyrinth durchstreiften, konnten ohne sonderliche Kriegslist erlegt werden. Sie achteten nur auf ihresgleichen. Selbst nach all den Jahren, die Muller schon unter ihnen zugebracht hatte, hatten sie noch nicht begriffen, daß er ein tödlicher Feind war. Offenbar war hier seit Jahrmillionen kein intelligentes Lebewesen mehr auf die Jagd gegangen. Und Muller hatte sie Nacht für Nacht erlegt, ohne ihnen dabei die Chance zu geben, etwas über das Wesen des Menschen zu lernen. Bei der Jagd kam es ihm vor allem darauf an, von einem sicheren Ort mit gutem Überblick aus zuzuschlagen, damit er nicht die Beute eines größeren und gefährlicheren Tieres wurde, während er sich auf sein Opfer konzentrierte. Mit dem an der Ferse seines linken Stiefels befestigten Stoßsporn untersuchte er die Wand hinter sich und versicherte sich auf diese Weise, daß sie sich nicht plötzlich öffnen und ihn verschlingen würde. Aber sie war solide. Sehr gut. Muller trat langsam zurück, bis sein Rücken den kühlen, glatten Stein berührte. Sein linkes Knie ruhte auf dem leicht nachgebenden Pflaster. Er zielte über den Lauf seines Gewehrs. Hier war er sicher. Und er konnte warten. Vielleicht drei Minuten vergingen. Der Massedetektor heulte immer noch leise und deutete an, daß das Tier sich weiterhin in einem Radius von hundert Metern aufhielt. Der Ton wurde immer lauter, je näher die Quelle der Wärmestrahlung kam. Muller hatte keine Eile. Er befand sich an der Seite eines riesigen, von glasartigen, gewölbten Scheidewänden begrenzten Platzes, und alles, was aus diesen schimmernden Bögen hervortrat, würde ein leichtes Ziel sein. Muller jagte heute nacht in der Zone E des Labyrinths, dem fünften Sektor vom Zentrum aus gesehen, einer der gefährlichsten Gegenden. Nur selten verließ er die relativ harmlose Zone D, aber irgendein Teufel hatte ihn in dieser Nacht geritten und in Zone E gelockt. Seit er seinen Weg ins Labyrinth gefunden hatte, hatte er es nie wieder riskiert, Zone G oder H zu betreten. Und erst zweimal hatte er sich in Zone F vorgewagt. E suchte er vielleicht fünfmal im Jahr auf.

Zu seiner Rechten tauchten die konvergierenden Linien eines Schattens auf, kamen hinter einer gewölbten, glasartigen Wand hervor. Das Heulen des Massedetektors erreichte das obere Ende des Spektrums für Tiere dieser Kategorie. Atropos, der kleinste Mond, der leichtsinnig über dem Himmel ritt, veränderte das Schattenmuster. Die Linien liefen nicht mehr zusammen. Statt dessen schnitt jetzt eine schwarze Schranke durch die beiden anderen Schatten. Muller erkannte den Schatten einer Schnauze. Kurz darauf sah er sein Opfer. Das Tier wies die Größe eines Schäferhundes auf, war am Maul grau und am Leib braungelb. Ein gebuckelter, häßlicher und unverkennbarer Fleischfresser. In den ersten Jahren auf Lemnos hatte Muller bewußt keine Fleischfresser gejagt, weil er der Ansicht gewesen war, ihr Fleisch würde nicht schmecken. Er hatte sich lieber auf die einheimischen Gegenstücke von Rind und Schaf spezialisiert — sanftmütige Huftiere, die sorglos durch das Labyrinth zogen und das Gras der Gartenflächen fraßen. Erst als er dieses zarte Fleisch über hatte, war er auf die Jagd nach einem der mit Zähnen und Krallen bewehrten Wesen gegangen, die den Pflanzenfressern nachstellten. Zu Mullers Überraschung schmeckte deren Fleisch ganz ausgezeichnet. Er beobachtete, wie das Tier auf den Platz trat. Die lange Schnauze zuckte. Muller konnte in seinem Versteck hören, wie das Tier schnüffelte. Aber Menschengeruch bedeutete diesem Wesen nichts.

Mit sicheren, aber staksigen Schritten lief das Raubtier über den glatten Belag des Platzes. Die nicht einziehbaren Krallen klickten und kratzten auf dem Boden. Muller justierte den Strahl auf Nadelstärke, setzte die Waffe gewandt an und zielte zunächst auf den Buckel, dann auf die Hinterläufe. Das Gewehr traf automatisch jedes gewünschte Ziel in einem gewissen Bereich. Aber Muller bediente sich immer der manuellen Ziel- und Schußvorrichtung. Das Gewehr und er hatten unterschiedliche Ziele: Der Waffe ging es nur ums Töten, Muller ums Essen. Und es war einfacher, selbst ein Opfer zu erlegen, als die Waffe davon zu überzeugen, daß ein Schuß durch das zarte, saftige Fleisch des buckligen Rückens ihn um das beste Stück bringen würde. Das Gewehr suchte naturgemäß nach dem einfachsten Ziel, würde den Strahl durch den Buckel ins Rückgrat senden und damit das Tier zur Strecke bringen. Muller hingegen bevorzugte mehr Finesse.

Er wählte eine Stelle etwa fünfzehn Zentimeter vom Buckel entfernt, dort, wo das Rückgrat in den Schädel eintrat. Ein Schuß reichte aus. Das Tier schwankte und brach zusammen. Muller rannte so rasch auf die Beute zu, wie er es wagen konnte. Er überprüfte jedes Aufsetzen der Füße. Rasch trennte er die unwichtigen Teile ab: Extremitäten, Kopf und Innereien. Dann sprühte er eine Siegelmasse über den Brocken rohen Fleisches, den er aus dem Körper geschnitten hatte. Schließlich schnitt er sich noch ein gewichtiges Steak aus der Hinterhand und schnallte sich beide Pakete auf den Rücken. Er drehte sich um und suchte nach dem im Zickzackkurs verlaufenden, einzig sicheren Weg zum Zentrum des Labyrinths. In weniger als einer Stunde konnte er sich wieder in seinem Lager im Herz der Zone A befinden.

Halb hatte er den Platz überquert, als er ein ungewöhnliches Geräusch hörte.

Er hielt inne und sah zurück. Drei kleine Tiere eilten hüpfend auf den Kadaver zu, den er zurückgelassen hatte. Aber es war nicht das Scharren der Aasräuber gewesen, das ihn beunruhigt hatte. Bereitete das Labyrinth eine neue Todesfalle vor? Ein tiefes, grollendes Geräusch, über dem ein heiseres Dröhnen im mittleren Frequenzbereich lag, war zu hören. Und es war zu langgezogen, um mit dem Brüllen eines besonders großen Tieres verwechselt zu werden. Ein Geräusch, das Muller noch nie zuvor gehört hatte.

Nein: ein Geräusch, das er hier noch nie gehört hatte. Irgendwo in seiner Erinnerung klingelte etwas. Muller suchte danach. Das Geräusch kam ihm irgendwie bekannt vor. Dieses doppelte Dröhnen, das immer schwächer wurde, je weiter es in der Ferne verschwand. Was war es nur?

Er versuchte, seine Position festzustellen. Die Geräuschquelle mußte sich irgendwo hinter ihm befinden. Zumindest war es ihm so erschienen. Muller sah in die Richtung und entdeckte nur die dreifache Kaskade der inneren Labyrinthwand, die hoch über der glitzernden Bernsteinschicht aufragte. Und darüber? Dort sah Muller nur den sternenbeleuchteten Himmel mit dem Affen, der Kröte, der Waage.

Jetzt erinnerte sich Muller an das Geräusch.

Ein Schiff. Ein Sternenschiff, das aus dem Warpflug auf Ionenantrieb umgeschaltet hatte, um zur planetaren Landung anzusetzen. Das Donnern der Expelleratoren und das Dröhnen der Bremstriebwerke erfüllten die Stadt. Dieses Geräusch hatte er seit neun Jahren nicht mehr gehört. Also stand ihm Besuch ins Haus. Waren es zufällige Eindringlinge, oder hatte man seine Spur entdeckt? Was wollten sie? Ärger stieg in Muller hoch. Er hatte restlos genug von ihnen und ihrer Welt. Warum wollten sie ihm auch hier keine Ruhe gönnen? Angespannt und breitbeinig stand Muller da. Ein Teil seines Gehirns suchte auch jetzt nach möglichen Gefahren, als er auf den vermutlichen Landeplatz des Schiffes starrte. Er wollte weder mit der Erde noch mit den Erdmenschen etwas zu tun haben. Er stierte finster zu dem trüben Lichtpunkt im Auge der Kröte, in der Stirn des Affen hinauf.

Sie sollten ihn nicht finden, beschloß er.

Sie würden im Labyrinth den Tod finden, und ihre Knochen würden Teil der jahrmillionenalten Ansammlung werden, die auf den äußeren Korridoren verstreut lag.

Und wenn sie den Weg doch finden würden, so wie es ihm gelungen war…

Nun, dann mußten sie versuchen, mit ihm fertigzuwerden. Und dieser Kampf würde ihnen sicher nicht gefallen. Muller lächelte grimmig, rückte die Fleischpakete auf seinem Rücken zurecht und richtete seine ganze Konzentration wieder auf das Labyrinth. Nach kurzer Zeit befand er sich in der Sicherheit von Zone C. Er erreichte sein Lager und verstaute das Fleisch. Dann bereitete er sein Abendessen vor. Schmerz hämmerte in Mullers Schädel. Nach neun Jahren war er nicht mehr allein auf dieser Welt. Sie besudelten seine Einsamkeit. Wieder einmal fühlte Muller sich hintergangen. Er verlangte nichts weiter von der Erde, als in Ruhe gelassen zu werden. Selbst das verweigerte man ihm. Aber sie sollten es teuer bezahlen, wenn sie es wirklich schaffen sollten, ihn im Labyrinth zu erreichen. Wenn.

2

Das Schiff war etwas zu spät aus dem Warpflug gekommen und in den äußeren Atmosphärebereichen von Lemnos in das normale Raum-Zeit-Kontinuum eingetreten. Charles Boardman mißbilligte das. Er verlangte bei allen Tätigkeiten den höchstmöglichen Standard von sich und erwartete von allen anderen das gleiche. Besonders von den Piloten.

Boardman verbarg seinen Mißmut und schaltete den Bildschirm ein. An einer Wand seiner Kabine leuchtete das bunte Bild des unter dem Schiff schwebenden Planeten auf. Kaum eine Wolke bedeckte seine Oberfläche. Boardman hatte klare Sicht durch die Atmosphäre. Im Zentrum einer weiten Ebene erhob sich eine Ansammlung von Furchen, deren Umrisse noch aus einer Höhe von hundert Kilometern scharf ausgeprägt waren. Boardman wandte sich dem jungen Mann an seiner Seite zu und sagte: „Da sind wir, Ned: das Labyrinth von Lemnos. Und Dick Muller mittendrin!“

Ned Rawlins spitzte die Lippen. „So groß? Es muß einen Durchmesser von einigen hundert Kilometern haben!“

„Was Sie dort unten sehen, ist die äußere Wallanlage. Das eigentliche Labyrinth wird von einem konzentrischen Ring aus Erdaufschüttungen umgeben, der fünf Meter hoch ist und dessen äußerer Umfang fast tausend Kilometer beträgt. Doch…“

„Ja, ich weiß“, unterbrach Rawlins erregt. Ohne Übergang war er tiefrot angelaufen… mit der eindringlichen Unschuld, die Boardman so charmant fand und bald einzusetzen gedachte. „Tut mir leid, Charles, ich wollte nicht unhöflich sein.“

„Ist schon in Ordnung. Was wollten Sie denn wissen?“

„Dieser dunkle Punkt dort innerhalb der Außenwälle — ist das die eigentliche Stadt?“

Boardman nickte. „Das ist das innere Labyrinth. Mit einem Durchmesser von zwanzig bis dreißig Kilometern. Und nur Gott allein weiß, wie viele Millionen Jahre es alt ist. Dort werden wir Muller finden.“

„Falls wir hineingelangen.“

„Sobald wir hineingelangt sind.“

„Ja. Natürlich. Richtig, sobald wir hineingelangt sind“, verbesserte sich Rawlins und errötete wieder. Auf seinen Lippen erschien ein rasches, ernstes Lächeln. „Die Möglichkeit, daß wir den Eingang nicht finden, ist von vornherein auszuschließen, nicht wahr?“

„Muller hat ihn gefunden“, sagte Boardman ganz ruhig. „Er lebt heute mittendrin.“

„Aber er war der erste, dem das gelungen ist. Jeder andere, der den Versuch unternommen hat, ist gescheitert. Warum sollten wir also…“

„So viele haben es nun auch wieder nicht versucht“, entgegnete Boardman. „Und die, die sich daran gemacht haben, waren für die auftauchenden Schwierigkeiten nicht genügend ausgerüstet. Uns wird es gelingen, Ned. Wir werden es schaffen. Uns bleibt gar keine andere Wahl. Entspannen Sie sich nun und genießen Sie die Landung.“

Das Schiff flog jetzt den Planeten an. Der Abstieg ging ein wenig zu rasch vor sich, dachte Boardman, während er unter der abrupten Geschwindigkeitsverzögerung litt. Er haßte Sternreisen, und am allermeisten daran haßte er die Landungen. Aber diesen Flug hatte er nicht vermeiden können. Er lehnte sich in seinem Netzschaumsitz zurück und schaltete den Schirm aus. Ned Rawlins saß immer noch aufrecht da, und seine Augen glühten vor Erregung. Wie wunderbar war es doch, jung zu sein, dachte Boardman und wußte nicht, ob er das nun sarkastisch gemeint hatte oder nicht. Sicher, der Junge war gesund und kräftig… und intelligenter, als es manchmal den Anschein hatte. Ein vielversprechender, ein guter Junge, wie man ihn wohl vor ein paar Jahrhunderten beurteilt hätte. Boardman konnte sich nicht erinnern, selbst einmal ein solcher junger Mann gewesen zu sein. In seinen Augen war er immer ein Mann in mittleren Jahren gewesen: berechnend, kalkulierend, ein Mann, der genau wußte, was er wollte. Boardman war jetzt achtzig und hatte damit fast sein halbes Leben hinter sich. Doch nicht einmal in seiner ehrlichsten Selbsteinschätzung hielt er es für möglich, daß sich seit seinem zwanzigsten Geburtstag etwas Bedeutendes in seiner Persönlichkeit verändert hatte. Natürlich hatte er dazugelernt, beherrschte jetzt das Kunstwerk, Menschen zu führen und anzuleiten. Und weiser war er auch geworden. Aber in seinem Charakter hatte es keine grundlegende qualitative Veränderung gegeben. Der junge Ned Rawlins dagegen würde in etwa sechzig Jahren, von jetzt an gerechnet, eine ganz andere Person sein, und kaum etwas von der jugendlichen Unreife und Unerfahrenheit dieses Augenblicks würde überleben. Boardman erwartete, und er war darüber nicht allzu glücklich, daß die anstehende Mission die Feuerprobe sein würde, die die Unschuld des Jungen hinwegfegte.

Als das Schiff in die letzte Phase des Landemanövers trat, schloß Boardman die Augen. Er spürte, wie die Schwerkraft an seinem alten Fleisch zerrte. Hinab. Nach unten. Hinab. Wie viele Planetenlandungen hatte er schon mitgemacht… und jede einzelne verflucht? Das Leben eines Diplomaten bestand hauptsächlich aus Rastlosigkeit. Zu Weihnachten auf den Mars, Ostern auf eine der Centauri-Welten, zur Feier des Mittjahresfestes auf einen der stinkenden Rigel-Planeten… und jetzt diese Mission, die schwierigste von allen. Der Mensch war nicht dazu geschaffen, dachte Boardman, auf diese Weise von Stern zu Stern zu jagen. Ich habe mein Gefühl für das Universum verloren. Es heißt zwar, dies sei die großartigste Ära der menschlichen Geschichte, aber ich glaube, es erfüllt einen Menschen mehr, wenn er jeden kleinen Stein auf einer wunderschönen goldenen Insel inmitten eines blauen Ozeans kennt, als rastlos von Welt zu Welt zu hüpfen.

Während das Schiff weiter hinabsank, dachte Boardman daran, wie die Schwerkraft von Lemnos sein Gesicht verzerrte. Schwere, fleischige Wülste hingen an seinem Hals, und hier und da ließen sich an seinem ganzen Körper Fettrollen entdecken, was ihm ein schlaffes, verweichlichtes Aussehen verlieh. Ohne größere Anstrengung hätte Boardman sich die modisch schlanke und gestählt straffe Gestalt eines Mannes dieser Zeit zulegen können. In diesen Zeiten konnte sich ein Mensch von hundertfünfundzwanzig Jahren das Aussehen eines Jugendlichen verleihen, wenn er das wollte. Schon früh in seiner Laufbahn hatte Boardman sich jedoch dafür entschieden, authentisches Altern zu simulieren. Er hatte das als Investition für seine Karriere angesehen: Was ihm an Chic mangelte, gewann er an Status. Bei seiner Arbeit ging es darum, Regierungen zu beraten. Und Staatschefs nahmen in den seltensten Fällen Ratschläge von Männern an, die wie Jünglinge aussahen. Boardman hatte in den letzten vierzig Jahren das Aussehen eines Fünfundfünfzigjährigen beibehalten. Und er wollte dieses Erscheinungsbild eines kräftigen, energischen Mannes zu Beginn seiner mittleren Jahre noch mindestens weitere fünfzig Jahre tragen. Später, in der Endphase seiner Karriere, wollte er der Zeit wieder gestatten, ihre Auswirkungen zu zeigen. Dann wollte er das weiße Haar und die eingefallenen Wangen eines Achtzigjährigen annehmen und eher als Nestor denn als Odysseus auftreten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt war es für den Job nützlicher, erste leichte Spuren des Alters zu zeigen, wie er es auch bewußt tat.

Boardman war nicht groß, aber so stämmig, daß er leicht an jedem Konferenztisch auffiel. Seine breiten Schultern, die tonnenförmige Brust und die langen Arme hätten besser zu einem Riesen gepaßt. Im Stehen erwies sich Boardman geringfügig kleiner als der Durchschnitt, aber im Sitzen wirkte er beeindruckend. Auch das kam ihm recht hilfreich vor, und er hatte nie daran gedacht, daran etwas ändern zu lassen. Ein außergewöhnlich großer Mensch eignete sich eher zum Kommandieren als zum Beraten. Und es war nie Boardmans Wunsch gewesen, Befehle zu geben und Entscheidungen zu treffen. Er bevorzugte eine subtilere Machtausübung. Ein Mann, der an Konferenztischen wie ein Riese aussah, konnte ganze Reiche kontrollieren. Und Regierungsgeschäfte wurden meist in sitzender Position geführt.

Er strahlte Autorität aus. Sein Kinn war kräftig, die Nase groß, mächtig und dominierend, die Lippen gleichzeitig fest und sinnlich. Seine Augenbrauen waren so immens und buschig wie schwarzes Fell. Sie entsprangen einer massiven Stirn, die jedem Neandertaler Ehrfurcht eingeflößt hätte. Er trug das dichte Haar lang. Drei Ringe glänzten an seinen Fingern. Einer davon war ein Gyroskop aus Platin und Rubinen, in das mattes U-238 eingelegt war. In Kleidungsfragen hatte Boardman einen seriös konservativen Geschmack. Er bevorzugte schwere Stoffe und mittelalterlichen Schnitt. In einer anderen Ära hätte man ihn leicht für einen lebenslustigen Kardinal oder einen ehrgeizigen Premierminister halten können. Er hätte zu jeder Zeit und an jedem Hof eine bedeutende Rolle spielen können. Auch heute war er ein wichtiger Mann. Als Preis für seine Wichtigkeit mußte er jedoch die Unbilden der Sternreisen auf sich nehmen. In kurzer Zeit würde er auf einem weiteren fremden Planeten landen, wo die Luft komisch riechen, die Schwerkraft eine Spur zu groß und die Farbe der Sonne nicht richtig sein würde. Boardman blickte finster drein. Wie lange sollte diese Landung denn noch dauern?

Er sah zu Ned Rawlins. Er mußte etwa zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein: Ein Bild naiver, jugendlicher Männlichkeit bot sich ihm, obwohl er wußte, daß Ned alt genug war, um mehr gelernt zu haben, als er zu zeigen bereit schien. Er war groß, auf konventionelle Weise gutaussehend, jedoch ohne Hilfe der kosmetischen Chirurgie. Das Haar war hell, die Augen blau, die Lippen weit und beweglich und die Zähne makellos. Er war der Sohn eines mittlerweile verstorbenen Kommunikationstheoretikers, der gleichzeitig einer der engsten Freunde von Richard Muller gewesen war. Boardman hatte vor, sich dieser Beziehung zu bedienen, und hoffte, sie würde sie ein gutes Stück bei den anstehenden delikaten Transaktionen voranbringen. Nun, man würde sehen.

Rawlins sagte: „Fühlen Sie sich nicht wohl, Charles?“

„Ich werde es überleben. Bald sind wir unten.“

„Die Landung scheint so langsam vonstatten zu gehen, nicht wahr?“

„Dauert höchstens noch eine Minute“, sagte Boardman.

Das Gesicht des Jungen schien kaum von den Kräften verzerrt zu werden, die auf es einwirkten. Die linke Wange war leicht nach unten gezogen, aber mehr auch nicht. Es war unheimlich, auf diesem strahlenden Gesicht so etwas wie ein Hohnlächeln auszumachen.

„So, jetzt ist es soweit“, murmelte Boardman und schloß wieder die Augen.

Das Schiff verringerte jetzt sehr schnell den Abstand zur Oberfläche und setzte schließlich auf. Die Expelleratoren gingen aus. Die Bremsraketen erstarben knurrend. Ein letzter, unangenehmer Moment der Unsicherheit, dann war die Lage stabil. Die Landebeine verankerten sich im Boden, und dem Donnern der Landung folgte Stille. Wir sind da, dachte Boardman. Jetzt auf zum Labyrinth. Auf zu Mr. Richard Muller. Mal sehen, ob er in den vergangenen neun Jahren etwas von seinem Schrecken verloren hat. Vielleicht ist er jetzt genauso normal wie jeder andere auch. Falls dem so ist, sagte sich Boardman, dann möge Gott uns beistehen.

3

Ned Rawlins war noch nicht sehr oft durchs All gereist. Er hatte bislang erst fünf Welten besucht, und davon gehörten drei zum heimatlichen Sonnensystem. Als er zehn geworden war, hatte sein Vater ihn zu einem Sommerurlaub auf den Mars mitgenommen. Zwei Jahre später hatte er die Venus und den Merkur kennengelernt. Als Belohnung für seine Reifeprüfung hatte er im Alter von sechzehn das Sonnensystem verlassen dürfen und war so nach Alpha Centauri IV gekommen. Drei Jahre später war er aus traurigem Anlaß ins Rigel-System geflogen und hatte von dort den Leichnam seines tödlich verunglückten Vaters heimgeführt.

In einer Zeit, wo man mit dem Warpflug genauso einfach von einem Sternsystem ins nächste gelangen konnte, wie man auf der Erde von Europa nach Australien reiste, bedeutete das nicht viel. Rawlins wußte jedoch, daß er später noch genügend Zeit zum Herumreisen haben würde, sobald er sich seine ersten diplomatischen Sporen verdient hatte. Wenn man Boardmans Worten Glauben schenken durfte, so ließ der Reiz des Sternenflugs schon recht bald nach. Rawlins hielt dem entgegen, daß da ein ausgelaugter Mann sprach, der viermal so alt war wie er. Andererseits glaubte er aber auch, daß an seinen Worten etwas Wahres sein mußte.

Aber bis zur Alltäglichkeit würde es noch lange dauern. In diesem Augenblick befand sich Ned Rawlins zum sechsten Mal auf einer fremden Welt, und er war überglücklich. Das Schiff war auf der großen Ebene, die Mullers Labyrinth umgab, zum Stehen gekommen. Die äußere Wallanlage lag etwa hundert Kilometer in südöstlicher Richtung. Tiefe Nacht herrschte auf dieser Seite von Lemnos. Der Planet besaß einen Dreißigstundentag und ein Jahr mit zwanzig Monaten. In dieser Hemisphäre herrschte früher Herbst, die Luft war kühl und frisch. Rawlins entfernte sich ein paar Schritte vom Schiff. Die Männer der Schiffsbesatzung luden das Material aus, das zum Bau des Lagers benötigt werden würde. Charles Boardman stand, in dicke Felle vermummt, ein Stück abseits und war so tief in sich gekehrt, daß Rawlins nicht wagte, in seine Nähe zu kommen. Neds Verhältnis zu Boardman setzte sich aus einer Mischung von Ehrfurcht und Angst zusammen. Er wußte, daß es sich bei ihm um einen zynischen alten Mann handelte, dennoch kam er nicht umhin, ihn zu bewundern. Ned wußte, Boardman war ein wirklich bedeutender Mensch, wie ihm noch nicht allzu viele begegnet waren. Sein eigener Vater hatte vielleicht zu dieser Sorte gehört. Ganz sicher auch Dick Muller. Aber er selbst war damals kaum älter als zwölf gewesen, als Muller in die entsetzliche Klemme geraten war, die ihn vollständig aus der Bahn geworfen hatte. Aber, so sagte sich Ned, in einem so jungen Leben schon drei bedeutende Menschen kennengelernt zu haben, das war doch etwas. Er wünschte sich, seine eigene Karriere würde nur halb so beeindruckend werden wie die von Boardman. Natürlich besaß er nicht die Cleverness dieses Mannes, und er hoffte, er würde sie auch nie erlangen. Aber er verfügte über andere Qualitäten — eine gewisse Vornehmheit des Charakters zum Beispiel, an der es Boardman mangelte. Ich kann auf meine eigene Weise von Nutzen sein, dachte Rawlins. Aber dann fragte er sich, ob das nicht vielleicht eine allzu naive Hoffnung war.

Er atmete die fremde Luft tief ein und starrte in den Himmel, an dem sich unbekannte Sternbilder abzeichneten. Vergeblich suchte er nach einer vertrauten Konstellation. Ein frostiger Wind pfiff über die Ebene. Diese Welt wirkte einsam, desolat und leer. Er hatte in der Schule einiges über Lemnos gelernt: einer der verlassenen, uralten Planeten, auf dem eine unbekannte, fremdartige Rasse gelebt hatte, der aber seit Jahrtausenden unbewohnt war. Nichts erinnerte mehr an die einstige Bevölkerung, bis auf einige Knochenfossilien, Artefaktfragmente und natürlich das Labyrinth. Der tödliche Irrgarten umschloß die Totenstadt, die von der Zeit unberührt schien, wie ein Ring.

Archäologen hatten aus der Luft Bilder von der Stadt gemacht, sie mit Sensoren untersucht und waren furchtbar enttäuscht worden, da sie nicht gefahrlos in sie eindringen konnten. Das erste Dutzend Expeditionen nach Lemnos war daran gescheitert, einen Weg ins Labyrinth zu finden. Jeder, der eingedrungen war, hatte dabei sein Leben verloren, war Opfer der versteckten Fallen geworden, die so geschickt in den äußeren Zonen angebracht waren. Der letzte Versuch, in die Stadt zu gelangen, war vor etwa fünfzig Jahren unternommen worden. Dann war Richard Muller nach Lemnos gekommen, hatte nach einem Ort gesucht, an dem er sich vor der Menschheit verstecken konnte, und hatte irgendwie den richtigen Weg durchs Labyrinth gefunden.

Rawlins fragte sich, ob sie bei ihren Bemühungen, mit Muller in Kontakt zu treten, Erfolg haben würden. Er grübelte auch über die Frage nach, wie viele Männer, die mit ihnen gereist waren, beim Eindringen ins Labyrinth ihr Leben lassen mußten. An seinen eigenen Tod dachte er dabei nicht. In seinem Alter war der Tod etwas, das nur anderen Leuten zustieß. Aber einige von den Männern, die jetzt mit dem Aufbau des Camps beschäftigt waren, würden in wenigen Tagen tot sein.

Während er noch seinen Gedanken nachhing, erschien ein Tier. Es trabte hinter einem sandigen Hügel hervor, nicht weit von Ned. Neugierig beobachtete Rawlins das fremdartige Lebewesen. Es erinnerte ein wenig an eine große Katze, aber es konnte seine Krallen nicht einziehen. In seinem Maul blitzten grünliche Zähne auf. Leuchtende Streifen gaben seinem schlanken Körper ein buntes Aussehen. Rawlins wußte keine Antwort darauf, wie solch ein leuchtendes Fell einem Raubtier bei der Jagd von Nutzen sein konnte… es sei denn, es diente als eine Art Köder.

Das Tier kam bis auf einige Meter an Ned heran. Es warf ihm einen kurzen Blick zu, in dem aber nicht das geringste Interesse steckte, wandte sich dann mit einer graziösen Bewegung ab und trottete auf das Schiff zu. Von dem Tier ging eine Kombination aus fremdartiger Schönheit, Macht und Bedrohlichkeit aus, die nicht ohne Reiz war.

Jetzt näherte es sich Boardman. Der Mann zog seine Waffe.

„Nein!“ Rawlins hörte überrascht seinen eigenen Ruf. „Töten Sie es nicht, Charles! Es will uns doch nur aus der Nähe anschauen!“

Boardman drückte ab.

Das Tier sprang hoch in die Luft, krümmte sich und fiel mit ausgestreckten Gliedern auf den Boden zurück. Rawlins rannte darauf zu. Der Schock drohte ihn zu lähmen. Es hatte keinen Grund für diesen Mord gegeben, dachte er. Das Tier wollte uns doch nur aus der Nähe beschnüffeln. Wie verbrecherisch, es einfach zu erschießen.

„Hätten Sie nicht eine Minute warten können, Charles?“ platzte es aus ihm heraus. „Vielleicht wäre es ja von selbst wieder verschwunden! Warum nur…“

Boardman lächelte. Er gab einem Mannschaftsmitglied ein Zeichen, das ein Schaumnetz über das Tier spritzte. Es regte sich matt, als der Mann es ins Schiff schleifte. Sanft sagte Boardman: „Ich habe es nur betäubt, Ned. Wir werden einen Teil unserer Reisekosten durch Verkäufe an den Bundes-Zoo wieder hereinbekommen. Haben Sie mich denn wirklich für so schießwütig gehalten?“

Ned kam sich auf einmal klein und dumm vor. „Nun… eigentlich nicht direkt. Ich meine…“

„Vergessen Sie es. Nein, vergessen Sie es nicht. Merken Sie sich alles und vergessen Sie nichts. Lassen Sie sich das eine Lehre sein: Man sammelt erst alle Daten, bevor man anfängt, unsinniges Zeug daherzufaseln.“

„Aber wenn ich den Mund gehalten hätte und Sie es wirklich getötet hätten…“

„Dann hätten Sie auf Kosten eines Tierlebens etwas sehr Häßliches über mich gelernt. Sie hätten erfahren, daß alles Fremde mit scharfen Zähnen in mir einen Tötungsinstinkt weckt. Aber statt dessen haben Sie nur ein lautes Geräusch von sich gegeben. Wenn ich das Tier wirklich hätte töten wollen, hätte Ihr Schrei mich nicht an meinem Vorhaben gehindert. Ich hätte vielleicht nicht richtig gezielt und wäre auf Gedeih und Verderb einem wütenden, angeschossenen Tier ausgeliefert gewesen. Also, Ned, nehmen Sie sich die nötige Zeit. Schätzen Sie vorher alle Fakten ab. Manchmal ist es besser, etwas geschehen zu lassen, als selbst übereilt zu reagieren.“ Boardman zwinkerte. „Trete ich Ihnen zu nahe, Ned? Lasse ich Sie mit meiner kleinen Lektion wie ein Dummkopf dastehen?“

„Natürlich nicht, Charles. Da mache ich mir selbst gar nichts vor. Ich habe noch viel zu lernen.“

„Und Sie sind bereit, die Lehren von mir anzunehmen, auch wenn ich mich wie ein nervtötender alter Schuft anhöre?“

„Charles, ich…“

„Tut mir leid, Ned. Ich sollte Sie nicht reizen. Sie hatten recht, als Sie versuchten, mich davon abzuhalten, das Tier zu töten. Und es war nicht Ihre Schuld, daß Sie meine Handlung mißverstanden haben. An Ihrer Stelle hätte ich genauso gehandelt.“

„Wollen Sie damit sagen, ich hätte nicht vorher alles genau abwägen sollen, als Sie Ihren Betäuber herausgezogen haben?“ fragte Rawlins verblüfft.

„Wahrscheinlich nicht.“

„Sie widersprechen sich, Charles.“

„Es ist mein Privileg, mir selbst zu widersprechen“, sagte Boardman. „Das gehört zu den Spielregeln in meinem Job.“ Er lachte laut und erfrischend auf. „Legen Sie sich frühzeitig ins Bett und versuchen Sie, so viel Schlaf wie möglich mitzubekommen. Morgen fliegen wir über das Labyrinth und fangen mit dem Kartographieren an. Danach können wir die ersten Männer ins Labyrinth schicken. Ich schätze, innerhalb einer Woche sitzen wir mit Muller an einem Tisch.“

„Glauben Sie, er ist zu einer Zusammenarbeit mit uns bereit?“

Boardmans fleischige Züge verdunkelten sich. „Am Anfang sicher nicht. Er wird so voller Bitterkeit sein, daß er uns Gift und Galle entgegenschleudert. Immerhin sind wir es gewesen, die ihn hinausgeworfen haben. Warum sollte er da jetzt der Erde helfen wollen? Aber er wird schon weich werden, Ned, denn ganz im Grunde seines Herzens ist er ein Ehrenmann mit festem Charakter. Und so etwas läßt sich nie ablegen, ganz gleich, wie krank und einsam und verzweifelt ein Mensch auch werden mag. Nicht einmal der Haß kann wahrem Ehrgefühl etwas anhaben. Das ist Ihnen bekannt, Ned, denn auch Sie sind eine solche Persönlichkeit. Und selbst ich bin so, wenn auch auf meine Weise, eben ein Ehrenmann. Wir bearbeiten Muller. Wir bringen ihn dazu, aus seinem verdammten Labyrinth herauszukommen und uns zu helfen.“

„Ich hoffe, Sie behalten recht, Charles.“ Rawlins zögerte einen Moment. „Wie wird sich die Konfrontation auf uns auswirken? Ich meine, wenn man an seine Krankheit denkt… und die Art, wie er andere behandelt…“

„Es wird schlimm werden. Sehr schlimm sogar.“

„Sie haben ihn gesehen, nachdem es geschehen ist, nicht wahr?“

„Ja, mehrere Male.“

„Ich kann es mir eigentlich gar nicht vorstellen“, sagte Rawlins, „wie es ist, neben einem Mann zu stehen und dabei zu spüren, wie sich seine Seele über einen ergießt. So ist es doch, wenn man mit Muller zusammen ist, oder?“

„Es ist so, als würde man in ein Säurebad steigen“, erklärte Boardman düster. „Man kann sich daran gewöhnen, aber mögen tut man es nie. Man spürt auf jedem Zentimeter Haut brennende Flammen. Häßliches, Schrecken, Begierden, Schlechtigkeit… all das ergießt sich aus ihm wie aus einem Schmutzkübel.“

„Und Muller ist ein Ehrenmann, eine seriöse, reife Persönlichkeit.“

„Ja, das war er.“ Boardman warf einen Blick auf das entfernte Labyrinth. „Dafür sei Gott Dank. Aber die Vorstellung schmerzt doch, nicht wahr, Ned? Wenn schon so ein charakterfester Mensch wie Dick Muller so viel Unrat im Kopf hat, wie muß es dann erst in den Köpfen von weniger noblen, gewöhnlicheren Menschen aussehen? Wenn sie der gleiche Fluch wie Muller trifft, werden sie wie Flammentürme jedes Bewußtsein im Umkreis von Lichtjahren versengen.“

„Aber Muller hatte neun Jahre zur Verfügung, um mit seinem Mißgeschick fertigzuwerden“, wandte Ned ein. „Was passiert eigentlich, wenn man mittlerweile nicht einmal mehr in seine Nähe kommen kann? Wenn das, was er ausstrahlt, so stark geworden ist, daß wir ihm einfach nicht mehr standhalten können?“

„Wir werden ihm standhalten können“, sagte Boardman.

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