Dieses Buch ist für Ophelia und Lucy

Der Bauernhof nebenan gehört Herrn und Frau Hei. Heis haben zwei Kinder, beides Jungen. Sie heißen Philipp und Willi. Manchmal gehe ich nach drüben, um mit ihnen zu spielen.


Ich bin ein Mädchen und acht Jahre alt. Philipp ist auch acht Jahre alt.

Willi ist drei Jahre älter. Er ist zehn. Bitte?

Ach so, na ja. Er ist elf.

Vorige Woche ist Heis etwas sehr Komisches passiert. Ich will es euch erzählen, so gut ich kann.

Also Herr Hei und seine beiden Jungen, die taten nichts lieber, als auf die Jagd gehen. Jeden Sonnabendmorgen nahmen sie ihre Flinten und zogen in den Wald, um Tiere und Vögel aufzustöbern, die sie schießen konnten. Sogar Philipp, der erst acht Jahre alt war, hatte seine eigene Flinte.

Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand jagt. Ich kann es einfach nicht ausstehen. Ich finde es nicht richtig, daß Männer und Jungen Tiere totschießen, nur weil sie Spaß daran haben. Darum hatte ich auch schon versucht, Philipp und Willi davon abzubringen. Jedesmal, wenn ich bei ihnen auf dem Hof war, habe ich geredet und geredet, sie sollten es doch sein lassen, aber sie haben mich nur ausgelacht. Einmal habe ich sogar etwas deswegen zu Herrn Hei gesagt, aber der ist einfach an mir vorbeigegangen, als wäre ich Luft.

Eines Sonnabend morgens sah ich dann Philipp und Willi mit ihrem Vater aus dem Wald kommen, und da trugen sie ein wunderschönes junges Reh, das sie geschossen hatten. Das ärgerte mich so, daß ich sie anschrie. Die Jungen lachten und schnitten Fratzen zu mir hin, und Herr Hei sagte, ich sollte mal lieber nach Hause gehen und mich an meine eigene Nase fassen.

Na, da war's passiert! Ich sah rot.

Und bevor ich mich bremsen konnte, tat ich etwas, das ich auf gar keinen Fall tun wollte.

ICH VERHEXTE SIE ALLE MIT MEINEM ZAUBERFINGER!

O je! Oje! Sogar Frau Hei habe ich verzaubert, obwohl sie gar nicht da war. Die ganze Familie Hei habe ich mit meinem Zauberfinger verhext.

Und dabei hatte ich mir seit Monaten immer wieder geschworen, daß ich nie wieder mit meinem Zauberfinger auf jemanden zeigen würde - nachdem das mit meiner Lehrerin, der alten Frau Winter, passiert war. Arme alte Frau Winter!

Eines Tages waren wir in der Klasse und sollten buchstabieren. „Steh auf", sagte sie zu mir, „und buchstabiere Katze." „Das ist einfach", sagte ich. „K-a-z-e." „Du dummes kleines Mädchen!" sagte Frau Winter.

„Ich bin kein dummes kleines Mädchen!" rief ich. „Ich bin ein sehr nettes kleines Mädchen!" „Geh und stell dich in die Ecke", sagte Frau Winter.

Da kriegte ich die Wut, und ich sah rot, und ich zeigte mit dem Zauberfinger so fest, wie es ging, auf Frau Winter, und beinahe sofort... Na, was wohl?

Wuchsen ihr Barthaare aus dem Gesicht! Es waren lange schwarze Barthaare, wie eine Katze sie hat, nur viel dicker und länger. Und wie fix die gewachsen sind!

Ehe wir überhaupt nachdenken konnten, standen sie schon bis an die Ohren!

Natürlich schrie die ganze Klasse vor Lachen, und da sagte Frau Winter: „Würdet ihr mir mal gefälligst sagen, was hier so irrsinnig komisch ist?"

Und als sie sich umdrehte, um irgend etwas an die Tafel zu schreiben, sahen wir, daß ihr auch ein Schwanz gewachsen war! Jawohl,

EIN RIESIGER BUSCHIGER SCHWANZ!

Ich kann nun unmöglich noch erzählen, wie es weiterging, aber falls jemand vielleicht wissen möchte, ob Frau Winter jetzt wieder ganz die alte ist, so muß ich NEIN darauf antworten. Und sie wird's auch nie wieder. Meinen Zauberfinger habe ich schon, so lange ich lebe. Ich kann euch nicht erklären, wie ich damit zaubere, weil ich's selber auch nicht genau weiß. Aber es passiert immer, wenn ich wütend werde, wenn ich rot sehe...

Dann wird mir ganz heiß am ganzen Körper... Dann fängt's in der Spitze meines rechten Zeigefingers ganz schrecklich an zu prickeln... Und plötzlich schießt eine Art Blitz aus mir, ein schneller weißer Blitz, wie etwas Elektrisches. Er springt raus und berührt denjenigen, der mich wütend gemacht hat...

Und von nun an ist er oder sie unterm Zauber des Zauberfingers, und es tut sich was...

Hm, der Zauber war nun also auf der ganzen Familie Hei und konnte nicht mehr von ihr genommen werden.

Ich rannte nach Hause und wartete darauf, daß sich etwas tat.

Und ob sich etwas tat! Oje!

Ich erzähle euch jetzt, was sich tat. Ich habe es am nächsten Morgen von Philipp und Willi erfahren, als alles vorbei war.

Gleich am Nachmittag desselben Tages, an dem ich die Familie Hei mit meinem Zauberfinger verhext habe, gingen Herr Hei und Philipp und Willi schon wieder auf die Jagd. Diesmal wollten sie Wildenten schießen, also machten sie sich auf den Weg zum See. In der ersten Stunde erwischten sie zehn Enten. In der nächsten Stunde erwischten sie noch sechs.

„Toller Tag!" rief Herr Hei. „So toll war's noch nie!" Er war außer sich vor Freude. In dem Augenblick flogen noch vier andere Wildenten über sie weg.

Sie flogen sehr niedrig. Sie waren leicht zutreffen.

PENG! PENG! PENG! PENG! machten die Flinten. Die Enten flogen weiter.

„Alle vier Schuß daneben!" sagte Herr Hei. „Wie komisch."

Da machten die vier Enten zu ihrer Überraschung kehrt und kamen noch einmal genau auf die Flinten zugeflogen. „Mensch!" sagte Herr Hei. „Das ist doch nicht zu glauben! Diesmal sind sie aber wirklich selber schuld!" Er schoß wieder auf die Enten, die Jungen auch. Und wieder schossen alle daneben!

Herr Hei wurde hochrot im Gesicht.

„Muß das Licht sein", sagte er. „Kein Büchsenlicht mehr. Kommt, wir gehen nach Hause."

Also beluden sie sich mit den sechzehn Vögeln, die sie geschossen hatten, und machten sich auf den Heimweg.

Aber die vier Enten ließen sie nicht in Ruhe Sie fingen jetzt an, immer im Kreis um die Jäger herumzufliegen.

Herrn Hei gefiel das überhaupt nicht. „Weg mit euch!" rief er und schoß noch so manches Mal nach ihnen, aber es nützte nichts. Er konnte sie einfach nicht treffen. Den ganzen Heimweg über kreisten diese vier Enten über ihnen am Himmel, und nichts konnte sie dazu bewegen abzuschwirren. Spätabends, als Philipp und Willi schon im Bett waren, ging Herr Hei noch einmal nach draußen, um Feuerholz für den Kamin zu holen. Er überquerte gerade den Hof, da hörte er hoch über sich eine Wildente schreien. Er blieb stehen und guckte nach oben. Die Nacht war sehr still. Eine dünne gelbe Mondsichel stand über den Bäumen auf dem Berg, und der Himmel funkelte von Sternen. Jetzt hörte Herr Hei Flügelrauschen dicht über seinem Kopf, und er sah die vier Enten, die sich, eng beieinander fliegend, dunkel vom Nachthimmel abhoben. Sie flogen immerzu ums Haus.

Herr Hei vergaß Kamin und Feuerholz und rannte schleunigst ins Haus zurück.

Nun hatte er richtige Angst. Was sich da tat, war ihm nicht geheuer. Aber er erzählte Frau Hei nichts davon. Zu ihr sagte er nur: „Komm, wir gehen ins Bett. Ich bin müde."

Also gingen sie ins Bett und schliefen ein.

Am nächsten Morgen wachte Herr Hei als erster auf. Er öffnete die Augen.

Er wollte die Hand nach seiner Uhr ausstrecken, um zu sehen, wie spät es war.

Aber die Hand wollte nicht herauskommen.

„Komisch", sagte er. „Wo ist meine Hand?" Er blieb still liegen und überlegte, was denn wohl passiert sein mochte.

Ob er sich an der Hand irgendwie verletzt hatte?

Er versuchte es mit der anderen Hand.

Die kam auch nicht heraus.

Er setzte sich im Bett auf.

Da sah er erst, wie er aussah!

Er schrie auf und sprang aus dem Bett.

Frau Hei wurde wach. Und als sie Herrn Hei dort auf dem Fußboden stehen sah, schrie auch sie auf.

Denn er war jetzt ein winzig kleines Männchen! Er war vielleicht gerade so groß wie ein Hocker, größer bestimmt nicht.

Und wo seine Arme gewesen waren, hatte er nun Entenflügel!

„Aber... aber... aber..." rief Frau Hei, während sie rot und blau und lila im Gesicht wurde. „Mein lieber Mann, was ist denn mit dir los?" „Was ist mit uns beiden los, meinst du wohl!" schrie Herr Hei.

Jetzt war es an Frau Hei, aus dem Bett zu springen.

Sie rannte zum Spiegel, um sich darin zu begucken. Aber sie war nicht groß genug, um hineinzuschauen. Sie war noch kleiner als Herr Hei, und auch sie hatte statt ihrer Arme Flügel.

„O weh! O weh! O weh!" schluchzte Frau Hei.

„Das ist Hexerei!" rief Herr Hei. Und beide rannten im Zimmer herum und schlugen mit den Flügeln.

Kurz darauf platzten Philipp und Willi zur Tür herein. Ihnen war dasselbe widerfahren. Sie hatten Flügel und keine Arme. Und die beiden waren nun wahrhaftig winzig - ungefähr so groß wie Rotkehlchen.

„Mama! Mama! Mama!" zirpte Philipp. „Guck mal, Mama, wir können fliegen!"

Und sie erhoben sich in die Luft.

„Kommt sofort runter!" sagte Frau Hei. „Ihr seid viel zu hoch!" Aber ehe sie noch ein Wort sagen konnte, waren Philipp und Willi schon zum Fenster hinausgeflogen.

Herr und Frau Hei liefen zum Fenster und schauten hinaus. Die beiden winzigen Knaben flogen nun hoch am Himmel.

Da sagte Frau Hei zu Herrn Hei: „Ob wir das vielleicht auch können, Lieber?"

„Warum eigentlich nicht?" meinte Herr Hei.

„Komm wir versuchen's mal!"

Herr Hei schlug kräftig mit den Flügeln, und plötzlich stieg er auf.

Frau Hei machte es ihm nach.

„Hilfe!" schrie sie, als sie aufzusteigen begann. „Rette mich!"

„Komm nur", sagte Herr Hei. „Nun mal keine Angst." Zum Fenster hinaus also flogen sie und hoch und immer höher, und nicht lange, da hatten sie Philipp und Willi eingeholt. Bald kreiste die ganze Familie gemeinsam am Himmel.

„Ach, ist das toll!" rief Willi. „Ich wollte immer schon wissen, was das für ein Gefühl ist, ein Vogel zu sein!"

„Deine Flügel werden doch nicht müde, Liebste, nein?" fragte Herr Hei Frau Hei.

„Überhaupt nicht", sagte Frau Hei. „Ich könnte immer, immer weiterfliegen!"

„He, guckt mal da unten!" sagte Philipp.„Da spaziert jemand bei uns auf dem Hof herum!"

Alle schauten nach unten, und da sahen sie tief unter sich, auf ihrem eigenen Hof, vier riesige Wildenten! Die Enten waren so groß wie Menschen, und nicht nur das: statt Flügel hatten sie große lange Arme wie Menschen.

Die Enten gingen gerade in einer Reihe hintereinander auf Heis Haustür zu; sie schwenkten die Arme und streckten den Schnabel hoch in die Luft.

„Halt!" rief der winzige Herr Hei und flog tiefer zu ihnen hinunter. „Ab mit euch! Das ist mein Haus!"

Die Enten guckten hoch und quakten.

Die erste streckte die Hand nach der Klinke aus und öffnete die Haustür und ging hinein. Die anderen schlossen sich ihr an. Die Tür ging zu.

Alle Heis flogen nach unten und setzten sich auf die Mauer neben der Tür. Frau Hei fing an zu weinen.

„Ach je! Ach je!" schluchzte sie. „Sie haben uns unser Haus weggenommen. Was sollen wir denn jetzt machen? Wir können nirgendwo hin!" Sogar die beiden Jungen weinten jetzt ein bißchen.

„In der Nacht fressen uns die Katzen und die Füchse!" sagte Philipp. „Ich will in meinem Bett schlafen!" sagte Willi. „Na, na", sagte Herr Hei. „Weinen nützt überhaupt nichts. Damit ist uns nicht geholfen. Soll ich euch mal sagen, was wir jetzt machen?" „Was?" fragten sie.

Herr Hei schaute sie bedeutsam an und schmunzelte.

„Wir bauen uns jetzt ein Nest." „Ein Nest!" riefen sie. „Ja, können wir das denn?" „Wir müssen's", antwortete Herr Hei. „Irgendwo müssen wir doch schlafen. Kommt mit!"

Sie flogen zu einem hohen Baum, und ganz oben in der Krone suchte Herr Hei den besten Platz für das Nest aus.

„Jetzt brauchen wir Zweige", sagte er. „Lauter kleine Zweige. Fliegt los und sucht sie und bringt sie her."

„Aber wir haben doch keine Hände!" sagte Philipp. „Dann tragt sie im Mund."

Frau Hei und die Kinder flogen los.

Schon bald kamen sie mit Zweigen im Mund zurück.

Herr Hei nahm die Zweige und fing an, das Nest zu bauen.

„Noch mehr", sagte er. „Ich brauche mehr und mehr und noch mehr Zweige. Sucht weiter!" Das Nest begann zu wachsen.

Herr Hei flocht die Zweige so geschickt ineinander, daß sie nicht wieder auseinanderfielen.

Nach einer Weile sagte er: „Das sind jetzt genug Zweige. Nun brauche ich Blätter und Federn und ähnliches, um das Nest damit schön weich auszupolstern."

Der Nestbau schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Das dauerte und dauerte. Schließlich aber war das Nest doch fertig. „Probiert's mal aus", sagte Herr Hei und hüpfte ein Stückchen zurück. Er war sehr zufrieden mit seiner Arbeit.

„Oh, ist das nicht wunderschön!" rief Frau Hei, die als erste hineinging und sich hinsetzte. „Mir ist so, als könnte ich jeden Augenblick ein Ei legen!"

Die anderen kuschelten sich neben sie.

„Und so warm!" sagte Willi.

„Macht doch Spaß, nicht, so hoch oben zu wohnen?" sagte Philipp. „Wir sind ja klein, aber hier oben kann uns niemand was tun."

„Aber wovon sollen wir leben?" fragte Frau Hei.

„Wir haben den ganzen Tag noch nichts gegessen."

„Ja, stimmt", sagte Herr Hei. „Also fliegen wir jetzt zum Haus zurück und huschen durchs Fenster und holen uns eine Dose Kekse, wenn die Enten gerade mal nicht hingucken." „Ach, diese schmutzigen großen Enten hacken uns in Stücke mit ihren Schnäbeln!" jammerte Frau Hei.

„Wir werden uns sehr in acht nehmen, meine Liebe", sagte Herr Hei. Und damit flogen sie los. Aber als sie am Haus ankamen, waren alle Fenster und Türen zu. Sie konnten nicht rein. „Nun guckt euch doch nur mal diese garstige Ente an! Kocht an meinem Herd!" rief Frau Hei, als sie nun am Küchenfenster vorbeiflog. „So eine Frechheit!"

„Und der da, der Enterich, hat meine schöne Flinte in der Hand!" schrie Herr Hei. „Einer von ihnen liegt in meinem Bett!" schrie Willi gellend, der gerade in eins der oberen Fenster spähte.

„Und einer spielt mit meiner elektrischen Eisenbahn!" rief Philipp.

„Oje! Oje!" jammerte Frau Hei. „Sie haben sich unser ganzes Haus angeeignet! Bestimmt kriegen wir's nie wieder. Und was sollen wir denn bloß essen?"

„Würmer esse ich nicht", sagte Philipp. „Eher sterbe ich."

„Auch keine Schnecken", sagte Willi.

Frau Hei nahm die beiden Jungen unter ihre Flügel und drückte sie an sich.

„Keine Sorge", sagte sie. „Ich kann alles ganz fein zerkleinern, dann merkt ihr überhaupt keinen Unterschied. Leckerer Schnackbraten. Köstliche Würmberger Klopse."

„Bitte nein!" rief Willi.

„Nie!" sagte Philipp und schüttelte sich.

„Ekelhaft!" sagte Herr Hei. „Weil wir Flügel haben, brauchen wir ja nicht gleich Vogelfutter zu fressen - Verzeihung: essen. Wir essen statt dessen Äpfel. Unsere Bäume hängen voll davon. Kommt!"

Also flogen sie zu einem Apfelbaum. Aber es ist gar nicht so einfach, einen Apfel zu essen, wenn man ihn nicht in der Hand halten kann. Sobald man abbeißen will, rutscht er einem weg.

Schließlich gelang es ihnen aber doch noch, ein paar kleine Häppchen abzuknabbern. Und dann fing es an, dunkel zu werden, also flogen sie alle zum Nest zurück und legten sich zum Schlafen nieder.

Ungefähr um diese Zeit muß es gewesen sein, als ich bei uns zu Haus zum Telefon griff und Philipp anzurufen versuchte.

Ich wollte wissen, ob bei ihm zu Haus alles in Ordnung war.

„Hallo", sagte ich.

„Quack!" sagte jemand am anderen Ende. „Wer ist da?" fragte ich. „Quack-quack!"

„Philipp", sagte ich, „bist du das?" „Quack-quack-quack-quack-quack!"

„Ach, hör doch auf!" sagte ich.

Darauf gab es ein sehr komisches Geräusch. Es hörte sich an wie ein Vogel, der lacht.

Ich legte schleunigst den Hörer auf.

„Oh, dieser Zauberfinger!" rief ich. „Was hat er bloß mit meinen Freunden gemacht?"

In der Nacht, während Herr und Frau Hei und Philipp und Willi in ihrem hohen Nest ein bißchen zu schlafen versuchten, erhob sich ein gewaltiger Wind. Der Baum schwankte hin und her, und alle, sogar Herr Hei, hatten Angst, das Nest könne herunterfallen. Dann kam der Regen. Es regnete und regnete, und das Wasser lief ins Nest, und alle wurden durch und durch naß - und, ach! es war eine ganz, ganz schreckliche Nacht!

Endlich kam der Morgen und mit ihm die warme Sonne.

„So!" sagte Frau Hei. „Das ist ja nun zum Glück vorbei! Ich möchte nie wieder in einem Nest schlafen!" Sie richtete sich auf und guckte über den Rand...

„Hilfe!" schrie sie. „Da! Guckt mal da unten!" „Was ist denn, meine Liebe?" fragte Herr Hei. Er stand auf und linste vorsichtig über den Nestrand. Und kriegte den größten Schreck seines Lebens!

Unten auf der Erde standen die vier Riesenenten, so groß wie Menschen, und drei von ihnen hielten eine Flinte im Anschlag. Eine hatte Herrn Heis Flinte, eine hatte Philipps Flinte und eine hatte Willis Flinte.

Alle drei Flinten zeigten genau auf das Nest.

„Nein! Nein! Nein!" riefen Herr und Frau Hei gleichzeitig. „Nicht schießen! Bitte nicht schießen!"

„Warum nicht?" fragte eine von den Enten. Es war die, die keine Flinte hielt. „Ihr schießt doch auch immer auf uns."

„Oh, das ist aber nicht dasselbe!" sagte Herr Hei.

„Wir dürfen Enten schießen!"

„Wer hat gesagt, daß ihr es dürft?" fragte die Ente.

„Einer sagt's dem anderen. Wir erlauben es uns gegenseitig", antwortete Herr Hei. „Na, prima", sagte die Ente. „Und jetzt erlauben wir es uns gegenseitig, euch zu schießen."


(Für mein Leben gern hätte ich Herrn Heis Gesicht in dem Augenblick gesehen!)


„Oh, bitte!" rief Frau Hei. „Unsere beiden kleinen Kinder sind hier oben bei uns! Ihr wollt doch sicher nicht meine Kinder totschießen!" „Gestern habt ihr meine Kinder totgeschossen", sagte die Ente. „Alle sechs habt ihr mir totgeschossen."

„Ich will's nie wieder tun!" rief Herr Hei. „Nie, nie, nie!"

„Ehrlich?" fragte die Ente. „O ja, ehrlich!" sagte Herr Hei. „In meinem ganzen Leben will ich nie wieder eine Ente schießen!"

„Das genügt nicht", sagte die Ente. „Nämlich zum Beispiel die Rehe?"

„Ich tu alles, was ihr von mir wollt, wenn ihr nur endlich die Flinten herunternehmt!" rief Herr Hei. „Ich schieße bis an mein Lebensende keine Ente mehr und kein Reh mehr und überhaupt nichts mehr!"

„Gibst du mir dein Wort darauf?" fragte die Ente. „Ja! Ja!" sagte Herr Hei. „Wirfst du deine Flinten weg?" fragte die Ente. „Ich zerbreche sie in tausend winzige Stücke!" sagte Herr Hei. „Und ihr braucht nie wieder Angst vor mir oder meinen Kindern zu haben." „Gut", sagte die Ente. „Dann dürft ihr jetzt runterkommen."

„Und darf ich Ihnen übrigens zu Ihrem Nest gratulieren? Gar nicht schlecht für einen ersten Versuch!"

Herr und Frau Hei und Philipp und Willi hüpften aus dem Nest und flogen nach unten. Da wurde ihnen plötzlich schwarz vor Augen, und sie konnten nichts mehr sehen. Gleichzeitig überfiel alle vier ein komisches Gefühl, und es brauste in ihren Ohren wie ein mächtiger Sturm. Dann wurde das Schwarz vor ihren Augen

zu BLAU


zu GRÜN


zu ROT


und dann zu GOLD


und plötzlich standen sie im schönsten hellen Sonnenschein auf ihrem eigenen Hof, dicht beim Haus, und alles war wieder ganz genauso wie vorher.

„Unsere Flügel sind weg!" rief Herr Hei.„Und unsere Arme sind wieder da!"

„Und wir sind nicht mehr winzig!" lachte Frau Hei. „Ach, wie bin ich froh!"

Philipp und Willi fingen vor Freude an zu tanzen. Da hörten sie hoch über sich den Ruf einer Wildente. Alle schauten nach oben, und sie sahen die vier Vögel, die, dicht beieinander und wunderschön anzuschauen vor dem blauen Himmel, zum See im Wald zurückflogen. Ungefähr eine halbe Stunde darauf muß es gewesen sein, als ich zu Heis auf den Hof kam. Ich war hingegangen, um herauszufinden, wie es um sie stand, und ich muß zugeben, ich rechnete mit dem Schlimmsten. Am Tor blieb ich stehen und riß die Augen weit auf. Es war solch ein merkwürdiger Anblick.

In einer Ecke zertrümmerte Herr Hei gerade alle drei Flinten mit einem dicken Vorschlaghammer in winzige Stückchen.

In einer anderen Ecke legte Frau Hei schöne Blumen auf sechzehn winzige Erdhügel - die Gräber der am Vortag geschossenen Enten, wie ich später erfuhr.

Und mitten auf dem Hof standen Philipp und Willi mit einem Sack von Vaters bester Gerste. Vögel schwirrten und hüpften um sie herum - Enten, Tauben, Spatzen, Rotkehlchen, Lerchen und viele andere, die ich nicht kannte, und die Vögel pickten die Gerste auf die die Jungen mit vollen Händen ausstreuten. „Guten Morgen, Herr Hei", sagte ich. Herr Hei ließ seinen Hammer sinken und guckte mich an. „Ich heiße nicht mehr Hei", sagte er. „Zu Ehren meiner gefiederten Freunde habe ich mich in Ei umbenannt."

„Und ich bin Frau Ei", sagte Frau Hei.

„Was ist denn passiert?" fragte ich. Sie kamen mir vor wie total plemplem, alle vier.

Nun erzählten mir Philipp und Willi die ganze Geschichte. Als sie fertig waren, sagte Willi: „Da! Da ist das Nest! Kannst du's sehen? Ganz oben in dem Baum! Da haben wir letzte Nacht geschlafen!"

„Ich habe das ganze Nest allein gebaut", sagte Herr Ei stolz. „Vom ersten bis zum letzten Zweig."

„Falls du uns nicht glaubst", sagte Frau Ei, „dann geh nur mal ins Haus und wirf einen Blick ins Badezimmer. Da sieht's vielleicht aus!" „Sie haben die Wanne bis an den Rand vollaufen lassen", sagte Philipp. „Sie müssen die ganze Nacht darin herumgeschwommen sein! Und überall Federn!"

„Enten haben gern Wasser", sagte Herr Ei. „Es freut mich, daß sie Spaß gehabt haben."

In dem Augenblick ertönte aus der Richtung des Sees ein lautes PENG!

„Da schießt jemand!" rief ich.

„Wird Jan Küfer sein", sagte Herr Ei. „Mit seinen drei Jungen. Die sind schießwütig, diese Küfers, die ganze Familie."

Plötzlich fing ich an, rot zu sehen...

Dann wurde mir am ganzen Körper ganz heiß... Dann fing es in meiner Fingerspitze ganz schrecklich zu kribbeln an. Ich spürte, wie es sich immer mehr auflud in mir... Ich machte kehrt und rannte, so schnell ich konnte, zum See hinauf.

„He!" rief Herr Ei hinter mir her. „Was ist denn los? Wo willst du hin?" „Küfers suchen!" rief ich zurück. „Aber warum?"

„Warten Sie nur mal ab!" rief ich. „Die nisten heute nacht in den Bäumen, alle miteinander!"

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