Nach einer alten sachakanischen Tradition, an deren Ursprung sich niemand mehr erinnern konnte, galt der Aspekt des Sommers als männlich, der des Winters als weiblich. Nun predigten die Anführerinnen und Vordenkerinnen der Verräterinnen schon seit Jahrhunderten, alle diese abergläubischen Vorstellungen über Männer und Frauen – insbesondere über Frauen – seien lächerlich, aber viele ihrer Mitglieder fanden noch immer, dass die Jahreszeit, die in ihrem Bergrefugium die größte Kontrolle über ihr Leben hatte, viel mit der weiblichen Kraft gemeinsam habe. Der Winter der Berge war machtvoll, gnadenlos und brachte Menschen zusammen, damit sie so gut wie möglich überleben konnten.
Im Gegensatz dazu war der Winter in den Tiefländern und Wüsten Sachakas ein Segen – er brachte den Regen, dessen es für eine gute Ernte und das Vieh bedurfte. Der Sommer dort war dagegen hart, trocken und unproduktiv.
Als Lorkin vom Kräuterhaus zurückeilte, war es in dem Tal deutlich kälter, als er erwartet hatte. Es lag bereits eine Ahnung von Schnee und Eis in der Luft. Seinem Gefühl nach lebte er noch nicht lange genug im Sanktuarium, als dass der Winter so kurz bevorstehen konnte. Es waren nur wenige Monate verstrichen, seit er die geheime Heimat der sachakanischen Rebellinnen erreicht hatte. Zuvor war er unten in den warmen, trockenen Tiefländern auf der Flucht gewesen, in Begleitung einer Frau, die ihm das Leben gerettet hatte.
Tyvara. Etwas in seiner Brust verkrampfte sich auf eine unbehagliche und doch seltsam angenehme Weise. Lorkin holte tief Luft und beschleunigte seine Schritte. Er war entschlossen, dieses Gefühl ebenso energisch zu ignorieren, wie Tyvara ihn ignorierte.
Ich bin nicht nur deshalb hierhergekommen, weil ich mich in sie verliebt habe, sagte er sich. Es war für ihn eine Frage der Ehre gewesen, vor ihren Leuten zu Tyvaras Verteidigung zu sprechen, da sie ihm das Leben gerettet hatte. Sie hatte die Attentäterin getötet, die versucht hatte, ihn zu verführen und zu ermorden, aber die Attentäterin war ebenfalls eine Verräterin gewesen. Riva hatte im Auftrag einer Gruppe gehandelt, die fand, er solle bestraft werden für das Versäumnis seines Vaters, des ehemaligen Hohen Lords Akkarin, einen vor vielen Jahren mit den Verräterinnen geschlossenen Handel nicht eingehalten zu haben.
Niemand aus der Gruppe, die seine Bestrafung wollte, hatte zugegeben, Riva den Befehl zu seiner Ermordung erteilt zu haben. Ein solcher Befehl hätte bedeutet, dass der Betreffende sich den Wünschen der Königin widersetzt hätte. Also tat die ihm feindlich gesinnte Gruppe, als sei der Mordanschlag ganz und gar Rivas Idee gewesen.
Es gibt Rebellen innerhalb der Rebellen, ging es Lorkin durch den Kopf.
Seine Aussage zugunsten Tyvaras mochte sie vor der Hinrichtung bewahrt haben, aber einer Bestrafung war sie dennoch nicht entkommen. Vielleicht war es die Arbeit, die Rivas Familie ihr zugewiesen hatte, die sie von ihm fernhielt. Wie auch immer, er hatte jedenfalls die Einsamkeit eines Fremden an einem fremden Ort zur Genüge kennengelernt.
Er hatte den Fuß der Felswand, die sich rings um das ganze Tal zog, fast erreicht. Beim Blick auf die zahlreichen Fenster und Türen, die auf dieser Talseite in den Fels gehauen worden waren, wusste Lorkin, dass Zeiten kommen mussten, da er sich in diesem Ort gefangen fühlen würde. Nicht wegen der strengen Winter, die es notwendig machten, in den Höhlen im Fels zu bleiben, sondern weil ihm als Fremdem, der die ungefähre Lage dieser Heimstatt der Verräterinnen kannte, niemals erlaubt werden würde, diesen Ort wieder zu verlassen.
Hinter den Fenstern und Türen gab es genug Raum im Fels, um die Bevölkerung einer kleinen Stadt zu beherbergen. Die kleinsten Höhlen waren vielleicht schrankgroß, die größten hatten das Format der Gildehalle. Die meisten waren nicht allzu tief in den Fels gehauen worden, da es in der Vergangenheit Beben und Einstürze gegeben hatte und die Menschen sich wohler fühlten, wenn der Weg ins Freie kurz genug war, um schnell hinauslaufen zu können.
Einige Gänge aber reichten tief in den Fels hinein. Diese waren die Domäne der Magierinnen unter den Verräterinnen – der Frauen, die diesen Ort trotz ihrer Behauptung, es handele sich um eine gleichberechtigte Gemeinschaft, allein regierten. Vielleicht machte es ihnen nichts aus, in größerer Tiefe zu leben, weil sie mit ihrer Magie verhindern konnten, dass ein Einsturz sie zerquetschte. Möglicherweise wollen sie aber einfach nur in der Nähe der Höhlen bleiben, in denen die magischen Kristalle und Steine gemacht werden.
Bei diesem Gedanken verspürte Lorkin ein Prickeln der Erregung. Er schob sich den Kasten, den er trug, auf die andere Schulter und trat durch den überwölbten Eingang in die Stadt. Vielleicht werde ich es heute Abend herausfinden.
Die Gänge der unterirdischen Stadt waren belebt; es war die Zeit, da viele Arbeiter zu ihren Familien zurückkehrten. An einer Stelle versperrten Lorkin zwei Kinder den Weg, die ganz in ihr Gespräch versunken waren.
»Verzeihung«, sagte er automatisch, während er sich an ihnen vorbeidrückte.
Die Kinder und einige umstehende Erwachsene blickten ihn erheitert an. Kyralische Manieren verwirrten alle Sachakaner. Bei den Ashaki und deren Familien, den mächtigen freien Bewohnern des Tieflands, war das Gefühl, dass sie ein selbstverständliches Recht auf die Dienste anderer hatten, zu stark ausgeprägt, um es für notwendig zu erachten, Dankbarkeit dafür zu zeigen – und es wäre ihnen auch lächerlich erschienen, Sklaven für etwas zu danken, das sie taten, weil sie keine andere Wahl hatten. Obwohl die Verräterinnen keine Sklaven hielten und ihre Gesellschaft angeblich auf dem Prinzip der Gleichheit beruhte, hatten sie keinen Sinn für gute Manieren entwickelt. Zuerst hatte Lorkin versucht, es ihnen gleichzutun, aber er wollte seine guten Manieren nicht in einem solchen Maß aufgeben, dass seine eigenen Leute ihn später unhöflich fanden, sollte er jemals nach Kyralia zurückkehren.
Sollen die Verräterinnen mich doch seltsam finden, das ist besser als undankbar oder hochmütig.
Nicht dass die Verräterinnen unfreundlich oder ohne Wärme gewesen wären. Sowohl Männer als auch Frauen hatten sich überraschend herzlich gezeigt. Einige der Frauen hatten sogar versucht, ihn in ihre Betten zu locken, aber er hatte höflich abgelehnt. Vielleicht bin ich ein Narr, aber ich habe Tyvara noch nicht aufgegeben.
Als Lorkin sich der Krankenstation näherte, wo er an den meisten Tagen arbeitete, mäßigte er sein Tempo, um wieder zu Atem zu kommen. Die Station wurde von Sprecherin Kalia geleitet, der inoffiziellen Führerin der Partei, die seine Ermordung befohlen hatte. Er wollte sie nicht wissen lassen, dass er den Weg rasch zurückgelegt hatte, und ihr auch nicht das Gefühl geben, er habe es besonders eilig, mit seinen Arbeiten des Tages fertig zu werden. Wenn sie daraus folgerte, dass es ihm wichtig sei, pünktlich Feierabend zu machen, würde sie eine weitere Aufgabe für ihn finden, um ihn länger festzuhalten. Wenn es andererseits nichts Rechtes mehr für ihn zu tun gab, hütete er sich, einfach auszuruhen und die Hände in den Schoß zu legen, denn dann fand sie ebenso rasch etwas Neues für ihn zu tun, und oft etwas ebenso Unangenehmes wie Unnötiges.
Wenn er allerdings hereingeschlendert kam, als habe er alle Zeit der Welt, würde sie ihn auch dafür bestrafen. Also nahm er seine gewohnt ruhige, stoische Haltung ein. Kalia entdeckte ihn, verdrehte die Augen und nahm ihm mittels ihrer Magie die Kiste ab.
»Warum benutzt du nie deine Kräfte?«, fragte sie und wandte sich seufzend ab, um die Kiste in den Lagerraum zu bringen.
Er ignorierte ihre Frage. Sie würde sicher nicht gern hören, dass Lord Rothen, sein alter Lehrer in der Gilde, der Überzeugung war, dass ein Magier nicht jede körperlich anstrengende Tätigkeit durch Rückgriff auf seine Magie vermeiden sollte, um nicht auf Dauer schwach und kränklich zu werden.
»Willst du, dass ich dir dabei helfe?«, fragte er. Die Kiste war voller Heilkräuter, die nun zu Heilmitteln verarbeitet werden mussten – Heilmittel, deren Rezeptur er gern kennenlernen wollte.
Sie blickte ihn über die Schulter hinweg an und runzelte die Stirn. »Nein. Halte ein Auge auf die Patienten.«
Er zuckte die Achseln, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, drehte sich um und ließ den Blick über den großen Saal der Krankenstation schweifen. Seit dem frühen Morgen, als er mit der Arbeit des Tages begonnen hatte, hatte sich nicht viel geändert. Die meisten der in Reihen aufgestellten Betten waren leer. Es waren lediglich einige Kinder da, die sich von typischen Kinderkrankheiten oder Verletzungen erholten, und eine alte Frau mit einem gebrochenen Arm. Alle schliefen.
Es war Kalias Idee gewesen, ihn auf der Krankenstation einzusetzen – zweifellos zur Prüfung seiner Entschlossenheit, die Verräterinnen keine heilende Magie zu lehren. Bisher waren keine Patienten eingeliefert worden, die drohten, an solchen Krankheiten oder Verletzungen zu sterben, die er nur mit Magie hätte heilen können, aber irgendwann würde es so weit sein. Er rechnete damit, dass Kalia in diesem Fall versuchen würde, die Menschen gegen ihn aufzuwiegeln. Aber er hatte einen Plan, wie er Kalia entgegentreten konnte. Allerdings verbarg sich hinter Kalias mütterlichem Erscheinungsbild und Gehabe ein scharfer Verstand, und sie hatte seine Absichten vielleicht bereits erraten. Er konnte nur abwarten.
Aber gerade jetzt konnte er das nicht. Er wurde anderenorts erwartet. Er war schon reichlich spät dran, und mit jedem verflossenen Augenblick wurde es später. Also folgte er Kalia in den Lagerraum.
»Sieht aus, als hättest du sehr viel Arbeit«, stellte er fest.
Sie blickte nicht zu ihm auf. »Ja. Ich werde die ganze Nacht aufbleiben.«
»Du hast schon letzte Nacht nicht geschlafen«, rief er ihr in Erinnerung. »Das tut dir nicht gut.«
»Sei nicht dumm«, fuhr sie ihn an. »Ich bin durchaus in der Lage, ohne Schlaf auszukommen. Diese Arbeit muss jetzt getan werden. Von jemandem, der weiß, was er tut.« Sie wandte sich ab. »Geh. Nimm du dir die Nacht frei.«
Lorkin ließ ihr keine Möglichkeit, ihre Meinung zu ändern. Mit einem stillen Lächeln kehrte er der Krankenstation den Rücken. Die Heiler der Gilde wussten, wie verheerend Schlafmangel sich auf den Körper auswirken konnte, weil sie es spürten. Die Magier der Verräterinnen wussten jedoch nicht, wie man mit Magie heilte, und da sie die Folgen ihrer Irrtümer niemals am eigenen Leib spürten, hielten sie an einigen seltsamen Auffassungen fest.
Er hatte nicht versucht, sie zu belehren, da es nicht taktvoll gewesen wäre, sie an das zu erinnern, was sie nicht wussten. Vor vielen Jahren hatte sein Vater versprochen, die Verräterinnen im Gegenzug für Kenntnisse der schwarzen Magie das Heilen durch Magie zu lehren – obwohl er nicht die Erlaubnis der Gilde hatte, dieses Wissen weiterzugeben, und, schlimmer noch, schwarze Magie in der Gilde verboten war.
Zu der Zeit hatten viele Kinder der Verräterinnen an einer tödlichen Krankheit gelitten, und Kenntnisse heilender Magie hätten sie vielleicht gerettet. Akkarin war nach Kyralia zurückgekehrt und hatte seine Seite des Handels niemals erfüllt. Seit er von dem gebrochenen Versprechen seines Vaters erfahren hatte, hatte Lorkin viele mögliche Gründe in Erwägung gezogen. Sein Vater hatte gewusst, dass der Bruder des Ichani, der ihn versklavt hatte, eine Invasion Kyralias plante. Er könnte sich verpflichtet gefühlt haben, sich zuerst um diese Bedrohung zu kümmern. Vielleicht konnte er die Bedrohung nicht erklären, ohne zu offenbaren, dass er verbotene schwarze Magie erlernt hatte. Möglicherweise war es ihm zu gefährlich erschienen, allein nach Sachaka zurückzukehren und eine neuerliche Gefangennahme durch die Ichani oder die Rache des Bruders seines ehemaligen Herrn zu riskieren.
Vielleicht hatte er auch niemals beabsichtigt, sein Versprechen zu erfüllen. Schließlich hatten die Verräterinnen einige Zeit, bevor sie ihre Hilfe anboten, von seiner schrecklichen Situation gewusst, während sie anderen – im Wesentlichen sachakanischen Frauen – ständig halfen, ohne einen Preis dafür zu verlangen. Dass sie Akkarin erst dann geholfen hatten, seine Freiheit wiederzuerlangen, als es für sie von Vorteil war, zeigte gewiss, wie skrupellos sie sein konnten.
Inzwischen war Lorkin in einem Teil der Stadt angelangt, dessen Gänge weniger belebt waren, so dass er rascher vorankam und sogar in Laufschritt verfallen konnte, ohne dabei beobachtet zu werden. Falls jemand aus Kalias Partei ihn in Eile sah, würde er es ihr vielleicht zutragen.
Tyvara hatte behauptet, er werde eine friedliche Gesellschaft antreffen, eine gerechte, doch das Leben hier entsprach nicht ganz ihren Beteuerungen, trotz des Prinzips der Gleichheit, das die Verräterinnen so hoch schätzten. Wie dem auch sei, sie machen ihre Sache besser als viele andere Länder, insbesondere der Rest von Sachaka. Sie kennen keine Sklaverei, und die Arbeit wird größtenteils aufgrund von Fähigkeiten verteilt und nicht aufgrund eines ererbten Klassensystems. Männer und Frauen mögen nicht wirklich gleichgestellt sein, aber das ist in allen Kulturen so – nur immer mit anderem Vorzeichen. Und die meisten Kulturen behandeln die Frauen sehr viel schlechter, als die Verräterinnen ihre Männer behandeln.
Er dachte an seinen inzwischen engsten Freund im Sanktuarium, einen Mann namens Evar, den er gleich treffen würde. Der junge Magier hatte sich aus Neugier zu Lorkin hingezogen gefühlt, weil Lorkin im Sanktuarium der einzige andere männliche Magier war, der sich noch mit keiner Frau zusammengeschlossen hatte. Lorkin hatte herausgefunden, dass sein erster Eindruck zum Status männlicher Magier falsch gewesen war: Er hatte vermutet, dass die Verräterinnen männlichen, magisch begabten Personen die gleichen Möglichkeiten bieten würden, Magie zu erlernen, wie sie die Frauen hatten. Tatsächlich waren aber alle männlichen Magier hier »natürliche«, deren Magie sich auf ursprüngliche Weise entwickelt hatte und nicht erst freigesetzt werden musste. Es war den Verräterinnen also nichts anderes übrig geblieben, als sie entweder zu unterrichten oder sie zum Sterben außerhalb des Sanktuariums auszusetzen, bevor sie die Kontrolle über ihre Kräfte verloren. Anderen männlichen Verrätern dagegen wurde keine Magie gelehrt.
Die wenigen glücklichen männlichen Naturmagier waren den Frauen jedoch trotzdem nicht ebenbürtig: Männer durften keine schwarze Magie erlernen. Dies stellte sicher, dass selbst schwache weibliche Magier mächtiger waren als die männlichen, weil sie ihre Kräfte mit schwarzer Magie stärken konnten.
Ich frage mich … hätte man mir Einlass ins Sanktuarium gewährt, wenn ich mich auf schwarze Magie verstünde?
Er dachte nicht weiter darüber nach, denn er hatte jetzt sein Ziel erreicht: den »Männerraum«. Es war eine große Höhle, in der diejenigen Männer lebten, die zu alt waren, um noch bei ihren Eltern zu wohnen, und noch von keiner Frau als Gefährte ausgewählt worden waren.
Evar unterhielt sich mit zwei anderen Männern, als Lorkin eintrat, kehrte ihnen jedoch den Rücken, sobald er seinen Freund bemerkte. Wie die meisten männlichen Verräter war er schmal und feinknochig, ganz anders als die typischen freien Sachakaner aus dem Tiefland mit ihrem hohen Wuchs und den breiten Schultern. Nicht zum ersten Mal fragte sich Lorkin, ob die Männer der Verräterinnen über viele Generationen hinweg kleiner geworden waren – gewissermaßen, um sich ihrem sozialen Status anzupassen.
»Evar«, sagte Lorkin. »Tut mir leid, dass ich spät dran bin.«
Evar zuckte die Achseln. »Lass uns essen.«
Lorkin zögerte, folgte seinem Freund dann aber in den Küchenbereich, wo ein großer Topf mit dampfender Suppe, die einer der ihren zubereitet hatte, auf die Männer wartete. Das gehörte nicht zu ihrem Plan. War er so spät, dass Evar seine Pläne inzwischen geändert hatte?
»Werden wir den Ausflug, den du vorgeschlagen hast, noch machen?«, erkundigte sich Lorkin so beiläufig wie möglich.
Evar nickte. »Wenn du es dir nicht anders überlegt hast.« Er beugte sich etwas dichter zu Lorkin hinüber. »Einige der Steinemacherinnen arbeiten länger«, murmelte der junge Magier. »Wir müssen ihnen Zeit lassen, ihre Arbeit fertigzustellen und heimzugehen.«
Lorkin spürte leichten Aufruhr in seinen Eingeweiden. »Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«, fragte er, während sie mit ihren Tellern zu einem der langen Esstische hinübergingen und sich dort – etwas abseits von den anderen, die bereits aßen – einen Platz suchten.
Evar schlürfte etwas Suppe, schluckte und bedachte Lorkin dann mit einem beruhigenden Lächeln. »Nichts, was ich dir zeige, ist geheim. Jeder, der es sich ansehen will, kann das ohne Weiteres tun, solange er sich still verhält und niemandem in die Quere kommt. Was dir ebenfalls gelingen sollte.«
»Aber ich bin nicht irgendjemand.«
»Du bist angeblich einer von uns. Der einzige Unterschied ist, dass man dir gesagt hat, dass du nicht fortgehen darfst. Ich bezweifle, dass ich, wenn ich fortzugehen versuchte, ohne Erlaubnis weit käme und dass man mir eine solche Erlaubnis geben würde. Sie sehen es nicht gern, wenn sich viele von uns außerhalb der Stadt aufhalten. Jeder Spion stellt ein Risiko dar, selbst mit den Steinen, die vor dem Gedankenlesen schützen. Denn was nützt dir ein Stein in der Hand, wenn dir die Hand abgeschlagen wird?«
Lorkin verzog das Gesicht. »Trotzdem bezweifle ich, dass irgendjemand darüber glücklich sein wird, dass ich dort bin«, bemerkte er und wandte sich wieder dem eigentlichen Thema zu. »Oder darüber, dass du mich hinbringst.«
Evar schluckte den letzten Bissen seiner Mahlzeit herunter. »Wahrscheinlich nicht. Aber meine Tante Kalia liebt mich.« Lorkin hatte Kalia zwar nie mit Evar plaudern sehen, aber sie schien ihren Neffen tatsächlich zu schätzen. »Willst du das noch essen?«
Lorkin schüttelte den Kopf und schob die Reste seines Mahls beiseite. Er war zu nervös, um viel zu essen. Evar betrachtete stirnrunzelnd den halbvollen Teller, sagte jedoch nichts und aß den Rest einfach selbst. Da die landwirtschaftlichen Flächen im Tal knapp waren, sahen die Verräterinnen Verschwendung nicht gern. Und Evar war ständig hungrig. Die beiden erhoben sich, säuberten das Geschirr, das sie benutzt hatten, räumten es weg und verließen dann den Männerraum. Lorkin spürte, wie ihm seine Nervosität den Magen zusammenschnürte, aber gleichzeitig war er ungeduldig und voller Erwartung.
»Wir werden durch einen der hinteren Gänge gehen«, murmelte Evar. »Dort ist die Gefahr geringer, dass man dich bemerken wird, wenn du hineingehst.«
Während sie unterwegs waren, überlegte Lorkin sich noch einmal, was er eigentlich durch seinen Besuch der Höhlen herauszufinden hoffte. Die Gilde hielt schon jahrhundertelang daran fest, dass es keine wahren magischen Gegenstände gab, nur gewöhnliche Dinge, denen durch Magie strukturelle Integrität oder verbesserte Eigenschaften verliehen wurden – wie zum Beispiel durch Magie verstärkte Gebäude oder die Mauern, die in der Universität leuchteten –, weil sie aus Materialien bestanden, in denen Magie langsamer wirkte als gewöhnlich, so dass ihr Effekt noch erhalten blieb, lange nachdem ein Magier seine Arbeit daran beendet hatte. Selbst den gläsernen Blutsteinen, die die Gedankenrede zwischen dem Träger und dem Schöpfer des Rings kanalisierten, und zwar auf eine Art und Weise, die verhinderte, dass andere Magier sie hören konnten, gestand man keine eigene Magie zu.
Er vermutete nun, dass einige der Edelsteine im Sanktuarium tatsächlich Magie enthielten. Die meisten davon waren allerdings eher wie Blutsteine – es wurde Magie hineingegeben, die dann von dem Stein zu einem bestimmten Zweck umgeformt wurde. Alle Verräterinnen, die sich aus ihrem geheimen Zuhause herauswagten, trugen einen winzigen Stein unter der Haut, der es ihnen nicht nur gestattete, ihren Geist zu schützen, falls ein sachakanischer Magier ihre Gedanken las, sondern es ihnen auch ermöglichte, einen Gedankenleser stattdessen unschuldige, sichere Gedanken sehen zu lassen. Die Flure und Räume innerhalb der Stadt wurden mit Edelsteinen beleuchtet, die Licht spendeten. Die Krankenstation, auf der Lorkin sich um die Patienten kümmerte, barg mehrere Steine mit nützlichen Eigenschaften, angefangen von der Schaffung eines warmen Leuchtens oder einer sanften Vibration, um verkrampfte Muskeln zu lockern, bis hin zu Steinen, die Wunden ausbrennen konnten.
Falls die historischen Unterlagen, auf die Lorkin und Dannyl gestoßen waren, korrekt waren, dann war es auch möglich, in einem Edelstein unermessliche Mengen von Magie zu lagern. Vor vielen hundert Jahren hatte es einen Lagerstein in der sachakanischen Hauptstadt Arvice gegeben. Chari, die Frau, die ihm und Tyvara geholfen hatte, sicher bis zum Sanktuarium zu gelangen, behauptete, die Verräterinnen wüssten von Lagersteinen, hätten jedoch keine Ahnung, wie man sie herstellte. Vielleicht hatte sie die Wahrheit gesagt, vielleicht aber auch gelogen – möglicherweise, um ihre eigenen Leute zu schützen.
Falls es Kenntnisse über die Fertigung solcher Lagersteine gab, könnte es die Gilde der Notwendigkeit entheben, einigen Magiern zu gestatten, schwarze Magie zu erlernen für den Fall, dass es erneut zu einer Invasion sachakanischer Magier kam. Stattdessen könnte Magie in den Steinen gelagert werden, um sie für die Verteidigung des Landes zu benutzen.
Das war der Grund, warum er es riskierte, die Höhlen der Steinemacher zu besuchen. Er war nicht darauf aus zu lernen, wie die Steine hergestellt wurden, er wollte sich nur versichern, dass sie das Potenzial besaßen, das er sich von ihnen erhoffte. Denn dann könnte er vielleicht ein Tauschgeschäft zwischen der Gilde und den Verräterinnen aushandeln: die Kunst des Steinemachens gegen die Kunst der Heilung mittels Magie. Es wäre ein Tausch, von dem beide Seiten profitierten.
Er wusste, dass es harter Arbeit bedürfen würde, die Verräterinnen dazu zu bewegen, einen solchen Tausch überhaupt in Erwägung zu ziehen. Nachdem sie sich schon jahrhundertelang vor den Ashaki versteckten, waren sie sehr rigoros, was den Schutz ihres geheimen Zuhauses und ihrer Lebensweise anging. Sie gestatteten ihren Leuten keinerlei Gebrauch der Gedankenrede, um jede Möglichkeit auszuschließen, auf ihre Stadt und deren Lage aufmerksam zu machen. Mit wenigen Ausnahmen waren die einzigen Verräterinnen, die das Tal verlassen und wieder zurückkehren durften, die Spioninnen.
Aber während er Evar tiefer in das unterirdische Netzwerk von Gängen folgte, fragte sich Lorkin, ob es nicht zu früh für ihn war, die Höhlen aufzusuchen. Er wollte den Verräterinnen keinen Grund geben, ihm zu misstrauen.
Aber als einem Fremdländer würden sie ihm vielleicht ohnehin nie voll und ganz trauen. Und es reichte ihm auch so viel Vertrauen, dass er sie dazu bringen konnte, mit der Gilde und den Verbündeten Ländern Handel zu treiben. Und über kurz oder lang wird ihnen auffallen, dass sie versäumt haben, mir offiziell einen Besuch in den Höhlen zu verbieten, und sie werden das schleunigst nachholen. Ich muss also jetzt die Gelegenheit nutzen.
Evar hatte ihn noch auf einen weiteren Aspekt ihres Plans hingewiesen. »Die Verräterinnen treffen ihre Entscheidungen selbst – oder besser: Sie schätzen es nicht, wenn andere eine Entscheidung für sie treffen. Wenn du willst, dass sie etwas tun, musst du sie glauben machen, dass es sich um ihre eigene Idee handelt. Wenn uns jemand bei der Besichtigung der Höhlen entdeckt, dann hast du sie immerhin mit dem Kopf darauf gestoßen, dass sie etwas haben, das der Gilde wohl die Weitergabe der magischen Heilkunst wert sein könnte.«
»Da wären wir«, sagte Evar und drehte sich zu Lorkin um.
Der Flur war hier so schmal, dass sie nicht mehr nebeneinander gehen konnten. Evar war vor einem Durchgang stehen geblieben. Über Evars Schulter sah Lorkin, dass er in einen hell erleuchteten Raum führte.
Es gibt nicht einmal eine Tür, bemerkte er. Warum halten sie den Raum nicht verschlossen, wenn er ein Geheimnis birgt? Vielleicht weil es kein gar so großes Geheimnis ist?
Evar gab ihm ein Zeichen und trat durch die Öffnung. Lorkin folgte ihm und blickte sich in der riesigen Höhle um. Außer ihnen schien niemand da zu sein. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Höhlenwände, und sein Herz setzte einen Schlag aus.
Sie waren über und über mit einer Unzahl glitzernder, bunter Edelsteine bedeckt. Zuerst dachte er, die Anordnung der Steine sei willkürlich, aber langsam zeichneten sich vor seinen Augen Bänder, Wirbel und Flächen ähnlicher Farbtöne ab. Als er sich umdrehte, um die Wand hinter ihnen genauer zu betrachten, stellte er fest, dass die Steine unterschiedlich groß waren – manche nur winzige Punkte, andere daumennagelgroß.
»Da machen wir die Lichtsteine«, erklärte Evar, bedeutete ihm zu folgen und trat auf einen blendend hellen Bereich der Wand zu. »Ihre Herstellung ist am einfachsten, und man sieht auch sofort, ob sie gut geworden sind. Man braucht dazu nicht einmal einen Duplikatorstein.«
»Duplikatorstein?«, wiederholte Lorkin. Evar hatte solche Steine schon früher erwähnt, aber Lorkin hatte ihren Verwendungszweck niemals ganz verstanden.
»Einen von diesen hier.« Evar wechselte abrupt die Richtung und führte Lorkin zu einem der vielen Tische in der Höhle. Er öffnete eine hölzerne Schatulle, in der in einem Bett aus feinen, daunigen Fasern ein einzelner Edelstein lag. »Bei den Lichtsteinen braucht man den wachsenden Steinen lediglich den gleichen Gedanken einzugeben, den man benutzt, um ein magisches Licht zu erschaffen. Aber bei Steinen mit komplizierteren Verwendungszwecken ist es einfacher, man nimmt einen, der bereits fertig ist und einwandfrei funktioniert, und projiziert dessen Struktur in den neu zu schaffenden Stein. Das verringert die Fehlerquote und die Zahl mangelhafter Steine, außerdem kann man mehrere Steine gleichzeitig wachsen lassen.«
Lorkin nickte. Dann deutete er auf einen anderen Bereich. »Was tun diese Steine?«
»Eine Barriere schaffen und aufrecht halten. Sie werden benutzt, um vorübergehend Wasser einzudämmen oder Steinmuren aufzuhalten. Sieh dir mal das hier an …« Sie gingen zu einer Wand mit winzigen schwarzen Kristallen. »Das werden Gedankenblocker. Ihre Herstellung dauert lange, weil sie so kompliziert sind. Es wäre einfacher, wenn sie lediglich die Gedanken des Trägers beschirmen müssten, aber sie müssen dem Träger auch die Möglichkeit geben, die Gedanken auszusenden, die ein Gedankenleser vorzufinden erwartet, um ihn in die Irre zu führen.« Evar betrachtete die winzigen Steine voller Bewunderung. »Wir haben sie nicht erfunden – wir haben sie früher von den Duna-Stämmen gekauft.«
Lorkin erinnerte sich plötzlich an Dannyls Warnung, dass die Verräterinnen die Kenntnisse für die Herstellung von Edelsteinen vom Volk der Duna gestohlen hätten. Vielleicht war das nur die Art, wie die Duna es sahen. Vielleicht war es ein weiterer Handel gewesen, der schiefgegangen war, wie der zwischen seinem Vater und den Verräterinnen.
»Treibt ihr immer noch Handel mit ihnen?«, fragte er.
Evar schüttelte den Kopf. »Wir haben sie schon vor Jahrhunderten an Kenntnissen und Fähigkeiten übertroffen.« Er schaute nach rechts. »Hier sind einige, die wir selbst entwickelt haben.« Sie näherten sich einem Bereich mit großen Edelsteinen, deren Oberfläche Licht mit einem Schillern reflektierte, das Lorkin an das Perlmutt exotischer, polierter Muscheln erinnerte. »Dies sind Rufsteine. Sie sind wie Blutsteine. Sie ermöglichen es uns, über eine gewisse Entfernung hinweg miteinander zu kommunizieren, aber man braucht dazu immer zwei Steine, die dicht nebeneinander gewachsen sind. Es kann schwierig sein, den Überblick darüber zu behalten, welche Steine miteinander verbunden sind, daher können wir noch nicht mit der Herstellung von Blutsteinen aufhören.«
»Warum solltet ihr damit aufhören?«
Evar sah ihn überrascht an. »Du kennst doch sicher ihre Schwächen?«
»Nun … lass mich raten: Der Schöpfer dieser Steine sieht nicht ständig die Gedanken des Trägers?«
»Ja, und nur die Nachricht, die der Benutzer aussendet, wird von dem Edelstein aufgefangen, nicht all seine Gedanken und Gefühle.«
»Jetzt verstehe ich, inwiefern das eine Verbesserung wäre.« Lorkin drehte sich um, um sich im Raum umzusehen. Es gab so viele verschiedene Steine, und überall an den Wänden standen teils überladene Tische. »Was bewirken diese Edelsteine?«, fragte er und deutete auf einen großen Bereich.
Evar zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht genau. Ich vermute, es ist ein Experiment. Irgendeine Art von Waffe.«
»Waffe?«
»Für die Verteidigung der Stadt, sollte es jemals zu einer Invasion kommen.«
Lorkin nickte und sagte nichts mehr. Fragen in Bezug auf Waffen würden selbst seinem neuen Freund verdächtig erscheinen.
»Waffensteine müssten etwas können, zu dem ein Magier selbst nicht in der Lage ist«, erklärte Evar weiter. »Das wäre für Magier von geringen Fähigkeiten oder geringer Ausbildung sehr nützlich, oder für einen, dessen Kraft erschöpft ist. Ich hoffe, sie machen unsere Angriffe zielsicherer. Ich war nicht besonders gut in den Kampfdisziplinen, also werde ich, sollten wir jemals angegriffen werden, alle Hilfe brauchen, die ich bekommen kann.«
»Würdest du überhaupt kämpfen?«, fragte Lorkin. »Soweit ich es verstehe, sind in Schlachten mit Schwarzmagiern niedere Personen wie du und ich nur als Quelle für zusätzliche Magie von Nutzen. Wir würden unsere Macht wahrscheinlich einem Schwarzmagier überlassen und dann irgendwo hingeschickt, wo wir nicht im Weg wären.«
Evar nickte und bedachte Lorkin mit einem Seitenblick. »Ich finde es immer noch seltsam, dass du höhere Magie ›schwarz‹ nennst.«
»Schwarz ist in Kyralia eine Farbe der Gefahr und der Macht«, erklärte Lorkin.
»Das hast du bereits gesagt.« Evar wandte den Blick ab und schaute sich im Raum um, als suche er nach etwas anderem, das er Lorkin zeigen konnte. Dann weiteten sich seine Augen, und er gab einen leisen Laut von sich. »Oh-oh.«
Als Lorkin sich in die Richtung wandte, in die sein Freund starrte, bemerkte er, dass eine junge Frau durch den größeren Haupteingang eingetreten war. Er widerstand der Versuchung, nach dem kleinen Hintereingang Ausschau zu halten; er musste einige Schritte entfernt sein, und die Frau würde sie gewiss jeden Augenblick bemerken.
Sieht so aus, als würden wir jetzt genau die Schwierigkeiten bekommen, vor denen Kalia uns gewarnt hat.
Einen Moment später blickte die Frau auf und entdeckte sie. Sie lächelte Evar zu, dann wanderte ihr Blick zu Lorkin, und ihr Lächeln verblasste. Sie blieb stehen, schaute ihn nachdenklich an, dann drehte sie sich um und verließ den Raum.
»Hast du genug gesehen? Denn ich denke, jetzt wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt, um zu gehen«, sagte Evar leise.
»Ja«, erwiderte Lorkin.
Evar machte einen Schritt auf den Hintereingang zu und hielt dann inne. »Nein, lass uns durch den Hauptflur gehen. Wir wollen jetzt, da man uns gesehen hat, keinen schuldbewussten Eindruck machen.«
Sie tauschten ein grimmiges Lächeln, holten tief Luft und gingen auf den Bogengang zu, durch den die Frau verschwunden war. Sie hatten ihn fast erreicht, als eine andere Frau ihnen mit verärgerter Miene entgegenkam.
»Was hast du hier verloren?«, verlangte sie von Lorkin zu wissen.
»Hallo, Chava«, sagte Evar. »Lorkin ist mit mir hier.«
Sie blickte zu Evar. »Das sehe ich. Was hat er hier verloren?«
»Ich führe ihn herum«, erwiderte Evar. Er zuckte die Achseln. »Das ist nicht verboten.«
Der Blick der Frau verfinsterte sich noch weiter. Sie sah erst Evar, dann Lorkin und dann wieder Evar an. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, und ein Ausdruck von Verdruss huschte über ihre Züge. »Es mag nicht verboten sein«, belehrte sie Evar, »aber es gibt … noch andere Dinge zu berücksichtigen. Du weißt, wie gefährlich es ist, die Steinemacher zu unterbrechen oder abzulenken.«
»Natürlich weiß ich das.« Evars Ausdruck und Ton waren jetzt ebenfalls ernst. »Deswegen habe ich gewartet, bis die Steinemacher dieser Höhle Feierabend gemacht hatten, und habe Lorkin auch nicht durch die inneren Höhlen geführt.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Du hast nicht zu entscheiden, wann ein Besuch angebracht ist. Hast du um Erlaubnis für diesen Besuch gebeten?«
Evar schüttelte den Kopf. »Das musste ich noch nie.«
Bei dem flüchtigen Aufscheinen von Triumph in Chavas Blick verkrampfte sich Lorkin. »Das hättet ihr tun müssen«, erklärte sie ihnen. »Diese Sache muss gemeldet werden, und ich will nicht, dass einer von euch beiden mir von der Seite weicht, bis die richtigen Leute davon erfahren und entschieden haben, was mit euch geschehen soll.«
Als sie auf dem Absatz kehrtmachte und wieder auf den Eingang zuging, sah Lorkin Evar an. Der junge Mann lächelte und zwinkerte ihm zu. Ich hoffe, er hat recht damit, dass man keine Erlaubnis braucht, dachte Lorkin, während sie beide hinter Chava her eilten. Ich hoffe, es gibt nicht tatsächlich irgendein Gesetz oder eine Regel, von der mir niemand etwas gesagt hat. Die Sprecherinnen hatten ihn angewiesen, sich mit den Gesetzen des Sanktuariums vertraut zu machen und sie zu befolgen, und er war sorgfältig darauf bedacht gewesen, sich gewissenhaft daran zu halten.
Aber auch wenn seine Befürchtungen in dieser Richtung sich als unbegründet erweisen sollten, konnte er nicht so unbesorgt sein, wie Evar es war. Selbst wenn sie beide im Recht waren, hatte Chavas Reaktion die Furcht Lorkins bestätigt, dass er durch seinen Besuch der Höhlen das Vertrauen der Verräterinnen in ihn auf die Probe gestellt hatte. Er konnte nur hoffen, dass er nicht zu weit gegangen war und seine Hoffnungen auf einen Handel zwischen Verräterinnen und Gilde – oder die Möglichkeit, jemals zurückzukehren – für immer zunichtegemacht hatte.
Dannyl legte seinen Stift beiseite, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und seufzte.
Ich hätte nie gedacht, dass ich als Gildebotschafter – noch dazu in einem Land wie Sachaka – untätig, gelangweilt und allein herumsitzen würde.
Da Sachaka nicht zu den Verbündeten Ländern gehörte, kamen hier keine jungen Menschen zu ihm, um sich auf magische Fähigkeiten prüfen zu lassen, weil sie sich der Gilde anzuschließen hofften, und keine Gildemagier, für die er Quartiere und Treffen arrangieren musste. Ebenso wenig musste er sich um die Belange der hiesigen Gildemagier kümmern, da es ja keine gab. Es blieben gelegentliche Treffen, um das Gespräch zwischen der Gilde und dem sachakanischen König sowie der sachakanischen Elite zu pflegen und Botschaften zu diesem Zweck zu empfangen oder zu überbringen, und ab und an die Regelung oder Delegation von Handelsangelegenheiten. Er hatte also nur sehr wenig zu tun.
Bei seiner Ankunft in Sachaka war das ganz anders gewesen. Zwar waren seine spärlichen Aufgaben die gleichen gewesen, aber er hatte auch viel Zeit – für gewöhnlich die Abende – damit verbracht, wichtige und mächtige Sachakaner zu besuchen. Seit er von seiner Suche nach Lorkin und dessen Entführerin aus den Bergen zurückgekehrt war, gab es kaum noch Einladungen von Ashaki, die mit ihm speisen und sich mit ihm unterhalten wollten.
Dannyl stand auf, zögerte dann aber. Es gefiel den Sklaven nicht, wenn er im Gildehaus auf und ab ging. Sie huschten ihm aus dem Weg oder spähten um Ecken, um ihn zu beobachten. Ihre gewisperten Warnungen eilten ihm in solchen Fällen voraus, was immer eine Ablenkung war. Er ging auf und ab, um nachzudenken, und konnte keine getuschelten Störungen seiner Gedanken gebrauchen.
Irgendwann werden sie es schon schaffen, sich so zu verständigen, dass ich nichts mehr davon höre oder sehe, sagte er sich und trat hinter dem Schreibtisch hervor. Entweder das, oder ich werde mich daran gewöhnen müssen, in meinem Zimmer im Kreis zu laufen.
Als er aus seinem Arbeitszimmer in den Hauptraum seiner Wohnung trat, warf sich ein Sklave, der an der Wand gestanden hatte, zu Boden. Dannyl machte eine abschätzige Handbewegung. Der Sklave warf ihm einen vorsichtigen, forschenden Blick zu, dann rappelte er sich hoch und verschwand im Flur.
Langsam durchquerte Dannyl den Raum und trat ebenfalls in den Flur. Es war seltsam, aber die Anlage der sachakanischen Häuser selbst erhöhte den Reiz, darin umherzuwandern. Die Wände waren selten gerade, und die Flure des größeren, privaten Teils des Hauses wanden sich in eleganten Kurven, die irgendwann zusammenliefen.
Die nächste Gruppe von Räumen hatte Lorkin gehört. Dannyl hielt im Eingang dazu inne, dann ging er hinein. Er rechnete jetzt jeden Tag damit, dass ein Ersatz für seinen Assistenten eintraf und hier Quartier bezog. Schließlich ging er zur Schlafzimmertür und starrte auf das Bett.
Ich denke, ich sollte dem Nachfolger gegenüber lieber nicht erwähnen, dass dort einmal eine tote Sklavin gelegen hat, ging es ihm durch den Kopf. Mich würde dieses Wissen beunruhigen, und ich würde wahrscheinlich nächtens wach liegen und müsste mich zwingen, mir nicht vorzustellen, dass neben mir eine Leiche liegt.
Die Leiche war eine unangenehme Entdeckung gewesen, aber weniger schlimm als die Entdeckung, dass Lorkin zusammen mit einer anderen Sklavin verschwunden war. Zuerst hatte er sich gefragt, ob Sonea mit ihrer Befürchtung richtiggelegen hatte, dass die Familien der sachakanischen Eindringlinge, die sie und Akkarin vor über zwanzig Jahren getötet hatten, Rache an ihrem Sohn nehmen würden.
Nachdem er die Sklaven verhört hatte und den gesammelten Hinweisen gefolgt war – mithilfe des Repräsentanten des sachakanischen Königs, Ashaki Achati –, hatte er entdeckt, dass dies nicht der Fall war. Lorkin war vielmehr von Rebellen entführt worden, einer Gruppe, die sich die Verräterinnen nannte. Achati hatte veranlasst, dass sich ihnen fünf sachakanische Ashaki anschlossen, und sie hatten Lorkin und seine Entführerin in die Berge verfolgt. In das von den Verräterinnen beherrschte Territorium.
Lediglich sechs sachakanische Magier und ein einziger der Gilde hätten einem Angriff der Verräterinnen jedoch niemals standhalten können. Dannyl hatte inzwischen begriffen, dass die Verräterinnen nur deshalb nicht angegriffen hatten, weil das zu weiteren Einfällen in ihr Territorium hätte führen können. Wären Dannyl und seine Helfer allerdings dem Stützpunkt der Verräterinnen zu nahe gekommen, hätten diese sie getötet. Glücklicherweise hatten die Rebellen ein Treffen zwischen ihm und Lorkin arrangiert, und sein Gehilfe hatte ihm versichert, dass er mit den Verräterinnen gehen und mehr über sie herausfinden wolle.
Dannyl wandte sich von Lorkins ehemaligem Schlafzimmer ab und verließ langsam die Wohnung, wobei sich ein Gefühl der Düsternis in ihm ausbreitete. Er war erleichtert gewesen zu erfahren, dass Lorkin in Sicherheit war. Er hatte es sogar aufregend gefunden, dass Lorkin hoffte, etwas über Magie zu erfahren, von der die Gilde keine Kenntnis hatte. Eines war ihm jedoch nicht klar gewesen: wie peinlich diese Situation für die Ashaki gewesen war, die mit ihm ausgezogen waren, um Lorkin zu befreien.
Sie waren verpflichtet gewesen, so lange zu suchen, bis Lorkin gefunden wurde. Aus Furcht vor einem Angriff aufzugeben hätte für sie Gesichtsverlust bedeutet. Dannyl hatte ihnen diese Demütigung erspart, indem er die Entscheidung selbst traf. Es war ihm nur gerecht erschienen, nachdem sie sich für ihn und Lorkin in Gefahr gebracht hatten. Aber ihm war nicht klar gewesen, welchen Schaden dadurch sein Ansehen bei der sachakanischen Elite nehmen würde.
Der Flur zweigte nach links ab. Dannyl strich mit den Fingerspitzen über die weißgetünchte Wand, dann blieb er am Eingang zu einer weiteren Wohnung stehen. Diese Räume waren für Gäste bestimmt und in den vielen Jahren, in denen die Gilde das Gebäude schon benutzte, nur selten bewohnt gewesen.
Ich bin in Ungnade gefallen, überlegte Dannyl. Weil ich die Jagd aufgegeben habe. Weil ich wie ein Feigling vor den Verräterinnen geflohen bin. Und wahrscheinlich auch, weil ich zugelassen habe, dass ein Gildemagier, für den ich verantwortlich war und der im Rang unter mir stand, sich einem Feind des sachakanischen Volkes angeschlossen hat.
Hätte er sich noch einmal in dieser Situation befunden, hätte er die gleiche Entscheidung getroffen. Wenn die Verräterinnen tatsächlich über eine neue Art von Magie verfügten und Lorkin sie überreden konnte, ihn darin einzuweihen und ihm zu erlauben, nach Hause zurückzukehren, wäre dies das erste Mal seit Jahrhunderten, dass der Kernbestand der Gilde an magischen Künsten ergänzt wurde. Schwarze Magie zählte er nicht als neu; sie war eher eine Wiederentdeckung und wurde noch immer als gefährlich und wenig wünschenswert erachtet.
Ashaki Achati hatte ihm versichert, dass einige Sachakaner Dannyls »Opferung« seines Stolzes als eine bewundernswert noble Tat betrachteten. Dannyl hätte dieses Opfer vermeiden können, indem er seine Helfer bat, ihm bei der Entscheidungsfindung zur Seite zu stehen, so dass der Schaden sich auf sie alle verteilt hätte. Aber damit hätte er eine völlig nutzlose Fortsetzung der Jagd riskiert, die niemandem zum Vorteil gereicht hätte.
Dannyl ging am Eingang der Gästewohnung vorbei weiter den Flur entlang. Schon bald erreichte er das Herrenzimmer, den wichtigsten öffentlichen Raum des Gebäudes. Dies war der Ort, an dem der Besitzer oder die Person, die innerhalb des Hauses den höchsten Rang innehatte, Gäste begrüßte und bewirtete. Besucher betraten das Anwesen über den Haupthof, wurden von einem Türsklaven begrüßt und dann durch eine überraschend bescheidene Tür und einen kurzen Flur in diesen Raum geführt.
Er setzte sich auf einen von einer Handvoll Hocker, die in einem Halbkreis aufgestellt waren, und dachte an die vielen köstlichen Mahlzeiten, die man ihm vorgesetzt hatte, während er in ähnlichen Räumen auf ähnlichen Möbelstücken gesessen hatte. Achati, der Repräsentant des Königs, hatte die Aufgabe gehabt, Dannyl wichtigen Personen vorzustellen und ihm Anweisungen in Bezug auf Protokoll und Manieren zu geben. Es war gleichzeitig interessant und ein wenig besorgniserregend, dass dieser Mann der einzige war, der Dannyl immer noch besuchen konnte, ohne dass Dannyls beschädigter Ruf auf ihn abfärbte. War er immun gegen derartige gesellschaftliche Regeln, oder war es etwas anderes?
Kommt er mich besuchen, weil sein Interesse an mir nicht ausschließlich politischer Natur ist?
Dannyl erinnerte sich an den Moment, in dem Achati angedeutet hatte, er hätte gern eine engere Beziehung zu ihm als Freundschaft. Wie immer stieg eine Mischung von Emotionen in ihm auf: Er fühlte sich geschmeichelt, er empfand Furcht, spürte seine Neigung zu Vorsicht und hatte ein schlechtes Gewissen. Das schlechte Gewissen war nicht überraschend, überlegte er. Obwohl er frustriert aus Kyralia abgereist war, nachdem er sich von Tayend, seinem Liebhaber, entfremdet hatte, war von ihnen keine klare Entscheidung für eine Trennung getroffen worden.
Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich diese Trennung will. Vielleicht bin ich sentimental, dass ich etwas, das nur noch in der Vergangenheit existiert, nicht loslassen will. Doch wenn ich mich frage, ob ich an Achati interessiert bin, kann ich weder so noch so antworten. Ich bewundere den Mann. Ich habe das Gefühl, dass wir vieles gemeinsam haben – Magie, Interessen, unser Alter …
Ein Sklave betrat den Raum und warf sich zu Boden. Dannyl quittierte die Störung mit einem Seufzer.
»Sprich«, befahl er.
»Gildekutsche hier. Zwei Fahrgäste.«
Dannyl stand hastig auf, und sein Herz machte einen Satz, der auf jähe Erregung und Hoffnung zurückzuführen war. Endlich war sein neuer Assistent eingetroffen. Obwohl er keine Arbeit für ihn hatte, würde er zumindest ein wenig Gesellschaft bekommen.
»Schick sie herein.« Dannyl rieb sich die Hände, machte einige Schritte auf den Haupteingang zu und hielt dann inne. »Und sorge dafür, dass jemand etwas zu essen und zu trinken bringt.«
Der Sklave rappelte sich hoch und hastete davon. Dannyl hörte, wie eine Tür geschlossen wurde, dann Schritte im Eingangsflur. Der Türsklave trat in den Raum und warf sich Dannyl zu Füßen. Die junge Heilerin, die ihm folgte, betrachtete den Sklaven voller Entsetzen, dann schaute sie zu Dannyl auf und nickte respektvoll.
Er öffnete den Mund, um sie willkommen zu heißen, aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen, weil ein bunt gekleideter Mann, der hinter ihr herging, seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Der Mann musterte den Raum mit lebhaften, neugierigen Blicken.
Dann traf der Blick des Mannes den Dannyls, und seine Augen funkelten, als ein vertrauter Mund sich zu einem breiten Lächeln dehnte.
»Seid mir gegrüßt, Botschafter Dannyl«, sagte Tayend. »Mein König hat mir versichert, dass die Gilde Elynes Botschafter in Sachaka ein Quartier geben würde, aber wenn diese Bitte ungelegen kommt, bin ich mir sicher, dass ich in der Stadt eine passende Unterkunft finden kann.«
»Botschafter …?«, wiederholte Dannyl.
»Ja.« Tayends Lächeln wurde noch breiter. »Ich bin der neue elynische Botschafter in Sachaka.«
Obwohl eine Verbindung zu Verbrechern nicht länger gegen irgendeine Regel der Gilde verstieß und es für Sonea nur folgerichtig war, sich bei der Jagd auf wilde Magier mit Cery zu beraten – er hatte ihr bereits in der Vergangenheit geholfen, einen zu fangen –, traf Sonea sich lieber heimlich mit ihm. Manchmal erschien er in ihrem Quartier in der Gilde, manchmal traf sie ihn in einem abgelegenen Bereich der Stadt. Der Lagerraum des Nordseite-Hospitals hatte sich als einer der sichersten Orte für solche Zusammenkünfte erwiesen; er war durch eine Geheimtür auch von einem Nachbarhaus aus zugänglich, das Cery gekauft hatte.
Es war sicherer, sich heimlich zu treffen, weil der mächtigste Dieb der Stadt, der wilde Magier, auf den sie Jagd machte, gewiss nicht erfreut darüber gewesen wäre zu erfahren, dass Cery der Gilde geholfen hatte, seine Mutter, Lorandra, zu fangen und einzusperren. Skellin besaß noch immer großen Einfluss in Imardins Unterwelt und hätte alles getan – einschließlich der Ermordung seiner Verfolger –, um zu verhindern, dass auch er gefangen wurde.
Allerdings gab es seit Monaten nicht mehr die geringste Spur von Skellin. Obwohl Sonea endlich die Erlaubnis erhalten hatte, sich frei in der Stadt zu bewegen, waren ihre Nachforschungen über das Versteck des wilden Magiers ergebnislos geblieben. Cerys Leute, die vermutlich leichter etwas über den Wilden in Erfahrung bringen konnten, hatten ebenfalls nichts herausbekommen. Ein in seinem Äußeren so exotischer Mann wie Skellin sollte eigentlich Aufmerksamkeit erregen, aber es hatten sie keine Berichte über einen schlanken Mann mit rötlich dunkler Haut und fremdartigen Augen erreicht.
»Seine Feuel-Verkäufer sind überall in meinem Territorium«, erzählte Cery ihr. »Sobald ich ein Glühhaus schließe, öffnet ein anderes. Ich kümmere mich um einen Verkäufer, und zehn weitere tauchen auf. Ganz gleich wie ich mit ihnen verfahre, nichts schreckt sie ab.«
Sonea wollte nicht fragen, wie es aussah, wenn Cery sich um jemanden »kümmerte«. Sie bezweifelte, dass es bedeutete, dass er ihn freundlich bat zu verschwinden. »Klingt so, als hätten sie vor Skellin größere Angst als vor dir. Das heißt gewiss, dass er noch in der Stadt ist.«
Cery schüttelte den Kopf. »Er könnte jemand anderem den Auftrag gegeben haben, die Verkäufer in seinem Namen einzuschüchtern. Wenn du genug Leute hast, die für dich arbeiten, und außerdem Verbündete, kannst du ein Geschäft aus der Ferne betreiben. Als einziger Nachteil bleibt, dass es immer etwas Zeit kostet, Nachrichten und Befehle zu übermitteln.«
»Können wir das überprüfen? Wir könnten etwas tun, worum Skellin sich persönlich kümmern muss. Etwas, das seine Verbündeten und Handlanger nicht für ihn entscheiden können. Wir werden herausfinden, wie lange es dauert, eine Reaktion zu erzielen, und das könnte uns verraten, ob er in Imardin ist oder nicht.«
Cery runzelte die Stirn. »Es könnte funktionieren. Wir müssten uns etwas ausdenken, das groß genug ist, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, das aber niemanden in Gefahr bringt.«
»Etwas Überzeugendes. Ich bezweifle, dass er der Typ ist, der in eine Falle tappt.«
»Das stimmt«, pflichtete Cery ihr bei. »Das Problem ist, ich kann nicht …«
Sonea runzelte die Stirn. Sein Blick war auf etwas über ihrer Schulter gerichtet, und er hatte sich vollkommen verkrampft. Von der Tür hinter ihr kam ein leises Kratzen. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Knauf der Tür langsam gedreht wurde, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung.
Sie hielt die Tür mit Magie geschlossen, so dass, wer immer sie zu öffnen versuchte, keine Chance hatte, in den Raum zu gelangen. Aber wer es auch war, er versuchte, es heimlich zu tun.
»Ich sollte besser gehen«, sagte Cery leise.
Sie nickte zustimmend, und sie standen gleichzeitig auf. »Lass uns beide darüber nachdenken.« Wie lange steht die Person, die den Knauf dreht, schon auf der anderen Seite der Tür? Hat sie irgendetwas von dem gehört, was wir gesprochen haben? Außer den Heilern und den Helfern sollte sich niemand in diesem Teil des Hospitals aufhalten, und jeder, der in der Nähe des Lagers herumlungerte, würde ihren Verdacht erregen. Es sei denn, es ist ein Heiler. Davon gab es eine Handvoll, die von ihren Treffen mit Cery wussten und sie unterstützten, doch es gab auch andere, die das nicht taten und die es fragwürdig finden könnten, dass sie zu diesem Zweck Räume des Hospitals benutzte.
Sie stand auf, ging auf die Tür zu und wartete, bis Cery lautlos durch die Geheimtür geschlüpft war, bevor sie sich straffte und ihr magisches Schloss entfernte.
Der Riegel klickte, und die Tür schwang nach innen auf. Ein kleiner, dünner Mann stand davor und schickte sich an, einzutreten. Ein wahnsinniges Grinsen verzerrte seine Züge. Als er sie sah und ihre schwarzen Roben bemerkte, verdrängte ein Ausdruck des Entsetzens das Grinsen. Er erbleichte und wich einige Schritte zurück.
Aber irgendetwas hielt ihn auf. Etwas zwang ihn, stehen zu bleiben, und ließ eine irrsinnige Hoffnung in seinem Gesicht aufscheinen. Etwas veranlasste ihn, alle Furcht vor dem, was sie war, beiseitezuschieben.
»Bitte«, jammerte er. »Ich brauche etwas. Gebt mir etwas.«
Eine Welle aus Mitgefühl, Ärger und Traurigkeit schlug über ihr zusammen. Sie seufzte, trat in den Flur, zog hinter sich die Tür zu und verriegelte das mechanische Schloss mit Magie.
»Wir bewahren es nicht hier auf«, sagte sie zu dem Mann. Er starrte sie an, dann verdüsterte sich sein Gesicht vor Zorn.
»Lügnerin!«, kreischte er. »Ich weiß, dass Ihr es habt. Ihr habt immer welches, um Leute zu entwöhnen. Gebt es mir!« Seine Händen wurden zu Klauen, und er stürzte sich auf sie.
Sie fing seine Handgelenke auf und bremste seinen Angriff mit einem sanften magischen Druck gegen seine Brust. Er war bereits erregt genug, auch ohne dass sie seine Verzweiflung noch vergrößerte, indem sie ihn ganz mit magischer Energie einhüllte. Aus dem Augenwinkel konnte sie das Aufblitzen von grünem Stoff sehen – es kamen bereits einige Heiler herbeigeeilt, um sich des Mannes anzunehmen.
Es dauerte nicht lange, da hatten zwei Heiler die Arme des Mannes ergriffen, dann schleppten sie ihn zurück durch den Flur. Ein dritter Heiler blieb in ihrer Nähe stehen, und als sie zu dem Mann aufblickte, erkannte sie ihn mit einiger Überraschung und großer Freude.
»Dorrien!«
Der Mann, der ihr Lächeln erwiderte, war ein paar Jahre älter als sie und gebräunt von vielen in der Sonne verbrachten Stunden. Rothens Sohn war der Heiler einer kleinen Stadt am Rand der südlichen Berge, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. Vor langer Zeit, als sie noch Novizin gewesen war, war er zu einem Besuch in die Gilde gekommen, und zwischen ihnen war eine Freundschaft gewachsen – eine Freundschaft, die zu einer Romanze hätte werden können. Aber er hatte in sein Dorf und sie zu ihren Studien zurückkehren müssen. Dann habe ich mich in Akkarin verliebt, und nach seinem Tod konnte ich nicht einmal daran denken, mit jemand anderem zusammen zu sein. Dorrien war in Imardin geblieben, um nach der Ichani-Invasion beim Wiederaufbau zu helfen, aber sein Dorf hatte niemals aufgehört, sein wahres Zuhause zu sein, und schließlich war er dorthin zurückgekehrt. Er hatte eine Frau aus dem Ort geheiratet und war Vater zweier Töchter.
»Ja, ich bin wieder da«, sagte Dorrien. »Zu einem kurzen Besuch diesmal.« Er betrachtete den von Drogen um seinen Verstand gebrachten Mann. »Habe ich recht mit der Vermutung, dass die Ursache seines Problems etwas ist, das man Feuel nennt?«
Sonea seufzte. »Du hast recht.«
»Das ist der Grund, warum ich hier bin. Einige junge Männer in meinem Dorf sind vor ein paar Monaten vom Markt damit zurückgekommen. Als sie ihren Vorrat verbraucht hatten, waren sie bereits abhängig geworden. Ich hätte gern einen Rat, wie ich sie behandeln kann.«
Sie musterte ihn eingehend. Im Gegensatz zu den Heilern in der Stadt war er nicht verpflichtet, es zu vermeiden, seine Magie auf die Behandlung der Droge zu »verschwenden«. Hatte er versucht, heilende Magie zu benutzen, um die jungen Männer von ihrer Gewohnheit abzubringen, und war gescheitert, wie sie bei den meisten Patienten gescheitert war, die sie insgeheim behandelt hatte?
»Komm mit«, sagte sie, drehte sich um und schloss den Lagerraum wieder auf. Als er eintrat, folgte sie ihm und schloss die Tür hinter sich. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er sich im Raum um, setzte sich jedoch ohne einen Kommentar auf den Stuhl, auf dem zuvor Cery gesessen hatte. Sie nahm auf dem Stuhl Platz, von dem sie sich gerade erhoben hatte.
»Hast du versucht, sie mit Magie zu heilen?«, fragte sie.
»Ja.« Dorrien berichtete, dass die jungen Männer ihn um Hilfe gebeten hätten, nachdem ihnen zu spät klar geworden war, dass sie sich Feuel auf die Dauer nicht leisten konnten. Es war ihnen peinlich gewesen festzustellen, dass sie auf ein Laster der Stadt hereingefallen waren. Er hatte mit seinen Heilersinnen in ihren Körpern nach der Ursache des Problems gesucht und es geheilt, wie Sonea es bei manchen ihrer Patienten getan hatte. Und genau wie sie hatte er unterschiedliche Erfolge erzielt. Einer der Brüder war kuriert worden, den anderen verlangte es noch immer nach der Droge.
»Ich habe das gleiche Ergebnis erzielt«, erwiderte sie. »Ich habe versucht herauszufinden, warum es möglich ist, einige Leute mit Magie zu heilen und andere nicht.«
Er nickte. »Also, was rätst du mir für die Patienten, die nicht geheilt werden können?«
»Sie sollten die Droge nicht wieder benutzen, für den Fall, dass die Wirkung stärker wird. Einige meiner Patienten sagen, es helfe ihnen, sich zu beschäftigen, um das Verlangen ignorieren zu können. Andere trinken. Aber keine kleinen Mengen – sie sagen, zu wenig schwäche ihre Entschlossenheit, Fäule zu meiden.«
»Fäule?«
»Das ist der Spitzname der Droge auf der Straße.«
Dorrien verzog das Gesicht. »Ich denke, es ist ein passender.« Er runzelte die Stirn und sah sie nachdenklich an. »Wenn wir die Sucht anderer Personen nicht mit Magie heilen können, können wir dann unsere eigene heilen? Nicht dass ich von Feuel abhängig wäre«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu.
Sie lächelte grimmig zurück. »Das ist eine Frage, nach deren Beantwortung ich ebenfalls gesucht habe, aber mit geringem Erfolg. Bisher habe ich keinen Magier, der Feuel benutzt, gefunden, der bereit wäre, sich untersuchen zu lassen. Ich habe einige befragt, aber auf diesem Wege werde ich nicht die Beweise finden, die ich brauche.«
»Die du wofür brauchst?«
»Um die Gilde davon zu überzeugen, dass dies ein ernsthaftes Problem ist. Skellins Plan, Magier mit Feuel zu versklaven, könnte erfolgreich gewesen sein – könnte immer noch erfolgreich sein.«
Dorrien lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und dachte darüber nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Magier sind schon früher mit anderen Dingen erpresst und gekauft worden. Warum ist dies hier etwas anderes?«
»Vielleicht ist nur die Größenordnung des Problems eine andere. Deshalb müssen weitere Nachforschungen angestellt werden. Wie hoch ist der Prozentsatz von Magiern, die von Feuel dauerhaft geschädigt werden könnten? Wie sehr verändert Feuel das Denken und Verhalten seiner Benutzer?«
Dorrien nickte. »Wie lautet deine Vermutung? Für wie groß hältst du das Problem?«
Sonea zögerte, als ihr Schwarzmagier Kallen in den Sinn kam. Falls Cery recht hatte und Anyi den Magier tatsächlich dabei beobachtet hatte, wie er Feuel kaufte, konnte das Problem in der Tat sehr groß sein. Aber sie wollte nicht offenbaren, was sie wusste, bevor sie sicher war, dass Kallen wirklich Feuel benutzte, und sie einen Beweis dafür hatte, dass Feuel ein so großes Problem darstellte, wie sie es vermutete. Er könnte die Droge für jemand anderen gekauft haben. Wenn sie zu Unrecht behauptete, er sei ein Süchtiger, würde sie wie eine Närrin dastehen, und wenn sie ihr Wissen offenbarte, bevor sie bewiesen hatte, dass Feuel für Magier gefährlich war, dann würde es aussehen, als mache sie großen Wirbel um nichts.
Oh, aber ich wünschte, ich könnte mit jemandem darüber reden. Sie hatte es Rothen nicht erzählt, denn er würde sofort etwas unternehmen wollen. Es gefiel ihm nicht, dass Kallen sie behandelte, als könne man ihr nicht trauen. Rothen drängte sie immer, Kallen genauso scharf im Auge zu behalten, wie er sie im Auge behielt. Und Dorrien würde ihr das Gleiche raten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie seufzend.
Ironischerweise war der einzige Mensch, von dem sie dachte, sie könne es ihm wahrscheinlich erzählen und darauf vertrauen, dass es ein Geheimnis blieb, Regin – der Magier, der ihr geholfen hatte, Lorandra zu finden. Welche Ironie darin liegt, dass aus dem Novizen, den ich gehasst habe, weil er mir das Leben zur Hölle machte, ein Magier geworden ist, dem ich vertraue. Er verstand die Bedeutung des richtigen Zeitpunkts. Obwohl sie sich mit Regin getroffen hatte, um über die Suche nach Skellin zu sprechen, hatte sie sich bisher nicht überwinden können, ihn auf Kallens vermutlichen Feuel-Konsum hinzuweisen.
Vielleicht habe ich noch größere Angst, dass Regin mir nicht glauben wird und dass ich mich zu einer absoluten Närrin machen werde. Unwillkürlich lächelte sie. Wie oft ich mir auch sage, dass wir keine Novizen und Todfeinde mehr sind, ich kann den Verdacht nicht abschütteln, dass er jede Schwäche gegen mich benutzen wird. Es ist lächerlich. Er hat bewiesen, dass er ein Geheimnis für sich behalten kann. Ich habe von ihm nichts anderes als Unterstützung erfahren.
Aber häufig schaffte er es nicht zu ihren Treffen oder erschien verspätet und geistesabwesend. Sie vermutete, dass er das Interesse an der Suche nach Skellin verloren hatte. Vielleicht fand er, dass es eine unmögliche Aufgabe war, den wilden Magier aufzuspüren. Gewiss fühlte es sich langsam so an.
Denn da Cery gezwungen war, sich zu verstecken, und seine Leute keine Spur von Skellin finden konnten, war sie selbst ratlos, wie sie den Mann aufspüren sollten – es sei denn, sie nahmen die Stadt Stein um Stein auseinander, und dem würde der König niemals zustimmen.
Im Speisesaal herrschte wie immer der Lärm von Besteckklappern, Geschirrklirren und den Stimmen der Novizen. Lilia stieß einen ungehörten Seufzer aus und gab den Versuch auf, zu verstehen, worüber ihre Gefährten sprachen. Stattdessen ließ sie den Blick langsam durch den Raum wandern.
Die Innenausstattung war eine seltsame Mischung aus Raffinesse und Schlichtheit, aus dekorativen und praktischen Elementen. Die Fenster und Wände waren ebenso elegant gearbeitet und dekoriert wie in den meisten anderen großen Räumen in der Universität, aber die Möbel waren solide, einfach und robust. Es war, als habe jemand die polierten, geschnitzten Stühle und Tische in dem prächtigen Speisesaal des Hauses, in dem sie aufgewachsen war, entfernt und durch die stabilen Holztische und Bänke aus der Küche ersetzt. Die Menschen im Speisesaal waren ebenso unterschiedlich. Hier aßen Novizen aus den mächtigsten Häusern und solche, die in den schmutzigsten Straßen der Stadt als Kinder von Bettlern geboren worden waren. Als Lilia mit ihren magischen Lektionen begonnen hatte, hatte sie sich gefragt, warum die Schnösis weiterhin hier ihre Mahlzeiten einnahmen, obwohl sie reich genug waren, um ihre eigenen Köche zu beschäftigen. Die Antwort war, dass sie keine Zeit hatten, jeden Tag das Gelände zu verlassen, um mit ihren Familien zu speisen – und ohnehin sollten sie das Gelände der Gilde nicht ohne Erlaubnis verlassen.
Sie hatte den Verdacht, dass auch ein gewisses Gefühl territorialen Stolzes im Spiel war. Die Schnösis aßen seit Jahrhunderten im Speisesaal. Die Prollis waren die Neuankömmlinge. Der Speisesaal war der Schauplatz vieler Streiche zwischen den Prollis und Schnösis gewesen. Lilia hatte niemals zu einer der beiden Gruppen gehört. Obwohl sie es nicht laut aussprach, stammte sie aus den besten Verhältnissen, die jemand in der Gruppe der Prollis vorweisen konnte. Ihre Angehörigen standen bei einer Familie in Diensten, die zu einem Haus von einiger politischer Macht und Einfluss gehörte – weder an der Spitze der politischen Hierarchie noch ganz unten. Sie konnte ihre Herkunft über mehrere Generationen zurückverfolgen und benennen, welcher ihrer Vorfahren für welche Familien dieses Hauses gearbeitet hatte.
Andere Prollis dagegen waren sehr schäbiger Abkunft: Söhne von Huren, Töchter von Bettlern. Sehr viele waren mit Verbrechern verwandt, vermutete sie. Zwischen dieser Sorte von Prollis hatte eine seltsame Art von Wettstreit begonnen, wer mit der beeindruckendsten niederen Herkunft aufwarten konnte. Wenn Gossen-Ravi als Eltern genannt werden könnten, würden selbst damit einige von ihnen prahlen, als sei es ein Ehrentitel. Diejenigen aus einer Familie von Dienstboten stammenden Prollis dagegen prahlten nicht mit ihrer Herkunft – es hätte ihnen auch eine Menge Ärger eingetragen.
Der Hass, den einige Prollis auf die Schnösis hegten, schien ihr nicht gerecht zu sein. Die Herrschaften ihrer Eltern hatten ihre Dienstboten gut behandelt. Lilia hatte mit ihren Kindern gespielt, als sie noch klein gewesen war. Sie hatten dafür gesorgt, dass die Kinder all ihrer Diener eine Ausbildung in den Grundlagen erhielten. Seit der Ichani-Invasion hatten sie alle paar Jahre einen Magier ins Haus geholt, um sämtliche Kinder auf magische Fähigkeiten prüfen zu lassen. Obwohl keins ihrer eigenen Kinder genug latente Macht besaß, um in die Gilde aufgenommen zu werden, waren sie überglücklich gewesen, als Lilia – und vor ihr andere Dienstbotenkinder – ausgewählt worden war.
Die beiden Mädchen und die zwei Jungen, mit denen sie ihre freie Zeit verbrachte, waren Prollis, und sie waren wirklich nett. Sie, Froje und Madie waren seit ihren ersten Tagen an der Universität befreundet. Im letzten Jahr hatte Froje sich mit Damend und Madie mit Ellon zusammengetan, so dass Lilia das fünfte Rad am Wagen war. Jetzt beanspruchten die Jungen die meiste Aufmerksamkeit ihrer Freundinnen, und sie interessierten sich nur noch selten für Lilias Meinung, ihren Rat oder ihre Vorschläge. Lilia hatte sich gesagt, dass diese Entwicklung unvermeidlich war und ihr nicht allzu viel ausmache. Sie hatte ohnehin immer lieber zugehört, als an ihren Gesprächen teilzunehmen.
Ihr Blick fiel auf eine Novizin, die sie schon seit langer Zeit beobachtete. Naki gehörte im Unterricht zum Jahrgang über Lilia. Sie hatte langes schwarzes Haar, und ihre Augen waren so dunkel, dass es schwer war, die Grenze ihrer Pupillen zu entdecken. Jede ihrer Bewegungen war anmutig. Jungen fühlten sich sowohl zu ihr hingezogen als auch von ihr eingeschüchtert. Soweit Lilia das beurteilen konnte, hatte Naki kein Interesse an irgendeinem von ihnen gezeigt – nicht einmal an einigen der Jungen, die Lilias Freundinnen unwiderstehlich fanden. Vielleicht dachte sie, sie sei zu gut für sie. Vielleicht war sie einfach wählerisch, was ihre Freunde betraf.
Heute saß Naki neben einem anderen Mädchen. Sie schwieg, während der Mund des anderen Mädchens ständig in Bewegung war. Während Lilia die beiden beobachtete, lachte die Sprecherin und verdrehte die Augen. Naki verzog den Mund zu einem höflichen Lächeln.
Dann, ohne die geringste Bewegung, die ihr als Vorwarnung hätte dienen können, sah Naki Lilia direkt an.
Oh-oh, dachte Lilia und spürte, wie in ihr die Hitze von Verlegenheit und Gewissensbissen aufstieg. Erwischt. Doch gerade als sie den Blick abwenden wollte, lächelte Naki.
Lilia erstarrte vor Überraschung. Sie fragte sich flüchtig, was sie tun sollte, dann erwiderte sie das Lächeln. Alles andere wäre unhöflich gewesen. Dann zwang sie sich, nun doch den Blick abzuwenden. Es schien ihr nichts auszumachen, dass ich sie beobachtet habe, aber … wie peinlich, dass sie mich dabei erwischt hat, wie ich sie angestarrt habe.
Eine Bewegung in Nakis Richtung erregte Lilias Aufmerksamkeit. Sie widerstand der Versuchung, erneut hinüberzuschauen, und versuchte stattdessen, aus dem Augenwinkel zu erkennen, was vorging. Eine dunkelhaarige Person stand in der Nähe von Nakis Platz. Diese Person hatte sich jetzt in Bewegung gesetzt. Diese Person kam in ihre Richtung.
Gewiss nicht …
Sie konnte sich nicht daran hindern, den Kopf zu drehen und aufzublicken. Naki, sah sie, kam auf sie zu. Naki schaute sie direkt an, und sie lächelte.
Naki stellte ihren Teller neben den von Lilia und ließ sich dann auf den freien Platz auf der Bank neben ihr gleiten.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo«, erwiderte Lilia unsicher. Was will sie? Will sie wissen, warum ich sie angesehen habe? Will sie plaudern? Wenn ja, worüber um alles in der Welt soll ich reden?
»Ich habe mich gelangweilt. Ich dachte, ich komme mal rüber und schaue, was du so tust«, erklärte Naki.
Lilia konnte es sich nicht verkneifen, zu Nakis früherer Gefährtin hinüberzublicken. Die Quasselstrippe starrte sie und Naki an, und sie wirkte verwirrt und ein wenig verärgert. Lilia sah ihre eigenen Freundinnen an. Die Mädchen waren überrascht, und die Jungen zeigten diesen ängstlichen und sehnsüchtigen Gesichtsausdruck, den sie fast alle aufsetzten, wenn Naki in der Nähe war.
Sie wandte sich wieder zu Naki um. »Nicht viel«, erwiderte sie aufrichtig und zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, wie lahm ihre Antwort klang. »Ich habe bloß gegessen.«
»Worüber habt ihr geredet?«, hakte Naki nach und sah die anderen an.
»Ob wir die richtige Disziplin gewählt haben«, antwortete einer der anderen. Lilia zuckte die Achseln und nickte.
»Ah«, sagte Naki. »Ich war in Versuchung, das Kriegsfach zu wählen, aber obwohl es Spaß macht, kann ich mir nicht vorstellen, mein Leben damit zu verbringen. Ich werde meine Fähigkeiten natürlich pflegen, für den Fall, dass es jemals wieder zu einer Invasion kommen sollte, aber ich bin zu dem Schluss gelangt, dass Alchemie nützlicher wäre.«
»Das ist es, was ich von der Heilkunst dachte«, meinte Lilia. »Nützlicher.«
»Stimmt, aber ich habe als Heilerin nie viel getaugt.« Naki lächelte schief.
Während Naki weiter plapperte, zerstreute sich Lilias Überraschung langsam. Dadurch, dass sie jemanden auf der anderen Seite des Raums angelächelt hatte, oder vielleicht weil die Sprecherin am anderen Tisch langweilig gewesen war, plauderte jetzt eine schöne, vielbewunderte Novizin mit ihr, als seien sie neuerdings Freundinnen.
Aus welchem Grund das auch geschehen war, sie beschloss, den Augenblick zu genießen. Denn sie glaubte gewiss nicht, dass so etwas noch einmal geschehen würde.
Die drei Tage, seit Lorkin und Evar den Befehl erhalten hatten, im Männerraum zu bleiben, bis alle Sprecherinnen Zeit gefunden hatten, sich zu treffen und das Verhalten der beiden Männer zu erörtern, waren überraschend vergnüglich gewesen.
»Weil wir was getan haben?«, hatte Evar mit großem Entzücken jeden gefragt, der andeutete, dass sie mit Anklagen oder Strafen zu rechnen haben würden. Niemand konnte genau sagen, wessen man ihn oder Lorkin anklagen würde. Was Lorkin einige Zuversicht gab. Alle wissen, dass es keine Regel und kein Gesetz und nicht einmal einen Befehl gibt, gegen den Evar und ich verstoßen haben. Wenn es so etwas gäbe, hätten sie mich bestimmt allein in irgendeinem Zimmer eingesperrt.
Die Bewohner des Männerraums fanden das Ganze sehr komisch. Da sie grundsätzlich nicht an der Führung des Sanktuariums beteiligt wurden, ergötzten sie sich an allen Fehlern, die ihre Anführerinnen machten – natürlich nur so lange, wie diese Fehler für niemanden üble Konsequenzen hatten. Sie waren so erfreut darüber, dass Lorkin und Evar die Sprecherinnen wie Närrinnen hatten dastehen lassen, dass sie ihnen kleine Dinge geschenkt und Zeit mit ihnen verbracht hatten, um sicherzustellen, dass sich ihre neuen Helden niemals langweilten.
Drei von ihnen brachten Lorkin ein Spiel bei, das auf einem bemalten Brett und mit Edelsteinen gespielt wurde, denen sich keinerlei magische Eigenschaften hatten einpflanzen lassen und die für die Verräterinnen daher wertlos waren. Die Männer hatten bewusst dieses »Steine« genannte Spiel ausgewählt, weil es die Edelsteine waren, die Evar und Lorkin in Schwierigkeiten gebracht hatten.
Um sie herum hatte sich ein größeres Publikum gebildet, und die Männer diskutierten lebhaft den Spielverlauf. Plötzlich jedoch erstarb das muntere Geplänkel, nach und nach wandten sich alle Blicke dem Eingang zu. Die Männer, die Lorkin die Sicht dorthin versperrten, schlurften beiseite. Als Lorkin die Gestalt im Eingang erkannte, hörte sein Herz auf zu schlagen, und sein Magen begann zu flattern.
»Tyvara«, sagte er.
Ein Lächeln umspielte flüchtig ihre Lippen, dann war sie wieder ernst. Sie ignorierte alle anderen Männer und trat direkt auf ihn zu. Ein Schauder der Wonne überlief Lorkin, als er den Blick ihrer schönen, exotischen Augen auf sich gerichtet sah. Oh, ich bin definitiv noch nicht über sie hinweg, dachte er. Wenn überhaupt, hat die Zeit ihrer Abwesenheit das Wiedersehen mit ihr noch aufregender gemacht.
»Ich will unter vier Augen mit dir sprechen«, sagte sie, blieb einige Schritte von ihm entfernt stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Liebend gern«, erwiderte er. »Aber ich darf den Raum nicht verlassen. Kalias Anweisung.«
Sie runzelte die Stirn, dann zuckte sie die Achseln und sah sich im Raum um. »Dann werdet ihr anderen gehen.«
Sie beobachtete, wie die Männer sich unter gutmütigem Murren in den Flur begaben, und bemerkte, dass Evar sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Sie musterte ihn mit schmalen Augen.
»Für mich gilt die gleiche Anweisung. Aber keine Sorge«, sagte er, stand auf und entfernte sich einige Schritte. »Ich werde dort drüben bleiben und versuchen, nicht zu lauschen.«
Eine Augenbraue erheitert hochgezogen, sah Tyvara zu, wie er in den Teil des Raums ging, in dem die Mahlzeiten zubereitet wurden, bevor sie wieder auf Lorkin hinabblickte.
Er lächelte. Es war zu einfach, sie anzulächeln. Er lief Gefahr, zu grinsen wie ein Idiot. Ihr langes dunkles Haar war sauber, und die dunklen Schatten unter ihren Augen waren verschwunden. Er hatte sie zuvor reizvoll gefunden; jetzt war sie noch schöner als das Bild, das er von ihr in Erinnerung behalten hatte.
So habe ich nicht empfunden, als wir miteinander gereist sind, dachte er. Vielleicht war ich zu müde …
»Ich schätze, das wird genügen müssen«, sagte sie leise und ließ die Arme sinken.
»Worüber willst du reden?«, brachte er heraus.
Sie seufzte, dann nahm sie Platz und richtete einen direkten Blick auf ihn, bei dem sein Herz zu rasen begann. »Was führst du im Schilde, Lorkin?«
Er verspürte eine vage Enttäuschung. Was habe ich erwartet? Dass sie mich in ihre Räume einlädt, für eine Nacht … Er schob den Gedanken hastig beiseite.
»Wenn ich etwas im Schilde führte, warum sollte ich es dir erzählen?«, konterte er.
Ihre Augen blitzten vor Ärger. Sie funkelte ihn an, dann erhob sie sich und ging auf die Tür zu. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er konnte sie so nicht gehen lassen!
»Ist das alles, was du mich fragen willst?«, rief er ihr nach.
»Ja«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen.
»Darf ich dir einige Fragen stellen?«
Sie verlangsamte ihren Schritt, dann blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Er winkte sie heran. Seufzend kam sie zu der Bank zurück, ließ sich darauf fallen und verschränkte abermals die Arme vor der Brust.
»Was denn?«, fragte sie.
Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Wie geht es dir? Ich habe dich seit Monaten nicht gesehen. Was musstest du für Rivas Familie tun?«
Sie musterte ihn nachdenklich, dann ließ sie die Arme sinken. »Mir geht es gut. Ich wäre natürlich lieber da draußen und würde etwas Sinnvolles tun, aber …« Sie zuckte die Achseln. »Rivas Familie lässt mich in den Abwassertunneln arbeiten.«
Er verzog das Gesicht. »Das kann weder angenehm noch interessant sein.«
»Sie denken, es ist die abscheulichste Aufgabe überhaupt, aber mir macht es nichts aus. Die Stadt braucht jemanden, der ihre Abwässer entfernt, ebenso wie sie Leute zur Verteidigung braucht, und als Sklave können einem viel unangenehmere Pflichten zugewiesen werden. Aber es ist langweilig. Für das allein werde ich es vielleicht am Ende hassen.«
»Du solltest uns mal auf der Krankenstation besuchen. Ich werde mich bemühen, dich zu unterhalten, obwohl ich nicht versprechen kann, dass es mehr sein wird als die dummen Fehler, die ein Fremder an einem unvertrauten Ort macht.«
Sie lächelte. »War es schwierig?«
Er breitete die Hände aus. »Manchmal, aber alle waren freundlich, und obwohl ich nie Heiler sein wollte, bin ich zumindest nützlich.«
Ihr Lächeln verschwand, und sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass sie dich in Kalias Hände geben würden, obwohl sie wissen, dass sie deinen Tod wollte.«
»Sie wissen, dass sie besser als jede andere ein Auge auf mich haben wird.«
»Und jetzt hast du sie zum Narren gemacht«, bemerkte sie.
»Arme Kalia«, sagte er ohne eine Spur von Mitgefühl.
»Dafür wird sie dir das Leben schwermachen.«
»Das tut sie sowieso.« Lorkin sah ihr in die Augen. »Du hast doch nicht von mir erwartet, dass ich versuchen würde, mich mit ihr anzufreunden, oder?«
»Ich habe dich für klug genug gehalten, um es zu vermeiden, ihr Vorwände zu liefern, die Leute gegen dich aufzubringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht erreichen, indem ich mich bedeckt halte und Schwierigkeiten aus dem Weg gehe.«
Sie sah ihn an, und ihre Augen wurden schmal. »Ein einzelner törichter kyralischer Junge kann die Verräterinnen nicht ändern, Lorkin.«
»Wahrscheinlich nicht, wenn sie es nicht wollen«, stimmte er ihr zu. »Aber mir scheint, dass die Verräterinnen es durchaus wollen. Ich habe den Eindruck, dass einige bedeutende Veränderungen definitiv ein Teil ihrer künftigen Pläne sind. Ich bin kein törichter Junge, Tyvara.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, dann stand sie auf. »Ich muss gehen.« Sie drehte sich langsam um und verließ den Raum. Er beobachtete sie eindringlich und hoffte, dass ihr Anblick sich seinem Gedächtnis einprägen würde.
»Komm mich irgendwann mal besuchen«, rief er ihr nach. Sie schaute zurück und lächelte, sagte jedoch nichts. Dann war sie fort.
Augenblicke später begannen die Männer in den Raum zurückzukehren. Lorkin seufzte und sah sich um; Evar kam auf den Tisch zu. Der junge Magier setzte sich mit leuchtenden Augen hin.
»Oh, was täte ich nicht alles, um mit der da unter die Decke zu kommen«, sagte er leise.
Lorkin widerstand dem Drang, seinen Freund anzufunkeln. »Da bist du nicht der Einzige«, erwiderte er und hoffte, dass der junge Mann den Fingerzeig verstehen würde.
»Nein. Die meisten Männer hier würden alles für eine Nacht mit ihr tun«, pflichtete Evar ihm bei. Er begriff nicht, was Lorkin meinte – oder tat so, als begreife er nicht. »Aber sie ist wählerisch. Will sich nicht binden. Sie ist noch nicht so weit.«
»Wozu ist sie noch nicht weit genug?«
»Für die Verbindung mit einem Mann. Sie will nicht aufhören, gefährliche Arbeit zu tun. Spionage. Mordanschläge.«
»Würde ein Mann sie daran hindern? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Männer hier Frauen an irgendetwas hindern könnten.«
Evar zuckte die Achseln. »Nein, aber wenn die Frauen lange Zeit fort sind und getötet werden könnten, wissen sie, dass es hart für einen Mann ist. Es ist gewiss hart für ihre Kinder.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich hat Tyvaras Vorsicht wahrscheinlich etwas mit ihrer Mutter zu tun, die in jungen Jahren bei einer Mission ums Leben gekommen ist. Ihr Vater war am Boden zerstört, und Tyvara musste sich um ihn kümmern. Sie war … oh. Ich denke, es wird Zeit.«
Lorkin folgte dem Blick seines Freundes zum Eingang des Raums. Eine junge Magierin stand dort und winkte ihn heran. Er tauschte einen mitfühlenden Blick mit Evar.
»Ich denke, du hast recht«, sagte er. »Viel Glück.«
»Gleichfalls.«
Sie standen auf und gingen zur Tür, Lorkin voran. Die Frau musterte ihn von Kopf bis Fuß und grinste. Lorkin vermutete, dass sie seine Fähigkeit abschätzte, ihr Ärger zu machen, konnte sich jedoch nicht gänzlich des Eindrucks erwehren, dass sie womöglich eher sein Potenzial erwog, ihr ein wenig Freude zu schenken.
»Die Tafel hat sich versammelt und euch beide vorgeladen. Du sollst als Erster hineingehen.« Sie nickte Lorkin zu. »Folgt mir.«
Sie setzten sich schweigend in Bewegung. Die Leute, an denen sie vorbeikamen, sahen sie kaum an, was den Eindruck verstärkte, dass niemand seinen Ausflug in die Höhlen der Steinemacher allzu ernst nahm. Schließlich erreichten sie den Eingang zum Ratssaal der Sprecherinnen und blieben stehen. Sieben Frauen saßen an dem runden Steintisch, aber die für das Publikum bestimmten Sitzreihen waren leer. Lorkin bemerkte, dass auch der mit Edelsteinen übersäte Stuhl für die Königin der Verräterinnen unbesetzt war, wie er erwartet hatte. Die alte Monarchin nahm nur an wirklich wichtigen Zeremonien teil, und er bezweifelte, dass sie an dieser hier auch nur das geringste Interesse hatte.
Die Vorsitzende der Tafel, Riaya, eine schmale, müde wirkende Frau, sah ihn und winkte ihn heran. Er ließ Evar und ihre Begleiterin stehen und ging auf die Sprecherinnen zu. Vor dem Tisch hielt er inne und wandte sich Riaya zu.
»Lorkin«, sagte Riaya. »Du bist hierhergerufen worden, um uns deine Anwesenheit in einer Höhle der Steinemacher vor drei Nächten zu erklären. Was hast du dort gewollt?«
»Ich wollte mir die Steine in den verschiedenen Stadien der Entwicklung ansehen«, antwortete er.
»Das ist alles?«
Er nickte. »Ja.«
»Warum wolltest du dir die Steine ansehen?«, fragte eine der Sprecherinnen.
Er drehte sich zu ihr um. Ihr Name war Yvali, und sie neigte dazu, sich auf die Seite von Kalia und der Gruppe unter den Verräterinnen zu stellen, die ihn für die Untaten seines Vaters hatten töten wollen. Aber sie unterstützte sie nicht immer, hatte er bemerkt.
»Neugier«, antwortete er. »Man hat mir so viel von diesen Steinen erzählt, von ihrer Schönheit und dem Talent, das ihre Fertigung verlangt, dass ich sie mit eigenen Augen sehen wollte. Ich habe noch nie zuvor etwas wie diese Steine gesehen.«
»Hast du alles in Erfahrung gebracht, was du in Erfahrung bringen wolltest?«
Er zuckte die Achseln. »Ich würde natürlich gern lernen, wie man sie macht, aber ich habe nicht erwartet, das zu lernen, indem ich sie mir anschaue. Evar hat mir versichert, es sei nicht möglich, und wenn er das nicht getan hätte, wäre ich nicht dort hingegangen. Geradeso wie ihr mein Recht respektiert, wertvolles Wissen, das mir anvertraut wurde, geheim zu halten, respektiere ich euer Recht darauf.«
So. Ich habe sie an das Potenzial für einen Handel zwischen der Gilde und den Verräterinnen erinnert.
Kalia kniff die Augen zusammen, und ihre Lippen wurden schmal, aber die anderen wirkten eher nachdenklich als skeptisch. Als er den Blick über die Reihe der Frauen wandern ließ, bemerkte er, dass ein winziges Lächeln Savaras Lippen umspielte, aber es verschwand, als sie bemerkte, dass er sie ansah.
Sprecherin Savara war Tyvaras Mentorin gewesen, und sie war die inoffizielle Anführerin der Gruppe, die in Opposition zu Kalias Gruppe stand. Ihr war überdies die Aufgabe übertragen worden, sicherzustellen, dass er »gehorsam und nützlich« war.
»Warum hast du außer Evar niemanden von deiner Absicht in Kenntnis gesetzt, die Höhlen zu besuchen?«, hakte Yvali nach.
»Mir war nicht bewusst, dass ich das hätte tun müssen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Jemand, der einräumt, dass das Geheimnis der Herstellung der Steine unser gutes Recht ist, sollte klug genug sein, um sich zu denken, dass wir zurate gezogen werden wollen, bevor er einen Ausflug in die Höhlen der Steinemacher unternimmt.«
Er ließ den Kopf ein wenig hängen. »Ich entschuldige mich. Ich finde die feineren Nuancen des guten Benehmens im Sanktuarium immer noch ein wenig verwirrend. Ich werde mir mehr Mühe geben, zu lernen und mich anzupassen.«
Sie stieß ein kaum hörbares Schnauben aus, sagte jedoch nichts mehr, sondern sah die Vorsitzende an und schüttelte den Kopf. Auch die anderen Sprecherinnen schüttelten den Kopf, und was immer das bedeutete, es entlockte der Vorsitzenden einen leisen Seufzer.
»Da du weder gegen ein Gesetz noch gegen eine Regel verstoßen oder einen Befehl missachtet hast, wirst du nicht bestraft«, sagte Riaya. »Wir tragen eine Mitschuld, weil wir diese Situation nicht vorausgesehen haben. Aber wir können verhindern, dass es wieder geschieht. Lorkin.« Sie hielt inne und bedachte ihn mit einem entschlossenen Blick. »Es wird dir befohlen, dich von den Höhlen der Steinemacher fernzuhalten, es sei denn, eine Sprecherin oder ihre Repräsentantin würde dich dort hinbringen. Ist das klar?«
Er verbeugte sich vor ihr auf die typisch kyralische, knappe Weise. »Absolut.«
Sie nickte. »Du darfst gehen.«
Als er sich entfernte, kämpfte er gegen den Drang zu lächeln, wohl wissend, dass jeder, der sein Lächeln sah, es als Beweis werten könnte, dass er tatsächlich etwas im Schilde geführt hatte – zumindest aber würde man denken, er habe diesen kleinen Klaps auf die Hand nicht ernst genommen. Dann betrat Evar den Raum, sein schmales Gesicht voller Sorgenfalten, und Lorkins Drang zu lächeln erstarb.
Als sie aneinander vorbeikamen, nickte Lorkin seinem Freund zu und hoffte, dass die Geste ihn ein wenig beruhigen würde. Der junge Magier verzog das Gesicht, aber der Ausdruck seiner Augen schien ein wenig wärmer zu werden. Lorkin trat in den Flur; er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Freund in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Evar wusste, worauf er sich einließ, rief er sich ins Gedächtnis. Es war größtenteils seine Idee, und ich habe tatsächlich versucht, es ihm auszureden. Wir wussten beide, dass Kalia, falls wir entdeckt würden, mit Sicherheit eine Möglichkeit finden würde, uns zu bestrafen, ganz gleich ob wir gegen irgendwelche Gesetze verstoßen hatten oder nicht.
Er vermutete, dass Evar seine eigenen Gründe dafür gehabt hatte, etwas zu arrangieren, das die Anführerinnen des Sanktuariums verärgerte. Definitiv war irgendeine Art von Rachsucht oder Bosheit im Spiel. Wann immer Lorkin versucht hatte, herauszufinden, was es war, hatte Evar etwas des Sinnes gemurmelt, dass die Verräterinnen nicht so gerecht seien, wie sie zu sein behaupteten.
Was auch immer der Grund war, Lorkin hoffte, dass der junge Mann die erstrebte Befriedigung gefunden hatte und dass er es nicht irgendwann bereuen würde.
Als die Kutsche vor dem Palast des sachakanischen Königs sanft zum Stehen kam, holte Dannyl tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus. Ein Sklave öffnete die Tür des Wagens und trat beiseite. Nachdem Dannyl ausgestiegen war, hielt er kurz inne, um seine Roben zu glätten und an dem Gebäude hinaufzublicken.
Vor ihm lag ein breiter, zentraler Bogengang. Zu beiden Seiten schlossen sich weiße, sanft gerundete Seitenflügel an. Von den flachen Kuppeln, die sich über das Gebäude spannten, war nur ein schmaler, goldener Streifen zu sehen.
Dannyl drückte den Rücken durch, richtete den Blick auf den dunklen Korridor hinter dem Bogengang und ging hinein. Er kam an reglosen Wachen vorbei, die einer der wenigen Klassen freier Diener in Sachaka angehörten. Willige, loyale Männer waren ein besserer Schutz als grollende, leicht einzuschüchternde Sklaven, überlegte Dannyl. Wachen, die verpflichtet waren, sich zu Boden zu werfen, wann immer ein freier Mann oder eine freie Frau vorbeikam, würden nicht viel nützen, wenn es galt, Eindringlinge aufzuhalten.
Wie in jedem typisch sachakanischen Haus war der Eingangsflur gerade und führte Besucher direkt in einen großen, für die Begrüßung von Gästen bestimmten Raum. Nur dass dieser Flur so breit war, dass sechs Männer nebeneinander hergehen konnten. Ashaki Achati zufolge waren die Wände hohl und enthielten verborgene Löcher, so dass ungebetene Besucher mit Pfeilen und Armbrustbolzen willkommen geheißen werden konnten. Dannyl entdeckte keine augenfälligen Löcher oder Luken, aber er vermutete, dass die Nischen entlang des Flurs, die jeweils ein wunderschön gearbeitetes Gefäß enthielten, von innen zugänglich waren und dass man, wenn nötig, die Wand durchbrechen konnte. Als er sich ein solches Szenario vorstellte, fragte er sich, ob die in den Geheimgängen verborgenen Krieger die kostbaren Behältnisse vorsichtig beiseiteräumen oder aus dem Weg treten würden.
Der andere Unterschied zwischen einem bescheidenen sachakanischen Wohnhaus und dem Palast bestand darin, dass der Korridor in einem sehr großen Raum endete. Dannyl betrat die riesige Halle, und seine Haut kribbelte in der kalten Luft. Wände, Boden und die vielen Säulen, die die Decke trugen, waren aus poliertem weißem Stein, ebenso wie der Thron.
Der verwaist war.
Dannyl verlangsamte seine Schritte, als er sich dem steinernen Stuhl näherte, und versuchte, nicht erschrocken oder besorgt über die Abwesenheit des Monarchen zu wirken, der ihn hatte rufen lassen. Wie immer hielten sich einige sachakanische Männer im Raum auf: eine Gruppe von dreien auf der linken Seite und ein einzelner Mann auf der rechten. Alle trugen reich geschmückte, kurze Jacken über schlichten Hemden und Hosen, die traditionelle, förmliche Gewandung sachakanischer Männer. Und alle beobachteten Dannyl.
In der Stille erklangen jetzt langsame, feste Schritte. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf eine Tür auf der rechten Seite. Die vier Sachakaner verbeugten sich tief, als König Amakira an ihnen vorbeischritt. Dannyl ließ sich auf ein Knie sinken – die kyralische Begrüßung für den König.
»Erhebt Euch, Gildebotschafter Dannyl«, sagte der Monarch.
Dannyl stand auf. »Seid gegrüßt, König Amakira. Es ist mir eine Ehre, wieder in den Palast gerufen worden zu sein.«
Der Blick des alten Königs war klar und sein Gesichtsausdruck versonnen und erheitert, als denke er über etwas nach. Er winkte Dannyl heran.
»Kommt mit mir, Botschafter Dannyl. Ich möchte etwas mit Euch besprechen, und das Thema lässt sich besser in einer behaglicheren Umgebung erörtern.«
Der König drehte sich um und ging wieder auf den Seiteneingang zu. Dannyl folgte ihm, wobei er einige Schritte seitlich versetzt hinter dem Monarchen herlief, da er nicht aufgefordert war, an seiner Seite zu gehen. Sie traten in einen Flur, durchquerten ihn und schritten durch eine Tür, die ein Wachposten aufhielt, in einen kleineren Raum. Wieder waren die Möbel und Zierstücke eine besonders kunstvolle Version typischer sachakanischer Gegenstände. Die Hocker waren groß und reich verziert. Die Schränke waren so gewaltig, dass sie nur in diesem Raum zusammengesetzt worden sein konnten, da die Türen zwar groß genug waren, um zwei Personen Seite an Seite Einlass zu gewähren, jedoch zu klein, um Platz für die Möbel zu bieten. Die Kissen auf dem Boden waren mit so vielen Edelsteinen besetzt, dass Dannyl an ihrer Bequemlichkeit zweifelte; vermutlich würde man sich sogar die Haut verletzen, wenn man darauf Platz nahm.
»Dies ist der Audienzsaal«, bemerkte Amakira. Er setzte sich auf einen Hocker und deutete auf einen weiteren. »Nehmt Platz.«
»Er ist prachtvoll, Euer Majestät.« Dannyl tat wie geheißen und betrachtete die Wandbehänge und kostbaren Gegenstände in Nischen und Schränken. »Solch schöne Exemplare sachakanischer Fähigkeiten und Kunst.«
»Das hat auch Euer Freund, der elynische Botschafter, gesagt. Besonders haben ihm die Gläser gefallen.«
Überraschung folgte Ärger. Wie hatte Tayend es geschafft, binnen weniger Tage nach seiner Ankunft eine Audienz beim König zu bekommen? Ich nehme an, er ist der erste nicht der Gilde angehörige Botschafter, der sich in Sachaka niedergelassen hat, während ich nur einer in einer langen Reihe von Gildebotschaftern bin. Dannyl zwang sich zu nicken und hoffte, dass seine Bemühungen, seine Eifersucht zu verbergen, erfolgreich waren. »Botschafter Tayend hat große Freude an leuchtend bunten, kunstvollen Dingen.«
»Wie geht es ihm? Lebt er sich gut ein?«
Dannyl zuckte die Achseln. »Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen, und wir waren zu beschäftigt, um mehr als Grußworte auszutauschen.«
Der König nickte. »Natürlich. Ich fand ihn witzig und scharfsinnig. Ich bin mir sicher, dass ein Mann von seinem Charme und Enthusiasmus unter den Ashaki sehr beliebt sein wird.«
»Das denke ich auch«, erwiderte Dannyl glatt. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit Achati, als sie von ihrer Suche nach Lorkin zurückgekehrt waren: »Wir stellen sicher, dass wir so viel wie möglich über die Botschafter in Erfahrung bringen, die die Gilde zu uns schickt. Und Eure Wahl eines Gefährten ist in Imardin nicht direkt ein Geheimnis.« Also musste der König wissen, dass Tayend Dannyls ehemaliger Geliebter und Gefährte war. Achati wusste es ebenfalls. Aber wer war hier sonst noch informiert? Wussten alle mächtigen Männer in Sachaka von ihnen? Wenn ja, nahmen sie offensichtlich keinen allzu großen Anstoß an Tayends Vorliebe für männliche Geliebte – er wurde ebenso mit Essenseinladungen überschwemmt, wie Dannyl das kurz nach seiner Ankunft in Sachaka erlebt hatte.
Achati hatte die Aufgabe, Tayend zu beraten und anderen Männern vorzustellen, wie er es für Dannyl getan hatte. Aber er kam immer frühzeitig ins Gildehaus, damit er und Dannyl ein wenig Zeit zum Reden hatten. Selbst wenn Tayend sich diesen Gesprächen anschloss, richtete Achati trotzdem den größten Teil seiner Aufmerksamkeit auf Dannyl.
Wofür ich dankbar bin. Er könnte jedoch andere Gründe haben als den Wunsch, mich darüber hinwegzutrösten, dass Tayend mich in den Hintergrund gedrängt hat. Vielleicht will er demonstrieren, dass sein Interesse sich nicht auf Tayend verlagert hat. Um mich an seine Werbung zu erinnern.
Achati hatte noch nicht gefragt, ob Tayends Erscheinen die Wiederaufnahme von dessen früherer Beziehung zu Dannyl bedeutet habe. Ich bin mir nicht sicher, was ich sagen soll, wenn er danach fragt. Ich hatte unsere Trennung nicht als offiziell angesehen, aber jetzt, da er hier ist … fühlt es sich so an. Tayend benahm sich nicht so, als gehörten wir noch zusammen. Das hatte er als Hinweis auf das Ende ihrer Beziehung gedeutet. Aber vielleicht hatte Tayend zuvor schon sein Verhalten auf diese Weise gedeutet?
Die erste Regung, die er bei Tayends Erscheinen verspürt hatte, war Ärger gewesen. Um dies zu vertuschen, hatte Dannyl sich große Mühe gegeben, so höflich und förmlich zu sein, wie es ein Botschafter einem anderen gegenüber sein sollte. Tayend war seinem Beispiel gefolgt, woraufhin Dannyl begonnen hatte, ihre alte, neckende Vertrautheit zu vermissen. Selbst wenn sie in den letzten Jahren mit Groll durchsetzt war.
»Ich habe meinen Leuten den Auftrag gegeben, nach einem passenden Quartier für den elynischen Botschafter zu suchen«, sagte der König. »Es könnte einige Monate dauern. Gibt es irgendwelche Gründe politischer Natur, die es erforderlich machen, dass der Botschafter in der Zwischenzeit an einem anderen Ort wohnt als dem Gildehaus?«
Dannyl überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein.« Obwohl ich vermute, dass ich mir manchmal wünschen werde, es gäbe solche Gründe …
»Sollte sich irgendetwas ergeben, zögert nicht, Ashaki Achati zu informieren. Er wird alternative Arrangements treffen.«
»Vielen Dank.«
»Nun zu der Angelegenheit, die ich zu erörtern wünsche, Botschafter Dannyl.« Die Miene des Königs wurde ernst. »Habt Ihr etwas von Lord Lorkin gehört?«
»Nein, Euer Majestät.«
»Könntet Ihr Euch mit ihm in Verbindung setzen?«
»Ich bezweifle es.« Dannyl hielt inne, um nachzudenken. »Vielleicht mithilfe der Verräterinnen. Ich könnte feststellen, ob die Sklaven bereit wären, eine Nachricht weiterzuleiten …«
»Nein, ich würde einer von den Verräterinnen in die Wege geleiteten Kommunikation nicht trauen. Ich meine, ob Ihr Euch direkt mit Lorkin in Verbindung setzen könnt.«
Dannyl schüttelte den Kopf. »Nicht heimlich. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich mich ohne Hilfe der Verräterinnen mit Lorkin in Verbindung setzen könnte: mithilfe offener Gedankenrede – und die würden alle Magier hören.«
Der König nickte. »Ich will, dass Ihr eine Möglichkeit findet. Wenn Ihr sachakanische Unterstützung benötigt – das heißt, die Unterstützung von Nichtverräterinnen –, wird Achati es veranlassen.«
»Ich weiß Eure Sorge um Lord Lorkin zu schätzen«, erwiderte Dannyl. »Er hat mich tatsächlich davon überzeugt, dass er sich ihnen aus freien Stücken angeschlossen hat.«
»Nichtsdestoweniger wünsche ich, dass eine solche Verbindung hergestellt wird«, sagte der König energisch. Er zuckte nicht mit der Wimper, als er Dannyl ansah. »Ich erwarte, dass sämtliche Informationen über die Verräterinnen weitergeleitet werden, als Gegenleistung für die Bemühungen meiner Leute, Euch bei Eurem Versuch zu helfen, Euren früheren Assistenten zurückzuholen. Eine Zusammenarbeit zwischen unseren Nationen kann nur von beiderseitigem Nutzen sein.«
Ein Schauer überlief Dannyl. Er will, dass Lorkin für ihn spioniert. Dannyl hielt seine Miene neutral und nickte. »Das ist richtig, in der Tat.« Sorge dafür, dass er zufrieden ist, aber mach keine Versprechungen, sagte er sich. »Lorkin wusste, dass es sich in politischer Hinsicht als ein Problem für die Gilde erweisen könnte, wenn er sich den Verräterinnen anschließt, und er hat vorgeschlagen, dass wir ihn offiziell verstoßen. Die Gilde würde dies natürlich nur widerstrebend tun. Es ist keine Maßnahme, die wir überstürzt treffen wollen – eigentlich beabsichtigen wir es gar nicht, es sei denn, es würde absolut notwendig. Der Grund, warum ich das erwähne ist … Wir werden vielleicht keine Möglichkeit haben, ihn dazu zu veranlassen, mit uns zusammenzuarbeiten.«
»Die Verräterinnen haben durchblicken lassen, dass sie ihm niemals gestatten würden, ihren Stützpunkt zu verlassen«, sagte der König. »Das klingt für mich nach Einkerkerung. Er könnte dazu gezwungen worden sein, zu sagen, er schließe sich ihnen gern und aus freien Stücken an. Es überrascht mich, dass die Gilde es dabei belassen will.«
»Lorkin hat sich unmittelbar vor seinem Treffen mit mir über einen Blutring mit seiner Mutter in Verbindung gesetzt, um ihr zu versichern, dass er sich den Verräterinnen aus freien Stücken angeschlossen habe. Sie hat keine Lüge gespürt, keine Bekümmerung. Danach hat er den Blutring mir übergeben«, fügte Dannyl hinzu. »Damit ich ihn ihr zurückgeben konnte.«
»Es überrascht mich, dass seine Mutter dieses Arrangement akzeptiert.«
»Sie ist verständlicherweise aufgeregt – aber sie steht nicht im Begriff, nach Sachaka zu marschieren, um ihn heimzuholen, das kann ich Euch versichern.«
Der König lächelte. »Ein Jammer, dass er den Ring nicht behalten hat.«
»Ich vermute, er wollte das Risiko nicht eingehen, dass die Verräterinnen ihn durchsuchen und den Ring finden würden.«
Der König rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Ich will, dass Ihr Euch bemüht, eine sichere Art der Kommunikation mit ihm aufzubauen, Botschafter Dannyl.«
Dannyl nickte. »Ich werde tun, was ich kann.«
»Das weiß ich. Ich werde Euch jetzt nicht länger aufhalten.« Der König erhob sich, und als Dannyl aufstand, bedeutete er Dannyl, dass er neben ihm hergehen solle, als sie sich auf den Weg zur Tür machten. »Ich bedaure, dass es überhaupt zu dieser Situation gekommen ist. Wir hätten voraussehen sollen, dass die Verräterinnen ihre Aufmerksamkeit an irgendeinem Punkt auf die Gilde richten würden. Aber ich bin froh, dass Euer Assistent lebt und ihm keine unmittelbare Gefahr droht.«
»Vielen Dank, Euer Majestät. Mir geht es genauso.«
Sie erreichten die Tür und traten in den Flur.
»Wie lebt sich Eure neue Assistentin ein, Lady Merria?«
Dannyl lächelte grimmig. »Gut, sie passt sich schnell an.« Sie langweilt sich bereits wegen des Mangels an Aufgaben, hätte Dannyl gern hinzugefügt. Vielleicht … vielleicht kann ich sie bitten, darüber nachzudenken, wie wir uns mit Lorkin in Verbindung setzen könnten.
Der König schüttelte den Kopf. »Ich habe stark von einer Frau als Eurer Assistentin abgeraten, da sie Schwierigkeiten haben wird, mit sachakanischen Männern umzugehen, aber früher einmal hätte ich auch die Überlegung angestellt, dass eine Frau ein wahrscheinlicheres Ziel für die Verräterinnen darstellen würde, und in diesem Punkt haben sich meine Überlegungen als falsch erwiesen. Ich könnte mich auch irren, was Lady Merrias Erfolg hier betrifft.«
»Eure Majestät haben gewiss in allen anderen Belangen recht, und ich werde stets auf Eure Weisheit vertrauen, insbesondere in sachakanischen Angelegenheiten. Das ist der Grund, warum ich ihr Arbeiten zuweise, die es nicht erforderlich machen, dass sie Umgang mit sachakanischen Männern hat.«
Der König lachte leise. »Ihr seid ein kluger Mann.« Er blieb an der Tür zum Thronsaal stehen und bedeutete Dannyl, allein hineinzugehen. »Lebt wohl, Botschafter.«
»Es war mir wie immer eine Ehre und ein Vergnügen, Euer Majestät zu treffen.« Dannyl verneigte sich. Als der König davonging, drehte er sich um und kehrte in die große Halle zurück.
Nun, zumindest habe ich jetzt etwas, womit ich Merria beschäftigen kann. Obwohl es ein wenig grausam scheint, ihr eine so unmögliche Aufgabe zuzuweisen wie die, eine Möglichkeit zu finden, Lorkin ohne Hilfe der Verräterinnen zu kontaktieren. Aber für meine Forschungen interessiert sie sich ja ohnehin nicht, und ich könnte sie sowieso nicht bitten, sich allein in die persönliche Bibliothek eines Ashaki zu wagen, um für mich Bücher durchzusehen.
Allerdings hatte er in letzter Zeit auch keine Einladungen mehr erhalten, sich Bibliotheken persönlich anzusehen. Was seine Forschung anging, kam er keinen Schritt weiter.
Sonea schob den Korb mit Bettlaken von der einen auf die andere Hüfte und zog sich die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Obwohl es regnete und in der Luft eine Kühle lag, die vor unfreundlicheren Tagen warnte, fühlte sie sich ungeheuer wohl. Vielleicht würde es irgendwann ermüdend werden, in dieser Maskerade durch die Stadt zu streifen, aber für den Augenblick genoss sie die Freiheit, die sie ihr schenkte.
Nicht weit vom Hospital entfernt lag eine Wäscherei, die den größten Teil der Wäsche für das Hospital erledigte. Eine entsprechende Übereinkunft war bereits vor langer Zeit getroffen worden und hatte inzwischen schon mehrere Besitzerwechsel überstanden. Die Wäsche wurde immer von Helferinnen des Hospitals dorthin gebracht, so dass kaum Gefahr bestand, dass irgendjemand im Laden sie erkannte – es sei denn natürlich, es war ein Patient von ihr oder einer von dessen Angehörigen.
Sie duckte sich durch die offene Tür und ließ den Korb schnell fallen. Es war nicht notwendig, dass sie mit irgendjemandem sprach, und die Angestellten waren an Hospitalmitarbeiter gewöhnt, die es eilig hatten. Nebenan befand sich ein Süßigkeitenladen, und Sonea schlüpfte durch die Tür. Sie kaufte eine Tüte Pachi-Fruchtbonbons und sprach ein Losungswort. Die nicht mehr ganz junge Frau hinter der Theke bedeutete ihr, durch eine Tür in einen schmalen Gang zu treten.
Wenige Schritte später klopfte sie an eine weitere Tür. Auf die Anzahl der Klopflaute hatten sie sich schon vor Wochen geeinigt. Von innen wurde nun ebenfalls ein Losungswort genannt, und Sonea trat in einen kleinen Raum, der durch einen schmalen Schreibtisch in zwei Teile geteilt wurde.
»Seid mir gegrüßt.« Ein Mann mit breitem Brustkorb erhob sich und verneigte sich vor ihr, so gut er das in dem kleinen Raum vermochte. »Sie warten auf Euch.«
Sonea nickte und ging zu einer Seitentür – sie musste sich seitlich um den Schreibtisch herumschieben, um sie zu erreichen. Nachdem sie sie mit Magie geöffnet hatte, trat sie in ein Treppenhaus, verschloss die Tür hinter sich und fügte eine magische Barriere hinzu, die sich als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme quer über den Rahmen spannte.
Der Mann in dem kleinen Raum war ein Angestellter von Cery. Soweit Sonea es erkennen konnte, war er der Ehemann der Frau aus dem Süßigkeitenladen und einer der Geldeintreiber ihres Freundes aus Kindertagen. Als Nächstes ging Sonea die kurze Treppe hinunter und betrat einen Raum, der nicht viel größer war als der darüber und nur mit zwei Stühlen möbliert. Auf einem saß Cery, aber weder Gol noch Anyi hatte auf dem anderen Platz genommen.
Sonea schob ihre Kapuze zurück und lächelte ihren alten Freund und seine Leibwachen an.
»Cery. Gol. Anyi. Wie geht es euch allen? Was grinst du so, Cery?«
Cery lachte leise. »Es ist immer schön, dich in etwas anderem als diesen schwarzen Roben zu sehen.«
Sie ignorierte ihn und sah Anyi und Gol an. Beide zuckten die Achseln. Sie machten den Eindruck, als frören sie ein wenig. Es war definitiv kühl im Raum. Sie zog ein wenig Magie in sich hinein und kanalisierte sie als Wärme. Beide Leibwächter runzelten die Stirn, schauten sich um und betrachteten dann nachdenklich Sonea. Sonea lächelte und setzte sich.
»Ich hoffe, du hast einige Ideen zu der Frage, wie wir Skellin verleiten können zu offenbaren, wie weit von Imardin entfernt er sich aufhält«, sagte sie und sah Cery an. »Denn ich habe keine.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich müsste mit Leuten zusammenarbeiten, denen ich nicht wirklich vertrauen kann; außerdem würden dadurch zu viele Menschenleben in Gefahr gebracht werden. Ich habe zu viele Verbündete verloren. Selbst diejenigen, die noch mit mir Handel treiben, nutzen meine Probleme aus. Gol hatte bereits mehrere Stellenangebote.«
»Ich auch«, bemerkte Anyi. »Erst heute Nachmittag. Tatsächlich hat mich die Sache auf eine Idee gebracht.«
Alle drehten sich zu ihr um. Cerys Tochter sah zu jung aus für eine Leibwächterin. Aber andererseits fand Sonea heutzutage, dass die meisten Novizen, die ihren Abschluss machten, zu jung aussahen, um als verantwortungsbewusste Erwachsene betrachtet werden zu können.
»Sprich weiter«, sagte Cery.
»Was wäre, wenn ich eins der Angebote annähme?«, fragte Anyi, deren Augen glänzten. »Was wäre, wenn ich so täte, als hätte ich es satt, für dich zu arbeiten, und sei zu dem Schluss gekommen, dass ich niemals etwas erreichen würde, wenn ich für den Dieb in der Stadt arbeite, der die geringste Macht besitzt? Ich könnte eine Stelle annehmen und für dich spionieren.«
Cery starrte seine Tochter an. Sein Gesicht schien sich nicht zu bewegen, aber Sonea sah kaum merkliche Veränderungen in seinem Mienenspiel: Entsetzen, Furcht, Vorsicht, Spekulation, Schuldgefühle.
»Sie würden dir niemals genug vertrauen, um dich an einen Platz zu setzen, an dem du etwas Nützliches in Erfahrung bringen könntest«, erwiderte er schließlich.
Warum sagt er nicht einfach »Nein«?, fragte sich Sonea. Aber als Gol Cery ansah, war seine Miene eine einzige Warnung. Er weiß, dass Cery vorsichtig zu Werke gehen muss. Wenn Cery Anyi ein direktes Verbot erteilte, würde sie ihm vielleicht umso eher trotzen. Ein Verhalten, zu dem Lorkin Sonea gegenüber ebenfalls von Zeit zu Zeit geneigt hatte.
Anyi lächelte. »Sie werden es tun, wenn ich dich verrate«, erklärte sie. »Ich könnte vielleicht jemandem sagen, wo er dich findet. Natürlich wirst du davon wissen und kannst einen Fluchtplan arrangieren.«
Cery nickte. »Ich werde es in Erwägung ziehen.« Er sah Sonea an. »Irgendetwas Neues von Lorandra?«
Bei dem Gedanken an Skellins Mutter, die in der Kuppel eingesperrt war, zuckte Sonea zusammen. »Einige der Höheren Magier sehen es nicht gern, wenn ich mit ihr rede, und ich vermute, dass Administrator Osen es nur deshalb erlaubt, weil er es für grausam hielte, wenn niemals irgendjemand mit ihr spräche. Kallen hat uns berichtet, dass sie nicht weiß, wo Skellin sich aufhält, so dass sie nicht verstehen können, warum ich mir die Mühe mache, sie zu befragen. Sie sehen nicht ein, dass das Gedankenlesen Grenzen hat und dass sie vielleicht erraten könnte, wo ihr Sohn ist, wenn man sie ein wenig dazu drängt. Ich bezweifle, dass ich jemals die Erlaubnis erhalten werde, selbst ihre Gedanken zu lesen.« Sie schüttelte den Kopf. »Und eigentlich rede ich gar nicht mit ihr: Sie selbst sagt niemals ein Wort.«
»Bleib dran«, riet ihr Cery. »Selbst wenn du dir lächerlich vorkommst, wieder und wieder dieselben Fragen zu stellen. So etwas ermüdet einen Menschen.«
Sonea seufzte und nickte. »Falls es mich nicht als Erste ermüdet.«
Er lächelte grimmig. »Niemand behauptet, das Verhören sei eine einfache Angelegenheit. Du bist jedoch nicht die Einzige, die nicht weiterkommt. Sie muss es irgendwann leid werden, so lange in einem steinernen Raum eingesperrt zu sein.«
»Wir haben kaum eine andere Wahl. Es war die Rede davon, irgendwo auf dem Gelände ein Gefängnis zu erbauen, aber das könnte mehrere Monate dauern.«
»Warum blockiert die Gilde nicht einfach ihre Kräfte?«
»Aus demselben Grund, warum es ihr widerstrebt hat, ihre Gedanken zu lesen. Es könnte ihr Volk beleidigen.«
Cery runzelte die Stirn. »Sie hat die Gesetze unseres Landes gebrochen und sich mit ihrem Sohn verschworen, die Unterwelt der Stadt zu übernehmen und Magier zu versklaven. Die Gilde macht sich Sorgen, ihr Volk zu beleidigen?«
»Ja, es ist lächerlich. Aber ich nehme an, sie wird noch weniger zu einer Zusammenarbeit geneigt sein, wenn wir ihre Kräfte blockieren.«
»Sie könnte vielleicht eher dazu geneigt sein, wenn du andeuten würdest, dass du die Blockade später vielleicht entfernen wirst.«
Sonea sah Cery tadelnd an. »Ich soll sie belügen?«
Er nickte.
»Ihr Gildeleute seid viel zu zimperlich«, bemerkte Anyi. »Die Dinge wären erheblich einfacher, wenn ihr euch nicht immer Sorgen über Regeln machen würdet und darüber, Feinde zu belügen oder Menschen zu beleidigen.«
»Als sei das Leben eines Diebes in dieser Hinsicht anders«, entgegnete Sonea.
Anyi hielt inne. »Ich schätze, das ist wahr, aber eure Regeln zwingen euch, ständig so verdammt nett zu sein. Niemand erwartet von einem Dieb, dass er nett ist.«
»Nein.« Sonea lächelte. »Aber was denkst du, wie es in den Verbündeten Ländern aufgenommen würde, wenn wir nicht mehr nett wären?«
Anyi runzelte die Stirn, öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.
»Mir fällt da gerade das Wort ›Sachaka‹ ein«, murmelte Gol.
Die junge Frau nickte. »Ich verstehe, was ihr meint. Aber vielleicht gibt es Zeiten, zu denen man etwas weniger nett sein muss, um zu vermeiden, dass etwas wirklich Abscheuliches geschieht. Wie zum Beispiel, dass Skellin die Kontrolle über die Stadt erlangt.«
Anyi sah Sonea erwartungsvoll an. Sonea unterdrückte einen Seufzer. Da hat sie nicht ganz unrecht. Sie blickte zu Cery.
»Ich werde noch einmal mit ihr reden«, versprach sie. »Aber ich werde sie nicht täuschen, es sei denn, es gäbe keine Alternative. Selbst kleine Betrügereien neigen dazu, später unangenehme Konsequenzen zu haben.«
Lilia griff nach ihrer Tasche und hielt inne, um sich im Raum umzusehen. Wie die meisten Studienanfänger aus den unteren Klassen war sie erstaunt gewesen festzustellen, dass sie im Novizenquartier ein ganzes Zimmer für sich haben würde. Nach den Maßstäben der Schnösis waren die Räume natürlich nicht groß. Sie enthielten ein Bett, einen Schrank, einen Schreibtisch und einen Stuhl. Die Diener wuschen das Bettzeug und hielten die Räume sauber.
Vor einigen Jahren, als die Anzahl der Magier wegen des Krieges geringer geworden und die der Novizen durch die Aufnahme von Prollis schnell angewachsen war, hatten sich die Novizenquartiere rasch gefüllt, und es war den Novizen aus den Häusern gestattet worden, sich leere Räume in den Magierquartieren zu teilen.
Dies hatte sich inzwischen geändert. Die Magierquartiere waren wieder voll besetzt. Nach ihrem Abschluss hatten die Prollis Vorrang, wann immer Räume frei wurden, da es bei Magiern aus den Häusern wahrscheinlicher war, dass sie respektable Häuser in der Stadt hatten. Einige Prollis benutzten ihr Einkommen vom König, um sich ebenfalls Häuser in der Stadt zu kaufen oder zu mieten.
Die Novizenquartiere waren noch immer zu klein, und die Gilde war gezwungen gewesen, einigen der Schnösis zu erlauben, zu Hause zu leben. Sie hatte dies nur widerstrebend getan, wie Lilia wusste, weil Magier sich nicht in Politik einmischen sollten und die Häuser immer in Politik verstrickt waren. Es half, diese Bande zu zerreißen, wenn man Schnösi-Novizen aus ihren Familien herausholte.
Naki war einer der Schnösis, die zu Hause lebten. Sie sagte, sie hasse es. Lilia glaubte ihrer neuen Freundin nicht ganz, und es hielt sie gewiss nicht davon ab, die Einladung abzulehnen, eine Nacht dort zu verbringen.
Habe ich alles? Sie sah ihre Tasche an und betrachtete den Inhalt: einige Toilettengegenstände, ein Nachthemd und eine frische Robe. Wir Magier brauchen nicht viel.
Sie öffnete die Tür und trat in den Flur hinaus. Zu ihrem Entsetzen kamen gerade zwei ihrer Freunde aus ihrer Klasse vorbei. Obwohl ihre Freundinnen ihr, seit sie feste Freunde hatten, nicht mehr viel Aufmerksamkeit schenkten, würden sie doch alles Ungewohnte an ihrem Verhalten bemerken. Lilia stellte beklommen fest, dass die beiden sofort neugierig wurden, als sie sie mit ihrer Tasche entdeckten.
Madie kam herübergeschlendert, und Froje folgte ihr.
»Hallo, Lilia! Wo willst du denn hin?«
»Zu Naki«, erwiderte sie und hoffte, dass sie nicht allzu selbstgefällig klang.
»Oh. Freunde an hoher Stelle.« Zu Lilias Erleichterung schlug Madie einen eher fröhlichen, gutmütig-spöttischen Ton an.
Froje runzelte die Stirn und trat näher. »Du weißt doch, dass man sich Geschichten über sie erzählt, nicht wahr?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Lilia starrte das Mädchen an. Froje neigte normalerweise nicht zu Klatsch und Gehässigkeit. Das Mädchen wirkte auch eher besorgt als hinterhältig.
»Geschichten gibt es über jeden«, erwiderte Lilia leichthin, dann verfluchte sie sich. Ich hätte mitspielen sollen, um herauszufinden, was die Leute sagen. Nicht dass ich es glaubte, aber trotzdem … es könnte Naki helfen, Ärger zu vermeiden.
Madie lächelte. »Nun, du kannst uns erzählen, ob es wahr ist oder nicht, hm?« Sie sah Froje an und deutete mit dem Kopf auf den Haupteingang der Novizenquartiere. »Viel Spaß«, fügte sie hinzu, dann setzten die beiden ihren Weg fort.
Lilia ergriff ihre Tasche und folgte ihnen langsam, wobei sie ihnen einen gewissen Vorsprung ließ. Als sie aus dem Novizenquartier trat, entdeckte sie Naki sofort, und augenblicklich hellte sich ihre Stimmung auf. Die späte Sonne zeichnete goldene Strähnen in das Haar ihrer Freundin und ließ ihre blasse Haut leuchten. Auch andere Novizen umschmeichelten die Sonnenstrahlen. Aber keinem steht es so gut wie Naki. Die Hälfte der Jungen hier draußen starrt sie an. Ich kann nicht glauben, dass jemand, der so schön und so beliebt ist, meine Freundin sein will.
Naki entdeckte sie und lächelte. Lilia wurde warm ums Herz, aber gleichzeitig flatterte ihr Magen unbehaglich, wie er das getan hatte, seit Naki sie zu sich nach Hause eingeladen hatte. Ich sollte besser nichts tun, was sie verärgern könnte, denn ich habe weder das gute Aussehen noch den Charme, die sie hat, um sicherzustellen, dass ich immer Leute haben werde, die darauf warten, mein Freund zu sein.
»Vaters Kutsche wartet auf uns«, sagte Naki, als sie einander gegenüberstanden.
»Oh! Entschuldige. Ich bin wohl zu spät dran.«
»Nein, eigentlich nicht.« Naki zuckte die Achseln und wandte sich dem Pfad zu, der durch die Gärten führte. »Er schickt die Kutsche oft ziemlich früh. Es ist ärgerlich, da nur eine begrenzte Anzahl an Kutschen vor der Universität Platz hat und es immer zu Staus kommt. Was willst du heute Abend machen? Ich finde, wir sollten dir das Haar aufstecken.«
Lilia versuchte, nicht zusammenzuzucken. Ihre Mutter hatte kunstvolle Dinge mit ihrem Haar gemacht, als sie noch klein gewesen war, und sie hatte das Zupfen und Zwicken gehasst, genau wie den Juckreiz, den die Spangen verursachten. Naki blickte Lilia an und runzelte die Stirn.
»Was ist los?«
»Nichts.« Lilia sah Ungläubigkeit in den Zügen des anderen Mädchens. »Meine Mutter hat es zu besonderen Anlässen gemacht. Es haben immer Haare geziept oder Nadeln gepiekst.«
»Keine Sorge. Ich verspreche dir, dass nicht ein einziges Haar ziepen wird. Es wird Spaß machen.«
»Ich werde dich beim Wort nehmen.«
Naki lachte – ein kehliges, tiefes Lachen, bei dem sich etliche Köpfe drehten. Sie plauderten weiter miteinander, während sie durch die Gärten gingen. Als sie die Auffahrt erreichten, waren schon zahlreiche Kutschen vorgefahren. Naki griff nach Lilias Arm und führte sie zielstrebig zum Wagen ihrer Familie. Der Kutscher sprang vom Bock, um ihnen den Schlag zu öffnen.
Der Stau der Kutschen draußen hielt sie eine Weile auf, aber Lilia bemerkte es kaum. Sie war zu beschäftigt damit, das Gespräch mit Naki zu genießen. Sie begannen mit dem Austausch erheiternder Geschichten über Begegnungen zwischen Dienern und ihren Herren, dann folgte eine Anekdote über eine Dienerin, mit der Naki aufgewachsen war. Als Naki mit ihrer Geschichte fertig war, hielt sie inne und sah Lilia nachdenklich an.
»Weißt du, du erinnerst mich stark an sie. Ich wünschte, ihr hättet einander kennenlernen können.«
»Sie arbeitet nicht mehr für euch?«
»Nein.« Nakis Miene verdüsterte sich. »Vater hat sie weggeschickt.«
Er scheint in all ihren Geschichten der Böse zu sein, ging es Lilia durch den Kopf.
»Du magst ihn nicht, oder?«, fragte sie vorsichtig, nicht sicher, wie Naki auf eine persönliche und vielleicht heikle Frage reagieren würde.
Mit Nakis Gesicht ging eine dramatische Veränderung vor. Ihr Blick verfinsterte sich, und ihre Züge zeigten Anspannung. »Nicht sehr. Und er hasst mich.« Sie seufzte und schüttelte sich, als versuche sie, etwas Unangenehmes loszuwerden. »Es tut mir leid. Ich wollte nichts sagen, damit du dich nicht davor fürchtest, ihn kennenzulernen.«
»Mir macht man so leicht keine Angst«, versicherte Lilia ihr.
»Er wird absolut höflich zu dir sein. Schließlich bist du ein Mitglied der Gilde. Er muss dich wie jemanden behandeln, der ihm ebenbürtig ist. Nun, jedenfalls wie eine Novizin. Er könnte jedoch den Lehrer herauskehren.«
»Damit werde ich fertig.«
»Und wir brauchen ihm fürs Erste nicht zu erzählen, dass du aus einer Dienstbotenfamilie stammst«, sagte Naki ängstlich. »Er ist ein wenig … nun ja, eben so.«
»Das ist in Ordnung. Was zählt, ist, dass du nicht so bist. Ich weiß das zu schätzen.«
Naki lächelte. »Und was ich an dir mag, ist die Tatsache, dass du uns nicht hasst wie die anderen … du weißt schon …«
Lilia zuckte die Achseln. »Meine Familie arbeitet für eine nette, anständige Familie. Es ist schwer, Menschen zuzustimmen, die sagen …«
»Sieh mal! Wir sind da.«
Naki deutete eifrig auf das Fenster der Kutsche. Lilia spähte hinaus und schaute in die Richtung, in die ihre Freundin deutete. Sie hielten vor einem riesigen Gebäude. Sie hatte gewusst, dass Naki aus einem reichen, mächtigen Haus stammte, aber bis zu diesem Moment hatte sie es nicht wirklich verinnerlicht. Sie versuchte, ihre Nervosität und Aufregung zu unterdrücken.
»Keine Sorge«, sagte Naki, die Lilias Stimmung irgendwie auffing. »Entspann dich, und überlass alles mir.«
An die nächste Stunde konnte sie sich später nur noch vage erinnern. Naki führte sie ins Haus. Zuerst stellte sie Lilia ihrem Vater vor, Lord Leiden, der sie auf eine reservierte und geistesabwesende Art willkommen hieß. Dann gingen sie in eins der oberen Stockwerke in die geräumige Flucht von Zimmern, die Naki bewohnte. Abgesehen von ihrem eigentlichen Zimmer gab es dort einen Raum voller Kleider und Schuhe und ein eigenes Bad. Naki erfüllte ihr Versprechen, Lilia das Haar aufzustecken; sie kämmte zuerst eine spezielle Creme hinein, dann benutzte sie glatte Silbernadeln, die sie irgendwie so arrangierte, dass sie nicht an Lilias Haaren zerrten oder an ihrer Kopfhaut kratzten. Anschließend gingen sie zum Abendessen wieder nach unten.
Nakis Vater saß allein am Tisch. Als Lilia auf all die verschiedenen Arten von Besteck hinabblickte, die um jeden der Essplätze aufgelegt waren, stieg für einen Moment Panik in ihr auf. Dann kam ein Bote, und Lord Leiden erhob sich. Er entschuldigte sich dafür, dass sie allein essen mussten, und verließ den Raum.
Als die Tür des Speisezimmers sich hinter ihm schloss, grinste Naki Lilia an. Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf, schlich leise zur Tür, öffnete sie vorsichtig und lauschte. Ein fernes Geräusch drang an Lilias Ohren.
»Er ist weg«, erklärte Naki. »Schnapp dir dein Glas.« Sie griff nach ihrem eigenen Glas, das gerade mit Wein gefüllt worden war, dann ging sie zu der Tür, durch die die Diener hereingekommen waren. An der Tür angelangt öffnete Naki, und eine Dienerin, die ein Tablett mit kleinen Schalen in Händen hielt, blieb auf der Türschwelle stehen.
»Wir kommen runter«, sagte Naki. Die Frau lächelte und nickte, dann drehte sie sich um und verschwand auf dem Weg, auf dem sie gekommen war.
Es war Lilia mittlerweile gelungen, ihr Glas zu ergreifen und sich von ihrem Platz gleiten zu lassen. Naki winkte sie heran, dann folgten sie der Dienerin. Sie kamen durch einen kurzen Flur mit einer Bank und Schränken an einer Wand, in denen Geschirr, Besteck und Gläser aufbewahrt wurden. Am Ende des Flurs gingen sie eine Treppe hinunter.
»Ich esse unten, wann immer Vater nicht hier ist«, erklärte Naki. »Dann brauchen sie das Essen nicht auf dem feinen Geschirr zu servieren, und ich habe Freunde, mit denen ich plaudern kann.«
Die Treppe war so lang, dachte Lilia, dass sie sich hier unten vermutlich zwei Stockwerke unter dem Esszimmer befanden. Sie kamen in eine Küche nicht unähnlich der in dem Haus ihrer Kindheit. Drei Frauen und ein Junge waren an der Arbeit; sie hatten die Ärmel hochgekrempelt und trugen auf dem Kopf Kappen mit Riemen, die sie hinter den Ohren zubinden konnten. Als Kind hatte Lilia selbst solche Kappen getragen.
Naki begrüßte sie mit einer Zuneigung, die sie nicht zu überraschen schien. Nachdem sie Lilia die Diener vorgestellt hatte, ging sie zu einem abgenutzten alten Tische und setzte sich auf einen der Hocker, die dort standen. Lilia nahm auf dem neben ihr Platz. Sie lauschte auf das Geplänkel zwischen Naki und ihren Dienern und fühlte sich zum ersten Mal seit drei Jahren heimisch.
Was für ein Paar wir abgeben, dachte sie. Ein Schnösi, der zu Dienern nett und freundlich ist, und ein Prolli, der die Reichen nicht hasst. Und die Gilde – und Magie – hatte sie zusammengeführt. Das ist eine interessante Idee. Ich hätte gedacht, dass es an der Umgebung liegt, in der wir beide aufgewachsen sind, wenn auch auf anderen Seiten. Aber in Wirklichkeit liegt es an der Magie. Und Magie unterscheidet ebenso wenig zwischen Reich und Arm, wie sie zwischen Gut und Böse unterscheidet.
Dannyl blickte sich um und hatte immer noch Mühe zu glauben, dass Tayend es geschafft hatte. Im Herrenzimmer des Gildehauses drängten sich zahlreiche mächtige, einflussreiche Sachakaner. Es waren auch tödlich miteinander verfeindete Ashaki dabei – sie sprachen nicht direkt miteinander, aber sie hielten sich im selben Raum auf, was anscheinend eine Seltenheit war.
Aber er hat es nicht geschafft, den König herzubekommen. Tayend hatte gesagt, er habe eine Einladung geschickt, doch Achati hatte ihm versichert, dass Amakira nicht abkömmlich sein würde. Es war wahrscheinlich besser so. Wenn der Monarch sich unter so vielen Ashaki aufhielt, verdarben die unausweichlichen politischen Ränke das Fest. Oder zumindest hatte Dannyl das gehört. Er hatte noch nie an einer so großen Zusammenkunft teilgenommen, noch an irgendeiner Zusammenkunft, bei der der König zugegen gewesen wäre. Das größte Ereignis war das Fest, das Achati zur Begrüßung Dannyls und Lorkins in Arvice veranstaltet hatte.
Dannyl musste zugeben, dass er beeindruckt war. Tayend hatte es geschafft, das Ereignis in nur wenigen Tagen, nachdem ihm die Idee gekommen war, ein »kyralisches« Fest zu veranstalten, zu organisieren. Er hatte sogar den Küchensklaven beigebracht, einige kyralische Speisen zuzubereiten, die in kleinen Schalen oder auf Tellern serviert werden sollten. Er hatte die Idee aufgegeben, die Sklaven mit den Speisen auf Tabletts im Raum umhergehen zu lassen, da sie es sich nicht abgewöhnen konnten, sich für ihn oder Dannyl auf den Boden zu werfen, geschweige denn für wichtige Sachakaner.
Tayend hatte es sogar fertiggebracht, nüchterne kyralische Kleidung zu finden, die er jetzt statt seiner gewohnten leuchtend bunten und extravaganten Gewänder trug.
»Beim nächsten Mal werde ich ein elynisches Fest geben«, hörte Dannyl Tayend sagen. »Oder vielleicht ein lonmarisches. Dann wird das Fehlen von Frauen zumindest zum Thema passen. Man kann kein elynisches Fest geben ohne ein wenig geistreiche weibliche Konversation, die die Dinge lebendig macht.« Er hielt inne, um auf eine Antwort zu lauschen, die Dannyl nicht verstehen konnte, dann lächelte er. »Dann werde ich vielleicht eine Sklavin ausbilden oder für den Tag einige elynische Frauen ins Land kommen lassen – oder ich werde mich selbst als eine ausgeben! Ich werde für meine sachakanischen Gäste keine Mühen scheuen.«
Gelächter folgte. Dannyl seufzte und wandte sich ab. Er sah Achati mit Lady Merria sprechen, und eine Woge der Dankbarkeit stieg in ihm auf. Sie hatte sich zuvor augenscheinlich unwohl gefühlt, da die anderen Gäste sie ignorierten. Als er die Sachakaner beobachtet hatte, um festzustellen, was sie tun würden, wenn sie sie sahen, hatte Dannyl in ihren Gesichtern weniger Missvergnügen als vielmehr Unsicherheit wahrgenommen. Da sie nicht daran gewöhnt waren, Frauen bei ihren gesellschaftlichen Zusammenkünften zu haben – es war tabu, mit der Frau eines anderen zu sprechen –, wussten sie nicht, was sie in Bezug auf Lady Merria tun sollten. Daher benahmen sie sich einfach, als sei sie nicht da.
Achati blickte auf und winkte Dannyl heran.
»Ich habe Lady Merria gerade von einer Gruppe von drei Sachakanerinnen erzählt, die ich kenne und die sich gelegentlich treffen.«
»Ich dachte, so etwas würde hier missbilligt.«
»Sie kommen damit durch, weil zwei von ihnen Witwen sind und die dritte ein Krüppel ist und weil sie die Verräterinnen hassen. Eine von den dreien glaubt, die Verräterinnen hätten ihren Ehemann getötet.« Achati lächelte. »Ich dachte, Lady Merria hätte vielleicht Lust, sich ihnen manchmal anzuschließen. Anderenfalls könnte sie sich hier sehr einsam fühlen.«
Dannyl sah Merria an. »Was meint Ihr?«
Sie nickte. »Es wäre gut, einige Frauen von hier kennenzulernen.«
Achati lächelte und blickte Dannyl an. »Soll ich mich bei ihnen erkundigen, ob Eure Assistentin willkommen wäre?«
Verspätet begriff Dannyl, dass Achati ihn um Erlaubnis fragte, als trage er die Verantwortung für Merrias gesellschaftliches Leben. Erheitert musterte er die Heilerin. Sie wirkte ein wenig distanziert, als habe sie die Frage nicht gehört, aber die Ausdruckslosigkeit ihrer Miene rührte von ihrer Anstrengung, sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen.
»Ja, tut das bitte«, erwiderte Dannyl.
Achati wirkte erfreut. »Vielleicht kann ich auch eine Beschäftigung für Euch finden«, murmelte er. Er sah Dannyl vielsagend an und führte ihn zu einem Ashaki, dessen Gesprächspartner sich soeben entfernt hatte.
»Ashaki Ritova. Ich habe Botschafter Dannyl gerade von Eurer beeindruckenden Bibliothek erzählt.«
Der Sachakaner wandte sich Achati zu. Er stellte eine hochmütige Miene zur Schau, die sich kaum merklich veränderte und flüchtig Respekt für Achati verriet, bevor seine ganze Arroganz zurückkehrte, als er sich Dannyl zuwandte.
»Ashaki Achati. Ihr braucht um meinethalben nicht zu prahlen.«
»Und doch fühle ich mich immer geneigt, genau das zu tun. Gewiss handelt es sich um die beste Sammlung in Sachaka, abgesehen von der Bibliothek des Palastes.«
»Verglichen damit ist es ein magerer Haufen Bücher.«
»Trotzdem, ich bin mir sicher, dass Botschafter Dannyl erstaunt darüber wäre, wie alt einige Eurer Aufzeichnungen sind.«
Wieder sah der Mann Dannyl an. »Ich bezweifle, dass Ihr irgendetwas von Interesse finden würdet, Botschafter.« Er seufzte. »Ich habe nicht die Zeit, um mich selbst dort aufzuhalten. Ich bin zu beschäftigt damit, Verträge mit den östlichen Ländern auszuhandeln.«
Er schüttelte den Kopf und begann mit einer langen, langweiligen Kritik der Völker jenseits der Aduna-See, mit denen die Sachakaner Handel trieben. Es wäre durchaus interessant gewesen, mehr über diese Länder zu erfahren, aber Dannyl begriff schnell, dass die Einschätzung des Ashakis geprägt war von Abneigung und Vorurteilen und wohl kaum eine zutreffende Beschreibung sein würde. Als es Achati endlich gelang, das Gespräch zu beenden, ohne Ritova zu beleidigen, entschuldigte er sich.
»Ich hatte gehofft, etwas für Euch tun zu können«, murmelte er. »Aber er ist so halsstarrig wie …«
Der Meister des Krieges, Kirota, kam näher. Als er Dannyl bemerkte, schlenderte er zu ihnen herüber.
»Ashaki Achati. Botschafter Dannyl. Es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen, Botschafter. Ich höre, Euch und Botschafter Tayend verbindet eine enge Freundschaft. Ist das wahr?«
Dannyl nickte. »Wir sind schon lange Freunde. Seit mehr als zwanzig Jahren.«
Kirota runzelte die Stirn. »Botschafter Tayend sagte, er habe in Elyne gelebt, als er Euch das erste Mal begegnete.«
»Ja, genau wie ich«, erklärte Dannyl. »Ich war damals Gildebotschafter in Elyne. Ich habe Tayend in der Großen Bibliothek kennengelernt. Er hat mir bei einigen Nachforschungen für die Gilde geholfen.«
»Ah ja! Tayend hat Eure Nachforschungen erwähnt. Wie entwickeln sie sich denn?«
Dannyl zuckte die Achseln. »Ich habe in letzter Zeit kaum Fortschritte gemacht.«
Kirota nickte mitfühlend. »So ist das Leben eines Forschers. Im einen Augenblick eine große Entdeckung, dann lange nichts. Ich wünsche Euch bald mehr Erfolg.«
»Vielen Dank«, erwiderte Dannyl. »Ihr habt bei unserer letzten Begegnung ein Interesse bekundet, Lücken in Euren eigenen Unterlagen zu füllen«, fügte er hinzu. »Mein Angebot, Euch dabei behilflich zu sein, gilt nach wie vor.«
Die Miene des Kriegsmeisters hellte sich auf. »Ich werde es gewiss annehmen.« Sein Blick wanderte an Dannyl vorbei. »Ah. Mehr von diesen köstlichen Rasook-Schenkeln. Diesmal bin ich entschlossen, mehr davon zu essen, bevor sie alle weg sind. Ich mag Euer kyralisches Essen.« Er grinste und eilte davon.
Als er neben sich ein leises Lachen hörte, drehte Dannyl sich zu Achati um. Der Mann lächelte.
»Das habt Ihr gut gemacht«, murmelte er. »Jetzt, da Ihr nicht länger die neueste Errungenschaft hier seid, wäre es möglich, dass Ihr die Dinge, die Ihr braucht, am ehesten bekommt, wenn Ihr sie gegen etwas anderes eintauscht.«
Dannyl nickte, und ihm wurde ein wenig leichter ums Herz.
»Obwohl ich bezweifle, dass Kirota als Gegenleistung viel für Euch tun kann«, warnte Achati mit leiser Stimme. »Trotzdem … betrachtet es als eine Investition.«
Als die kleine Flamme der Hoffnung verblasste, unterdrückte Dannyl einen Seufzer. Er sah, dass Tayend ihn von der anderen Seite des Raums aus beobachtete. Auf dem Gesicht seines ehemaligen Geliebten lag ein nachdenklicher Ausdruck, und plötzlich verspürte Dannyl nur noch den Wunsch, das Fest zu verlassen.
Aber er hatte keine andere Wahl, als zu bleiben, also drückte er den Rücken durch und folgte Achati zu der nächsten Gruppe von Sachakanern.
Lorkin hatte Luxus und eine teure Einrichtung erwartet. Er hatte erwartet, dass Männer und Frauen, die bei den Verräterinnen die Stelle von Dienern bekleideten, in der Nähe sein würden, bereit, die Wünsche ihrer Monarchin zu erfüllen. Außerdem hätte er Wachen an jeder Tür erwartet.
Aber die Räume der Königin der Verräterinnen waren nicht viel größer oder eleganter als die der Frauen, die er aufgesucht hatte, wenn er Sprecherin Kalia bei deren Besuchen von Kranken oder Schwangeren begleitet hatte. Die einzige offensichtliche Wache war eine Magierin, die draußen im Flur an der Tür saß. Vielleicht war die junge Frau, die auf sein Klopfen hin die Tür geöffnet hatte, ebenfalls eine Magierin, obwohl sie für eine Leibwächterin der Königin zu jung zu sein schien. Sie hatte ihn mit einem fröhlichen, herzlichen Lächeln begrüßt, sich als Pelaya vorgestellt und ihn dann hineingeführt.
Jetzt stand er in einem Kreis aus schlichten Holzstühlen. Eine alte Frau stand vor ihnen, als habe sie sich gerade erhoben. Sie trug keinen Feststaat, aber andererseits hatte sie auch am Tag von Tyvaras Verhandlung keinen getragen. Wenn er ihr Gesicht nicht erkannt hätte, hätte er sie für eine weitere Besucherin halten können, die auf die Königin wartete.
Doch ihre glänzenden Augen waren scharf und ihr Blick direkt, und etwas an ihrer Haltung und Konzentration zeugte von Selbstbewusstsein und Macht. Er hatte sich eine Hand auf die Brust gelegt und wartete auf eine Reaktion, wie man es ihm eingeschärft hatte, als er der Königin das erste Mal begegnet war.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich gebe mich in meinem eigenen Zuhause nicht mit Förmlichkeiten ab, Lord Lorkin. Dafür bin ich zu alt und zu müde. Bitte, nimm Platz.« Sie griff hinter sich und begann sich mit offenkundiger Anstrengung auf einen Stuhl sinken zu lassen. Er trat automatisch einen Schritt vor, um ihr zu helfen, dann hielt er inne, nicht sicher, ob es passend sein würde, sie zu berühren.
»Wartet auf mich, Zarala«, sagte Pelaya mit einem sanften Tadel in der Stimme, als sie herbeigeeilt kam, um der alten Königin behilflich zu sein.
»Mir geht es gut«, erwiderte Zarala. »Ich bin nur langsam.«
Sobald sie saß, deutete die Königin auf den Stuhl neben dem ihren. Lorkin nahm Platz, und die junge Frau zog sich in einen anderen Raum zurück. Die Königin musterte ihn nachdenklich. »Wie gefällt dir das Leben im Sanktuarium?«
»Es ist ein wunderbarer Ort, Euer Majestät«, begann er. »Ich …«
»Keine Förmlichkeiten«, unterbrach die Königin und drohte ihm spielerisch mit dem Finger. »Nenn mich Zarala.«
Er nickte. »Zarala. Das ist ein schöner Name.«
Sie grinste. »Ich mag Schmeicheleien. Doch du wirst nichts damit gewinnen. Ich bin zu alt, um mich von derartigen Dingen beeinflussen zu lassen. Nicht dass du damit aufhören solltest, falls es dir zufällig Vergnügen bereitet.«
»Das tut es«, erwiderte Lorkin. »Und falls es dir Vergnügen bereiten sollte, bist du herzlich eingeladen, mir ebenfalls ein wenig zu schmeicheln«, fügte er hastig hinzu.
Zu seiner Erleichterung lachte sie. »Sprich weiter. Erzähl mir, wie es dir ergangen ist.«
»Mich erstaunt die Großzügigkeit und Freundlichkeit der Verräterinnen. Deine Leute haben mich willkommen geheißen, mir Essen und Obdach gegeben und Aufgaben, mit denen ich mich nützlich machen kann.«
»Warum sollte dich das überraschen?«
Lorkin zuckte die Achseln. »Bei einem Volk, das so sehr im Geheimen lebt, hätte ich erwartet, dass viel Zeit vergehen würde, bevor man auf diese Weise akzeptiert wird.«
Sie betrachtete ihn eingehend. »Du weißt, dass du nicht vollkommen akzeptiert wirst. Viele Menschen mögen dich, und viele wissen zu schätzen, was du für Tyvara getan hast, aber niemand ist so töricht, dir jetzt schon zu vertrauen.«
Er nickte und hielt ihrem Blick stand. »Ja, das spüre ich durchaus. Es ist verständlich. Ich nehme an, es erstaunt mich, dass es nicht offensichtlicher ist.«
»Ich habe nur wenige Berichte von Leuten gehört, die eine Abneigung gegen dich persönlich gefasst haben, aber viele Menschen mögen dich aus Prinzip nicht.«
Er sah sie an. »Wegen meines Vaters.«
»Ja – und wegen Rivas Tod.« Sie war jetzt ernst, und die Runzeln auf ihrer Stirn vertieften sich. »Du solltest wissen, dass ich dich nicht für das verantwortlich mache, was dein Vater getan hat. Es ist lächerlich zu denken, ein Kind trage die Verantwortung für die Taten seiner Eltern.«
»Ich … ich bin froh, dass du so empfindest.«
Sie beugte sich vor und tätschelte ihm das Knie. »Ich bin überzeugt, dass du darüber froh bist. Anderenfalls wärst du wahrscheinlich tot.« In ihre Stimme und ihre Augen hatte sich wieder Humor eingeschlichen, und er lächelte.
»Ich hege auch keinen Groll mehr gegen deinen Vater«, fuhr sie fort, wandte den Blick ab und wurde wieder ernst. Ernst und traurig. »Obwohl ich eine Tochter verloren habe, die hätte geheilt werden können. Wir sind die Dinge falsch angegangen. Etwas an deinem Vater hatte mich davon überzeugt, dass er ein Ehrenmann sei. Ich dachte, ich hätte mich geirrt, habe dann aber eingesehen, dass ich mich vielleicht nicht geirrt habe, dass ich damals einfach nicht verstanden habe, dass es etwas gab, dem gegenüber er eine größere Loyalität empfand.«
»Die Gilde? Kyralia?«, fragte Lorkin.
Sie sah ihn an. »Du wusstest nichts von dem Handel, den er geschlossen hatte, nicht wahr?«, fragte sie leise.
Er schüttelte den Kopf. »Ich war entsetzt zu erfahren, dass er eine solche Vereinbarung getroffen und sie nicht eingehalten hat.«
»Er starb vor deiner Geburt. Er hatte also nie die Gelegenheit, es dir zu erzählen.«
»Und meine Mutter hat nie davon gesprochen. Sie kann es nicht gewusst haben.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
»Sie war entschlossen, mich daran zu hindern, nach Sachaka zu gehen. Wenn sie einen Beweis gehabt hätte, dass mir von den Verräterinnen Gefahr drohte, hätte sie ihn benutzt.«
»Vermisst du sie?«
Ihr Blick war sehr direkt. Er nickte. »Und doch will ein Teil von mir … ein Teil von mir …«
»Dein eigenes Leben leben? Deine eigenen Entscheidungen treffen?«
Er nickte.
Sie deutete mit der Hand auf den Raum oder etwas, das dahinter lag. »Und jetzt bist du hier und sitzt im Sanktuarium fest.«
»Es ist ein angenehmer Ort, um festzusitzen.«
Sie lächelte anerkennend. »Ich hoffe, dass du auch in Zukunft so denken wirst.« Ihr Lächeln verschwand wieder. »Denn das Leben hier wird vielleicht nicht immer so angenehm für dich sein. Ich bin alt. Ich kann mir nicht sicher sein, wer meine Nachfolge antreten wird. Alle wissen, dass Savara die Sprecherin ist, die ich gern als nächste Königin sehen würde, und sie mag dich, aber das bedeutet nicht, dass die Menschen für sie stimmen werden. Sie werden es gewiss nicht tun, wenn sie in Zukunft meine Entscheidungen infrage stellen.« Sie zeigte auf ihn. »Wie die Entscheidung, einen kyralischen Magier ins Sanktuarium zu lassen, der sich dann als allzu neugierig entpuppt.«
Ihre Augen waren hart, und es stand ein kaum merklicher Ausdruck der Anklage darin. Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg, und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Aber sie werden vielleicht damit zufrieden sein, dass ich dich einbestellt habe, um dir ordentlich den Kopf zu waschen. Savara hat entschieden, dass es das Beste sei, Tyvara zu verbieten, sich mit dir sehen zu lassen, damit völlig klar ist, dass sie deine Erkundung der Höhlen missbilligt.«
Lorkins Mut sank. Aber wir haben uns ja ohnehin nicht gesehen, rief er sich ins Gedächtnis.
Zarala lächelte und tätschelte ihm abermals das Knie. »Ich habe noch einen freundschaftlichen, kostenlosen Rat für dich, Lorkin. Sei vorsichtig, wie viel Unruhe du stiftest. Du könntest dir und anderen damit viel mehr Ärger einhandeln, als du jetzt begreifst.«
Er nickte. »Vielen Dank. Ich werde deinen Rat beherzigen. Und keine Unruhe stiften.«
Sie wirkte erfreut. »Du bist ein kluger junger Mann. Bitte schön – jetzt habe ich dir meinerseits geschmeichelt. Möchtest du etwas zu essen?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern drehte sich zu der Tür, hinter der Pelaya verschwunden war.
»Pelaya? Haben wir etwas zu essen für unseren Besucher?«
»Natürlich«, antwortete die junge Frau. Sie erschien mit einem schlichten Holztablett mit Gläsern, Wasser und einer Schale mit Keksen in der Tür. Offensichtlich hatte sie darauf gewartet, dass die Königin sie rief.
»Ah, meine Lieblingskekse«, sagte die Königin und rieb sich die Hände. Mit einem spitzbübischen Grinsen wandte sie sich Lorkin zu. »Pelaya ist eine fabelhafte Köchin. Sie tut das alles mit Magie.« Als die junge Frau das Tablett in den Raum trug, drehte Zarala sich um, um einen in der Nähe stehenden kleinen Tisch anzustarren. Er erhob sich in die Luft, schwebte auf sie zu und stand kurz darauf vor Lorkin.
Sie mag zu alt und zu müde für Förmlichkeiten sein, überlegte Lorkin, aber ich kann erkennen, warum sie Königin ist. Und ich wette, dass sie noch genauso mächtig und klug ist wie an dem Tag, an dem sie es wurde.
Als Pelaya das Tablett abstellte und Lorkin einen Keks anbot, fragte er sich, wie viel die Königin von seinen Plänen erraten hatte. Er bezweifelte sehr, dass sie glaubte, er sei zufrieden damit, sein ganzes Leben bei den Verräterinnen zu verbringen.
Vielleicht hatte sie ihm sagen wollen, er möge sich jetzt zurückhalten, weil er nach ihrem Tod, wenn Savara ihre Nachfolge antrat, eine bessere Chance auf Erfolg haben würde.
Aber nachdem ich sie jetzt kennengelernt habe und sie wirklich mag, hoffe ich, dass dieser Fall nicht allzu bald eintreten wird.
Als die Lampen im Innenhof entzündet wurden, ging Sonea auf das seltsamste Gebäude auf dem Gelände der Gilde zu. Die Kuppel war nicht wirklich eine Kuppel, sondern eine Kugel aus massivem Fels, aber ausgehöhlt. Da sie jedoch zum Teil unter der Erde lag, hatte der sichtbare Teil des Gebäudes ein kuppelartiges Aussehen.
Die Kuppel war so alt wie die Gilde selbst. Bevor die Gilde die Arena gebaut hatte – ein von riesigen, gebogenen Pfeilern getragener magischer Schild –, waren die gefährlicheren Kampflektionen in der Kuppel abgehalten worden. Die Benutzung des Gebäudes für diesen Zweck hatte viele Nachteile gehabt. Im Gegensatz zur Arena konnten Zuschauer die darin abgehaltenen Lektionen nicht mitverfolgen. Die dicken Mauern hätten niemals einen starken Angriff überstanden, also mussten alle Übungsschläge maßvoll ausgeführt werden. Die Schläge, die dann doch die Mauern trafen, konnten den Stein aufheizen, so dass es im Innern unerträglich heiß wurde. Und die einzige Möglichkeit, frische Luft hineinzulassen, bestand darin, die einem Stöpsel ähnliche Tür zu öffnen.
Den alten Unterlagen zufolge, die Akkarin gefunden hatte, war der Stöpsel im Laufe der Jahre während des Unterrichts viele Male hinausgeschlagen worden, und einmal hatte er sogar einen gerade vorbeigehenden Diener getötet. Jetzt wurde er mit Magie festgehalten. Zweimal am Tag entfernte man ihn und ließ frische Luft in das Innere der Kuppel, um die alte zu ersetzen. Gleichzeitig wurden Nahrung und Wasser hineingebracht und die Eimer, die als Toilette dienten, geleert.
Sonea konnte nicht umhin, an ihre Erfahrung als eine gefangene wilde Magierin zu denken. Rothen hatte sie in seinen Räumen wohnen lassen und langsam mit Freundlichkeit und Geduld ihr Vertrauen gewonnen, während er sie unterrichtet hatte. Aber Lorandra war keine unwissende junge Frau, die durch Zufall in den Besitz von Magie gelangt war und eine größere Gefahr für sich selbst darstellte als für die Gilde. Sie hatte ihre Kräfte gut unter Kontrolle und sich zusammen mit ihrem Sohn gegen die Gilde verschworen.
Doch ich weiß, wie es ist, in der Kuppel eingesperrt zu sein. Als die Gilde herausgefunden hatte, dass sie schwarze Magie erlernt hatte, hatte man sie für eine Nacht hier eingesperrt und Akkarin in der Arena festgehalten, während die Gilde für ihre Verhandlung zusammengerufen wurde. In der Kuppel war es stickig und drückend. Ich habe dort nur ein paar Stunden verbracht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, monatelang hier festzusitzen.
Sonea holte tief Luft und widerstand dem Drang, sich umzudrehen und in eine andere Richtung zu gehen. Obwohl sie ein gewisses Mitgefühl für Lorandra empfand, widerstrebte es ihr stets, die Frau zu besuchen. Skellins Mutter hatte niemals ein Wort gesagt, und sie verströmte Hass und Furcht. Mit dem Hass der Frau konnte sie leben. Es war der kompromisslose Hass einer Mutter auf jene, die ihrem Sohn schaden wollten, und nachdem sie dieses Gefühl selbst erlebt hatte, fand Sonea, dass es nachvollziehbar war.
Nein, es war die Furcht, die Sonea zu schaffen machte. Sie war es gewohnt, dass Menschen ein wenig Angst vor ihr hatten – wegen der Dinge, die sie in ihrer Jugend getan hatte und die sie mit schwarzer Magie heute tun konnte –, aber Lorandras Furcht war simples, blindes Entsetzen, und dieses Gefühl machte alles, was Sonea in ihrem Leben getan hatte, um zu beweisen, dass sie ein ehrenhafter und vertrauenswürdiger Mensch war, bedeutungslos.
Und Cery will, dass ich sie belüge.
Die zwei Wachen, die links und rechts neben der Tür standen, wirkten gelangweilt und verärgert. Erst als die beiden sie kommen sahen, richteten sie sich auf und nickten ihr respektvoll zu. Es waren Männer, und sie stammten aus den Häusern, wie sie bemerkte. Bisher hatte sie noch keine Magier aus den unteren Klassen Wache stehen sehen. Hatte Administrator Osen kein Vertrauen, dass sie die Mutter eines Diebes eingekerkert halten würden? Gewiss war er nicht naiv genug, um zu denken, dass Magier aus der höheren Klasse immun dagegen waren, von der Unterwelt erpresst oder bestochen zu werden. Sie blieb stehen und deutete mit dem Kopf auf die Tür.
»Wann wurde sie das letzte Mal geöffnet?«
»Vor drei Stunden, Schwarzmagierin Sonea«, antwortete der größere der Magier.
»Habt Ihr Administrator Osens Anweisungen erhalten?«
Der Mann nickte.
»Gut. Lasst mich ein.«
Die beiden Magier starrten in stiller Konzentration auf die Tür. Statt aufzuschwingen, glitt sie langsam aus der Kuppel heraus und rollte seitlich herum, bis sie an der Felskugel anlag.
Im Innern der Kuppel war es dunkel. Lorandra hatte jede Menge Macht, mit der sie ihr Gefängnis beleuchten konnte – aber wenn sie das tat, löschte sie jedenfalls stets ihr Licht, wenn sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde. Sonea holte tief Luft, schuf eine Lichtkugel und sandte sie voraus, bevor sie eintrat.
Wie immer saß die Frau auf dem schmalen Bett in der Mitte des Raums. Sonea folgte der abschüssigen Kurve des »Bodens« und blieb einige Schritte von Lorandra entfernt stehen. Die Frau starrte sie an; ihr Gesicht war ausdruckslos, aber ihre Augen waren dunkel und unfreundlich.
Sonea überlegte, was sie sagen sollte. In der Vergangenheit hatte sie versucht, die Fragen, auf die sie am dringendsten eine Antwort wünschte, indirekt zu stellen, indem sie sie mit anderen Fragen verknüpfte. Woher kam Feuel? War es eine Droge aus ihrem Heimatland? Wie wurde es hergestellt? Warum hatte Lorandra Bücher über Magie gekauft? Wie war es ihr gelungen, so viele zu finden? Wo waren sie jetzt? Warum hatte Skellin gedacht, die Gilde würde sich täuschen lassen und Forlie für eine Magierin halten – die glücklose Frau, die er als wilde Magierin präsentiert hatte, um zu verhindern, dass die Gilde seine Mutter fing, die eine Magierin war? Wo war Forlies Familie?
Einige der Fragen waren solche, auf die Sonea bereits die Antworten kannte, bei einigen anderen Fragen wusste Sonea bereits, dass Lorandra sie nicht beantworten konnte. Cery hatte ihr dieses Vorgehen empfohlen, weil es wichtig war zu vermeiden, dass sie offenbarte, wie viel die Gilde nicht wusste.
Aber Lorandra hatte nichts gesagt.
Also versuchte Sonea, direkter zu sein. Wo war Skellin? Wie lange lebte er schon in Imardin? Welche Diebe waren seine Verbündeten? Welche Häuser waren mit ihm verbunden? Hatte er Kontrolle über irgendwelche Gildemagier? Hatte er Verbündete in Elyne? Lonmar? Sachaka? Wie viele Diebe hatte sie getötet? Hatte sie versucht, Cery zu töten? Hatte sie versucht, Cerys Familie zu töten?
Keine Veränderung in Lorandras Miene verriet eine Reaktion auf diese letzte Frage. Es war eine der Fragen, die Sonea am wichtigsten waren, abgesehen vom Aufenthaltsort Skellins.
Wenn Osen bei der Anhörung doch nur mich dafür ausgewählt hätte, Lorandras Gedanken zu lesen, nicht Kallen. Ich hätte die Antwort dort suchen können, und niemand außer Lorandra hätte davon gewusst. Aber das hätte bedeutet, dass Kallen Forlies Gedanken gelesen hätte, und das hätte Sonea dieser armen, verschreckten Frau nicht gewünscht.
Sonea erinnerte sich an Lorandras Entsetzen und Überraschung, dass sie Kallen nicht daran hindern konnte, ihre Gedanken zu lesen. Hoffentlich bedeutete das, dass die Magier in Lorandras Heimatland sich nicht auf schwarze Magie verstanden. Nach dem, was Kallen berichtet hatte, untersagte Lorandras Volk jedwede Magie. Aber jene, die den Bann verhängten, waren selbst Magier. Lorandra hatte gegen das Gesetz verstoßen und insgeheim Magie erlernt. Es war wahrscheinlich, dass sie keine Ahnung hatte, wie mächtig die Gesetzeshüter waren.
Die Gilde macht sich solche Sorgen darum, die Menschen in ihrem Land zu kränken, wenn sie ihre Kräfte blockieren, aber wenn das, was Kallen sagt, zutrifft, wäre die bloße Existenz der Gilde eine Beleidigung für sie. Lorandra ist dort ebenso wie hier eine Verbrecherin. Sie würden wollen, dass nicht nur sie, sondern wir alle hingerichtet werden.
Igra war weit entfernt und durch eine beruhigend große Wüste von den Verbündeten Ländern getrennt. Es bestand eine gewisse Chance, dass niemand dort sich an Lorandra erinnerte, die bereits vor vielen Jahren das Land verlassen hatte, und wenn es doch jemand tat, hielt er sie wahrscheinlich für tot. Ein Jammer nur, dass sie nicht gleich zu Beginn an die Gilde herangetreten war. Sie hätten sie vielleicht aufgenommen oder ihr gestattet, mit irgendeinem Arrangement, das ihr eine beschränkte Benutzung von Magie erlaubte, in Imardin zu leben. Stattdessen hatte sie das Leben einer Attentäterin geführt und sich selbst und ihren Sohn mit dem Verkauf von Feuel bereichert.
Sonea dachte an all die Menschen, die wegen dieser Frau gelitten hatten und gestorben waren. Diesmal schob sie den Ärger nicht beiseite, der in ihr aufstieg, oder versuchte, sich ein wenig Mitgefühl zu bewahren. Diesmal gestattete sie ihrem Ärger, ihre Entschlossenheit zu stärken.
»Ich bin nicht hier, um Euch zu befragen«, sagte Sonea leise. »Ich bin hier, um Euch davon in Kenntnis zu setzen, dass die Gilde Eure Kräfte bald blockieren wird. Ihr werdet dann nicht mehr in der Lage sein, Magie zu benutzen. Die gute Nachricht ist, dass Ihr dann nicht länger hier gefangen sein werdet. Ich kann Euch nicht sagen, was man danach mit Euch machen wird, aber man wird Euch nicht innerhalb der Verbündeten Länder frei lassen.«
Lorandras Miene veränderte sich geringfügig, und Sorge trat an die Stelle von Hass. In Sonea stieg eine Welle des Triumphs auf, die weitaus stärker war, als die Veränderung es verdiente. Sie wandte sich ab und ging auf die Tür zu. Ein heiseres Krächzen erklang hinter ihr, und sie blieb stehen; dann zwang sie sich weiterzugehen.
»Wartet.«
Sonea hielt inne und drehte sich um. Das Licht spiegelte sich in Lorandras dunklen Augen, als sie den Kopf hob.
»Wird es wehtun?«, fragte sie flüsternd.
Sonea sah sie an. »Warum sollte ich Eure Fragen beantworten, wenn Ihr keine von meinen beantwortet?«
Lorandra presste den Mund zu einer dünnen Linie zusammen. Sonea wandte sich ab, dann blieb sie stehen und blickte wieder zu der Frau hinüber.
»Nicht, wenn Ihr Euch nicht dagegen wehrt«, erklärte sie ihr leise, so dass die Wachen sie nicht hören konnten. Lorandra schaute ihr in die Augen. »Und … und es ist umkehrbar«, fügte Sonea mit noch leiserer Stimme hinzu.
Dann zwang sie sich, sich abzuwenden und durch die Tür zu treten, wobei sie sich fragte, ob das, was sie in den Augen der Frau gesehen hatte, Hoffnung oder Argwohn gewesen war.
»Das Erste, was Ihr Euch einprägen müsst, ist die Tatsache, dass eine Schwangerschaft keine Krankheit oder Verletzung ist«, erklärte Lady Indria der Klasse. »Aber durch Schwangerschaft und Geburt kann es zu vielen Problemen kommen. Im Gegensatz zur Mehrheit der Zustände, die eine Schwangerschaft behindern oder unmöglich machen und die wir in diesem Jahr bereits besprochen haben, können die Probleme einer Schwangerschaft und einer Geburt zum Tod führen, entweder bei der Mutter oder dem Kind oder bei beiden.«
Lilia sah ihre Freundinnen an. Sowohl Froje als auch Madie saßen mit durchgedrücktem Rücken da und hörten Lady Indria aufmerksam zu. Sie sind beinahe so gefesselt, wie sie es während der Lektionen waren, bei denen es um die Vermeidung einer Schwangerschaft ging, überlegte Lilia. Sie blickte sich im Raum um. Die meisten der Novizen schienen sich für die Lektion zu interessieren. Selbst die Jungen taten es, was sie überraschte, obwohl von allen Heilern erwartet wurde, dass sie lernten, wie man eine werdende Mutter beriet und ein Kind zur Welt brachte.
Einige der Mädchen hatten während der vergangenen Lektionen gefehlt. Es waren allesamt Schnösies. Die Häuser hatten niemals Einwände dagegen erhoben, dass ihre Töchter lernten, wie man eine Empfängnis verhinderte, bis das Thema zu einem offiziellen Teil des Unterrichts der Universität geworden war. Die Eltern der Prollies hatten deswegen nicht das geringste Aufhebens gemacht. Sie konnten es sich nicht leisten, Enkelkinder großzuziehen, während ihre Töchter ihre Ausbildung in der Gilde beendeten.
Ich sollte dies interessanter finden, als ich es tue, ging es Lilia durch den Kopf. Ich nehme an, ich würde es interessanter finden, wenn ich in jemanden verliebt wäre oder vielleicht bald heiraten würde. Das würde mir einen Grund geben, um über die Zukunft nachzudenken und darüber, Kinder zu haben. Aber im Augenblick kommt mir das alles so unwahrscheinlich vor. Madie könnte recht haben, wenn sie sagt, dass man nicht wissen kann, wann man jemand Besonderen findet, aber selbst wenn dieser Jemand nächste Woche auftauchte, glaube ich, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis ich Kinder haben will.
Sie musste jedoch trotzdem aufpassen, denn wenn sie Heilerin werden wollte, musste sie in der Lage sein, schwangeren Frauen zu helfen. Sie zwang sich zuzuhören und fing an, sich Notizen zu machen. Als Lady Indria ihren Vortrag schließlich beendete und begann, Fragen zu beantworten, spürte Lilia Madies Atem auf ihrer Wange, als das Mädchen sich zu ihr vorbeugte.
»Du triffst dich heute Abend mit Naki?«, murmelte Madie.
Lilia lächelte. »Ja. Sie wird mir helfen, gekrümmte magische Schläge zu üben.«
Madie holte Luft, um noch etwas hinzuzufügen, dann gab sie einen leisen Laut der Frustration von sich.
»Was ist?«, fragte Lilia und blickte auf.
Das Gesicht ihrer Freundin war angespannt vor Unentschlossenheit und Sorge.
»Was ist?«, wiederholte Lilia.
Madie seufzte und schaute sich im Raum um. Sie beugte sich noch weiter vor. »Die Leute fangen an zu bemerken, dass du viel Zeit mit ihr verbringst. Du musst wissen, was sie reden.«
Lilias Magen krampfte sich zusammen, und ihr wurde übel. »Was reden sie denn?«, zwang sie sich zu fragen.
»Dass du und sie …« Madie richtete sich plötzlich auf, als Indria ihren Namen sagte. Lilia hörte zu, während ihre Freundin die Fragen der Heilerin beantwortete. Die Lehrerin bedachte Lilia mit einem strengen Blick, dann wandte sie sich ab und nahm ihren Vortrag wieder auf.
Lilia beugte sich zu Madie vor. »Was reden sie?«
»Pst. Ich werde es dir später erzählen.«
Während des Rests der Stunde fiel es Lilia doppelt so schwer, sich zu konzentrieren. Was konnten die Leute an ihrer Freundschaft mit Naki finden, das sie zu Klatsch und Tratsch verleitete? War es die Prollie/Schnösie-Geschichte? Hatte es etwas mit Nakis Vater zu tun? Naki hatte gesagt, er missbillige Prollies. Vielleicht drohte er damit, es Naki zu verbieten, sich mit Lilia zu treffen.
Als der Universitätsgong ertönte, waren Lilias Notizen ein wirres Durcheinander, und ihre Gedanken waren in keinem viel besseren Zustand. Sie folgte Madie und Froje aus dem Klassenzimmer.
»Nun?«, drängte sie.
Die beiden Mädchen tauschten einen Blick. Madies Gesichtsausdruck war beinahe flehentlich. Froje wirkte erwartungsvoll. Madie drehte sich um, um Lilia ein dünnes Lächeln zu schenken.
»Wir erledigen das besser, bevor wir uns den Jungen anschließen.« Sie schaute sich im Flur um und führte Lilia und Froje in ein leeres Klassenzimmer. Dann wandte sie sich an Lilia. »Es heißt … Die Leute sagen …« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. »Naki mag keine Jungen.«
»Nun, sie mag sie, aber nicht auf die Art und Weise, wie Mädchen sie mögen sollten«, warf Froje ein.
»Sie mag Mädchen.« Madie sah Lilia an, dann wandte sie den Blick ab.
»Auf eine Art und Weise, wie Mädchen das nicht tun sollten.«
Angespanntes Schweigen folgte. Lilia stellte fest, dass sie nicht überrascht war. Gewiss war sie nicht so schockiert, wie die beiden es von ihr erwarteten. Als Dienerin hatte sie viele Dinge gesehen und gehört, von denen Novizen, die in behüteteren Elternhäusern aufgewachsen waren, nichts wussten. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass sie Menschen nicht so schnell verurteilen solle.
Obwohl die beiden sie nicht ansahen, spürte Lilia die Erwartung ihrer Freundinnen. Als das Schweigen sich in die Länge zog, stieg Panik in Lilia auf. Sie sollte reagieren, oder die beiden würden denken, sie hätte es bereits gewusst.
Und gebilligt.
»Ähm«, begann sie.
»Du weißt doch, was wir meinen, oder? Mädchen, die Mädchen auf die gleiche Weise mögen, wie Jungen es tun …«, erklärte Madie.
»Ich weiß, was ihr meint«, unterbrach Lilia sie. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Aber ist es wahr? Ich meine, die Leute denken sich ständig solche Dinge aus. Vor allem über Leute, die sie aus irgendeinem Grund missbilligen. Zum Beispiel weil sie reich und schön sind. Oder weil sie nicht interessiert sind. Naki hat eine Menge Jungen abgewiesen – zumindest habe ich das gehört. Das könnte den Anschein erweckt haben, dass ihr Mädchen lieber sind.«
Die beiden Mädchen runzelten die Stirn und tauschten abermals einen Blick.
»Ich denke, das ist so«, sagte Madie, obwohl in ihrer Stimme ein Anflug von Zweifel mitschwang.
»Man erzählt sich da eine Geschichte, dass sie und eine ihrer Dienerinnen … du weißt schon«, sagte Froje, aus deren Stimme deutlich ihre Abneigung sprach. »Aber die Dienerin wollte es beenden. Naki fand es heraus. Sie arrangierte es so, dass ihr Vater sie zusammen erwischte. Er warf die Dienerin und ihre ganze Familie auf die Straße. Mein Cousin kennt die Familie. Er schwört, dass es wahr ist.«
Die beiden sahen Lilia an. Sie erwiderte die Blicke. Ihr Herz raste. Sie spürte, wie ihr ihre Freundschaft mit Naki entglitt, und das Gefühl gefiel ihr nicht. Die Geschichte über die Dienerin war beunruhigend. Konnte Naki so boshaft und rachsüchtig gewesen sein? Vielleicht ist es eine Übertreibung, erfunden von Dienern, die wütend darüber waren, dass man sie hinausgeworfen hatte – wahrscheinlich aus einem weit besseren Grund.
Sie hasste sich dafür, dass sie so dachte, aber sie wusste, dass nicht alle Diener ehrlich und loyal waren.
Vielleicht waren ihre Freundinnen eifersüchtig, weil sie, Lilia, eine schönere, reichere Freundin gefunden hatte, als sie es waren. Nun, sie hätten mich vielleicht nicht vollkommen ignorieren sollen, sobald sie feste Freunde hatten. Aber das konnte sie nicht sagen, denn es würde es noch verdächtiger erscheinen lassen, dass sie Naki mochte. Vielleicht sagte sie besser etwas, das Naki nützte. Das half, diese dummen Gerüchte zu zerstreuen.
»Es ergibt keinen Sinn«, erklärte sie. »Naki mag ihren Vater nicht. Warum sollte sie zulassen, dass er dies über sie erfuhr? Höchstwahrscheinlich ist die Dienerin aus einem anderen Grund hinausgeworfen worden und hat eine Geschichte erfunden, um ein schlechtes Licht auf Naki zu werfen.«
Froje und Madie wirkten nachdenklich. Wieder tauschten sie einen Blick, diesmal einen zweifelnden. Dann lächelte Madie und wandte sich an Lilia.
»Nun, du hast wahrscheinlich recht, du kennst sie persönlich; wir kennen nur die Geschichten.« Sie runzelte die Stirn. »Aber selbst wenn es nicht wahr ist, machen wir uns trotzdem Sorgen um dich. Die Leute werden reden.«
Lilia zuckte die Achseln. »Lasst sie reden. Sie werden es irgendwann müde werden. Warum sollte Naki wegen boshafter Gerüchte keine Freunde haben?«
Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu. Die beiden Mädchen zögerten, dann hörte Lilia, dass sie ihr folgten. Sie hörte außerdem ein leiseres Geräusch. Ein schnelles Flüstern. »Warum machst du dir überhaupt solche Mühe? Wir sind jetzt sowieso nicht mehr gut genug für sie.«
Lilia ging weiter und tat so, als habe sie nichts gehört. Aber sie empfand auf bittere Weise eine Art Triumph. Ich habe recht. Sie sind eifersüchtig. Andererseits hatte sie mit leisen Gewissensbissen zu kämpfen, als die Mädchen sich ihr anschlossen. Es war die Wahrheit. Naki war eine interessantere und aufregendere Freundin als diese beiden – als es diese beiden je gewesen waren, selbst als ihre festen Freunde sie noch nicht abgelenkt hatten.
Vor allem, wenn das, was man über Naki sagt, die Wahrheit ist.
Sie wollte jetzt nicht daran denken. Nicht weil sie befürchtete, die Geschichten könnten wahr sein, sondern weil sie Angst hatte, dass ihre Freundinnen irgendwie die brodelnde Erregung spüren würden, die ihre Warnung tief in ihr entfacht hatte. Und wegen der unausweichlichen Fragen, die dieses Gefühl aufwarfen.
Was ist, wenn es auch auf mich zutrifft?
Sie wusste nur eines mit Bestimmtheit: Sie verspürte nicht den Abscheu, den sie verspüren sollte, und das war etwas, das sie ihren Freundinnen – oder irgendjemand anderem – niemals würde sagen können. Vielleicht würde sie es nicht einmal Naki erzählen können.
Während die Gildekutsche durch die Straßen von Arvice rollte, bemerkte Dannyl, dass Lady Merria die Anblicke, die sich ihr boten, mit hungrigen Augen aufsog. Obwohl sie erst vor zehn Tagen eingetroffen war, verspürte sie bereits die Langeweile, die es bedeutete, den größten Teil der Zeit im Gildehaus eingesperrt zu sein.
Oder vielleicht fasziniert sie einfach nur ein neuer Ort, überlegte Dannyl. Es könnte sein, dass ich der Einzige bin, der das Gefühl hat, eingesperrt zu sein.
So oder so, sie war begeistert von der Idee gewesen, den Markt zu besuchen. Tayend hatte es am vergangenen Abend vorgeschlagen, bevor er zu einem weiteren Fest mit gutem Essen und anregender Gesellschaft bei irgendeinem Ashaki gefahren war. Dannyl hatte den Markt noch nicht gesehen, da alles, was er benötigte, stets schnell von Sklaven ins Gildehaus gebracht wurde. Also diente der Besuch lediglich der Unterhaltung – und vielleicht auch einer Erweiterung ihres Horizonts. Möglicherweise würde er etwas über Sachaka und die Länder im Osten erfahren, mit denen es Handel trieb.
»Wie ist Euer Besuch bei den Frauen gelaufen, den Achati vorgeschlagen hat?«, erkundige sich Dannyl.
Merria sah ihn an und lächelte. »Gut, denke ich. Sie glauben alle drei, dass die Verräterinnen eine von ihnen zur Witwe gemacht haben, und doch zeigt nur die Betroffene selbst einen überzeugenden Hass. Ich vermute, dass mehr dahintersteckt, als sie verraten. Eine der anderen Frauen hat mir gegenüber angedeutet, diese Frau habe so oft über ihren Ehemann gejammert, dass die Verräterinnen zu der Annahme kommen mussten, sie wolle tatsächlich frei von ihm sein.«
»Also haben die Verräterinnen entweder einen Fehler gemacht, oder diese Frau hat sie überlistet, oder etwas anderes hat sie gezwungen zu behaupten, sie hasse sie, um sich selbst zu schützen.«
Merria sah ihn nachdenklich an. »Ich muss wirklich lernen, all die komplizierten, verdrehten Möglichkeiten in diesen Situationen zu erkennen, nicht wahr?«
Er zuckte die Achseln. »Es kann nie schaden. Es ist außerdem klug, sich niemandem allzu eng anzuschließen.«
Sie nickte, schaute wieder aus dem Fenster und übersah glücklicherweise, dass Dannyl zusammenzuckte, als ihm die Wahrheit seiner eigenen Worte klar wurde.
Aus demselben Grund sollte ich mich nicht bedingungslos auf Achati einlassen. Aber mit wem könnte ich sonst reden? Ich mag ihn tatsächlich sehr – und nicht nur, weil er weiter mit mir Umgang pflegt, obwohl ich hier zu einer gesellschaftlichen Peinlichkeit geworden bin.
»Ist das der Markt?«, fragte Merria.
Dannyl rutschte näher ans Fenster auf seiner Seite und blickte auf die Straße. Sie endete auf einer Kreuzung. Ihnen gegenüber erhob sich eine hohe weiße Mauer, durchbrochen von einem schlichten Torbogen, durch den ein stetiger Strom von Menschen quoll. Jenen, die herauskamen, folgten Sklaven, die Schachteln, Körbe, Säcke und zusammengerollte Teppiche trugen. Beide Straßen waren gesäumt mit wartenden Kutschen.
»Das möchte ich wetten.«
Und tatsächlich ließ der Kutscher ihren Wagen genau vor dem Tor halten. Viele Menschen starrten sie jetzt an und zeigten mit dem Finger. Merria griff nach der Kutschentür, dann hielt sie inne und zog die Hand zurück.
»Ihr solltet besser als Erster aussteigen, Botschafter«, sagte sie.
Er lächelte grimmig und wartete darauf, dass einer der Sklaven herunterkletterte und die Tür öffnete. Der Mann warf sich zu Boden, als Dannyl ausstieg. Es hatte sich eine kleine Menschenmenge gebildet, um das Geschehen zu beobachten, und als er näher trat, brach leises Gemurmel aus. Aber als Merria erschien, schwoll das Gemurmel zu einem lauten Summen des Interesses an. Sie blieb auf der obersten Stufe stehen und runzelte die Stirn.
»Ignoriert sie«, riet ihr Dannyl und streckte ihr eine Hand hin. »Schaut niemandem in die Augen.«
Sie senkte den Blick und ergriff die ihr angebotene Hand, stieg jedoch mit Würde aus. Dannyl verkniff sich ein Lächeln. Merria hatte ihm erzählt, dass sie die Tochter eines Schiffskapitäns war, was bedeutete, dass sie zwar nicht in Schmutz oder Armut groß geworden war, aber auch nicht die Erziehung einer Frau aus den Häusern genossen hatte. Trotzdem hatte sie die Manieren und Marotten der Oberklasse studiert, als sie der Gilde beigetreten war, und sie hatte gelernt, sie nachzuahmen. Eine solche Anpassungsfähigkeit würde sehr nützlich für sie sein, sowohl hier als auch zu Hause in Imardin.
Dannyl ließ ihre Hand los, wies den Sklaven an, die Kutsche zu einem passenderen Ort abseits des Verkehrs zu bringen, um dort auf sie zu warten, und ging dann auf den Eingang zum Markt zu. Der andere Sklave sprang von der Kutsche, um ihnen zu folgen.
Zwei Wachen sicherten den Eingang, und beide beäugten Dannyl und Merria mit ausdrucksloser Miene.
Sie müssen freie Diener sein, dachte Dannyl. Wie die Männer im Palast.
Sobald sie das Tor durchschritten hatten, gelangten er und Merria auf einen in geraden Reihen angelegten Markt. Die äußeren, direkt an der Umfassungsmauer gelegenen Verkaufsstände waren dauerhafte Bauten. Alles andere waren saubere Reihen von Karren und mobilen Verkaufstischen, von denen die meisten mit einem Stoffdach überspannt waren. Er ging die erste Reihe entlang.
Merria war für die Einheimischen weiterhin viel interessanter als Dannyl. Höchstwahrscheinlich hatten sie noch nie zuvor eine kyralische Frau gesehen, während kyralische Männer lediglich selten waren.
Dannyl ging es mit den sachakanischen Frauen nicht viel anders. Bisher hatte er kaum eine zu Gesicht bekommen. Auch hinter den Verkaufsständen arbeiteten keine Frauen, aber viele streiften auf dem Markt umher, jede mit einem männlichen Begleiter. Sie trugen reich verzierte Umhänge, die ihnen von den Schultern bis zu den Knöcheln fielen.
Er wollte den Zorn der Einheimischen nicht erregen, indem er ihre Frauen anstarrte, also richtete er seine Aufmerksamkeit auf die angebotenen Waren. Parfüms, kunstvolle Glaswaren, elegante Töpfereien und feines Tuch umgaben sie. Sie hatten den Markt offensichtlich am Luxusende betreten. Rückblickend wurde ihm klar, dass er auch niemanden mit Gemüse oder irgendwelchen Tieren aus dem Markttor hatte kommen sehen. Als sie das Ende eines Ganges erreichten, spähte Dannyl an den Reihen vor ihm entlang. Und tatsächlich, am gegenüberliegenden Ende befanden sich praktischere Waren. Vielleicht gab es einen weiteren Eingang, der diesem Bereich näher lag.
Sie gingen durch den nächsten Gang und blieben stehen, um sich Waren aus den Ländern jenseits der Aduna-See anzusehen. Merria zeigte sich besonders von den Glaswaren beeindruckt. Im dritten Gang zog es sie beide sofort zu einem Marktstand, der mit einer glitzernden Ansammlung von Edelsteinen in allen Farben bedeckt war. Aber während Merria die Steine betrachtete, hatten Dannyls Aufmerksamkeit vor allem die Verkäufer erregt, da er sofort die staubig graue Haut und die langen Gliedmaßen von Duna erkannte.
Er dachte an den Fährtensucher der Duna, Unh, der ihm, Achati und den Ashaki geholfen hatte, nach Lorkin zu suchen. Und er erinnerte sich auch an die Höhle, die er und Unh in den Bergen entdeckt hatten und deren Wände von Kristallen bedeckt gewesen waren. Dannyl hatte erfahren, dass die Stammesleute wussten, wie man solche Kristalle zu magischen Edelsteinen machte. Nachdenklich musterte er die glitzernden Steine, die vor ihm lagen.
Gewiss würden sie hier nicht die magischen Steine verkaufen. Er schaute genauer hin. Die Fülle an ausgelegten Steinen und die Grobheit von deren Schliff ließen vermuten, dass sie keinen großen Wert hatten und nur für gewöhnlichen Modeschmuck taugten.
»Euch gefallen?«, fragte ein Duna, bevor er sich zu Merria vorbeugte und breit lächelte.
Sie nickte. »Sie sind hübsch. Wie viel kosten …?«
»Habt Ihr irgendwelche feineren Steine?«, unterbrach Dannyl sie. »Oder solche, die als Schmuck oder anderweitig eingefasst sind?«
Der Mann bedachte Dannyl mit einem durchdringend direkten Blick, dann schüttelte er den Kopf. »Menschen hier nicht mögen unsere Art der Einfassung.«
Dannyl lächelte. »Wir stammen nicht von hier.«
Der Mann grinste. »Nein, das tut Ihr nicht.« Er schaute zwischen Merria und Dannyl hin und her, dann machte er ihnen ein Zeichen. »Kommt herein.«
Sie gingen um den Tisch herum und traten in den Schatten unter der aufgespannten Schutzplane. Unter den Augen seines stirnrunzelnden Gefährten öffnete der Duna einen staubigen alten Sack und holte zwei schwere Bänder heraus. Er hob sie hoch, so dass Dannyl und Merria sie sehen konnten. Sie waren aus irgendeinem unpolierten, dunklen Metall gemacht und mit Leder gefüttert. In primitiven Fassungen glitzerten Edelsteine. Entlang einer Kante war das Band gelocht, und aus den Löchern baumelten kleine, metallene Anhänger herab.
»Sie gehören hierhin.« Der Mann zeigte auf eine Stelle direkt oberhalb des Knies. »Und mehr hier und einer hier.« Er berührte seine Haut über dem Ellbogen und dann den Stoff, der um seine Hüften geschlungen war. »Für Zeremonien reiben wir.« Er ahmte eine kreisende Bewegung nach. »Damit sie leuchten. Aber bei anderen Gelegenheiten lassen dunkel werden, damit sie nicht …« Er deutete auf sein Gesicht und machte große Augen.
Blenden, übersetzte Dannyl die Geste im Stillen.
»Das muss wunderbar aussehen«, sagte Merria.
Der Mann grinste und nickte ihr zu. »Wir tanzen. Wenn wir tanzen gut, Frauen wählen uns aus.«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Frau einen Mann des Schmuckes wegen heiratet«, bemerkte Merria und sah Dannyl an. »Was tragen Frauen?«, fragte sie den Mann.
Der Stammesmann schüttelte den Kopf. »Nur Gürtel. Sehr schlicht. Über Stoff …« Er machte eine weit ausholende Bewegung vom Hals bis zum Knie.
Merria wirkte enttäuscht. »Kein Schmuck? Keine Edelsteine?«
»Edelsteine auf Gürtel.«
»Ich würde liebend gern eine dieser Zeremonien sehen.« Merria seufzte sehnsüchtig. »Ist das teuer?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Beinbänder.
»Dieser hier nicht für Verkauf. Aber nächstes Mal wir bringen einen mit, den kaufen können? Vielleicht auch Gürtel.«
»Das würde mich freuen.« Sie schaute wieder zu dem Tisch mit den Edelsteinen hinüber. »Also … wie viel kosten sie?«
Sie kehrten zu dem Tisch zurück, und es folgte ein kurzes Feilschen. Dannyl argwöhnte, dass der Duna sich von ihr weiter herunterhandeln ließ, als er das normalerweise tun würde. Als das Geschäft abgeschlossen war, kam Dannyl zu dem Schluss, dass er nicht gehen könne, ohne nach dem Fährtensucher zu fragen.
»Kennt Ihr Unh?«, erkundigte er sich. »Er arbeitet als Fährtensucher.«
Das Grinsen des Mannes verschwand, und als es zurückkehrte, wirkte es angespannt und wenig überzeugend.
»Nein.« Er sah zu dem anderen Duna hinüber, der jetzt finster die Stirn runzelte. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein.«
Dannyl nickte achselzuckend, dann dankte er ihnen, dass sie Merria die Bänder gezeigt hatten. Die beiden antworteten mit starrem Lächeln. Dannyl führte Merria weiter.
»Wer ist Unh?«, fragte sie, als sie außer Hörweite waren.
»Der Fährtensucher, der uns bei der Suche nach Lorkin geholfen hat.«
»Ah.« Sie blickte zurück. »Bin ich die Einzige, die den Eindruck hatte, dass sie ihn sehr wohl kennen, ihn aber nicht besonders mögen?«
»Ihr seid nicht die Einzige.«
»Wie interessant«, murmelte sie. »Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass sie mir nicht einige dieser Bänder mitbringen werden.«
Sie bogen um eine Ecke und gingen die nächste Reihe hinunter. Dannyl schaute auf und blieb stehen, als er sah, was vor ihnen lag.
Verkaufsstände voller Bücher, Schriftrollen und Schreibgerät säumten beide Seiten des Gangs. Er blickte hin und her, und einige vielversprechende alte Bände erregten seine Aufmerksamkeit. Plötzlich wusste er, warum in Tayends Tonfall eine Spur Selbstgefälligkeit gelegen hatte, als er einen Besuch auf dem Markt vorgeschlagen hatte.
Es war nicht nur so, dass er etwas vorgeschlagen hat, woran ich nicht gedacht hatte. Er wusste, dass ich dies vorfinden würde. Wahrscheinlich war er bereits hier, weil er törichte und exotische Kinkerlitzchen so sehr liebt, und vermutlich hat er erraten, dass ich dem Markt noch keinen Besuch abgestattet hatte. Ein Stich der Zuneigung zu seinem ehemaligen Geliebten durchzuckte ihn, aber dieser Regung folgte eine Mischung aus Schuldgefühlen und Ärger, die seit Tayends Erscheinen in Arvice zunehmend vertraut wurde. Ich werde mich bei ihm bedanken müssen. Ich wünschte, die Aussicht darauf würde mich nicht mit Zweifel und Furcht erfüllen.
»Ich werde hier vielleicht ein wenig Zeit brauchen«, sagte er entschuldigend zu Merria.
Sie lächelte. »Das dachte ich mir. Es ist in Ordnung. Gibt es irgendetwas, wonach ich für Euch Ausschau halten soll?«
Als Lorkin in seiner Arbeit innehielt, bemerkte er, dass mehr als die Hälfte der Betten der Krankenstation belegt war. Allerdings würden die meisten Patienten wahrscheinlich wieder gehen, sobald Kalia sie untersucht hatte. Fast alle hatten die gleiche oder eine ähnliche Krankheit. Selbst in dem abgelegenen, isolierten Sanktuarium zogen die Menschen sich jeden Winter Schnupfen und Hustenkrankheiten zu. Sie nannten es »Kältefieber«.
Die Behandlung war so bewährt und vertraut, dass nur wenige Fragen gestellt wurden. Kalias Untersuchung der Personen, die behaupteten, an Kältefieber zu leiden, war oberflächlich, und sie brauchte nur selten die Heilmittel zu erklären, die sie verteilte.
Dies war Kalias Fachgebiet. Lorkin bekam die Aufgabe, sich um alle zu kümmern, die mit anderen Verletzungen oder Krankheiten hereinkamen. Kein Patient mit Kältefieber trat je an ihn heran. Wenn Kalia beschäftigt war, setzten die Menschen sich auf ein Bett, beobachteten sie geduldig und sahen ihn nur gelegentlich neugierig an.
Die wesentlichen Heilmittel waren eine Salbe für die Brust und ein bitter schmeckender Tee. Kinder bekamen dessen Ingredienzien in Süßigkeiten zu lutschen, wenn sie den Tee nicht trinken wollten. Die Süßigkeiten schmeckten ziemlich stark und unangenehm, so dass nur diejenigen, die wirklich an der Krankheit litten – und deren Geschmackssinn beeinträchtigt war –, sie ertragen konnten. Die Patienten bekamen jeweils genug Tee und Süßigkeiten für einige Tage. Wenn sie mehr brauchten, mussten sie zurückkommen, um sich noch einmal untersuchen zu lassen.
Es war das erste Mal, dass er erlebte, dass die Verräterinnen ihre Vorräte so streng rationierten. Er wusste, dass Lebensmittelvorräte überwacht werden mussten, damit die Produkte des Tals für den Winter reichten, aber bisher hatte er keine Einschränkungen erlebt. Es wurde jedoch darüber gesprochen, und jeder, der dabei gesehen wurde, dass er mehr aß als die für vernünftig erachtete Menge, erntete neckende Missbilligung, der aber eine ernste Mahnung zugrunde lag.
Es waren bisher keine Magier wegen Kältefiebers auf die Krankenstation gekommen, da sie eine natürliche Widerstandskraft gegen Krankheiten besaßen. Deshalb überraschte es Lorkin, als eine Magierin den Raum betrat; die Nase und die Augenlider der Frau wiesen eine verräterische Rotschattierung auf. Er machte sich wieder daran, den Verband eines alten Mannes zu wechseln, der ein Geschwür am Bein hatte. Der Mann kicherte.
»Du dachtest, sie sei eine Magierin, nicht wahr?«, krächzte er.
Lorkin lächelte. »Ja«, gab er zu.
»Nein. Ihre Mutter ist eine. Die Schwester ist eine. Die Großmutter war eine. Sie ist keine, aber sie tut gern so, als sei sie eine.«
»In den Verbündeten Ländern müssen alle Magier besondere Kleidung tragen, damit jeder weiß, was sie sind. Es ist illegal, sich wie ein Magier zu kleiden, wenn man keiner ist.«
Der alte Mann lächelte dünn. »Oh, das würde ihnen hier nicht gefallen.«
»Weil es offensichtlich machen würde, dass hier nicht alle gleich sind?«
Der Mann schnaubte. »Nein, weil sie sich nicht gern sagen lassen, was sie tun sollen.«
Lorkin lachte leise. Er befestigte den Verband und steckte dem alten Mann eine zusätzliche Dosis von einem Schmerzmittel zu. Was werde ich tun, wenn uns dieses Mittel und andere ausgehen?
Er könnte beginnen, Patienten mit Magie zu heilen, aber der Zeitpunkt wäre nicht gut. Falls ich gezwungen bin, meine heilenden Kräfte zu benutzen, dann sollte das aus einem besseren Grund geschehen als dem, dass ich zugelassen habe, dass uns die Heilmittel ausgehen.
»Warst du schon mal in den alten Aussichtsräumen hoch über der Stadt?«, fragte der alte Mann.
»Meinst du die, die bereits da waren, als die Verräterinnen dieses Tal entdeckten?«
»Ja. Eine Freundin von dir hat mir gesagt, sie gehe dorthin. Damit ich es dir weitersage.«
Lorkin starrte den alten Mann an, lächelte und wandte den Blick ab. »Das hat sie wirklich gesagt?«
»Und ich brauche jemanden, der mich zurück in mein Quartier bringt.«
Kalia wirkte zwar nicht misstrauisch, als Lorkin ihr erklärte, dass der Mann sich von ihm heimhelfen lassen wolle, aber sie wies ihn an, so rasch wie möglich zurückzukehren. Nachdem sie zusammen ein paar hundert Schritte gegangen waren, meinte der Mann, er käme jetzt sehr gut allein zurecht, aber Lorkin bestand darauf, ihn bis zu seinem Zimmer zu begleiten. Anschließend eilte er sofort zu den Aussichtsräumen. Er hatte auf dem Weg einige Treppen zu erklimmen, und als er die Tür zum ersten dieser Räume erreichte, atmete er heftig.
Sobald er durch die schwere Tür getreten war, verwandelte sich sein Atem in eine kleine Dampfwolke vor seinem Gesicht. Die Luft war sehr kalt, und er schuf unverzüglich eine magische Barriere um sich herum und erwärmte die Luft darin. Der Raum war lang und schmal, und seine Einrichtung bestand lediglich aus einigen rauen Holzbänken entlang der Rückwand. Ihnen gegenüber befand sich eine Reihe glasloser Fensterlöcher.
Am Rand eines der Fenster lehnte eine Frau, und diesmal schlug sein Herz bei ihrem Anblick einen Purzelbaum. Tyvara lächelte schwach. Es gelang ihm, den Drang zu bezähmen, seinerseits breit zu grinsen.
»Warum setzt ihr kein Glas in die Fenster ein?«, fragte Lorkin und deutete auf die Öffnungen im Mauerwerk. »Dann wäre es viel einfacher, den Raum zu beheizen.«
»Wir haben nicht genug Rohstoffe, um so viel Glas herzustellen«, erwiderte sie, löste sich von der Mauer und kam ihm entgegen.
»Ihr könntet es aus dem Flachland hier heraufbringen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wichtig genug, um deswegen eine Entdeckung zu riskieren.«
»Ihr habt doch bestimmt schon andere Dinge hergebracht?«
»Einige Male. Wir ziehen es vor herauszufinden, wie wir die Dinge selbst herstellen können, oder ohne sie auszukommen. Und wir müssen nicht auf besonders viel verzichten.« Sie lud ihn ein, an eins der Fenster zu treten. Das Tal unter ihnen war inzwischen schneebedeckt, und die Felswände stachen mit ihrem nackten Grau von der weißen Schneedecke ab. »Hat Evar dir erzählt, dass wir Pflanzen in Höhlen ziehen, die von Steinen beleuchtet und gewärmt werden?«
»Nein.« Seine Neugier regte sich. »Ist das auch die Art, wie ihr die Tiere im Winter beschützt?«
»Ja, obwohl sie größtenteils Getreide zu fressen bekommen und wir einige schlachten werden und das Fleisch einfrieren, wenn es kalt genug ist, um Eishöhlen zu machen.«
»Das würde ich gern sehen«, sagte er sehnsüchtig. »Aber ich nehme nicht an, dass mich in nächster Zeit jemand zu einer Führung durch die Höhlen des Sanktuariums mitnehmen wird.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Eine Falte erschien zwischen ihren Brauen, und sie wandte den Blick ab. »Eigentlich dürfte ich gar nicht mit dir reden.«
»Ich weiß. Aber trotzdem sind wir hier.«
Sie musterte ihn und lächelte schwach, bevor sie wieder ernst wurde. »Hast du Evar in letzter Zeit gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Und du?«
»Ja. Aber ich mache mir Sorgen um ihn.«
Lorkin war beunruhigt. »Warum?«
Sie sah ihn mit zweifelnder Miene an. Aber es waren keine Selbstzweifel oder Unentschlossenheit. Sie schien abzuwägen, ob sie ihm etwas erzählen sollte oder nicht.
»Ich will dir eine Warnung zukommen lassen, aber ich muss mich indirekt ausdrücken, und ich will nicht, dass du es irgendwie auf eine andere Weise deutest.« Sie blickte sich im Raum um, dann beugte sie sich zu ihm vor und senkte die Stimme, obwohl außer ihnen niemand da war. »In den nächsten Wochen könnten Frauen versuchen, dich in ihr Bett zu locken. Nimm keine Einladungen an – es sei denn, du bist dir absolut sicher, dass sie keine Magierinnen sind.«
Er starrte sie an und kämpfte gegen den Drang zu grinsen. »Einige haben es bereits getan. Ich habe nicht …«
»Das ist etwas anderes«, unterbrach sie ihn und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dies ist … Sie werden es nicht tun, weil sie dich mögen. Eher das Gegenteil.« Sie sah ihn eindringlich an, und ihre Miene war ernst. »Wirst du meine Warnung beherzigen?«
»Natürlich«, antwortete er lächelnd und hoffte, dass es nach echter Dankbarkeit aussah und nicht nach Häme. Sie ist eifersüchtig. Sie will mich ganz für sich allein.
»Du verstehst das falsch«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Es besteht wahrhaft ein Risiko. Was sie planen könnten, kann gefährlich sein. Es kann töten.«
Daraufhin schmolz sein selbstgefälliger Jubel, und er begriff plötzlich, worauf sie anspielte: den Tod des Liebenden. »Sie planen, mich zu ermorden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das verstößt gegen das Gesetz. Aber solltest du versehentlich sterben, vor allem auf diese Weise …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen und breitete lediglich in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Die Bestrafung wäre erheblich milder.«
Er nickte und hielt ihrem Blick stand; jetzt gelang es ihm ohne Mühe, sein Gesicht ausdruckslos zu halten. »Ich werde mit keiner Verräterin ins Bett gehen, es sei denn, du sagst, ich könne es tun.«
Sie verdrehte die Augen und ging zur Tür. »Es sind nur die Magierinnen, vor denen du auf der Hut sein musst, Lorkin. Was du mit den Übrigen machst, geht mich nichts an. Obwohl wir es zu schätzen wüssten, wenn du tätest, was notwendig ist, um nicht einen ganzen Haufen Kinder zu zeugen, denn wir haben ohnehin bereits Münder genug zu stopfen.« Sie warf ihm noch einen letzten Blick zu. »Ich muss jetzt gehen.«
»Und ich muss zurück zur Krankenstation.« Er seufzte. »Nicht weil mir so an Kalias Gesellschaft läge, sondern weil ich vermute, dass das Kältefieber noch viel mehr um sich greifen wird.«
Sie nickte, und in ihren Augen lag ein warmer Ausdruck der Zustimmung, aber dann wurde ihre Miene traurig. »Es ist jedes Jahr das Gleiche. Das Fieber fordert immer einige Opfer. Meist Alte, Junge oder jene, die bereits durch Krankheiten geschwächt sind. Du solltest besser darauf gefasst sein.«
Er nickte zum Zeichen, dass er verstand. »Danke für die Warnung.« Er lächelte. »Für beide Warnungen.«
Sie erwiderte sein Lächeln. Gemeinsam gingen sie auf die Tür zu und auf die Wärme der Treppe, die dahinter lag. Sie ließ ihn vorgehen, damit sie nicht zusammen gesehen wurden. Einmal drehte er sich noch zu ihr um und bemerkte, dass ihr Blick ins Leere ging und Entschlossenheit und Sorge zugleich erkennen ließ. Sofort fasste er neuen Mut. Sie hatte sich mit ihm getroffen, obwohl es ihr verboten worden war. Er hoffte, dass ihr Ungehorsam unbemerkt bleiben und sie ein weiteres Treffen mit ihm arrangieren würde.
»Also, wann macht Lord Dorrien sich auf den Heimweg?«, fragte Jonna, während sie ein letztes Mal mit ihrem Poliertuch über die Weingläser wischte.
»Morgen früh«, antwortete Sonea. Sie schaute zu ihrer Tante und Dienerin auf und bemerkte einen seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht der älteren Frau. »Was ist los?«
Jonna schüttelte den Kopf, stellte das Weinglas beiseite und ließ den Blick durch Soneas Gästezimmer gleiten. Sie ging zu dem niedrigen Tisch, auf dem das Abendessen serviert werden würde, und begann, das Besteck zu polieren. Wieder einmal. »Nichts Wichtiges. Ich habe nur daran gedacht, wie es hätte sein können.«
Sonea seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Beklagst du noch immer, dass ich Dorrien nicht geheiratet habe?«
Jonna breitete die Hände zu einer Geste des Protestes aus. »Er ist ein sehr netter Mann.«
Oh nein. Nicht das schon wieder. »Das ist er«, stimmte Sonea ihr zu. »Aber wenn ich ihn geheiratet hätte, hätte ich aufs Land ziehen müssen, und du würdest mich niemals zu sehen bekommen.«
»Unsinn«, entgegnete Jonna, und ihre Augen blitzten triumphierend auf. »Die Gilde hätte dich niemals außer Sichtweite gelassen.«
»Was Dorrien gezwungen hätte hierzubleiben, und das wäre grausam gegen ihn gewesen. Er mag die Stadt nicht.«
Jonna zuckte die Achseln. »Vielleicht wird er seine Meinung ändern, wenn er alt wird.«
»Das ist noch lange …«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Sonea. Sie gab den alten Streit erleichtert auf und sandte ein wenig Magie zum Türriegel. Er öffnete sich klickend, und die Tür schwang nach innen auf. Regin stand draußen.
»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er. »Darf ich unter vier Augen mit Euch sprechen?«
»Lord Regin!«, erwiderte Sonea, vielleicht ein wenig zu enthusiastisch. »Kommt herein!«
Er trat ins Gästezimmer und sah Jonna an, während die Frau in Soneas Schlafzimmer schlüpfte, damit sie ungestört sein konnten. Dann erregten die Gegenstände auf dem Tisch seine Aufmerksamkeit.
»Ihr erwartet Gäste«, bemerkte er. »Ich sollte besser nicht zu lange hier verweilen.« Er richtete sich auf und sah ihr in die Augen. »Ich bin hier, um Euch mitzuteilen, dass sich eine Familienangelegenheit ergeben hat, die einen großen Teil meiner Zeit und Aufmerksamkeit verlangen wird, und da ich nicht in der Lage sein werde, Euch verlässliche Hilfe bei der Suche und – wichtiger noch – bei der Gefangennahme des Diebes Skellin anbieten zu können, habe ich das Gefühl, dass Euch mit einem anderen Assistenten besser gedient sein wird.«
Sonea sah ihn entgeistert an. »Oh«, sagte sie. »Das ist …« Für einen Moment fühlte sie sich desorientiert. Was würde sie ohne Regin anfangen, der ihr half, Skellin zu finden? Und ich dachte, schlechter könnte unsere Suche nicht mehr laufen. Sie schüttelte den Kopf. Ich kann es nicht glauben, aber ich werde es zutiefst bedauern, Regins Hilfe zu verlieren. »Das ist wirklich schade«, erwiderte sie. »Ich wusste Eure Hilfe sehr zu schätzen und wünschte, Ihr könntet mich weiterhin unterstützen. Aber Eure Familie sollte den ersten Anspruch auf Eure Aufmerksamkeit haben«, fügte sie hastig hinzu.
Sein Lächeln war ziemlich grimassenhaft, und er schien beinahe zusammenzuzucken. »So ist es immer.«
»Ich hoffe, diese Angelegenheit lässt sich schnell und schmerzlos regeln.«
»Ich bezwei…« Regins Stimme verklang, als es abermals an der Tür klopfte. Er schaute hinüber, dann drehte er sich wieder zu ihr um und neigte den Kopf. »Es war mir ein Vergnügen, mit Euch zusammenzuarbeiten, Schwarzmagierin Sonea. Ich sollte Euch jetzt am besten Euren Gästen überlassen.«
Wieder öffnete Sonea die Tür. Draußen im Flur warteten Rothen und Dorrien. Sie sahen Regin, und Neugier blitzte in ihren Augen auf, als sie ihm höflich zunickten.
»Lord Regin«, murmelten sie.
»Lord Rothen, Lord Dorrien. Ich wollte gerade gehen. Ich wünsche Euch einen guten Appetit.« Als sie zurücktraten, schob Regin sich an ihnen vorbei. Sonea hörte seine Schritte im Flur, als er davonging, dann traten ihre Gäste ein und schlossen die Tür hinter sich.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Rothen.
Sonea schüttelte den Kopf. »Nicht die Art Neuigkeiten, auf die wir aus sind. Im Gegenteil, Regin kann uns nicht länger helfen. Eine Familienangelegenheit, sagt er.«
»Oh.« Rothen runzelte die Stirn.
»Genau das habe ich auch gesagt. Wenn auch auf eine förmlichere und wortreichere Art und Weise, die natürlich meine Dankbarkeit und mein Bedauern einschloss.«
»Natürlich.« Rothen lachte, doch dann kehrte sein Stirnrunzeln rasch wieder zurück. »Was werden wir ohne ihn tun?«
Dorrien blickte zwischen seinem Vater und Sonea hin und her. »So dringend braucht ihr seine Hilfe?«
»Weniger bei der Suche«, erwiderte Rothen. »Dazu ist Cery in der besten Position. Wir brauchen ihn für die tatsächliche Gefangennahme Skellins.«
Sonea geleitete sie zu ihren Plätzen. Jonna kam aus dem Schlafzimmer zurück und sah Sonea mit hochgezogenen Augenbrauen an. Auf Soneas Nicken hin verließ sie den Raum, um die Mahlzeit zu holen, die für sie vorbereitet wurde.
»Also braucht es nicht Regin zu sein. Könnte ich seinen Platz einnehmen?«, fragte Dorrien und sah zuerst Rothen und dann Sonea an.
Sonea runzelte die Stirn. »Du musst in dein Dorf zurückkehren.«
»Ja, aber ich könnte Vorkehrungen treffen und zurückkommen.« Er lächelte sie an. »Inzwischen lebt ein Heiler in einem anderen Dorf, das nur einen Halbtagesritt entfernt ist. Wir haben eine Abmachung, dass wir uns um die Patienten des anderen kümmern, wann immer wir in die Stadt reisen.«
»Aber dies könnte erheblich länger dauern als nur einige Wochen«, warnte Sonea.
»Du solltest auch Alina und die Mädchen nicht allzu lange allein lassen«, ergänzte Rothen. Dann wandte er sich an Sonea. »Wenn es so weit ist, kann ich helfen.«
»Nein …«, begann Sonea.
»Du weißt nicht, wie mächtig Skellin ist«, unterbrach Dorrien sie und sah seinen Vater mit einem missbilligenden Stirnrunzeln an. »Was ist, wenn er stärker ist als du? Du bist nicht so mächtig wie Lord Regin. Das hast du selbst gesagt.«
»Ich werde bei Sonea sein.«
»Was ist, wenn du es nicht bist? Was, wenn ihr zwei getrennt werdet?« Dorrien schüttelte den Kopf. »Es ist zu riskant für dich, Vater.«
Sonea nickte. Sie stimmte Dorriens Einschätzung nicht zu, da Rothen nicht weniger mächtig war als die meisten anderen Magier, aber Rothen wurde alt und war vielleicht nicht mehr schnell genug, falls sie jemanden verfolgen mussten.
»Du bist nicht viel stärker als ich«, bemerkte Rothen.
»Aber ich bin stärker«, wandte Dorrien ein. Er sah Sonea mit leuchtenden Augen an. »Alina und ich haben gedacht, dass wir für eine Weile in die Stadt ziehen sollten, damit Tylia sich an das Leben hier gewöhnen kann, bevor sie der Universität beitritt. Und wir wollten mindestens für die ersten Monate nach Unterrichtsbeginn hierbleiben.« Er wandte sich an seinen Vater. »Ich habe Lady Vinara bereits von meinen Plänen erzählt, auch wenn ich noch keine genauen Daten genannt habe. Es wäre nicht schwierig, früher hierherzuziehen.«
Rothen musterte seinen Sohn wortlos, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen gegensätzlichen Gefühlen. Er würde seine Enkelkinder liebend gern öfter sehen und länger hierbehalten, vermutete Sonea. Aber er will auch nicht seine Zustimmung zu etwas geben, das das Leben seines Sohnes in Gefahr bringen könnte.
Sie selbst fand den Gedanken recht angenehm. Es würde schön sein, Dorrien länger in der Nähe zu haben als bei seinen früheren Besuchen in der Gilde. Und sie konnte seine Hilfe durchaus gebrauchen. Sie würde ihn zwar ebenfalls keinem Risiko aussetzen wollen, aber sie wollte eigentlich niemanden einem Risiko aussetzen. Zumindest war er willens, mit ihr zusammenzuarbeiten, und feinfühlig genug, um zu wissen, wann er ein Geheimnis für sich behalten musste.
Das angespannte Schweigen wurde durch ein weiteres Klopfen an der Tür durchbrochen. Als die Tür geöffnet wurde, kamen, angeführt von Jonna, drei Dienerinnen mit Tabletts voller Speisen herein. Jonna zog die Augenbrauen hoch, als sie bemerkte, dass keiner von ihnen sprach. Sie warf Sonea einen Blick zu, der sagte: »Ich werde zurückkommen, um herauszufinden, was das alles zu bedeuten hat«, bevor sie ging und ihre Helferinnen mitnahm.
Als die Tür sich geschlossen hatte, beugte Sonea sich vor und begann, die Speisen zu verteilen.
»Ich frage mich, welchen Familienangelegenheiten wir es zu verdanken haben, dass Regin uns nicht mehr helfen kann«, sagte sie.
Rothen blickte nachdenklich drein. »Manchmal wünschte ich, ich hätte nicht aufgehört, in den Abendsaal zu gehen, um mir den Klatsch anzuhören.«
»Ich werde sehen, was ich in Erfahrung bringen kann«, erklärte Dorrien achselzuckend.
»An einem einzigen Abend?«, spottete Sonea.
Dorriens Augen funkelten schelmisch. »Wenn man die Gilde nur für wenige Wochen im Jahr besucht, überschlagen sich alle, um einen über die letzten Skandale ins Bild zu setzen. Ich werde euch beide heute Abend ein wenig früher verlassen müssen, um zur richtigen Zeit dort zu sein, aber wenn es eine Antwort auf diese Frage gibt, werde ich sie euch morgen früh liefern können.«
Ein weicher, glatter Stoff ergoss sich über Lilias Kopf und fiel herab, nur um im letzten Moment an ihrer Hüfte strammgezogen und in kunstvolle Falten gelegt zu werden. Naki trat zurück.
»Es passt wie angegossen.« In ihrer Stimme lagen Erheiterung und Ärger, und sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog demonstrativ einen Schmollmund. »Es ist nicht gerecht. Ich bin aus allem herausgewachsen, und es hat keinen Sinn, es dir zu schenken, weil wir nie wieder Gelegenheit haben werden, Kleider zu tragen.« Dann lächelte sie. »Du siehst großartig aus. Geh und schau einmal in den Spiegel.«
Lilia näherte sich zögernd dem Spiegel und betrachtete sich. Sie füllte das Oberteil des Kleides nicht ganz aus, aber das hätte sich mit einigen Polstern in Ordnung bringen lassen. Obwohl sie häufig die Frau und die Töchter ihres früheren Arbeitgebers so elegant gekleidet gesehen hatte, hätte sie es nie gewagt, ihre Kleider anzuprobieren.
»Du siehst wunderschön aus«, sagte Naki und trat hinter Lilia. Sie legte Lilia die Hände auf die Schultern. Ihre Finger waren kalt, und Lilia überlief ein Schauer. Sie dachte daran, was Madie und Froje über ihre neue Freundin gesagt hatten, dann drängte sie den Gedanken eilig beiseite.
Naki runzelte die Stirn. »Du bist ja ganz angespannt. Was ist los? Ist es unbequem?«
Lilia schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl, nun … wir tun etwas Verbotenes. Magier müssen immer Roben tragen.«
Naki verzog die Lippen zu einem schelmischen Grinsen. »Ich weiß. Es macht irgendwie Spaß, nicht wahr?«
Als sie das Grinsen ihrer Freundin sah, konnte Lilia nicht umhin zu lächeln. »Ja, aber das liegt nur daran, dass niemand sonst uns sehen kann.«
»Es ist unser böses Geheimnis«, sagte Naki und wandte sich ab. Sie bückte sich, um nach dem Saum ihres Kleides zu greifen, und zog es sich mit einer einzigen Bewegung über den Kopf. Darunter trug sie nur ein Unterhemd, und Lilia wandte hastig den Blick ab.
»Tatsächlich solltest du etwas wirklich Schlimmes tun«, fuhr Naki fort, während sie in ihre Novizenrobe schlüpfte. »Dann wirst du in der Lage sein, etwas wie dies hier zu machen, ohne dich so zu verkrampfen.« Sie hielt inne, um nachzudenken, dann grinste sie. »Ich weiß genau das Richtige für dich. Warte hier. Ich bin gleich wieder zurück.«
Naki verschwand durch die Haupttür zu ihrem Schlafzimmer. Lilia nutzte die Gelegenheit, sich umzuziehen, während ihre Freundin nicht zusah, schlüpfte aus dem Kleid und zog hastig wieder ihre Roben an. Als sie die Schärpe verknotete, kehrte Naki mit einem kleinen, schwarzen Gegenstand zurück. Sie hielt ihn mit einer triumphierenden Gebärde hoch.
Er war wie ein metallener Vogelkäfig, nur kleiner und klobiger. Lilia starrte ihn verwundert an. Naki lachte. Sie bedachte den Käfig mit einem direkten Blick, und Rauch begann aus den Öffnungen zu quellen. Lilia begriff jäh, und in das Begreifen mischten sich Bestürzung und Neugier.
»Es ist ein Kohlebecken für Feuel!«
»Natürlich.« Naki verdrehte die Augen. »Du bist so unschuldig, Lilia. Es ist schwer zu glauben, dass du aus einer Dienstbotenfamilie stammst.«
»Der Arbeitgeber meiner Familie hat Feuel missbilligt.«
Naki zuckte die Achseln. »Das tun jede Menge Leute. Sie vertrauen neuen Dingen nicht. Irgendwann werden sie einsehen, dass Feuel nicht schlimmer ist als Wein – und in mancher Hinsicht sogar besser. Man bekommt davon keinen Kater.« Sie begann, sich die Luft zuzufächeln, und atmete tief ein. Nach einigen Atemzügen schloss sie die Augen und seufzte anerkennend. Ihre Augen waren dunkel und verführerisch, als sie Lilia ansah und sie herbeiwinkte. »Komm näher. Versuch es.«
Lilia gehorchte. Sie beugte sich über das Kohlebecken und atmete tief ein. Ein wohlduftender Rauch füllte ihre Lunge. Sie hustete, und Naki legte eine Hand auf den Mund und kicherte. Statt gekränkt darüber zu sein, dass ihre Freundin sie ausgelacht hatte, stellte Lilia fest, dass es ihr nichts ausmachte. Weiterer Rauch füllte ihre Brust. Ihr Kopf begann sich zu drehen.
»Beim letzten Mal habe ich einen großartigen Platz dafür gefunden«, sagte Naki und ging auf ihr Bett zu. Sie hängte das Kohlebecken auf einen Kleiderbügel und schob die Kleider ans andere Ende der Stange. Dann ließ sie sich aufs Bett fallen.
Lilia lachte abermals. Naki drehte sich um, um ihr zuzulächeln, und klopfte auf die Bettdecken. »Komm und leg dich hin. Es ist sehr entspannend.«
Zu Lilias Erleichterung weckte die Aussicht, neben Naki auf einem Bett zu liegen, nur ein mildes, fernes Echo der Nervosität, die sie früher einmal verspürt hätte. Sie ließ sich neben ihrer Freundin auf die Matratze sinken.
»Machst du dir immer noch Sorgen, dass wir Ärger bekommen könnten?«, fragte Naki.
»Nein. Plötzlich ist mir alles egal.«
»Das ist es, was Feuel bewirkt. Man hört auf, die Dinge wichtig zu nehmen. Man hört auf, sich Sorgen zu machen.« Sie drehte den Kopf, um Lilia anzusehen. »Du scheinst dir in letzter Zeit eine Menge Sorgen zu machen.«
»Ja.«
»Worüber?«
»Die Mädchen in meiner Klasse. Die, die meine Freundinnen waren. Sie haben Dinge über dich gesagt.«
Naki lachte. »Darauf möchte ich wetten. Was haben sie denn gesagt?«
Warum habe ich das gesagt? Verdammt. Ich kann es ihr nicht erzählen … oder doch? Es wäre gut, die Wahrheit zu kennen … »Dass … dass du Frauen magst. Anstelle von Männern. Ich meine …« Lilia holte tief Luft und hustete abermals, als der Rauch ihre Lunge füllte. »Ich meine, du ziehst weibliche Geliebte vor, so wie manche Männer männliche Geliebte vorziehen.« Sie legte eine Hand auf den Mund. Warum habe ich das getan? Warum bin ich einfach damit herausgeplatzt? Naki wird mich hassen!
Aber Naki lachte nur abermals. Ein sorgloses, schelmisches Lachen. »Ich wette, das hat ihnen für Monate interessante Träume beschert.«
Lilia kicherte. Sie versuchte sich vorzustellen, dass Froje und Madie Tagträumen nachhingen über … Nein, denk nicht daran.
»Du willst wissen, ob es wahr ist.«
Lilia blinzelte überrascht, dann sah sie Naki an.
Ihre Freundin schaute ihr in die Augen und lächelte. »Es ist wahr. Und dir geht es genauso, hab ich recht? Oder … du bist dir nicht sicher.«
Lilia, deren Gesicht plötzlich brannte, wandte den Blick ab. »Ich …«
»Nur zu. Mir kannst du es erzählen.«
»Nun … ich glaube, ja … hm … kannst du mir etwas dazu raten?«
Naki drehte sich um und zog sich in eine sitzende Position hoch. »Mein Rat ist, dir deswegen keine Sorgen zu machen.« Sie hob die Hand und hängte das Kohlebecken ab. Es hatte aufgehört zu rauchen. »Frauen verlieben sich seit Jahrhunderten in Frauen. Männer haben immer angenommen, sie seien einfach enge Freundinnen. Was genau anders ist als bei den Männern, die keine engen Freunde sein können, aus Furcht, dass andere denken werden, sie seien in Wirklichkeit ineinander verliebt.« Sie kicherte, dann stieg sie aus dem Bett und winkte Lilia zu sich. »Mädchen können leicht Geheimnisse haben, weil niemand uns die Aufmerksamkeit schenkt, die uns gebührt. Lass uns in die Bibliothek gehen.«
Lilia richtete sich auf, dann hielt sie inne und schloss die Augen, als ihr Kopf sich zu drehen begann. »Die Bibliothek? Warum in die Bibliothek? Warum jetzt?«
»Weil da etwas ist, das ich dir zeigen will, bevor Vater nach Hause kommt. Und ich will noch ein wenig Feuel.«
»Du bewahrst in der Bibliothek Feuel auf?«
»Vater tut es.«
»Dein Vater benutzt Feuel?«
Naki stieß ein freudloses Lachen aus. »Natürlich tut er das.«
Sie führte Lilia aus ihren Räumen heraus, durch Flure und einige Treppen hinab. Lilia fragte sich, wie spät es war. Spät genug, dass keine Diener mehr auf waren, wie es schien.
»Die Familie meines Vaters hat jede Menge schmutziger Angewohnheiten«, sagte Naki. »Bei meinem Onkel waren es Mädchen. Und ich meine damit nicht, dass er Frauen sehr mag. Ich meine, er mag kleine Mädchen. Die Diener wussten es und haben mich, wann immer er zu Besuch kam, von ihm ferngehalten. Vater hat mir nie geglaubt, als ich es ihm erzählte.«
Lilia schauderte. »Das ist ja schrecklich.«
Naki drehte sich um und lächelte, aber ihre Augen waren hart. »Oh, am Ende hat er dafür bezahlt.« Sie wandte sich ab und blieb vor einer Tür stehen. »Da wären wir.«
Sie trat durch die Tür in einen riesigen Raum. Lilia konnte ein Keuchen nicht unterdrücken, als sie all die mit Büchern und Papierrollen vollgestopften Regale sah. Sie hatte schnell gelernt, dass Naki es langweilig fand, wenn man ein zu großes Interesse an Studien bekundete, aber jetzt konnte sie ihre Ehrfurcht und ihr Entzücken nicht vor ihrer Freundin verbergen.
»Ich dachte mir schon, dass es dir gefallen würde.«
Lilia schaute Naki an, die breit grinste, und tat so, als sei es ihr peinlich.
Naki lachte. »Du bist eine schreckliche Schauspielerin. Komm, ich will dir etwas zeigen.«
Sie ging zu einem Beistelltisch mit gläserner Platte. Lilia sah, dass das Glas einen schubladenähnlichen Hohlraum voller sehr alter Bücher, Schriftrollen, Skulpturen und Schmuck bedeckte. Naki strich mit der Hand über die schmale Seite. Ein leises Klicken ertönte.
»Vater hält die Glasfläche sowohl mit Schlüssel als auch mit Magie verschlossen, aber er ist kein so mächtiger Magier, dass er Magie auf den Schutz des ganzen Kastens verschwenden würde«, murmelte Naki. Sie griff hinein, zog ein kleines Buch heraus und reichte es Lilia.
Der Buchdeckel war aus weichem Leder und leicht bröcklig vom Alter, und der Titel war nicht mehr zu erkennen. Lilia schlug den Band auf und war beunruhigt über die brüchige Steifheit der Seiten. Sie fühlten sich an, als würden sie zerfallen, wenn sie versuchte, sie zu bewegen. Die Schrift war verblasst, aber immer noch leserlich, und es war ein alter, förmlicher Schreibstil, der nicht leicht zu entziffern war.
»Was ist das?«
»Ein Buch darüber, wie man Magie benutzt«, antwortete Naki. »Das meiste davon wissen wir bereits. Magier haben in den letzten siebenhundert Jahren eine Menge gelernt.«
»Siebenhundert«, hauchte Lilia. »Es ist erstaunlich, dass es immer noch unversehrt ist.«
»So alt ist es nicht. Dies ist eine Kopie des Originals und wurde mehrmals neu gebunden.« Naki sah Lilia forschend an. »Es findet sich darin eine Art von Magie, die wir nicht kennen. Kannst du erraten, was es ist?«
Lilia dachte nach. »Siebenhundert Jahre? Vor dem Sachakanischen Krieg … Oh!« Sie drehte sich um und starrte ihre Freundin an. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch.« Ein Glitzern ließ Nakis dunkle Augen aufleuchten. »Schwarze Magie.« Sie nahm Lilia das Buch aus der Hand und stellte es zurück unter die Glasplatte. »Ich habe dir doch erzählt, dass die Familie meines Vaters einige dunkle Geheimnisse hat.«
»Sie … sie verstehen sich doch nicht auf schwarze Magie, oder?«
»Nein. Nun, ich glaube nicht, dass sie es tun. Es wäre aber nicht schwer zu verbergen. Schwarzmagierin Sonea beherrschte diese Magie eine Ewigkeit, bevor die Gilde dahinterkam, und sie haben sie nur ertappt, weil der Hohe Lord Akkarin gefangen wurde. Und er wurde nur deshalb gefangen, weil die Sachakaner ihm eine Falle gestellt hatten.« Sie betrachtete den Tisch. »Ich schätze, man könnte es sein Leben lang geheim halten, und niemand würde es wissen … Sieh mal, das hier ist wirklich alt.«
Sie griff unter das Glas und holte einen Ring heraus. Er war aus Gold, und darin war ein blasser Stein eingelassen.
»Meine Großmutter mütterlicherseits hat ihn früher getragen. Er wurde ihr von ihrer Großmutter geschenkt und jahrhundertelang von einer Frau an die nächste weitergegeben. Mutter hat mir erzählt, der Stein sei magischer Natur, und sie wollte mich eines Tages lehren, ihn zu benutzen. Natürlich starb sie, bevor sie die Möglichkeit dazu hatte, und Vater sagte, ich dürfe ihn nicht haben.«
»Was tut er denn angeblich?«
»Sie sagte, er helfe einer Frau, Geheimnisse zu wahren.«
»Dann hat er nicht viel Sinn, es sei denn, du hast ein Geheimnis, das du verbergen willst.«
»Oder jemanden, vor dem du es verbergen willst.«
»Hast du versucht herauszufinden, wie er funktioniert?«
»Natürlich. Deswegen habe ich mir ja die Mühe gemacht, an die Sachen unter dieser Glasplatte heranzukommen. Aber ich habe bisher noch keine Möglichkeit gefunden, auszuprobieren, ob er funktioniert, und das eine Geheimnis, das er bestimmt nicht verbergen wird, ist die Frage, ob er gestohlen wurde oder nicht. Also muss ich ihn jedes Mal zurücklegen.«
»Wie sollte so etwas denn funktionieren?«
»Wer weiß? Ich glaube, es ist einfach eine dumme Geschichte, die meine Mutter mir erzählt hat, um mich zu beschäftigen.« Mit einem schiefen Lächeln legte Naki den Ring zurück und schloss die Seite des Glaskastens, die sie zuvor geöffnet hatte.
»Vielleicht versteht sich dein Vater doch nicht auf schwarze Magie. Schließlich würde er den Ring gewiss tragen, wenn er wirklich hilft, Geheimnisse verborgen zu halten.«
Naki zog die Nase kraus, während sie darüber nachdachte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich denke nicht, dass er auch nur das Risiko eingehen würde, mehr über den Ring in Erfahrung zu bringen. Er ist nicht der Typ, der große Risiken eingeht.«
Lilia nickte zustimmend, überrascht, wie erleichtert sie war, Naki das sagen zu hören.
Ihre Freundin blickte plötzlich auf und grinste. »Lass uns noch etwas von Vaters Feuel stehlen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte sie auf die andere Seite des Raums, und Lilia folgte ihr.
Wann immer sich die Höheren Magier in der Gildehalle trafen, ohne dass der Rest der Gilde zugegen war, hallten ihre Stimmen auf eine Art wider, die Sonea stets beunruhigend fand. Sie betrachtete die beiden in die Höhe gestaffelten Doppelreihen von Sitzplätzen, die die Längswände der Halle säumten. Dazwischen befand sich ein langer, leerer Raum, der nur bei wenigen Gelegenheiten jedes Jahr besetzt war, wenn Novizen an Zeremonien teilnehmen durften.
Zwei große Türen befanden sich Sonea gegenüber am anderen Ende der Halle. Sie hatten ursprünglich nach draußen geführt, waren aber dennoch nach über sechshundert Jahren noch stabil und solide. Erst als man um die alte Halle herum die Universität gebaut hatte, waren sie zu Innentüren geworden und hatten nicht mehr den Unbilden der Witterung trotzen müssen.
Die Sitzplätze Soneas und der anderen Höheren Magier waren ihrem Rang nach in steilen Stufen angeordnet und über schmale Treppen erreichbar. Dieser Aufbau bot ihnen allen nicht nur einen guten Blick auf die Halle, er verdeutlichte auch die Hierarchie der Macht unter den Magiern. Die obersten Sitze waren für den König und dessen Ratgeber bestimmt. Die Reihe darunter bot dem Oberhaupt der Gilde Platz, dem Hohen Lord, dessen Sitz flankiert wurde von den beiden jüngsten Stühlen – denen der Schwarzmagier.
Ich habe mich nie wohlgefühlt mit der Entscheidung, uns hier oben unterzubringen, ging es Sonea durch den Kopf. Obwohl sie und Kallen das Potenzial hatten, stärker zu werden als jeder andere Magier in der Gilde, besaßen sie weder größere Macht noch größeren Einfluss als die anderen Höheren Magier. Es war ihnen verboten, schwarze Magie zu benutzen, es sei denn, man befahl es ihnen, und im Gegensatz zu gewöhnlichen Magiern war ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
Vielleicht haben sie uns als Entschädigung dafür hier oben hingesetzt. Aber ich habe den Verdacht, der Hauptgrund bestand darin, dass sie keine größeren baulichen Veränderungen an der Stirnseite der Halle vornehmen wollten. Dort ist einfach kein Platz für zwei weitere Magier unter uns.
Als Administrator Osens Stimme erklang, um das Wort an sie alle zu richten, konzentrierte sie sich schnell wieder auf die Versammlung.
»Diejenigen, die dafür sind, Lorandras Kräfte zu blockieren, heben bitte die Hand.«
Sonea hob die ihre. Sie zählte die erhobenen Hände um sie herum und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass die meisten der Höheren Magier den Vorschlag guthießen.
»Das Votum ist eindeutig; Lorandras Kräfte werden blockiert.« Osen blickte zu Kallen auf. »Schwarzmagier Kallen wird die Blockade einrichten.«
Einige Magier schauten zu Sonea herüber, und sie verkniff sich ein grimmiges Lächeln. Es bestand kein Grund, warum ein Schwarzmagier eine Blockade einrichten sollte, aber es war zu einer der Pflichten geworden, die zu erfüllen man von ihr und Kallen erwartete. Ich denke, alle nehmen an, es sei einfacher für uns, da wir die natürliche Neigung eines Geistes, einen unwillkommenen Besucher hinauszudrängen, leichter überwinden können. Vielleicht stimmt das; ich musste es niemals tun, bevor ich schwarze Magie erlernt habe, daher fehlt mir der Vergleich.
Es war niemals eine angenehme Aufgabe, die Kräfte eines widerstrebenden Magiers zu blockieren, aber sie hätte sich dazu gezwungen, es zu tun, wenn sie auf diese Weise die Gelegenheit bekommen hätte, Lorandras Gedanken zu lesen. Als Administrator Osen gefragt hatte, ob sie es tun würde, hatte sie ablehnen müssen. Wenn sie Lorandra mit dem Versprechen bestechen wollte, ihre Kräfte wieder freizusetzen, könnte die Absicht, dieses Versprechen nicht einzuhalten, schwach wahrnehmbar sein und die Frau warnen, dass sie Sonea nicht trauen konnte. Als sie Osen den Grund für ihre Weigerung erklärt hatte, hatte sie sich jedoch nicht so klar ausgedrückt. Sie hatte lediglich gesagt, dass sie Lorandra nicht noch mehr Grund geben wolle, ihre Mitarbeit bei der Suche nach Skellin zu verweigern.
Sonea wollte Lorandra nicht täuschen, aber die Suche nach dem wilden Magier war in eine Sackgasse geraten. Sie hatten Regins Hilfe verloren. Cery verwandte ebenso große Anstrengungen darauf, sich außer Reichweite von Skellins Leuten und Verbündeten zu halten, wie auf den Versuch herauszufinden, wo sein Widersacher sich aufhielt. Anyi auszuschicken, damit sie für Cery spionierte, oder Dorriens Familie nach Imardin zu schleppen, damit er sein Leben aufs Spiel setzen konnte, um ihr zu helfen, erschien ihr weitaus schlimmer, als eine Frau zu belügen, die den Gesetzen der Gilde getrotzt, Diebe ermordet und Feuel importiert hatte, in der Hoffnung, ihren Sohn zum König der Unterwelt zu machen.
Ich gestehe, dass ich es nicht eilig hatte, diesen Betrug einzufädeln, obwohl ich darauf gebrannt habe, dass die Gilde aufhört zu zaudern und die offensichtliche Entscheidung trifft. Solange Lorandras Kräfte noch nicht blockiert waren, hatte ich nichts, womit ich sie hätte bestechen können. Aber jetzt … Sie seufzte … Jetzt kann ich es nicht mehr sehr lange hinausschieben.
Osen erklärte die Versammlung für beendet, und in der Halle waren jetzt die Geräusche von Stiefeln auf hölzernen Stufen, Stimmen und das Rascheln von Roben zu hören. Rothen wartete darauf, dass Sonea auf die Ebene der Studienleiter herunterkam, und schloss sich ihr an.
»Wie sich herausstellt, ist Dorrien, wenn es darum geht, Klatsch und Tratsch zu sammeln, genauso gut, wie er behauptet«, murmelte er.
Als sie unten angelangt waren, entfernten sie sich ein wenig von den übrigen Magiern.
»Was hat er gesagt?«, wollte Sonea wissen.
»Dass zwischen Lord Regin und seiner Frau Streit herrsche.«
»Wie erhellend«, bemerkte Sonea trocken. »Hat er herausgefunden, worum es bei dem Streit geht?«
Rothen öffnete den Mund, doch als er Lady Vinara auf sie zukommen sah, schloss er ihn wieder und schüttelte den Kopf.
»Lady Vinara«, sagte Sonea, als die Frau sie erreichte, und Rothen wiederholte den Gruß.
»Schwarzmagierin Sonea, Lord Rothen«, sagte die ältere Heilerin und nickte ihnen zu. »Ihr müsst Euch schon sehr darauf freuen, dass Lord Dorrien und seine Familie früher als geplant nach Imardin kommen werden.«
Sonea sah Rothen an, der ihren fragenden Blick mit einem ebensolchen beantwortete.
»Also hat er jetzt endgültige Vorkehrungen getroffen?«, erkundigte sich Rothen, in dessen Stimme resignierte Erheiterung mitschwang.
Vinara lächelte mitfühlend. »Ja. Er hat ein Datum festgesetzt, so dass ich ihm Arbeit im Heilerquartier zuweisen kann.« Sie wandte sich an Sonea. »Er will in den Hospitälern arbeiten, aber ich hielt es für klug, ihn an einem Ort einzusetzen, wo ich mir einen Überblick verschaffen kann, wie weit er in Bezug auf die jüngsten Fortschritte der Heilkunst auf dem Laufenden ist, bevor ich ihn auf die Stadt loslasse.«
Sonea nickte. »Ich stimme Euch zu. Vielen Dank«, erwiderte sie mit von Herzen kommender Dankbarkeit. Sie war niemals in der Position gewesen, Dorrien Anweisungen erteilen zu müssen, und sie hatte den Verdacht, dass er schwieriger zu leiten sein würde als jeder andere Heiler. Als ältere, ranghöhere Heilerin, die einst seine Lehrerin gewesen war – statt einer jüngeren Frau, die er als Novizin kennengelernt hatte –, würde Vinara keine Schwierigkeiten haben, Dorrien irgendwelche schlechten Angewohnheiten auszutreiben, die er sich vielleicht zugelegt hatte.
Vinara nickte und ging weiter. Sonea drehte sich zu Rothen um und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er breitete die Arme aus und riss die Augen auf.
»Sieh mich nicht so an! Ich wusste es nicht!« Er schüttelte verärgert den Kopf. »Wenn er es uns vor seiner Abreise erzählt hätte, hätten wir uns beide zusammengetan, um ihm das Versprechen abzunehmen, nicht zur Gilde zurückzukehren, und das wusste er.«
Sonea zuckte die Achseln. »Hast du etwas dagegen, wenn er mit mir zusammenarbeitet? Nur weil er früher nach Imardin zurückkommt, bedeutet das nicht, dass ich ihn in die Suche mit einbeziehen muss.«
Rothen zog die Augenbrauen hoch. »Ich bezweifle, dass es dir gelingen wird, ihn davon abzuhalten.«
Sie lächelte schief. »Sobald er erst im Hospital arbeitet, wird mir das bestimmt nicht gelingen. Es tut mir leid, Rothen. Ich werde tun, was ich kann, um seine Sicherheit zu gewährleisten.«
»Warum entschuldigst du dich bei mir?«
»Weil ich deinen Sohn in eine gefährliche Suche nach einem wilden Magier verwickelt habe.«
»Du hast nichts getan, um ihn zu ermutigen«, bemerkte er. »Stattdessen sollte ich mich dafür entschuldigen, meinen Sohn zu einem so halsstarrigen, hartnäckigen Mann erzogen zu haben.«
Sonea lachte bitter. »Ich denke, keinen von uns trifft eine Schuld daran, wie unsere Söhne sich entwickelt haben, Rothen. Manche Dinge haben Eltern einfach nicht in der Hand.«
Die Aufzeichnungen, die Dannyl auf dem Markt gekauft hatte, waren ihm ein kleines Vermögen wert gewesen. Der Verkäufer hatte ihm erst nicht verraten wollen, woher sie kamen, aber als Dannyl angedeutet hatte, dass er versessen darauf sei, weitere zu kaufen, hatte der Mann zugegeben, dass sie von einem Gut am Rande des Ödlands stammten, das wie so viele andere wegen des Vorrückens von Staub und Sand verarmt war.
Dannyl hatte daraufhin eine Mischung aus Schuldgefühlen und Erregung verspürt. Wenn andere Güter ihre Habe verkauften, um zu überleben, würden vielleicht noch weitere alte Aufzeichnungen auf den Markt kommen. Die austrocknende Wirkung des Ödlands hatte außerdem dazu geführt, dass die Bücher und Schriftrollen in einem guten Zustand waren.
Wenig überraschend hatten die Bücher, die Dannyl erworben hatte, häufig das Ödland zum Gegenstand.
Habe Ashaki Tachika besucht. Er hat mich auf seinem Gut herumgeführt, damit ich mir den Schaden ansehen konnte. Alles innerhalb des Gebietes war verbrannt. Nicht einmal Tierknochen waren übrig, um uns an das Sterben hier zu erinnern. Wo es endete, war schwer auszumachen, da der Wind Asche auf das unverbrannte Land geweht und sich in den Wochen seit der Explosion auf den verbrannten Flächen wieder Pflanzenwuchs gezeigt hat. Die Luft roch nach Rauch und unbeantworteten Fragen. Habe zwanzig Goldmünzen für fünf Reber einschließlich eines jungen Bocks zugestimmt.
Die Aufzeichnungen, die Dannyl sich als erste vorgenommen hatte, waren in einem knappen Stil geschrieben, aber ab und zu glitt der Autor vom strengen, sachlichen Bericht in eine blumige Beschreibung ab. Dannyl faszinierten die Hinweise auf Pflanzen, die so kurz nach der Schaffung des Ödlands dort gewachsen waren. Er fragte sich von neuem, warum das Land sich nicht erholt hatte. Hatten diese Pflanzen für eine Weile gekämpft und dann aufgegeben?
Dannyl verbrachte Stunden damit, das Dokument zu überfliegen, bevor er wieder auf etwas Interessantes stieß. Als das geschah, überprüfte er die Daten und war überrascht. Fast zwanzig Jahre waren verstrichen, bevor der Verfasser wieder auf das Ödland zu sprechen kam.
Ashaki Tachika hat sein Gut verkauft und ist nach Arvice gezogen. Er sagt, er werde tot sein, bis das verwüstete Land sich erholt, und er mache sich Sorgen, dass das Land nie wieder Ernten tragen werde. Es ist ein Jammer. Er hatte zu Anfang solchen Erfolg, aber in letzter Zeit haben viele Güter den gleichen Rückschlag erlebt. Warum das so ist, ist ein Rätsel.
Danach wurde das Ödland häufiger erwähnt. Dannyl griff nach dem letzten Band dieser Aufzeichnungen und traf bald auf das, was er zu ahnen begonnen hatte.
Das Ödland hat die Grenzen überschritten. Die Sklaven haben es Kova gemeldet, und als er mir davon erzählte, bin ich hinausgeritten, um es mir selbst anzusehen. Es hat mehr als dreißig Jahre gebraucht, um meinen Besitz zu berühren, obwohl der Staub ihm seit dem Tag nach der großen Explosion vorangegangen ist.
Ashaki Tachikas Land ist verloren. Wird mein Land und das von Valicha in den nächsten dreißig Jahren sterben? Wird mein Sohn ein dem Untergang geweihtes Gut erben? Trotz allem, was die Ashaki sagen, um es zu leugnen, offenbart ihre Zurückweisung der Heiratsanträge, die mein Sohn ihren Töchtern gemacht hat, ihre Lüge. Vielleicht wird es besser sein, wenn es keinen Enkelsohn gibt, der unsere Probleme erbt.
Nicht lange nach dem Eintrag veränderte sich die Handschrift. Der Sohn berichtete vom Tod seines Vaters und setzte die Gewohnheit des alten Mannes fort, kurze Einträge hinzuzufügen, bei denen es hauptsächlich um Handelsverträge ging. Dannyls Herz war schwer vor Mitgefühl für die Familie, selbst nachdem er sich ins Gedächtnis gerufen hatte, dass sie Schwarzmagier und Sklavenbesitzer gewesen waren. In der Welt, die sie kannten und verstanden, glitten sie Armut und Untergang entgegen.
Dannyl betrachtete seine Notizen und blätterte zum Anfang zurück. Die Aufzeichnungen hatten wenige Jahre nach der Besetzung durch Kyralia begonnen. Der ursprüngliche Verfasser war jung gewesen und hatte vielleicht von einem Ashaki geerbt, der im Krieg gestorben war. Er schrieb wenig über die kyralischen Herrscher. An dem Tag, an dem das Ödland geschaffen wurde, berichtete er von einem hellen Licht, das durch sein Fenster fiel, und später erwähnte er, dass es drei Tage gedauert habe, bis die Sklaven, die von dem Licht geblendet worden waren, sich weit genug erholt hatten, um die Arbeit wieder aufzunehmen.
Er stellte keine Spekulationen über die Ursache des Lichts oder die Zerstörung an. Vielleicht war er auf der Hut, Anklagen oder Unzufriedenheit gegenüber Kyraliern schriftlich festzuhalten.
Ein letztes Buch blieb noch von dem Stapel, den er gekauft hatte. Es war ein kleines, zerlumptes Ding, und Sandkörner hatten ihren Weg in jede Falte und jeden Riss gefunden, was die Vermutung nahelegte, dass es einst vergraben gewesen war. Als er es aufschlug, sah er, dass die Schrift so verblasst war, dass man sie kaum noch lesen konnte.
Darauf war er gut vorbereitet. Bibliothekare in der Großen Bibliothek in Elyne hatten Methoden entwickelt, um alte Texte wieder leserlich zu machen. Einige Verfahren zerstörten das Buch, während andere sanfter waren und die Tinte für eine kurze Zeit wiederbeleben konnten. Wie effektiv sie waren, hing von der Art des Papiers und der Tinte ab. In beiden Fällen konnte man, falls die Seiten eine nach der anderen behandelt wurden, eine Kopie anfertigen, bevor sie zerfielen oder verblassten.
Er nahm Krüge mit Lösungen und Pulvern aus einem Kasten auf seinem Schreibtisch und machte sich an die Arbeit, indem er sie an den Ecken einiger Seiten ausprobierte. Zu seiner Erleichterung verstärkte eine der weniger zerstörerischen Methoden die Tinte hinreichend, um die winzige Schrift für eine Weile gerade noch leserlich zu machen. Er nahm sich die erste Seite vor, und als die Worte klar wurden, begann sein Herz ein wenig schneller zu schlagen.
Es handelte sich um das Notizbuch der Frau eines Ashaki. Obwohl sie jede Seite mit einer größeren Überschrift begann, die nahelegte, dass der folgende Text sich um irgendeine häusliche oder kosmetische Angelegenheit drehte, wechselte der Text, der folgte, schnell zu politischen Themen. Auf »Salbe für trockenes Haar und Kopfhaut« folgte eine vernichtende Einschätzung des Cousins des Kaisers.
»Kaiser«? Dannyl runzelte die Stirn. Wenn es einen Kaiser gegeben hat, dann ist dies vor dem Sachakanischen Krieg geschrieben worden.
Er las weiter und behandelte vorsichtig jede Seite mit der Lösung, während er ungeduldig beobachtete, wie die Worte erschienen. Schon bald begriff er, dass er sich irrte. Die Frau nannte den besiegten Kaiser noch immer bei seinem Titel, weil sie keine Alternative hatte und die Sachakaner den Ausdruck »König« für ihren Herrscher noch nicht angenommen hatten.
Was bedeutet, dass dieses Tagebuch einige Zeit nach dem Krieg,aber dann innerhalb von zwanzig Jahren geschrieben wurde.
Die Schreiberin hatte ihre Eintragungen leider nicht datiert. Sie bezog sich auf Personen niemals mit Namen, sondern benutzte dazu deren körperliche Besonderheiten.
Nützliche Kuren für weibliche Zeiten
Einmal im Monat bringt ein Zyklus von Ereignissen viele Unbilden. In der Zeit davor herrschen häufig große Furcht, schlechte Laune und Blähsucht, und wenn es dann so weit ist, kann das eine Erleichterung sein, obwohl es immer kräftezehrend bleibt. Die Herausforderung besteht darin, nichts davon nach außen dringen zu lassen. Die Sorglosen werden mit Lecks zu kämpfen haben – und es oft erst merken, wenn es zu spät ist. Wie sonst finde ich heraus, was die Bleichen planen? Sie vertrauen den Sklaven, weil sie denken, sie seien dankbar für ihre Freiheit. Es ist nicht schwer, die Sklaven zum Reden zu bringen. Der verrückte Kaiser weiß es. Das ist der Grund, warum er den Sklaven des Verräters für sich selbst gefordert hat. Es ist besser, ihn stets im Auge zu behalten. Nimm den Besitz des Helden, und du ersetzt den Helden in den Augen der Sklaven. Der verrückte Kaiser wollte, dass die Bleichen unsere Kinder nehmen und sie von ihren eigenen Leuten großziehen lassen. Damit unsere Kleinen uns später hassen. Aber der Freundliche sprach sich gegen den Plan aus, und die anderen unterstützten ihn. Ich wette, sie bereuen es, den Verrückten zu ihrem Anführer gemacht zu haben.
Während Dannyl darauf wartete, dass eine weitere Seite auf die Behandlung reagierte, dachte er über den letzten Absatz nach, den er gelesen hatte. Die Frau hatte viele Male auf den »verrückten Kaiser« Bezug genommen. Er glaubte nicht, dass der Mann ein echter Kaiser gewesen war, nur ein Anführer. Wenn die »Bleichen« Kyralier waren, dann war dieser Magier, der sie angeführt hatte, Lord Narvelan. Dannyl war fasziniert von dieser Andeutung, dass Narvelan einen Sklaven übernommen hatte. Den Sklaven des »Verräters«, der außerdem ein Held war. Er betrachtete blinzelnd den sich langsam verdunkelnden Text.
Das richtige Benehmen Besuchern gegenüber
Zuerst erweist man dem Ashaki Respekt, dann dem Magier, dann dem freien Mann. Männern vor Frauen. Älteren vor Jüngeren. Diebstahl ist eine große Missetat, und heute wurden unsere bleichen Besucher von einem der ihren beraubt. Von ihrem eigenen verrückten Kaiser. Er nahm die Waffe von unseren Kehlen und lief davon. Viele der Bleichen haben Jagd auf ihn gemacht. Es ist eine große Chance. Ich bin wütend und traurig. Meine Landsleute sind zu eingeschüchtert, um auch nur den Vorteil zu nutzen, den sie haben. Sie sagen, der verrückte Kaiser könnte mit dem Messer zurückkehren und uns bestrafen. Sie sind Feiglinge.
Aufgrund der Tatsache, dass die säuberlichen Buchstaben jetzt einem Gekritzel wichen, vermutete er, dass es mitten in der Eintragung einen Zeitsprung gab und dass der letzte Teil hastig oder in Wut hinzugefügt worden war. Der Hinweis auf eine Waffe war nicht neu – die Verfasserin hatte sie bereits als einen Grund dafür bezeichnet, dass die Sachakaner Angst davor hatten, sich gegen die Kyralier zu erheben. Aber jetzt hatte Narvelan diese Waffe gestohlen. Warum?
Wie man auf die Neuigkeit vom Tod eines Rivalen reagiert
Unsere Freiheit ist unvermeidlich und kommt von den Händen eines Narren! Eine große magische Explosion hat das Land im Nordwesten verbrannt. Solche Macht kann nur von dem Lagerstein gekommen sein. Kein anderes Artefakt und kein anderer Magier sind so mächtig. Es ist klar, dass der verrückte Kaiser versucht hat, ihn zu benutzen, als seine Leute ihn zur Rede stellten, aber dann hat er die Kontrolle über den Lagerstein verloren. Wir sind sie beide los! Viele der Bleichen sind gestorben, also sind noch weit weniger hier, um uns zu beherrschen. Es wird befürchtet, dass sie eine weitere Waffe haben. Aber wenn sie sie nicht hierherbringen, wird mein Volk sich aus seiner Feigheit erheben und sein eigenes Land zurückholen. Das Land, das durch den Lagerstein verbrannt wurde, wird sich erholen. Wir werden wieder stark sein.
Ein Schauer überlief Dannyl. In ihrer Aufregung hatte die Tagebuchschreiberin die Waffe bei ihrem wahren Namen genannt: der Lagerstein. Wenn sie also recht hatte, hatte Narvelan den Stein genommen. Er hatte versucht, ihn zu benutzen, die Kontrolle verloren und das Ödland geschaffen.
Es ergibt alles einen Sinn, wenn man es so zusammenfügt. Nur dass es keinen offenkundigen Grund gibt, warum Narvelan den Lagerstein gestohlen haben sollte. Vielleicht brauchte er keinen guten Grund, wenn er wirklich so wahnsinnig war, wie es die Unterlagen behaupten.
Plötzlich brach die Bindung, und mehrere Seiten fielen heraus. Als Dannyl noch einmal auf die erste Seite blickte, sah er, dass die Schrift bereits wieder verblasste. Er zog mehrere Bögen Papier heraus und füllte die Tinte im Fass nach. Dann rief er nach einem Sklaven, der ihm Sumi und etwas zu essen bringen sollte.
Ich werde das Buch jetzt abschreiben, beschloss er. Selbst wenn es mich die ganze Nacht kostet.
Lilia zögerte und musterte den massigen, strengen Mann in der Tür. Obwohl er sich verbeugt hatte, war diese Verbeugung nur eine Geste gewesen. Etwas an ihm verursachte ihr Unbehagen. Der Mann runzelte die Stirn, als sie nicht hinter Naki herging. Sein Blick wanderte zu der Straße hinter ihr, auf der Suche nach irgendetwas. Dann öffnete er den Mund.
»Kommt Ihr nun herein oder nicht?«
Die Stimme war überraschend hoch und mädchenhaft, und für einen Moment kämpfte Lilia gegen den Drang zu kichern. Ihre Nervosität verschwand, und sie schob sich an ihm vorbei in den schummrigen Flur.
Es war kein besonders großer Flur: Er bot lediglich genug Platz für den Wachposten, der dort stand, und die Leute, die an ihm vorbei zur Treppe gingen. Naki stieg ins nächste Stockwerk hinauf. Hinter den Wänden erklangen seltsame, gedämpfte Geräusche, und die Luft roch nach einer Mischung von Fremdartigem und Vertrautem. Wieder regte sich in Lilia ein leichtes Gefühl der Furcht.
Sie hatte erraten, was für ein Haus dies war. Sie hatte aus Nakis rätselhaftem Verhalten – ihre Freundin hatte sich geweigert zu sagen, wo sie hingingen – geschlossen, dass sie wohl kaum auf dem Weg zu einer konventionellen Abendunterhaltung waren. Obwohl es Novizen nicht verboten war, diese Häuser zu betreten, erwartete man dennoch von ihnen, dass sie sie nicht besuchten.
Sie wurden Glühhäuser genannt. Oder Lusthäuser. Als die beiden Mädchen oben an der Treppe angelangten, verneigte sich eine Frau in einem teuren, aber ziemlich geschmacklosen Kleid und fragte, was sie wünschten.
»Einen Glühraum«, antwortete Naki. »Und etwas Wein.«
Die Frau bedeutete ihnen, ihr zu folgen, und ging den Flur entlang.
»Ich habe Euch eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Novizin Naki«, erklang eine männliche Stimme hinter Lilia.
Naki blieb stehen. Lilia bemerkte, dass keine Spur von Begeisterung in Nakis Zügen lag, als sie sich umdrehte. Das Lächeln ihrer Freundin war gezwungen.
»Kelin«, sagte sie. »Es ist wirklich zu viel Zeit vergangen. Was machen die Geschäfte?«
Als Lilia sich umwandte, sah sie einen relativ kleinen, untersetzten Mann, der stark schielte. Er öffnete die Lippen, und schiefe Zähne blitzten auf. Falls es ein Lächeln war, hatte es nichts Freundliches.
»Die Geschäfte laufen sehr gut«, antwortete er. »Ich würde Euch ja hereinbitten«, sein Blick flackerte zu Lilia, »aber wie ich sehe, habt Ihr eine bessere Gesellschaft, um Euch ein wenig Ablenkung zu verschaffen.«
»In der Tat.« Naki trat vor und hakte sich bei Lilia unter. »Aber vielen Dank, dass Ihr daran gedacht habt«, rief sie über die Schulter, während sie einen Schritt vorwärtsmachte und Lilia hinter der Dienerin herschob.
Sie wurden nach oben geführt, in einen kleinen Raum mit einem großzügigen Zweiersofa und einem winzigen Kamin, vor dem auf den Kacheln ein Kohlebecken stand. Ein schmales Fenster ließ eine Mischung aus Mond- und Lampenlicht herein, und die kleinen, beschirmten Lampen, die zu beiden Seiten des Kamins hingen, waren kaum heller. Es roch nach würzigem Rauch und etwas schwach Säuerlichem.
»Winzig, aber behaglich und privat«, sagte Naki und deutete auf den Raum.
»Wer war dieser Mann?«, fragte Lilia, als sie sich auf dem Sofa niederließen.
Naki rümpfte die Nase. »Ein Freund der Familie. Er hat meinem Vater einmal einen Gefallen getan, und jetzt benimmt er sich, als sei er ein Verwandter.« Sie zuckte die Achseln. »Aber er ist ganz in Ordnung, wenn man erst einmal versteht, was ihm wichtig ist.« Sie drehte sich zu Lilia um. »Das ist das Geheimnis im Umgang mit Menschen: zu wissen, was ihnen wichtig ist.«
»Was ist dir wichtig?«, fragte Lilia.
Ihre Freundin neigte den Kopf zur Seite, während sie nachdachte. Das Lampenlicht ließ ihr Profil sanft leuchten. Sie sieht nachts am besten aus, ging es Lilia durch den Kopf. Es ist ihre natürliche Tageszeit.
»Freundschaft«, antwortete Naki. »Vertrauen. Treue.« Sie beugte sich näher heran, und ihr Lächeln wurde breiter. »Liebe.« Lilia stockte der Atem, aber ihre Freundin rückte wieder von ihr ab. »Und dir?«
Lilia atmete tief ein, dann aus, aber ihr drehte sich der Kopf. Und wir haben mit dem Feuel noch nicht einmal angefangen. »Das Gleiche«, sagte sie, voller Angst, dass sie zu lange für ihre Antwort brauchte. Liebe? Sollte das möglich sein? Liebe ich Naki? Es macht mir auf jeden Fall mehr Spaß, mit ihr zusammen zu sein, als mit anderen, und sie hat etwas gleichzeitig Erregendes und leicht Beängstigendes an sich.
Naki erwiderte nichts, sondern starrte sie nur eindringlich an. Dann kam von der Tür ein Klopfen. Naki wandte den Blick ab und öffnete sie mit Magie. In Lilia wetteiferte Erleichterung mit Enttäuschung, als die Dienerin ein Tablett mit einer Flasche Wein, Kelchen und einer kunstvollen Schachtel hereintrug.
»Ah!«, sagte Naki eifrig und ohne auf die Verbeugung und den anschließenden Rückzug der Dienerin zu achten. Sie griff nach der Schachtel und warf eine Handvoll des Inhalts in das Kohlebecken. Eine Flamme loderte zwischen den Kohlen empor, zweifellos angefacht von Nakis Magie, und Rauch stieg in der Luft auf.
Lilia machte sich daran, die Weinflasche zu öffnen und die Kelche zu füllen. Als Naki zum Sofa zurückkehrte, reichte sie ihr ein Glas. Naki hob es.
»Worauf trinken wir?«, fragte sie. »Nun, natürlich auf Vertrauen, Treue und Liebe.«
»Vertrauen, Treue und Liebe«, wiederholte Lilia, dann nippten sie beide an ihrem Wein.
Ein behagliches Schweigen senkte sich herab. Der Rauch vom Kohlebecken wehte durch den Raum. Naki beugte sich vor und atmete tief ein. Kichernd tat Lilia es ihr nach und hatte dabei das Gefühl, als seien ihre Gedanken verkrampfte Muskeln, die sich langsam lockerten und dehnten. Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und seufzte.
»Danke«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung.
Naki drehte sich um und lächelte. »Dir gefällt es hier? Das dachte ich mir.«
Lilia sah sich um und zuckte die Achseln. »Es ist in Ordnung. Ich habe dir dafür gedankt, dass du … dass du … mir gezeigt hast, wie man sich entspannt, wie man Spaß hat, und … einfach dafür, dass man mit dir so gut zusammen sein kann.«
Nakis Lächeln verblasste und wurde durch einen nachdenklichen Ausdruck verdrängt. Dann erschien ein vertrautes, schelmisches Leuchten in ihren Augen, und Lilia wappnete sich. Wann immer dieser Ausdruck in die Züge ihrer Freundin trat, war das, was folgte, wahrscheinlich überraschend und mehr als nur etwas herausfordernd.
Diesmal beugte Naki sich vor und begann Lilia schnell, aber entschieden zu küssen.
Mit warmen, kribbelnden Lippen starrte Lilia ihre Freundin mit Erstaunen und, wie ihr nur allzu bewusst war, mit Hoffnung an. Ihr Herz raste. Ihr Kopf drehte sich. Das war gewiss überraschend, dachte sie. Aber wie alles, was Naki tat, doch nicht so herausfordernd, wie es zunächst zu sein schien.
Langsam und bedächtig küsste Naki sie noch einmal. Eine Woge von Gefühlen und Gedanken durchströmte Lilia, allesamt angenehm und nichts, was sich mit dem Feuel-Rauch oder dem Wein wegerklären ließe. Der Wein … Sie hielt noch immer den Kelch in der Hand und wollte ihn loswerden. Ich glaube … Naki schlang einen Arm um ihre Taille, und sie wollte die Hand nach ihrer Freundin ausstrecken. Sie beugte sich zur Seite und versuchte, den Kelch auf den Boden zu stellen. Ich glaube, ich habe mich verliebt.
Sie musste das Glas auf eine unebene Stelle gesetzt haben, da sie ein Klirren hörte und ein Schwappen, als es umkippte.
Oh-oh, dachte sie. Aber obwohl sie keinen Laut von sich gab, hörte sie eine schwache Stimme, die es für sie tat. Eine Stimme, die aus der Richtung des Kamins kam.
Das ist seltsam.
Sie konnte sich nicht bezähmen. Sie neigte den Kopf zur Seite und blickte zum Kamin hinüber. Irgendwo darin flackerte etwas. Als sie genauer hinsah, gewann sie den überaus seltsamen Eindruck, dass irgendetwas sie anblinzelte.
Jemand beobachtet uns.
Ein kalter Schauer überlief sie, und sie schob Naki ein wenig von sich.
»Was ist los?«, fragte Naki, deren Stimme jetzt noch tiefer und kehliger klang als gewöhnlich.
»Ich habe gesehen …« Lilia schüttelte den Kopf und riss den Blick von dem Kamin los, der jetzt dunkel und gewöhnlich wirkte. Dann schaute sie Naki an. »Ich … ich glaube doch nicht, dass es mir hier gefällt. Es scheint mir nicht sehr … privat zu sein.«
Naki suchte ihren Blick, dann lächelte sie. »Kein Problem. Lass uns den Wein austrinken und von hier verschwinden.«
»Ich habe meinen verschüttet …«
»Keine Bange.« Naki beugte sich vor und hob den Kelch auf. »Sie sind hier an kleine Missgeschicke gewöhnt, obwohl sie im Allgemeinen erst dann geschehen, wenn die Kunden ein wenig berauschter sind als wir.« Sie füllte den Kelch wieder auf, dann hielt sie ihn Lilia lächelnd hin. »Auf die Liebe.«
Lilia erwiderte das Lächeln, und das überschäumende, von Jubel erfüllte Gefühl kehrte zurück, während ihr vorheriges Unbehagen verblasste.
»Auf die Liebe.«
Das kleine Mädchen auf der Bettkante hustete heftig und hielt nur inne, um keuchend Luft zu holen. Lorkin gab ihrer Mutter, einer Magierin, von der er wusste, dass sie zu Kalias Gruppe gehörte, mit Heilmittel versetzte Süßigkeiten und Kalias Anweisungen, während das kleine Mädchen zu ihm aufblickte. Er sah in ihren Augen ein Mitleid, das ganz anders war als das Mitgefühl, das er für sie empfand. Sie bemitleidet mich? Warum sollte sie mich bemitleiden?
Die Mutter nickte, ergriff die Hand ihrer Tochter und zog sich zurück. Er beobachtete, wie sie zu Kalia hinüberging. Obwohl es schon früher bei anderen Patienten geschehen war, wurde ihm trotzdem flau im Magen.
Kalia war beschäftigt, und er wollte nicht zusehen, wie die Frau das, was er ihr gesagt hatte, überprüfte. Er ging zum nächsten Patienten weiter, einer alten Frau mit dunklen Ringen unter den Augen und einem besorgniserregenden, heftigen Husten. Jetzt, da sich das Kältefieber in der Stadt verbreitet hatte, herrschte in der Krankenstation Tag und Nacht Betrieb, und Kalia war gezwungen gewesen, ihn in die Behandlung mit einzubeziehen. Die meisten Verräterinnen akzeptierten das ohne Fragen, aber ab und zu konnte sich jemand nicht überwinden, ihm zu vertrauen – oder er tat, als vertraue er ihm nicht, um ihm eins auszuwischen.
»Wie oft muss ich es dir denn noch sagen?«, fragte Kalia laut. Der Blick der alten Frau flackerte in ihre Richtung, dann wandte sie sich wieder Lorkin zu.
»Sie meint dich«, murmelte sie.
Lorkin nickte. »Danke.« Er richtete sich auf, und als er sich umdrehte, kam Kalia mit langen Schritten auf ihn zu. Mit einer Hand hielt sie etwas umfasst, und sie schwenkte es in seine Richtung. Die Mutter und die Tochter kamen langsam hinter ihr her.
»Nicht mehr als vier am Tag, habe ich dir gesagt!«, erklärte sie. »Willst du dieses Kind vergiften?«
Lorkin blickte auf das Mädchen hinab, das breit grinste, sichtlich aufgeregt über die Szene, deren Teil sie war.
»Natürlich nicht«, erwiderte er. »Wer könnte einem so hübschen Kind jemals etwas Böses wollen?« Das Lächeln des Mädchens wurde unsicher. Er vermutete, dass ihr die Schmeichelei gefiel, dass sie jedoch wusste, dass ihre Mutter es missbilligen würde, wenn sie auf eine freundliche Weise reagierte. Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, schaute sie zu ihrer Mutter auf. Die runzelte die Stirn und musterte ihn argwöhnisch. »Ich habe mich schon gefragt, warum du mir aufgetragen hast, ihr mehr Süßigkeiten zu geben als den anderen Kindern«, fügte er hinzu – er konnte der Versuchung nicht widerstehen, darauf hinzuweisen, dass Kalia ihre Freunde mit einem größeren Anteil an den begrenzten Vorräten von Heilmitteln begünstigte.
»Ich habe dir nicht gesagt, dass du ihr sechs geben sollst!« Kalias Stimme wurde höher.
»Doch, genau das hast du getan«, erklang eine heisere Stimme.
Verblüfft über die neue Stimme drehte Lorkin sich um und sah die alte Frau an, die Kalias Blick standhielt, ohne mit der Wimper zu zucken. Eine kleine Woge der Hoffnung stieg in ihm auf. Doch wenn Kalia sich ertappt fühlte, wusste sie es gut zu verbergen. Sie schaute drein, als denke sie in aller Bescheidenheit an ihre Anweisungen zurück, aber in ihren Augen lag ein dunkler, berechnender Ausdruck.
Wer immer die alte Frau war, sie hatte Einfluss genug, dass Kalia nicht zu behaupten wagte, sie sei schwerhörig oder habe sich geirrt. Lorkin kam zu dem Schluss, dass er herausfinden musste, wer dieser unerwartete Verbündete war, sobald er dazu Zeit fand.
»Vielleicht hast du recht«, erklärte Kalia lächelnd. »Wir haben hier so viel zu tun. Wir sind alle müde. Es tut mir leid«, sagte sie zu der alten Frau, dann drehte sie sich zu der Mutter und ihrer Tochter um. »Ich entschuldige mich. Hier …« Sie gab ihnen die Süßigkeiten und plapperte drauflos, während sie die beiden in Richtung Tür schob.
»Sie muss müde sein«, murmelte die alte Frau, »wenn sie gedacht hat, irgendjemand würde ihr diese kleine Scharade abkaufen.«
»Nicht jeder ist so klug und wachsam, wie du es bist«, erwiderte Lorkin.
Die Augen der alten Frau leuchteten auf, als sie lächelte. »Nein. Wenn sie es wären, hätte man Kalia nicht gewählt.«
Lorkin konzentrierte sich darauf, den Puls und die Temperatur der alten Frau zu überprüfen, hörte ihre Lunge ab und untersuchte ihren Hals. Außerdem lauschte er verstohlen mit seinen magischen Sinnen, um seine Einschätzung zu bestätigen. Die darin bestand, dass die alte Frau – abgesehen von den Symptomen des Kältefiebers – überraschend gesund war. Er gab ihr Heilmittel und Anweisungen dazu, bevor er der alten Frau leise dankte.
Nicht lange nachdem er zum nächsten Patienten weitergegangen war, hörte er ein Raunen im Saal und sah sich um. Aller Augen waren auf den Eingang gerichtet, wo eine Bahre – gefolgt von einer Magierin – in den Raum schwebte. Die Frau versuchte erfolglos, sich ein Lächeln zu verkneifen. Als Lorkin die Bahre betrachtete, setzte sein Herz einen Schlag aus.
Evar!
Er hatte seinen Freund seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Im Männerraum ging das Gerücht, dass Evar eine Geliebte gefunden habe. Man hatte darauf gewettet, ob Evar irgendwann in den Männerraum zurückstolziert kommen würde, um seine Sachen zu holen, oder ob er mit einem gebrochenen Herzen hereinhumpeln würde. Keiner von ihnen hatte darauf gewettet, dass er bewusstlos auf einer Bahre zurückkehren würde.
Kalia hatte ihren Neffen bemerkt und eilte hinüber, um ihn zu untersuchen. Sie schlug achtlos die Decke zurück und entblößte den Blicken aller auf der Station einen vollkommen nackten Evar. Unterdrücktes Gekicher und Aufkeuchen kam aus allen Ecken. Ein Stich des Ärgers durchzuckte Lorkin, als Kalia sich nicht die Mühe machte, den jungen Mann wieder zuzudecken.
»Es ist nichts gebrochen«, erklärte die lächelnde Magierin.
»Lass mich das beurteilen«, erwiderte Kalia. Sie drückte und pikste, dann legte sie Evar eine Hand auf die Stirn. »Übermäßig entleert«, stellte sie fest. Sie schaute zu der Magierin auf. »Du?«
Die Frau verdrehte die Augen. »Wohl kaum. Es war Leota.«
»Sie sollte vorsichtiger sein.« Kalia rümpfte geringschätzig die Nase, dann blickte sie sich im Raum um. »Er ist nicht krank und sollte kein Bett mit Beschlag belegen. Legt ihn dort drüben hin, auf den Boden. Er wird sich zu gegebener Zeit schon erholen.«
Die Magierin und die Bahre bewegten sich in den hinteren Teil des Raums, wo Evar zu Lorkins Erleichterung hinter den Bettenreihen verborgen sein würde. Die Frau grinste, als sie hinausstolzierte, und hatte sich nicht die Mühe gemacht, Evar wieder zuzudecken. Kalia ignorierte den neuen Patienten und runzelte die Stirn, als Lorkin auf seinen Freund zugehen wollte.
»Lass ihn in Ruhe«, befahl sie.
Lorkin wartete ab. Irgendwann verschwand Kalia im Lagerraum, um weitere Heilmittel zu holen. Er schlüpfte zu Evar hinüber und war überrascht festzustellen, dass der junge Mann die Augen geöffnet hatte. Er lächelte Lorkin kläglich an.
»Mir geht es gut«, sagte er. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Lorkin deckte seinen Freund zu. »Was ist passiert?«
»Leota.«
»Sie hat schwarze Magie bei dir benutzt?«
»Sie hat mich in ihr Bett geholt.«
»Und?«
»Das ist das Gleiche. Nur dass es mehr Spaß macht.« Evars Stimme klang, als zucke er die Achseln. Sein Blick ging ins Leere. »Es hat sich gelohnt.«
»Dass dir all deine Energie entzogen wurde?« Lorkin konnte nicht verhindern, dass seine Ungläubigkeit und sein Ärger sich in seiner Stimme verrieten.
Evar sah ihn an. »Wie sonst soll ich in das Bett einer Frau kommen, hm? Sieh mich an. Ich bin dürr und ein Magier. Kaum gutes Zuchtmaterial, und niemand vertraut männlichen Magiern.«
Lorkin seufzte und schüttelte den Kopf. »Du bist nicht dürr – und wo ich herkomme, würde der Umstand, dass du ein Magier bist, und dazu noch ein natürlicher, dich zu sehr begehrenswertem Zuchtmaterial machen.«
»Und doch bist du fortgegangen«, bemerkte Evar. »Und du hast dich dafür entschieden, für den Rest deines Lebens hierzubleiben.«
»In Augenblicken wie diesen frage ich mich, ob man mir eine Lüge verkauft hat. Eine auf Gleichberechtigung beruhende Gesellschaft, wahrhaftig. Wird man diese Leota bestrafen?«
Evar schüttelte den Kopf. Dann leuchteten seine Augen auf. »Ich habe mich bewegt. Das habe ich seit Stunden nicht mehr getan.«
Mit einem neuerlichen Seufzer erhob sich Lorkin. »Ich muss wieder an die Arbeit.«
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Ein wenig Schlaf, und es wird mir wieder gutgehen.« Als Lorkin sich entfernte, rief er ihm nach: »Ich finde immer noch, dass es die Sache wert war. Wenn du mir nicht glaubst, geh und sieh sie dir an. Ohne Kleider.«
Der Zwischenfall mit den Heilmitteln war ärgerlich gewesen, aber daran war Lorkin gewöhnt. Was man Evar angetan hatte, erfüllte ihn mit einem siedenden Zorn. Seit Tyvara ihn aufgefordert hatte, etwaige Einladungen in das Bett einer Magierin abzulehnen, hatte er mehr Anträge als gewöhnlich erhalten. Zumindest hatte er jetzt eine bessere Vorstellung davon, welche Magierinnen zu Kalias Gruppe gehörten.
Für wie dumm halten sie mich eigentlich? Auf diese Weise hat Riva versucht, mich zu töten. Plötzlich hatte er Gewissensbisse. Ich hätte Evar warnen sollen. Aber ich habe nicht gedacht, dass sie Kalias Neffen Schaden zufügen würden. Nun, sie hatten ihm keinen Schaden zugefügt: Sie – Leota – hatte Evar bis an den Punkt der Hilflosigkeit geleert und ihn dann gedemütigt, indem sie seinen Fehler öffentlich machte.
Trotzdem, Evar hätte es besser wissen müssen. Er hatte gewusst, dass sie eine Möglichkeit finden würden, ihn dafür zu bestrafen, dass er Lorkin in die Höhlen der Steinemacher geführt hatte. Gewiss war offensichtlich gewesen, was Leota vorhatte, als sie ihn in ihr Bett einlud?
Lorkin schüttelte den Kopf. Vielleicht war Evar einfach zu vertrauensvoll, was seine eigenen Leute anging. Es stieß Lorkin ab, dass dies die Art war, wie sie sein Vertrauen vergolten hatten, und für den Rest des Tages war er hin- und hergerissen zwischen den Fragen, ob es klug von ihm gewesen war, ins Sanktuarium zu kommen, und ob die Verräterinnen jemals dazu gebracht werden konnten, einzusehen, wie ungleich ihre Gesellschaft wirklich war.
Der Winter zog seinen Griff um Imardin langsam fester. Stehendes Wasser gefror über Nacht. Das Knirschen von Eis unter ihren Füßen war seltsam befriedigend und brachte Kindheitserinnerungen zurück. Man musste den tieferen Pfützen ausweichen, dachte Sonea, da sie gewöhnlich nur mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren, und wenn einem das Wasser darunter in die Schuhe lief, taten einem den ganzen Tag von der Kälte die Füße weh.
Wasser in die Schuhe zu bekommen war seit vielen Jahren kein Problem mehr gewesen. Die für Magier gefertigten Stiefel waren die besten in der Stadt. Sobald sie auch nur die geringsten Spuren von Abnutzung zeigten, schafften Diener Ersatz herbei. Was ärgerlich ist, wenn man sie gerade erst eingelaufen hat. Bedauerlicherweise waren die Schuhe, die sie jetzt trug, weder wasserdicht, noch passten sie ihr richtig. Irgendjemand hatte sie aussortiert – sie waren Teil der Maskerade, die sie trug, wenn sie sich in die Stadt hinauswagte, um sich mit Cery zu treffen.
Der Korb mit Wäsche in ihren Armen war voller und schwerer als gewöhnlich. Sie hatte bereits einmal stehen bleiben und Laken auflesen müssen, als sie vom Stapel im Korb auf den Boden gefallen waren. Natürlich konnte sie keine Magie benutzen, um sie festzuhalten oder aufzufangen. Das hätte verraten, dass sie mehr war als eine Dienstmagd.
Sie verlangsamte ihre Schritte und duckte sich in eine Gasse. Es war eine Abkürzung, die die Einheimischen häufig benutzten. Heute war die Gasse menschenleer bis auf eine weitere Frau, die mit einem kleinen Kind in den Armen auf sie zugeeilt kam. Als Sonea sich ihr näherte, schaute die Frau zu ihr auf. Sonea widerstand dem Drang, sich die Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen. Der Blick der Frau flackerte zu etwas hinter Sonea hinüber, und sie runzelte die Stirn, dann schaute sie hastig wieder zu Sonea, als sie vorbeiging.
War dieser Blick eine Warnung?
Sonea widerstand der Versuchung, sich umzudrehen, lauschte aber aufmerksam. Und tatsächlich, sie fing das leise Kratzen und Tappen von Schritten mehrere Meter hinter sich auf.
Werde ich verfolgt? Die Gasse wurde häufig benutzt, so dass es nicht allzu merkwürdig war, wenn jemand hinter ihr herging. Etwas anderes musste die Frau erschreckt haben. Vielleicht war sie von Natur aus misstrauisch, vielleicht nicht. Sonea konnte es sich nicht leisten, die Möglichkeit zu ignorieren, dass die Frau Grund zu ihrem Misstrauen gehabt hatte. Sie beschleunigte ihr Tempo.
Als sie das Ende der Gasse erreichte, ging sie nicht in die Richtung, in die sie hatte gehen wollen, sondern schlug die entgegengesetzte Richtung ein, überquerte die Straße und trat in eine weitere Gasse. Diese war breiter und voller Arbeiter aus den Werkstätten zu beiden Seiten. Vor den Mauern lag Holz für Brennöfen aufgestapelt. Fässer mit Öl und giftigen Flüssigkeiten, riesige, fest verschnürte Bündel von Lumpen und Holzkisten warteten darauf, hineingetragen zu werden. Die Menschen und die Hindernisse zwangen sie, einen gewundenen Weg zu nehmen und immer wieder auszuweichen, bis sie einen Turm von Kisten erreichte. Die Kisten waren mit irgendeiner Art von verwelkten Pflanzen gefüllt, die nach Meer rochen.
Sie schlüpfte dahinter und stellte den Korb ab. Einige Arbeiter weiter unten in der Gasse beäugten sie, aber als sie begann, sich den Rücken zu massieren, wandten sie höflich den Blick ab. Sie schaute wieder die Gasse entlang. Und tatsächlich, ein relativ kleiner, dünner Mann mit bösartigem Gesichtsausdruck kam auf sie zu. Die Arbeiter hielten inne, als sie ihn bemerkten, und machten einen großen Bogen um ihn. Genau wie sie selbst erkannten die Arbeiter den Gefolgsmann eines Diebes, wenn sie einen sahen.
Sonea musterte die Hindernisse zwischen sich selbst und ihrem Verfolger, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Sie sandte ein wenig Magie aus und hielt sie in der Schwebe. Dann drehte sie sich um und setzte ihren Weg durch die Gasse fort, wobei sie ihren eiligen Schritt beibehielt.
Sie zählte im Geist mit und versetzte, als es so weit war, den Kisten, an denen sie kurz zuvor vorbeigegangen war, einen magischen Stoß. Hinter sich hörte sie ein Krachen, dann Gebrüll und Flüche. Mit geheuchelter Überraschung blieb sie stehen, um sich umzudrehen. Der Weg ihres Verfolgers wurde jetzt von einem Holzhaufen blockiert, der anscheinend unter seinem eigenen Gewicht eingestürzt war. Sie wandte sich wieder um und eilte weiter.
Einige Straßen und eine weitere Gasse später und nachdem sie mehrmals stehen geblieben war, um sich umzuschauen, kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht länger verfolgt wurde, und ging auf direktem Weg zu der Wäscherei, dem Süßigkeitenladen und dem Raum dahinter. Cery und Gol wirkten erleichtert, als sie eintrat.
»Entschuldigt die Verspätung«, sagte sie, während sie sich hinsetzte. »Ich musste mit einer Klette fertig werden.«
Cery zog die Augenbrauen hoch, dann lächelte er dünn. »Mit einer Klette? Niemand redet heute noch so.«
Gol gab einen erstickten Laut von sich. Sie schaute zwischen den Männern hin und her.
»Wie redet niemand mehr? Du meinst, in der Gossensprache?«
»Ja«, erwiderte Cery und erhob sich. »Zumindest sagt meine Tochter das.«
»Wo ist sie eigentlich?«
Er verzog das Gesicht. »Unterwegs, um für mich zu spionieren.«
Soneas Herz machte einen Satz. »Du hast ihr erlaubt …?«
»Bei Anyi geht es nicht wirklich darum, ihr etwas zu erlauben.« Er seufzte. »Sie hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir seit Monaten keine anderen Ideen hatten.« Er ging rechts von ihr einige Schritte auf und ab. »Sie hat die Absicht, ihren Arbeitgeber – wer immer das sein mag – davon zu überzeugen, dass sie sich wahrhaft gegen mich gestellt hat, indem sie meinen Aufenthaltsort verrät.« Er hielt inne und wanderte auf die linke Seite des Raums. »Natürlich werden Gol und ich mit knapper Not entkommen.« Er drehte sich zu ihr um. »Das ist der Punkt, an dem du ins Spiel kommen wirst.«
»Ach ja?«
»Ja.« Er schüttelte den Kopf und machte sich nicht die Mühe, seine Sorge und seine Zweifel zu verbergen. »Du wirst der Faktor sein, den sie nicht einplanen konnte.«
»Ich verstehe.«
Cery begann erneut umherzuwandern. »Ich hatte gehofft, dich und Regin für diese Aufgabe gewinnen zu können, so dass, wenn einer es nicht schafft, der andere einspringen könnte …«
»Warte einige Tage ab, dann werde ich einen Ersatz für Regin haben.«
»Wirklich?« Cery blieb stehen. »Wer ist es?«
»Dorrien. Rothens Sohn.«
»Ich dachte, er lebt auf dem Land.«
»Das hat er auch getan, bis er sich in den Kopf setzte, in die Stadt zu ziehen, damit seine Tochter sich hier einleben kann, bevor sie ihr Studium an der Universität beginnt.«
Cery lachte leise. »Ich wette, Rothen weiß nicht, ob er sich freuen oder entsetzt sein soll.«
Sie lächelte und nickte. »Ich wünschte, wir müssten ihn da nicht mit hineinziehen. Ich wünschte, du müsstest Anyi nicht darin verwickeln.«
»Es ist die Lebensaufgabe unserer Kinder, uns Sorgen zu bereiten«, erwiderte Cery trocken. Dann blickte er auf. »Hast du etwas von Lorkin gehört?«
Ein Stich des Schmerzes durchzuckte sie, aber es war mehr ein dumpfer Schmerz als das scharfe Entsetzen, das sie direkt nach seinem Verschwinden erfüllt hatte. »Nein. Ich schätze, ich sollte dankbar dafür sein, dass er nicht in diese Sache hineingezogen wird.«
Er nickte. »Vielleicht sollte ich Anyi nach Sachaka schicken.« Plötzlich wurde seine Miene distanziert und nachdenklich. Er schüttelte den Kopf und sah Sonea an. »Gibt es sonst noch etwas?«
»Nein. Und bei dir?«
»Nichts. Ich werde eine Nachricht an das Hospital schicken, wenn ich weiß, was Anyi vorhat. Könntest du für eine Weile hierbleiben, nur für den Fall, dass du verfolgt worden bist?«
»Sicher. Ich bin die Klette losgeworden.«
»Natürlich bist du das«, sagte er beschwichtigend.
»Du bezweifelst meine Fähigkeit, eine Klette abzuschütteln?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ganz und gar nicht.«
Sie sah ihn mit schmalen Augen an. Er heuchelte Unschuld. Hinter ihm schob Gol ein Paneel in der Wand auf.
»Kommst du?«, fragte er.
Cery lächelte und wandte sich ab. Sonea schaute kopfschüttelnd zu, wie die beiden in die Dunkelheit schlüpften und das Paneel sich wieder schloss. Dann setzte sie sich hin und wartete, bis Cery und Gol eine gewisse Entfernung zwischen sich selbst und den Laden gebracht hatten, bevor sie sich auf den Rückweg zum Hospital machte.
Mit vollem Magen und einem angenehmen Brennen im Mund von den Gewürzen, die er zu sich genommen hatte, nippte Dannyl zufrieden an seinem Wein. Es tat gut, einmal vom Gildehaus wegzukommen. Heutzutage war das einzige sachakanische Haus, das Dannyl von innen zu sehen bekam, das von Achati. Es entsprach dem typischen Muster, aber die Wände waren im Innern in einer sanfteren Farbe gestrichen als dem traditionellen, grellen Weiß. Die Teppiche und Zierstücke waren schlicht und elegant, und er bevorzugte das weiche Licht von Lampen mit magischen Kugellichtern.
Dannyl hatte Varn, Achatis Quellsklaven und Liebhaber, seit ihrer gemeinsamen Suche nach Lorkin nicht mehr gesehen. Achati hatte seither auch nicht mehr davon gesprochen, dass sein Interesse an Dannyl über bloße Freundschaft hinausgehe – zumindest nicht direkt. Dannyl war sich nicht sicher, ob der Ashaki die Hoffnung auf eine solche Liaison aufgegeben hatte und jetzt damit zufrieden war, ihre Freundschaft zu genießen, oder ob der Mann Dannyl Zeit gab, um über die Idee nachzudenken.
Ich muss gestehen, ich hoffe, er hat nicht aufgegeben, aber gleichzeitig ist die Vorstellung, was für ein mächtiger Mann Achati ist, sowohl ernüchternd als auch interessant. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass er Sachakaner ist und ich Kyralier bin und manche Leute immer noch das Gefühl haben, wir seien Feinde. Wenn ich einen Sachakaner zum Freund hätte, würde man das für vorteilhaft halten, weil es dem gegenseitigen Respekt und Verständnis unserer Völker zugutekäme. Hätte ich aber einen als Geliebten, so würde das nur den Verdacht geteilter Loyalität erwecken.
»Also war der Schatz, der aus dem Palast gestohlen wurde, ein Gegenstand zum Einlagern von Magie«, sagte Achati mit nachdenklicher Miene.
Dannyl blickte auf und nickte. »Der König hat mir erzählt, dass vor langer Zeit etwas gestohlen wurde. Ich dachte, es würde Euch interessieren, was der Zweck des gestohlenen Gegenstands war.«
»Ja.« Fältchen der Erheiterung erschienen um Achatis Augen. »Wir haben uns nicht daran erinnert, was es war, nur dass es gestohlen wurde. Wenn wir uns doch nur daran erinnert hätten, dass es ein Gegenstand war, der benutzt wurde, um uns zu beherrschen – ein Gegenstand, der mächtig genug war, um das Ödland zu schaffen –, hätten wir vielleicht keinen solchen Groll gehegt. Oder doch gerade«, fügte er hinzu. »Da Euer Volk ihn schließlich tatsächlich benutzt hat, um das Ödland zu schaffen.«
»Ein Groll, der verdient ist.« Dannyl schauderte bei dem Gedanken an das tote Land, durch das er gereist war, um nach Arvice zu gelangen. »Ich habe mich oft gefragt, wie die Kyralier hier ihre Herrschaft aufrechterhalten haben. Soweit ich erkennen kann, waren nicht so viele kyralische Magier hier wie sachakanische. Vielleicht ist die Drohung des Lagersteins die Antwort.«
»Nicht lange nachdem der Gegenstand gestohlen wurde, haben die Kyralier die Herrschaft über mein Land aufgegeben«, erklärte Achati.
Dannyl nickte abermals. »Wir haben immer angenommen, unsere Vorfahren hätten es getan, weil sie glaubten, das Ödland sei Schutz und Abschreckungsmittel genug.«
Achati verzog das Gesicht. »Es hat Sachaka gewiss geschwächt. Wir hatten unsere fruchtbarsten Länder verloren und waren zu dem Zeitpunkt bereits ein Land mit mehr Menschen, als wir ernähren konnten, obwohl im Krieg so viele Ashaki ihr Leben gelassen hatten.« Er holte tief Luft und stieß sie dann langsam wieder aus. »Was Ihr vorhin gesagt habt, dass es Anfangserfolge bei der Rekultivierung des Ödlands gegeben habe, wird den König sicher interessieren. Es ist seine Hoffnung, dieses Land zurückzugewinnen.«
»Das wäre ein großer Erfolg.«
»Ja.« Achati runzelte die Stirn. »Es ist seltsam, dass die Kyralier keine Erinnerung an diesen Lagerstein haben.«
»Ich kann nur vermuten, dass alle Hinweise darauf bei Imardins Zerstörung verloren gingen, was, wie ich jetzt glaube, Jahrhunderte später geschah.« Dannyl seufzte. »Alle guten Entdeckungen werfen neue Fragen auf. Warum hat Narvelan den Stein gestohlen? Warum hat er ihn benutzt? Ich bezweifle, dass wir es jemals erfahren werden, da er und jene, die ihm vielleicht entgegengetreten sind, ihre Geschichte nicht mehr erzählen können.«
Achati nickte. »Ich wüsste gern, woher der Lagerstein kam. Hatte er seinen Ursprung in Kyralia? Wurde er geschaffen, oder war er natürlichen Ursprungs?« Achati schüttelte den Kopf. »Ich bin mir sicher, dass Ihr um Kyralias willen ebenso sehr Antworten auf diese Fragen sucht wie Eures Buches wegen. Jedem Land würde eine Katastrophe drohen, wie Sachaka sie erlitten hat, sollte eine solche Waffe in die Hände seines Feindes fallen.«
»Dankenswerterweise scheinen Lagersteine nicht allzu häufig zu sein. Möglicherweise gibt es gar keine mehr.«
Die beiden Männer schwiegen eine Weile und dachten darüber nach, dann lächelte der Ashaki wieder. »Ich muss zugeben, dass mich Eure Forschungen mehr und mehr interessieren. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich Euch sonst noch helfen kann.«
»Die Buchhändler auf dem Markt werden mich in Kenntnis setzen, wenn sie weitere alte Dokumente ankaufen«, entgegnete Dannyl. Achati hatte bereits genug getan, indem er verschiedene Ashaki dazu überredet hatte, dem Gildebotschafter ihre Bibliotheken zu öffnen, und Dannyl wollte nicht, dass sein neuer Freund und Verbündeter an Respekt verlor, weil er fortfuhr, die Ziele eines unbeliebten Fremdländers zu fördern.
»Ihr könnt Euch nicht auf sie verlassen«, sagte Achati. »Sie werden an den Höchstbietenden verkaufen. Und es besteht kein Grund für Euch zu warten, bis ein Gutsbesitzer verzweifelt genug ist, um seine alten Dokumente zu verkaufen. Es besteht keine Notwendigkeit, sie alle zu erwerben. Wir können zu den Ashaki hinfahren.«
Dannyl sah den Mann mit einem überraschten Blinzeln an. »Zu ihnen hinfahren? Sie besuchen?«
»Ja. Wie Ihr wisst, sind Landgüter verpflichtet, reisenden Ashaki eine Mahlzeit und ein Bett anzubieten, und als Freund und Repräsentant des Königs stehen mir zusätzliche Aufmerksamkeit und Vergünstigungen zu. Wenn ich ein Interesse an ihren alten Dokumenten zeige, sind die Chancen groß, dass sie sie uns zeigen werden. Auf diese Weise braucht Ihr nichts zu kaufen, und das wäre sinnvoll, weil einige Leute denken könnten, Ihr würdet vom Niedergang der Opfer des Ödlands profitieren, das Euer Volk geschaffen hat.«
»Aber … was ist mit Euren Pflichten als Repräsentant und Ratgeber des Königs? Was ist mit meinen Pflichten als Gildebotschafter?«
Achati lachte leise. »Der König hat mehr als einen Freund und Ratgeber, und Ihr seid kaum überhäuft mit Arbeit. Sollte sich irgendetwas ergeben, bin ich mir sicher, dass Botschafter Tayend und Eure Assistentin damit fertig werden können.« Dann wurde er wieder ernst. »Ich möchte, dass Ihr so viel wie möglich über den Lagerstein in Erfahrung bringt. Sollte es immer noch einen solchen Stein geben oder einer neu geschaffen worden sein, könnte das schreckliche Folgen für alle Länder haben.«
Dannyl stockte der Atem. Achati hatte recht: Wenn noch ein Lagerstein existierte oder neu geschaffen werden konnte, würde er sowohl für Sachaka als auch für die Verbündeten Länder eine große Gefahr darstellen. Was würden die Verräterinnen tun, wenn sie einen solchen Stein in die Hände bekämen? Sie würden sich gegen die Ashaki erheben. Aber würden sie sich damit begnügen, Sachaka zu erobern? Oder würden sie versuchen, ihr Herrschaftsgebiet weiter auszudehnen?
Bei diesem Gedanken machten ihm ein schlechtes Gewissen und eine gewisse Furcht zu schaffen. Er hatte Achati selbstverständlich nicht alles erzählt, was er wusste. Vor allem nichts von den Edelsteinen, auf deren Herstellung Unhs Volk und die Verräterinnen sich verstanden. Darüber hatte Dannyl nur zwei Personen in Kenntnis gesetzt: Lorkin und Administrator Osen. Osen hatte ihm zugestimmt, dass es das Beste sei, dieses Wissen geheim zu halten, da es Lorkin gefährden könnte, wenn Dannyl den Sachakanern Informationen über die Verräterinnen offenbarte.
Er schauderte. Kann ich die Sachakaner irgendwie warnen, dass die Verräterinnen imstande sind, magische Edelsteine zu fertigen, ohne dass es den Eindruck erweckt, ich hätte bereits früher davon gewusst? Er glaubte nicht, dass ihm das möglich war.
Sollte ich Achatis Hilfe akzeptieren, um mehr über den Lagerstein in Erfahrung zu bringen? Wenn es irgendwo noch Wissen über diese Waffe gab, dann in Sachaka. Die Sachakaner würden früher oder später darauf stoßen, wenn Dannyl ihnen nicht zuvorkam. Er sollte sich den Umstand zunutze machen, dass Achati willens war, die Suche für ihn zu übernehmen.
Wo würde ich die Suche beginnen?
Er musste lächeln, als er die offensichtliche Antwort bedachte.
»Könnte diese Reise uns in die Nähe des Gebiets der Duna führen?«, fragte er.
»Der Duna?« Achati wirkte überrascht.
»Ja. Sie handeln schließlich mit Edelsteinen. Vielleicht können sie uns etwas über Lagersteine erzählen.«
Achati zog die Augenbrauen hoch. »Sie haben keine besondere Neigung, mit uns zu reden.«
»Nach dem, was ich von unserer letzten Reise in Erinnerung habe, haben die Sachakaner auch keine große Neigung, ihnen zuzuhören.«
Sein Freund zuckte die Achseln, dann kniff er die Augen zusammen. »Das ist richtig. Ihr und Unh habt ja recht gern miteinander geplaudert. Was hat er gesagt, das Euch auf die Idee bringt, seine Leute könnten uns vielleicht erzählen, was sie über Lagersteine wissen?«
Dannyl erwog seine nächsten Worte mit großem Bedacht. »Wir haben eine Höhle gefunden, in der an einer Wand Edelsteine wuchsen. Er hat mir erklärt, sie seien ungefährlich. Ich wusste, was er meinte, denn mir waren schon früher Edelsteine mit magischen Eigenschaften begegnet, in Elyne. Aber sie hatten natürlich keinerlei Ähnlichkeit mit dem Lagerstein.«
Achati zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich?« Als Dannyl nicht antwortete, wirkte er erheitert. »Also … Unh wusste, dass sie gefährlich sein könnten. Ihr denkt, sein Volk hat Lagersteine?«
»Nein, aber ich denke, sie wissen vielleicht etwas über diese Steine. Vielleicht sind es nur Geschichten und Legenden, aber alte Erzählungen können Wahrheiten und historische Tatsachen enthalten.«
Der Ashaki musterte Dannyl, dann nickte er langsam. »Also auf nach Duna. Wir werden die Aschewüste aufsuchen und hoffen, dass Euer Charme und Eure Überzeugungskraft bei ihnen genauso gut wirken wie bei Unh.« Er wandte sich dem Sklaven zu, der in der Nähe wartete. »Bring uns Raka. Wir müssen Pläne schmieden.«
Ein Schauer der Erregung überlief Dannyl. Eine weitere Forschungsreise! Wie damals, als Tayend und ich … Ein Stich des Schuldgefühls dämpfte seine Begeisterung. Was wird Tayend von mir denken, wenn ich mit Achati zu einem Abenteuer aufbreche, geradeso wie er und ich es zu Anfang unserer Bekanntschaft getan haben? Wird er eifersüchtig sein? Zumindest wird es ihn daran erinnern, was wir nicht länger teilen. Es scheint mir eine unfreundliche Art zu sein, ihm zu vergelten, dass er meine Aufmerksamkeit auf die Buchverkäufer auf dem Markt gelenkt hat.
»Was ist los?«, fragte Achati.
Dannyl wurde klar, dass er die Stirn gerunzelt hatte. »Ich … ich würde gern die Erlaubnis der Höheren Magier einholen.«
»Haltet Ihr es für wahrscheinlich, dass sie ablehnen?«
»Nicht, wenn ich es so ausdrücke, wie Ihr es gerade getan habt.«
Achati lachte. »Dann sorgt dafür, dass Ihr mich gut nachahmt. Aber nicht zu gut. Wenn Ihr so klingt, als würdet Ihr zu einem sachakanischen Ashaki werden, rufen sie Euch stattdessen vielleicht nach Hause zurück.«
Als Damends Angriffe Pepeas Schutzschild durch brachen, spürte Lilia, dass der innere Schild, den sie aufrechterhielt, unter der Attacke schwächer wurde, und sandte ihm hastig mehr Macht.
»Gut gemacht«, sagte Lady Rol-Ley und nickte Damend zu. »Die dritte Runde geht an Damend. Als Nächstes werden Froje und Madie kämpfen.«
Die beiden Mädchen verzogen das Gesicht, erhoben sich und gingen widerstrebend auf die Lehrerin zu. Lilia ließ den inneren Schild um Pepea verschwinden und wartete auf Anweisungen der Lehrerin. Ley stammte aus dem Volk der Lans, das sich seiner kriegerischen Fähigkeiten rühmte, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Doch sie brachten nur wenige Magier hervor und keine allzu starken, also mochte Ley zwar körperlich in guter Verfassung und eine gute Strategin sein, aber sie brauchte Hilfe, um in ihrem Unterricht die nötigen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen.
Ley sah Lilia an. »Beschützt Madie. Ich werde Froje beschirmen.«
Lilia legte Madie eine Hand auf die Schulter und suchte nach einem Gefühl für die Macht des anderen Mädchens, damit sie einen darauf abgestimmten inneren Schild schaffen konnte. Wenn er nicht darauf abgestimmt war, würde er Madie daran hindern, selbst anzugreifen.
Sie spürte nichts. Madie war steif und angespannt. Als sie aufschaute, sah sie, dass ihre alte Freundin abrupt den Blick abwandte. Die Macht des Mädchens war plötzlich da, deutlich fühlbar für ihre Sinne. Verärgert schuf Lilia den inneren Schild.
»Ich sehe keinen Sinn darin«, beklagte sich Froje. »Ich weiß, es wird von allen Magiern erwartet, dass sie sich in den Kampfkünsten üben, falls wir jemals wieder von einem anderen Land überfallen werden sollten, aber wir sind beide schrecklich schlecht darin. Wir wären in der Schlacht eher eine Belastung als ein Gewinn.«
Ley kicherte. »Ihr würdet Euch vielleicht selbst überraschen.«
»Das bezweifle ich. Gewiss hätten wir ohnehin keine Macht, mit der wir kämpfen könnten. Wir hätten all unsere Macht den Schwarzmagiern Sonea und Kallen gegeben.«
»Ihr könntet Stunden – sogar einen halben Tag – haben, um vor dem Beginn einer Schlacht ein wenig Stärke zurückzugewinnen, also wärt Ihr nicht vollkommen machtlos. Selbst wenn Sonea und Kallen besiegt würden, unser Feind würde durch den Kampf geschwächt werden. Es wäre ein Jammer, wenn wir die Feinde nicht besiegen und uns selbst retten könnten, nur weil einige von uns zu faul waren, sich in den Kriegskünsten zu üben. Jetzt nehmt Eure Positionen ein.«
Die beiden Mädchen schlurften zum Eingang der Arena hinüber.
Ley schüttelte seufzend den Kopf. »Sie wären nicht so schlecht, wenn sie ein wenig mehr trainieren würden«, bemerkte sie.
Lilia zuckte die Achseln. »Sie würden trainieren, wenn es ihnen Spaß machte. Und es würde ihnen Spaß machen, wenn sie gut darin wären.«
Ley sah Lilia an und lächelte. »Mögt Ihr die Kriegskünste?«
»Ich bin nicht gut darin. Ich bin nie dahintergekommen, wann ich welche Art von Angriff benutzen soll.«
Die Lehrerin nickte. »Ihr denkt nicht wie ein Angreifer. Aber Ihr seid stark, und Ihr seid aufmerksam. Das macht Euch zu einer guten Kriegerin für die Verteidigung.«
Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit stieg in Lilia auf. Also bin ich nicht schrecklich schlecht in den Kampfkünsten, aber ich werde auch keine große Kriegerin sein. Es war irgendwie eine Erleichterung zu wissen, dass ihre Entscheidung, nicht diese Disziplin zu wählen, die richtige gewesen war. Jetzt muss ich mich nur noch zwischen der Heilkunst und der Alchemie entscheiden.
Zumindest blieben ihr noch anderthalb Jahre, um ihre Wahl zu treffen. Naki hatte nur noch ein halbes Jahr, und sie war hin- und hergerissen zwischen Kriegskünsten und Alchemie. Sie machte sich Sorgen, dass sie es später bereuen würde, wenn sie Ersteres wählte, obwohl es ihre bevorzugte und beste Disziplin war, denn das einzig Nützliche, was sie in Friedenszeiten damit tun konnte, war das Unterrichten, und sie glaubte nicht, dass sie eine gute Lehrerin werden würde.
Während ich Alchemie interessanter finde, aber es scheint mir ein solcher Luxus zu sein, wenn ich doch als Heilerin für andere von größerem Nutzen sein könnte.
Wenn sie beide Alchemie wählten, wäre es zumindest etwas, das sie gemeinsam haben würden, während Lilia weiterhin die Universität besuchte und Naki eine voll ausgebildete Magierin war, der es freistand zu tun, was immer ihr beliebte.
Ein Stich der Sorge durchzuckte Lilia. Sie konnte nicht umhin zu fürchten, dass Naki, sobald sie erst ihren Abschluss hatte, es müde werden würde, wenn Lilia ständig mit ihrem Unterricht beschäftigt war, und dass sie sich dann eine andere Freundin suchen würde. Aber ich greife voraus, überlegte sie. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Naki überhaupt so viel Zeit mit mir verbringen will. Ich weiß nicht, ob sie mich auch liebt.
Wie zum Protest gegen diesen Gedanken blitzte in ihr eine Erinnerung von Naki auf, die sich einen Finger auf die Lippen drückte, sich dann über die Kutschbank beugte und Lilia den Finger auf die Lippen legte. Sie hatte Lilia bei der Gilde abgesetzt, nachdem sie das Glühhaus verlassen hatten. Lilia war außerstande gewesen, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie hatte gehofft, dass Naki sie mit nach Hause nehmen würde.
»Wir sehen uns morgen«, hatte Naki gesagt. »Vergiss nicht, wir dürfen uns nicht anmerken lassen, dass wir vielleicht mehr sind als Freundinnen. Verstehst du? Nicht eine Andeutung. Nicht einmal dann, wenn du denkst, wir seien allein. Es ist der Beobachter, den du nicht siehst, der dich ertappt.«
»Mehr als Freundinnen.« Das heißt bestimmt, dass Naki mich ebenfalls liebt.
Ein plötzlicher Aufprall auf ihrem Schild lenkte ihre Aufmerksamkeit jäh zurück auf die Arena, und sie zog instinktiv mehr Magie in sich hinein und sandte sie in ihren Schild.
»Die erste Runde geht an Froje«, verkündete Lady Rol-Ley. »Beginn von Runde zwei.«
Am Tag nach ihrem Besuch im Glühhaus hatte Naki gesagt, Lilia könne am Wochenende bei ihr zu Hause übernachten. Lilia versuchte, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen holte sie tief Luft und zwang sich, sich auf die beiden in der Arena kämpfenden Mädchen zu konzentrieren und darauf, ihren Schild stark zu halten.
Aber die ganze Zeit flatterte ihr Magen vor Erregung.
Sobald er die Tür öffnete, verstand Lorkin sofort, warum Evar diesen Durchgang in seiner Wegbeschreibung als Tunnel bezeichnet hatte. Die Wände waren nur grob behauen. Über eine lange Strecke hinweg sah es aus, als folge er einer natürlichen Kluft des Gesteins, deren Grund mit Steinplatten bedeckt war und deren Wände sich über seinem Kopf langsam verjüngten, bis sie in der Dunkelheit unkenntlich wurden. Seine Vermutung entpuppte sich als richtig, als der Boden abrupt endete. Er spähte über den Rand und sandte seine Lichtkugel voraus. Der Spalt führte nach unten, und die Steinplatten des Bodens waren einfach zwischen den Wänden verkeilt worden, wie er jetzt feststellte. Es war unmöglich zu erraten, wie tief es hinabging. Das Licht seiner Kugel drang nicht weit genug in die Dunkelheit vor.
Schaudernd wandte er sich einem großen, auf einer Seite in den Fels gehauenen Loch zu und trat hindurch in einen weiteren grob in den Stein gemeißelten Stollen. Dieser führte über einige Entfernung geradeaus, und Lorkin begriff, dass er inzwischen weit von den bewohnten Höhlen der Stadt entfernt sein musste.
Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass ich die Stadt verlasse, überlegte er. Denn damit würde ich gegen eine Bestimmung verstoßen. Ich könnte zwar einwenden, dass mir unbekannt gewesen sei, dass die Abwasserkanäle außerhalb der Stadt liegen, aber ich glaube nicht, dass allzu viele Verräterinnen so bereitwillig an meine Unschuld glauben würden wie beim letzten Mal, wenn man mich wieder auf Abwegen ertappte.
Wenn es Tyvara nur gestattet gewesen wäre, sich mit ihm zu treffen. Dann würde er sie einfach in ihren Räumen besuchen können. Er hätte gern gewusst, wie ihre Räume aussahen. Und was sie ihm über sie verraten würden.
Manchmal habe ich das Gefühl, zu wenig über sie zu wissen, dachte er. Ich weiß nur das, was andere mir über sie erzählen und was ich auf der Reise von Arvice ins Sanktuarium von ihr erfahren habe. Aber niemand wird mir beschreiben, wie es in ihren Räumen aussieht. Nun, ich würde sie allerdings nicht weniger lieben, wenn ihre Einrichtung einen furchtbaren Geschmack offenbarte oder sie in einem schlimmen Durcheinander lebte …
Der Gang begann sich sanft zu biegen. Nach einigen hundert weiteren Schritten sah er vor sich ein Licht. Er verkleinerte seine Lichtkugel so weit, dass er gerade noch genug erkennen konnte, um nicht zu straucheln, und dämpfte seine Schritte.
Als er sich dem Ende des Tunnels näherte, drang ein Rauschen an sein Ohr.
Er starrte voraus, konnte aber niemanden entdecken. Als er aus dem Tunnel trat, fand er sich auf einem Sims wieder, der in die Wand eines gewaltigen, natürlichen Tunnels gehauen worden war. Das Rauschen wurde jäh lauter und schien einem eigenen Rhythmus zu folgen. Er beugte sich etwas vor, um hinabschauen zu können, und sah einen schmalen, aber schnell fließenden Fluss unter sich; der Sims befand sich um das Mehrfache der Höhe eines Hauses darüber. Ein großes Wasserrad beförderte Wasser aus einem Nebentunnel in den größeren Strom. Dieses Wasser war von einer dunkleren Farbe.
Das ist die Kanalisation, begriff er.
Die Luft roch nicht so stark, wie er befürchtet hatte, was vielleicht daran lag, dass er sich nicht in der Nähe des dunklen Wassers und des Wasserrads befand. Wenn man einen solchen Mechanismus aus einer gewissen Entfernung bedienen kann, warum sollte man das nicht tun? Und ich nehme an, man könnte auch einen magischen Schild schaffen, der die verdorbene Luft zurückhält.
»Lorkin.«
Beim Klang der Stimme fuhr er zusammen, aber er konnte deren Urheberin nicht entdecken.
»Hier oben.«
Er blickte auf und sah, dass zwei Frauen ihn von einem weiteren, höher gelegenen Sims herab beobachteten. Sie saßen auf einer aus dem Fels gehauenen Bank. Eine war Tyvara, und die andere …
Er blinzelte überrascht und bestürzt, als ihm klar wurde, dass die andere Frau die Königin war.
Er fasste sich und drückte sich hastig die Hand aufs Herz, um sich zu verbeugen. Die Königin lächelte und winkte ihn heran. Er sah sich um, entdeckte aber weder eine Treppe noch eine Leiter.
»Du kannst doch schweben, oder?«, fragte ihn Tyvara.
Er nickte, schuf eine Kraftscheibe unter seinen Füßen und schwebte darauf zu dem höheren Sims empor.
»Verletze ich irgendwelche Bestimmungen, indem ich hier bin?«, fragte er die Königin. »Ich weiß, dass Tyvara nicht mit mir sprechen soll.«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, erwiderte Zarala und winkte ab. »Hier ist ja niemand, der es sehen könnte. Tatsächlich haben wir gerade von dir gesprochen.«
Er blickte zwischen ihr und Tyvara hin und her und bemerkte das erheiterte Glitzern in den Augen der beiden, als er auf den Sims hinübertrat. »Ich hoffe, nur Lobenswertes und Bewunderungswürdiges.«
»Das wüsstest du wohl schrecklich gern?« Zarala lachte, und die Fältchen um ihre Augen vertieften sich.
Einmal mehr stellte er fest, dass er sie automatisch mochte. Er fragte sich, wo ihre Helferin war. Wie war sie ganz allein hierhergekommen?
»Also, warum bist du hier?«, wollte die Königin wissen. Sie klopfte auf den Platz neben sich.
Er schaute Tyvara an, als er sich setzte. »Um mich bei Tyvara für einen Gefallen zu bedanken, den sie mir erwiesen hat.«
»Tatsächlich? Welchen Gefallen?«
»Ein Rat persönlicher Natur.«
Zarala zog die Augenbrauen hoch und sah Tyvara an. Die junge Frau erwiderte ihren Blick herausfordernd. Das Lächeln der Königin wurde breiter, und sie drehte sich wieder zu Lorkin um.
»Es hat nicht zufällig etwas mit dem Zustand zu tun, in dem sich dein Freund Evar vor einigen Tagen befand, oder?«
Er zog die Brauen zusammen. »Ich muss sagen, die Verräterinnen sind in meinem Ansehen gesunken, als ich erfuhr, dass es keine Bestrafung dafür geben würde.«
Die Miene der Königin wurde ernst. »Man hat ihn nicht dazu gezwungen.«
»Aber es ist gewiss gefährlich, einen Menschen so zu erschöpfen.«
»Ja, es war unvorsichtig.«
»Und vorsätzlich?«
Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Gib gut acht, welche Anklagen du gegen andere vorbringst, Lord Lorkin. Wenn du solche Behauptungen aufstellst, solltest du besser in der Lage sein, sie zu beweisen.«
»Ich bin mir sicher, dass Evar der einzige Zeuge war, und er wird mir kaum dabei helfen. Er scheint zu denken, dass es, wenn er das Bett mit einer Frau teilen will, der natürliche Preis ist, gedemütigt zu werden und Schaden zu nehmen.« Er sah Zarala eindringlich an.
Sie nickte. »Unsere Sitten sind nicht ohne Fehler. Wir mögen nicht in allen Dingen gerecht und gleichberechtigt sein, aber wir kommen diesem Ideal näher als jede andere Gesellschaft.«
»Zumindest haben wir ein solches Ideal«, ergänzte Tyvara. »Ein großer Teil des Widerstands gegen Veränderungen entspringt dem Wissen, dass wir das einzige Volk sind, das von Frauen regiert wird. Wenn wir uns nicht isolieren, werden wir am Ende vielleicht so sein wie alle anderen.«
»Aber wir können nicht ewig in diesem Zustand verharren«, fuhr Zarala mit bekümmerter Miene fort. »Wir haben nur begrenzten Platz. Nur begrenztes bebaubares Land.« Sie schaute auf die Kanalisation hinab. »Selbst dies hier hat Grenzen. Unsere Vorgänger haben Tunnel in den Fels gehauen und den Lauf von Flüssen verändert, um unsere Abwässer auf die andere Seite der Berge zu leiten. Wenn wir sie in sachakanische Wasserwege fließen ließen, würden die Ashaki es vielleicht bemerken und ihnen zurück zu ihrer Quelle folgen. Aber wenn unsere Zahl wächst, werden vielleicht nicht einmal die elynischen Flüsse groß genug sein, um unsere Abwässer zu verbergen, und sie könnten anfangen sich zu fragen, woher sie kommen.«
»Einige von uns wollen die Zahl der Kinder beschränken, die wir haben dürfen«, sagte Tyvara. Sie sah ihn an. »Einige wollen Nichtmagier sogar daran hindern, überhaupt Kinder zu bekommen.«
Die Königin seufzte. »Sie erkennen nicht, dass auch solche Maßnahmen ändern würden, wer wir sind … Veränderung ist unausweichlich. Statt schlimme Konsequenzen und Vernachlässigung über unsere Zukunft entscheiden zu lassen, sollten wir beschließen, uns selbst zu verändern.« Sie sah ihn lächelnd an. »Wie dein Volk es getan hat.«
Er erwiderte ihren Blick und fragte sich, auf welche Veränderungen sie anspielte. Die Aufnahme von Novizen von außerhalb der Häuser? Oder – ein Gefühl der Bestürzung stieg in ihm auf – die eingeschränkte Duldung von schwarzer Magie?
Ich denke nicht, dass sie darüber Bescheid wissen …
»Welche Veränderungen würdest du denn vornehmen wollen?«, fragte er, um vom Thema abzulenken.
Sie grinste. »Oh, du wirst einfach abwarten müssen, um das herauszufinden.« Sie schlug sich auf die Knie und blickte zwischen Lorkin und Tyvara hin und her. »Nun, es wird Zeit, dass ich meine Runden fortsetze und euch zwei allein lasse.«
Als sie Anstalten machte, sich zu erheben, legte Tyvara der alten Frau eine Hand unter den Arm. Lorkin tat rasch das Gleiche. Sobald sie stand, hielt Zarala inne, dann trat sie einen Schritt vor. Gleichzeitig begann sie von ihnen fortzuschweben. Lorkin betrachtete die schimmernde Luft unter ihren Füßen und lächelte.
So ist sie also hier heraufgekommen.
»Lass dich nicht zu sehr ablenken, Tyvara«, rief sie über ihre Schulter. Dann verschwand sie im Tunnel, und das schwache Leuchten einer Lichtkugel flackerte auf, um für einen Moment die Wände zu erhellen.
Tyvara setzte sich, und Lorkin folgte ihrem Beispiel.
»Also … hat Kalia dich laufen lassen, oder hast du dich fortgeschlichen?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Es ist alles ein wenig ruhiger geworden, also habe ich angefangen, sie mit Fragen über die Heilmittel zu belästigen, die sie herstellt.«
Sie lächelte. »Das dürfte seinen Zweck erfüllt haben. Warum bist du hierhergekommen?«
»Um mich bei dir zu bedanken. Danke übrigens.«
»Für die Warnung? Ich dachte, du hättest gesagt, du hättest nicht die Absicht, in irgendjemandes Bett zu steigen?«
»Das ist richtig.«
Sie musterte ihn nachdenklich, öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn dann jedoch wieder.
»Es sei denn, du würdest mich dazu auffordern«, fügte er hinzu.
Sie zog die Augenbrauen hoch, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, aber dann wandte sie den Blick ab und schaute auf die Kanalisation hinab. Es war kaum eine romantische Ablenkung, daher beschloss er, das Thema zu wechseln.
»Also … du drehst dieses Rad mit Magie?«
»Das stimmt.«
»Es muss nach einer Weile langweilig werden.«
»Ich finde es entspannend.« Sie blickte auf und seufzte. »Manchmal zu entspannend.«
»Soll ich bleiben und dich unterhalten?«
Sie lächelte. »Wenn du Zeit hast. Ich will dich nicht von der Krankenstation fernhalten.«
Er schüttelte den Kopf. »Kalia sagte, ich solle ein paar Stunden wegbleiben.«
Tyvara schnaubte verächtlich. »Sie ist nicht die Einzige, die die Rezepturen der Heilmittel kennt. Es wäre sehr dumm, wenn nur eine einzige Person dieses Wissen hütete.«
»Das wäre es.« Lorkin zuckte die Achseln. »Aber ich denke, wenn ich nicht willens bin, die Heilverfahren der Gilde mit ihr zu teilen, warum sollte sie dann ihr Wissen mit mir teilen? Außerdem verschafft mir das etwas Zeit, in der ich herkommen und dich treffen kann. Selbst wenn ich es eigentlich nicht soll.«
Sie lächelte. »Wenn wir entdeckt werden, werden wir klarmachen müssen, dass nur du geredet hast und ich nie ein Wort erwidert habe.«
»Das lässt sich machen. Oder alternativ, dass ich, solltest du etwas gesagt haben, es nicht gehört habe. Aber bist du dir sicher, dass überhaupt jemand verstehen wird, was wir meinen, und nicht einfach nur denken wird, ich sei eben ein typischer Mann?«
Sie lachte. »Dafür kann ich nicht garantieren. Aber ich bin mir sicher, dass wir irgendwie in der Lage sein werden, zu übermitteln, was wir wirklich sagen wollen.«
»Wir könnten heute Nacht Schnee bekommen«, bemerkte Rothen.
Sonea sah ihn an, dann verzog sie das Gesicht. »Der erste Schnee des Jahres. Wenn ich ihn sehe, kann ich nicht umhin, mich an die Säuberung zu erinnern. Selbst nach so vielen Jahren.«
Er nickte. »Ich erinnere mich ebenfalls.«
»Wisst Ihr, es gibt Erwachsene, die sie nie erlebt haben.«
»Die niemals begreifen werden, wie schrecklich es war – und das ist etwas Gutes.«
»Ja. Man wünscht sich, dass die eigenen Kinder es für selbstverständlich halten, dass sie ein besseres Leben haben als man selbst, aber gleichzeitig hofft man, dass sie es nicht für zu selbstverständlich halten, für den Fall, dass sie aus Unwissenheit die Wiederkehr schlimmer Dinge zulassen.«
»Solche Sorgen machen uns zu langweiligen alten Männern und Frauen«, sagte Rothen und seufzte.
Sonea kniff die Augen zusammen. »Wer nennt hier wen ›alt‹?«
Er lachte leise und erwiderte nichts. Sie lächelte und schaute wieder zum Universitätsgebäude. Wie lange war es her, seit sie die kunstvolle Fassade wahrgenommen hatte, die sie einst mit solcher Ehrfurcht erfüllt hatte? Auch ich nehme wunderbare Dinge für selbstverständlich.
»Da kommen sie«, murmelte Rothen.
Als Sonea sich umdrehte, sah sie, dass die Tore der Gilde sich öffneten. Eine Kutsche wartete dahinter. Schon bald war der Weg frei, und die Pferde setzten sich in Bewegung und zogen den Wagen hindurch und über die Straße zur Treppe der Universität.
Der Kutscher ließ die Pferde halten. Die Kutsche schwankte, dann wurde die Tür geöffnet, und eine vertraute, in Roben gewandete Gestalt beugte sich vor und grinste sie an.
»Nett von Euch, meinetwegen aufzubleiben«, sagte Dorrien. Er sprang herunter, dann drehte er sich um und ergriff eine behandschuhte Hand, die in der Tür aufgetaucht war. Ein Ärmel erschien und dann der Kopf einer Frau. Sie spähte hinaus und blinzelte zuerst Sonea, dann Rothen an.
Ein Ausdruck des Wiedererkennens trat in Alinas Augen, als sie den Vater ihres Mannes sah, und sie lächelte schwach. Sie musterte Sonea abermals, und eine Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. Dann senkte sie den Blick auf Soneas Roben und zwang sich zu einer ernsten Miene.
Dorrien half ihr beim Aussteigen, dann tat er das Gleiche für seine beiden Töchter. Die Ältere, Tylia, erschien als Erste. Sie kam im Aussehen nach ihrer Mutter, bemerkte Sonea. Yilara, die Jüngere, ignorierte die dargebotene Hand ihres Vaters und sprang leichtfüßig die Stufen hinunter. Und diese da schlägt nach Dorrien, ging es Sonea durch den Kopf.
Als Nächstes wurden alle miteinander bekannt gemacht und Worte des Willkommens getauscht. Sonea stellte zu ihrer Erheiterung fest, dass Alina nicht auf ihre Begrüßung reagierte und sich dann damit beschäftigte zu überprüfen, dass ihre Töchter präsentabel waren. Sobald sie sich davon überzeugt hatte, ergriff sie Dorriens Arm und sah Sonea mit einem Ausdruck an, der beinahe trotzig war.
Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe, überlegte Sonea. Oder ob ich etwas an mir habe, das sie abstoßend findet. Sie widerstand dem Drang, bitter über ihre eigenen Gedanken zu lachen. Nun, da sind diese schwarzen Roben und die Magie, für die sie stehen.
Oder es konnte sein, dass Dorrien Alina erzählt hatte, dass er und Sonea beinahe eine Art Romanze begonnen hätten. Dass sie sich einmal geküsst hatten.
Gewiss hatte er das nicht getan. Er mag ihr von unserer sehr kurzen Verbindung erzählt haben, aber mehr nicht. Er ist klug genug, um zu wissen, dass man die Frau, die man liebt, nicht mit den Einzelheiten der Beziehungen quälte, die man vor ihr hatte. Sie erinnerte sich an ihre eigene Eifersucht, als Akkarin ihr von der jungen Sklavin erzählte, die er geliebt hatte. Obwohl sie gewusst hatte, dass das Mädchen lange tot war, hatte sie einen gewissen Groll nicht unterdrücken können.
»Schwarzmagierin Sonea!«, erklang eine neue Stimme.
Sie drehte sich um und sah einen Boten, der auf sie zulief.
»Ja?«, erwiderte sie.
»Eine Nachricht … angekommen … im Nordseite-Hospital«, sagte der Mann atemlos. »Ich bin direkt hergelaufen … zu Fuß, keine Verzögerungen.« Als er sie erreichte, übergab er ihr ein zusammengefaltetes Stück Papier.
»Danke«, sagte sie. Sie faltete das Papier auseinander. »Triff den Verräter in Einer Stunde im Pachi-Baum.« Cery hatte gewiss eine Schwäche dafür, Wörter mit großen Anfangsbuchstaben zu schreiben, ging es ihr durch den Kopf. »Und könntest du eine Kutsche für mich bereit machen lassen, so schnell wie möglich?«
Der Bote verneigte sich und eilte davon.
»Was ist passiert?«, wollte Dorrien wissen.
Sie blickte zu ihm auf, dann sah sie seine Familie und Rothen an. »Es tut mir leid, aber ich werde nicht mit Euch zu Abend essen können.«
Dorrien machte einige Schritte auf sie zu und zwang Alina damit, seinen Arm loszulassen. Die Frau runzelte finster die Stirn.
»Hat das etwas mit der Suche zu tun? Kann ich helfen?«
Sonea lächelte schief. »Du wirst noch reichlich Gelegenheit bekommen zu helfen, Dorrien. Heute Abend helfe ich lediglich einem Freund aus. Du sieh zu, dass du etwas zu essen bekommst und dich einrichtest.«
»Ist es Cery?« In Dorriens Augen brannte Interesse. Alinas Augen glühten förmlich vor Ärger und Sorge. Die Augen der Mädchen waren groß vor Neugier.
Sonea seufzte leise. »Als ob ich dir das gerade hier erzählen würde, vor der Universität. Du solltest besser lernen, ein wenig subtiler zu sein, falls du mir von irgendeinem Nutzen sein möchtest.«
Er belächelte ihren neckenden Tonfall. »Also schön, für heute Abend werde ich den ganzen Spaß dir überlassen. Aber beim nächsten Mal solltest du mich besser nicht ausschließen.«
Aus der Richtung, in der die Ställe lagen, kam das Knirschen von Kutschenrädern. Sonea drehte sich zu dem Geräusch um und lief los. »Ich werde euch alle morgen sehen«, rief sie noch über die Schulter.
Als der Fahrer der Kutsche ihre Eile bemerkte, trieb er die Pferde zu einer höheren Geschwindigkeit an, bevor er abrupt vor Sonea anhielt. Sie nannte ihm das Ziel und stieg in den Wagen.
Unterwegs dachte sie über Alinas kaum verhohlene Feindseligkeit ihr gegenüber nach. Habe ich es mir nur eingebildet? Sie schüttelte den Kopf. Das denke ich nicht. Habe ich etwas getan, um es zu verursachen? Nichts, es sei denn, in Dorriens Dorf gilt es als unhöflich, zu lächeln und jemanden willkommen zu heißen, was ich bezweifle. Und wenn es so etwas gäbe, würde Dorrien es uns erzählen.
Alina hatte die Gilde schon einige Male besucht. Beim ersten Mal war sie eine schüchterne junge Frau gewesen, deren Aufmerksamkeit so auf Dorrien konzentriert gewesen war, dass sie Sonea vielleicht nicht einmal bemerkt hatte. Beim nächsten Mal war Alina mit einem winzigen Baby und einem kleinen Kind derart beschäftigt gewesen, dass Sonea sie kein einziges Mal gesehen hatte. Bei einer anderen Gelegenheit war Sonea zu sehr mit der Behandlung eines winterlichen Fiebers in den Hospitälern beschäftigt gewesen, um sich mit Dorrien oder dessen Frau zu treffen.
Nun, Dorrien ist entschlossen zu bleiben, bis Tylia in der Universität ist, also habe ich sechs Monate und länger, um herauszufinden, was Alina so zusetzt – seien es frühere Romanzen oder schwarze Magie –, und ihr zu versichern, dass sie keinen Grund zur Sorge hat.
Die Kutsche verlangsamte ihr Tempo und bog dann in den Eingang des Hospitals ein. Sonea stieg aus und eilte ins Gebäude, wo sie Heiler und Hospitalhelferinnen begrüßte. Heilerin Nikea, die Anführerin der Heiler, die Sonea bei Lorandras Ergreifung geholfen hatten, führte Sonea in den Lagerraum.
»Bleibt Ihr hier, oder geht Ihr wieder fort?«, fragte Nikea.
»Ich muss noch einmal weg«, antwortete Sonea. »Aber keine Maskerade«, fügte sie hinzu, als die junge Frau auf den Karton zuging, in dem Soneas Gewänder lagen, die sie als Hospitalarbeiterin auswiesen. »Einfach etwas Schlichtes, das ich über die Robe ziehen kann.«
Nikea nickte und kramte in dem schlecht beleuchteten hinteren Teil des Raums herum. Dann kam sie mit einem Gewand mit Ärmeln zurück.
»Hier«, sagte sie. »Umhänge gelten auf den Straßen als ein wenig altmodisch. Diese hier sind beliebter.«
Es war ein Mantel von überraschend leichtem Material. Sonea schlüpfte hinein. Wenn auch oben herum wie eine gewöhnliche Jacke geschnitten, war er unter der Brust ausgestellt und weit. Der Saum strich über den Boden. »Er ist ein wenig lang für mich.«
»So trägt man sie. Man knöpft ihn nur bis zum Oberschenkel zu, so dass die Vorderseite aufklafft, wenn man einen Schritt tut. Die Leute werden Eure Roben sehen, aber sie werden annehmen, es handle sich um einen Rock.«
Sonea zuckte die Achseln. »Ich will nicht, dass sie mich erkennen, bevor ich direkt vor ihnen stehe.«
»Dann wird das Euren Zwecken wunderbar genügen.« Nikea lächelte, dann schaute sie nach, ob niemand außer Heilern im Flur war, bevor sie Sonea bedeutete, durch die Tür zu treten.
Schon bald ging Sonea durch Nordseite. Sie verlangsamte ihre Schritte. Der Pachi-Baum war nicht weit weg, und sie wollte nicht zu früh eintreffen. Einen Block von dem Bolhaus entfernt trat einer von Cerys Arbeitern, die sein volles Vertrauen genossen, aus einer Tür und schob ihr einen Korb hin.
»Wenn im Fenster oben rechts die Sichtblende geöffnet wird, geht es los«, sagte der Mann, zog eine leuchtend gelbe Glasflasche hervor und hielt sie ihr unter die Nase. Ein widerlich süßer Geruch bestürmte sie.
»Und dann?«, fragte sie und wedelte das Parfüm weg.
»Ihr geht hinein. Geradewegs die Treppe zur Linken hinauf in den dritten Stock. Die letzte Tür rechts.« Er verkorkte die Flasche und hob schnell eine weitere aus dem Korb, diesmal eine aus hell purpurfarbenem Glas. Das Parfüm roch überwältigend nach Moschus. Sie zuckte zusammen.
»Treppe auf der linken Seite. Dritter Stock. Letzte Tür rechts«, wiederholte sie.
»Gut. Meine Frau verkauft diese Düfte. Sie stellt einige selbst her; andere kauft sie auf den Märkten.«
Die dritte Flasche war schwarz. Der Inhalt roch nach Borke und Erde, was überraschend angenehm war.
»Dieser gefällt Euch«, bemerkte er und hob die Augenbrauen.
»Ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, ihn zu tragen.«
»Ihr tragt oft Parfüm?«
»Eigentlich … überhaupt nicht.«
»Nun, probiert diesen Duft – er ist neu.«
Die nächste Flasche war viereckig und dunkelblau. Der Duft war frisch und leicht und erinnerte sie an eine Meeresbrise – aber nicht an Fische oder faulige Gräser – oder an den Geruch der Luft nach einem Unwetter.
»Das ist … interessant.«
»Ihr braucht das Parfüm nicht zu tragen«, erklärte er ihr. »Ihr könnt einfach einige Tropfen auf ein Tuch geben und es einen Raum beduften lassen.«
Sie griff nach ihrem Geldbeutel. »Wie viel?«
Er nannte einen Preis. Sie machte sich nicht die Mühe zu feilschen, da sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung in dem Fenster wahrnahm, auf das er sie hingewiesen hatte. Die Sichtblende glitt nach oben.
Er reichte ihr die Flasche, lächelte und neigte dankbar den Kopf, während er sich zurückzog. Sie nickte ihm einmal zu, dann ging sie zu dem Bolhaus hinüber und schob die Flasche in eine der Innentaschen des Mantels.
Mehrere Gäste blickten auf, als sie eintrat, und es war offensichtlich, dass sie bemerkt hatten, dass sie nicht die typische Besucherin war. Sie ging auf eine schmale Treppe zu, die an der linken Seite des Raums in die Wand eingelassen war. Die Treppe war steil, und schon bald hatte Sonea den dritten Stock erreicht. Im Flur standen zwei Männer, die sie argwöhnisch musterten. Die Tür zum letzten Raum auf der rechten Seite war offen, und sie konnte Stimmen hören. Eine gehörte Cery. Laut vor Ärger.
Welchen Streit Cery und Anyi auch arrangiert hatten, er fand gerade jetzt statt.
Die beiden Männer traten vor, um ihr den Weg zu versperren. Sie schob sie mit Magie zur Seite. Sobald sie begriffen, dass die Macht, mit der sie es zu tun hatten, magischer Natur war, wichen sie hastig vor ihr zurück. Einer rief eine Warnung.
Ein Mann spähte durch die Tür des letzten Raums und sah sie. Einen Herzschlag später kamen drei Leute aus dem Raum gerannt und stürmten die Treppe am Ende des Flurs hinunter. Eine der Personen war Anyi, wie sie sah. Als sie begriff, dass sie zu spät gekommen war, um den Angriff auf Cery zu verhindern, eilte sie zu der Tür und schaute in den Raum.
Cery und Gol standen mit Messern in der Hand auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Zimmers, aber sie lächelten und waren unversehrt. Sie seufzte vor Erleichterung.
»Sieht so aus, als wäre ich gerade noch rechtzeitig gekommen«, bemerkte sie, trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Cery lächelte. »Der Zeitpunkt war perfekt«, sagte er. »Danke.«
»Das Mindeste, was ich tun konnte«, erwiderte sie. »Also, willst du hierbleiben oder dich aus dem Staub machen?«
Er schaute Gol an, der ein wenig blass und sehr erleichtert wirkte. »Ich denke, wir sollten besser weiterziehen. Willst du uns begleiten?«
»Ob ich das will?«, erwiderte sie.
Cery grinste. »Keine Bange. Ich werde dich an keinen Ort bringen, an dem du nicht gesehen werden willst.« Er klopfte mit dem Fuß auf den Boden, und neben ihm sprang eine Falltür auf.
Natürlich hatte er eine Fluchtroute in der Hinterhand, obwohl ich bezweifle, dass er eine Chance gehabt hätte, sie zu benutzen, wäre ich nicht aufgetaucht.
Cery machte einen Schritt auf die Falltür zu, dann hielt er inne und sah sie abschätzend an. »Übrigens«, bemerkte er. »Hübscher Mantel.«
Etwas packte Lorkin an der Schulter und schüttelte ihn. Er riss die Augen auf und starrte einen grinsenden Evar an.
»Was?«, fragte er, während er gegen eine schwere Müdigkeit kämpfte. »Was ist passiert?«
»Nichts«, versicherte ihm Evar. »Aber wenn du nicht bald aufstehst, wirst du zu spät kommen.«
Lorkin richtete sich auf und betrachtete blinzelnd die leeren Betten um sich herum. Wenn die meisten Männer schon fort waren, hatte er sich bereits verspätet. Er stöhnte, rieb sich das Gesicht und stand auf.
»Ich wünschte, hier gäbe es Zeitmesser«, jammerte er. »Wie soll ich pünktlich aufwachen, wenn ihr keine Alarmglocken habt?«
»Einige der Frauen haben welche. Aber hier … auf welche Zeit sollten wir sie einstellen?«, erwiderte Evar achselzuckend. »Wir alle schlafen zu verschiedenen Zeiten und stehen zu verschiedenen Zeiten auf.«
Lorkin seufzte und begann seine Nachtgewänder gegen eine schlichte Hose und ein Hemd zu tauschen, Kleidungsstücke, die ihm von allen Stilrichtungen der Männerkleider bei den Verräterinnen am besten gefielen. Evar brachte ihm einen Teller mit Brot; die Schicht der süßen Fruchtpastete darauf war so dick, dass sie gegen die Regeln der Winterrationierung verstoßen musste. Lorkin aß hastig und redete sich ein, er tue es nur, um schneller in die Krankenstation zu kommen, nicht um den Beweis für Evars Verschwendung zu verbergen.
»Leota hat gestern Nacht mit mir geredet«, sagte Evar zwischen zwei herzhaften Bissen.
Lorkin hielt inne und musterte seinen Freund. Die Miene des Mannes war sehnsüchtig.
»Sie hat gesagt, sie habe unseren gemeinsamen Abend genossen«, fuhr Evar mit einem schwachen Lächeln fort.
Lorkin kaute, schluckte dann schnell und bedachte seinen Freund mit einem strengen Blick. »Ich bin mir sicher, dass sie das getan hat.«
Evar sah Lorkin an und zuckte die Achseln; sein Lächeln war verschwunden. »Oh, ich weiß, höchstwahrscheinlich meint sie, dass sie es genossen hat, den magischen und politischen Lohn zu ernten, aber es besteht eine Chance, dass sie die andere Art von Vergnügen nicht geheuchelt hat.«
»Fühlst du dich versucht, es herauszufinden?«, fragte Lorkin.
Evar schüttelte den Kopf. »Nun, zumindest nicht bis ich wieder das Gefühl habe, dass es den Preis wert ist«, erwiderte er und nahm noch einen Bissen.
»Du würdest ihr noch einmal vertrauen?« Lorkin war außerstande, die Ungläubigkeit aus seiner Stimme herauszuhalten.
»Ich habe ihr schon beim ersten Mal nicht vertraut«, sagte Evar mit vollem Mund. Er hielt inne, um zu schlucken. »Ich wusste, was geschehen könnte. Es musste einfach Leute geben, die dachten, ich solle dafür bestraft werden, dass ich dich zu der Höhle gebracht habe. Wenn nicht auf diese Weise, dann hätten sie eine andere Möglichkeit gefunden.« Er grinste. »Aber auf die Art hatte ich wenigstens etwas Spaß dabei. Und auch wenn diese Leota opportunistisch sein mag, hat sie doch einen wunderbaren Körper.«
Lorkin starrte seinen Freund an, außerstande zu entscheiden, was er darauf erwidern sollte. Ich kann kaum sagen: »Evar, du bist doch nicht so dumm, wie ich dachte.« Noch würde es ihm gefallen, wenn ich ihm erklärte, er sei genauso skrupellos wie die Frauen. Aber er ist nicht so macht- oder ahnungslos, wie er mir erschienen ist. Tatsächlich könnte er dies schon vor unserem Ausflug in die Höhlen der Steinemacher geplant haben.
»Und wenn sie zufällig doch mehr davon hatte als nur den Erwerb von ein wenig Magie und die Befriedigung, mich bestraft zu haben, dann wird sie vielleicht wiederkommen, um es noch einmal zu genießen«, fügte Evar hinzu, und in seine Augen trat erneut ein glasiger Ausdruck.
Oder vielleicht dreht er es sich jetzt einfach passend, überlegte Lorkin. Aber ich muss ihn trotzdem dafür bewundern. Er scheint in der Lage zu sein, jeder Situation etwas Positives abzugewinnen.
»Besser du als ich«, sagte Lorkin. Er klopfte die Brotkrümel von seinem Hemd, dann reckte er sich. »Nicht dass ich dafür Zeit hätte. Ich gehe jetzt in die Waschräume und dann zurück an die Arbeit.«
Evar verzog das Gesicht. »Ich habe gehört, dass es dort übel aussieht.«
Lorkin nickte. »Wir hatten für eine Weile den Eindruck, als sinke die Zahl der Fieberpatienten ein wenig, aber dann kamen doppelt so viele kranke Menschen herein, und einige von ihnen sind viel kränker als zuvor.«
»Das passiert jedes Jahr.«
»Das hat Kalia mir auch gesagt. Aber ich glaube nicht ohne Weiteres alles, was Kalia sagt, nur für den Fall, dass sie wieder versuchen sollte, mich zu überlisten.«
»Eine gute Idee«, erwiderte Evar und schob sich das letzte Stück Brot in den Mund. Er sprach einige gedämpfte Abschiedsworte, und Lorkin ging zur Tür.
Auf dem Weg zu den Waschräumen und dann weiter zur Krankenstation erschien Lorkin die Stadt ruhiger als gewöhnlich. Hustenanfälle hallten durch die Flure und drangen hinter verschlossenen Türen hervor. Als er sich der Krankenstation näherte, wurde ihm bewusst, dass er etwas nicht hörte: das stete Summen von Stimmen in der Stadt. Erst nahe der Krankenstation vernahm er etwas wie einen schwachen Widerhall dieses Summens – denn dort stieß er auf eine Schlange wartender Patienten, die bis auf den Flur hinausreichte.
Die Leute sahen ihn und runzelten finster die Stirn. Einige funkelten ihn an. Andere musterten ihn abschätzend.
Kalia hat zweifellos bekannt werden lassen, dass ich mich verspätet habe. Er war jedoch nicht so spät dran. Er hatte Zeit wettgemacht, indem er sein Bad im Waschraum sehr kurz gehalten hatte, und konnte nur hoffen, dass dieser Umstand seine Gesellschaft für andere nicht allzu unangenehm machen würde. Wenn ein ordentliches Bad doch nur alles wäre, was es brauchte, um Kalias Gesellschaft angenehm zu machen.
Als er den Raum betrat, wurde ihm schwer ums Herz beim Anblick und Geruch der vielen Kranken. Kalia entdeckte ihn und kam unverzüglich quer durch den Raum auf ihn zustolziert, und er wappnete sich für eine Strafpredigt. Aber stattdessen packte sie ihn am Ellbogen und führte ihn zu einem Ehepaar, das sich über ein Mädchen von etwa sechs Jahren beugte.
»Untersuch sie«, verlangte sie. »Komm und sag mir, wie du den Fall einschätzt.«
Er betrachtete die Eltern, und Mutlosigkeit stieg in ihm auf. Beide starrten ihn mit dunklen, verzweifelten Augen an und sagten nichts. Als er sich dem Mädchen zuwandte, sah er, dass es sehr bleich war; sein Atem ging mühsam, zum Husten hatte es beinahe keine Kraft mehr, und seine verschleimte Lunge rasselte.
Bevor er sie berührte und seine Sinne in sie hineinsandte, wusste er bereits, dass sie kränker war, als sie es hätte sein sollen. Das Kältefieber forderte jedes Jahr seine Opfer bei den Verräterinnen. Die Alten und die Jungen waren die wahrscheinlichsten Opfer und jene, die schon von anderen Krankheiten geschwächt waren.
Außerdem wusste er, dass er sich dem hier irgendwann würde stellen müssen. Kalia hatte es ebenfalls gewusst. Er hatte bereits beschlossen, was er tun würde. Aber er würde es nicht jetzt tun. Nicht solange ihn all diese Leute so eindringlich beobachteten.
Und, begriff er, nicht bevor er eine Gelegenheit gehabt hatte, Tyvara zu fragen, ob er richtig vermutete, was die Konsequenzen sein würden.
Als die Sklaven des Gildehauses begannen, das Abendessen zu servieren, war Dannyl überrascht, Tayends Stimme im Flur zu hören.
»Dann werde ich mich zu ihm gesellen«, sagte Tayend. Einen Moment später trat er durch die Haupttür von Dannyls Räumen. »Hättest du gern ein wenig Gesellschaft beim Abendessen?«
Dannyl nickte und deutete auf einen nahen Hocker. Er hatte befürchtet, dass es zwischen ihm und Tayend zu einem Streit oder irgendeiner Art von Auseinandersetzung kommen würde, aber nichts dergleichen war passiert, und bisher hatten sie sich ohne Konflikte in ihre jeweiligen neuen Rollen gefügt. Und da Tayend so oft unterwegs war, um Sachakaner zu besuchen, war es vielleicht sinnvoll, die Gelegenheit zu nutzen, über diplomatische Angelegenheiten zu sprechen.
»Hast du heute Abend keinen Ashaki zu besuchen?«
Tayend nahm Platz und schüttelte den Kopf. »Ich habe Achati um einen freien Abend gebeten. Es überrascht mich, dass er nicht stattdessen dich eingeladen hat.«
Dannyl zuckte die Achseln. »Ich bin mir sicher, dass er außer uns Botschaftern noch andere Leute hat, mit denen er sich trifft. Du kommst sehr gut mit den Sachakanern aus.«
Ein Sklave eilte mit einem Teller und einem Messer für Tayend in den Raum, so dass er beginnen konnte, sich von den Essenstabletts zu bedienen, die andere Sklaven ihnen darboten.
»Ja, nicht wahr? Es macht gewiss diesen Eindruck. Oder befinde ich mich da im Irrtum? Nach dem, was Ashaki Achati mir erzählt, warst du direkt nach deiner Ankunft auch sehr beliebt. Vielleicht werde ich ebenfalls in Ungnade fallen.«
»Du hast keinen Assistenten, den irgendjemand entführen könnte.«
»Nein, obwohl ich einen gebrauchen könnte – vorzugsweise von der Art, die niemand würde entführen wollen.« Tayend verzog das Gesicht. »Ich wollte mir einen Überblick über die hiesige Situation verschaffen, bevor ich noch jemand anderen darin verwickle. Herausfinden, ob es sicher ist. Wie die Dinge funktionieren.« Er schob etwas von dem würzigen Fleisch auf seinen Teller, dann ließ er einiges an gefülltem Gemüse folgen, bevor er den Sklaven bedeutete, dass sie sich zurückziehen konnten.
»Ich vermute, es würde einige Jährchen dauern, um herauszufinden, wie die Dinge wirklich funktionieren.«
Tayend lächelte schief. »Trotzdem, ich denke, ich habe schon einiges herausgefunden«, erklärte er. »Wie wär’s, wenn ich dir sage, was ich erraten habe, und du mir sagst, ob ich recht habe.« Tayend schob sich einen Bissen in den Mund, kaute und sah Dannyl erwartungsvoll an.
Dannyl zog die Schultern hoch. »Nur zu.«
Tayend schluckte, trank ein wenig Wasser und räusperte sich dann. »Ich bin dahintergekommen, dass wir beide nicht länger ein Paar sind.«
Überraschung folgte eine Welle von Schuldgefühlen. Dannyl zwang sich, Tayend in die Augen zu sehen. Tayends Blick war ruhig.
»Ich schätze, das ist richtig«, erwiderte Dannyl. Ziemlich lahm, fügte er im Stillen hinzu.
»Ich habe es begriffen, als du mich in den Gästezimmern untergebracht hast«, sprach Tayend weiter. »Und erzähl mir nicht, dass es einen Skandal verursacht hätte, wenn ich in deinem Bett geschlafen hätte. Die Sachakaner wussten alles über uns, noch bevor du hierhergekommen bist.« Er spießte einen weiteren Bissen von seinem Teller auf.
Dannyl hustete protestierend. »Sie hätten es trotzdem missbilligen können – genug, um zu verlangen, dass man jemand anderen für uns schickt, oder um sich zu weigern, mit uns Geschäfte zu machen.«
»Es gibt nichts, womit man Geschäfte machen könnte. Wir haben hier nichts zu tun. Sie brauchen nicht mit unseren Ländern Handel zu treiben. Uns hier zu haben ist eine Geste des guten Willens, mehr nicht. Davon abgesehen haben wir für die Sachakaner nur deshalb einen gewissen Wert, weil wir etwas Neues sind oder zu ihrer Unterhaltung dienen. Ich nehme an, du hast länger gebraucht, um das zu begreifen.« Tayend machte eine abschätzige Handbewegung. »Ich habe außerdem begriffen, dass Achati einer wie wir ist und dass du ihm ziemlich gut gefällst.« Seine Augen wurden schmal. »Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, ob du seine Gefühle erwiderst.«
Einmal mehr spürte Dannyl, dass sein Gesicht warm wurde, aber diesmal steckten keine Gewissensbisse dahinter.
»Achati ist ein Freund«, sagte er.
»Dein einziger Freund unter den Sachakanern«, erwiderte Tayend und richtete, um seine Worte zu unterstreichen, sein Messer auf Dannyl. »Du wirst ihn nicht ewig hinhalten können. Was beabsichtigst du zu tun, wenn er des Wartens müde wird? Er scheint mir kein Mann zu sein, den man verärgern möchte.«
Dannyl öffnete den Mund, um zu widersprechen, dann schloss er ihn wieder. »Früher einmal hättest du das über mich gesagt«, brachte er heraus.
Tayend lächelte. »Dann habe ich dich kennengelernt, und so beängstigend warst du gar nicht. Manchmal bist du sogar ein wenig jämmerlich, stets besorgt darüber, was die Leute denken, und du vergräbst dich in deinen Forschungen, um dir selbst das Gefühl zu geben, etwas wert zu sein.«
»Es sind wichtige Forschungen!«, wandte Dannyl ein.
»Oh. Ja. Sehr wichtig. Wichtiger als ich.«
»Früher hast du dich ebenfalls dafür interessiert. Aber sobald es nicht mehr darum ging, umherzureisen und Abenteuer zu erleben, sondern nur noch um harte Arbeit, war es dir nicht mehr wichtig.«
Tayends Augen blitzten vor Ärger, aber dann zögerte er und wandte den Blick ab. »Ich nehme an, es muss wohl so aussehen. Für mich fühlte es sich so an, als hätte ich nichts mehr beizutragen. Das Schreiben war immer deine Aufgabe. Sobald ich die Große Bibliothek verlassen hatte, war ich ein jämmerlicher Gelehrter.«
Die Entrüstung über Tayends Einschätzung seiner Person verblasste. »Du warst niemals ein jämmerlicher Gelehrter«, entgegnete Dannyl. »Wenn ich gewusst hätte, dass du dich immer noch für die Forschungen interessierst, hätte ich etwas gefunden, irgendeine Möglichkeit, dich weiter mit einzubeziehen.«
Tayend blickte auf und legte die Stirn in Falten. »Ich dachte, du würdest mich aussperren. Dass du ohne mich nach Sachaka gegangen bist, hat es mir bestätigt.«
»Es war … ich glaubte, es sei gefährlich hier für dich.«
»Du hast auf jeden Fall erreicht, dass ich besorgt war. Als mein König meinen Vorschlag, als erster elynischer Botschafter nach Sachaka zu gehen, annahm, war ich mir sicher, mich auf etwas viel Gefährlicheres einzulassen, als es bisher den Anschein hat.«
»Wie hast du ihn überzeugt?«
»Ich gar nicht. Andere haben das getan.« Tayend zuckte die Achseln. »Es scheint, als hätten alle es für eine großartige Idee gehalten, jetzt, da Kyralia einen Botschafter hier hatte, ebenfalls jemanden herzuschicken, aber niemand war dumm genug, es vorzuschlagen, für den Fall, dass man ihn mit dem Amt betraute.«
»Wer hat dich unterstützt?«, fragte Dannyl, hauptsächlich aus Neugier.
Tayend lächelte. »Das werde ich nicht verraten.« Er schaute auf seinen Teller hinab. »Wir sollten essen, oder die Mahlzeit wird kalt werden.«
Dannyl schnaubte leise. »Elyner und ihre verwickelte Politik.«
»Wir sind gut darin – und es war hier von Vorteil. Ich könnte mich vielleicht sogar als fähig erweisen, dich vor Schwierigkeiten zu bewahren.«
Dannyl, der sich wieder seiner Mahlzeit zuwandte, dachte über die Worte seines ehemaligen Geliebten nach. »Also bist du den ganzen Weg bis nach Sachaka gekommen, nur um zu sehen, was ich im Schilde führe?«
Wieder wurden Tayends Augen schmal. Er antwortete nicht sofort, sondern kaute stattdessen nachdenklich. »Nein«, sagte er schließlich. »Als du fortgingst, hast du mir damit zu der Erkenntnis verholfen, dass ich mich langweilte. Es stellte sich heraus, dass du recht hast: Eine Aufgabe zu haben macht das Leben tatsächlich interessanter.«
»Und diese Aufgabe ist was?«
Aber Tayend kaute wieder.
Der erste elynische Botschafter in Sachaka zu sein, beantwortete Dannyl seine eigene Frage. Er musste zugeben, dass Tayends Kühnheit ihn beeindruckte, und der extravagante Mann taugte sehr gut für die Aufgabe. Er verstand viel von Politik – selbst wenn er sich häufig dafür entschied, gesellschaftliche Tabus und Traditionen zu ignorieren – und war sehr scharfsichtig, was Menschen betraf.
Aber ich hoffe, nicht zu scharfsichtig, wenn es um Achati geht.
Das Abendessen mit Naki und ihrem Vater war stets von langen Minuten des Schweigens erfüllt. Lord Leiden erkundigte sich immer danach, wie ihre Studien sich entwickelten, und Nakis Antworten waren im Allgemeinen höflich, aber kurz. Er fragte auch nach Lilias Familie, aber sie sah sie nicht mehr allzu oft, daher gab es nicht viel zu erzählen, und er schien sich ohnehin nicht wirklich für ihre Antworten zu interessieren.
Diesmal hatte Lilia das Gefühl, dass das Abendessen sich viel länger hinzog als gewöhnlich, und das aus Anstand geheuchelte Interesse hatte begonnen sie zu ärgern. Nicht einmal das hervorragende Essen konnte sie für die Langeweile entschädigen. Sie war sich nicht sicher, ob die langen Tage der Erwartung der Grund für ihre Ungeduld waren, endlich mit Naki allein zu sein, oder ob Nakis Stimmung auf sie abfärbte.
Ihre Freundin war definitiv in einer seltsamen Gemütsverfassung. Nakis Antworten auf die Fragen ihres Vaters waren kürzer ausgefallen als gewöhnlich – beinahe schnippisch. An einem Punkt hatte sie ihn nach irgendjemandem gefragt, und er war zusammengezuckt, hatte sie missbilligend angesehen und das Thema gewechselt. Zu Lilia war sie jedoch übertrieben freundlich, beugte sich zu ihr vor, tätschelte ihr das Knie, zwinkerte ihr zu oder schnitt Grimassen. Lilia war erleichtert, als die Mahlzeit schließlich zu Ende ging.
Naki führte sie wie gewöhnlich nach oben in ihr Schlafzimmer. Sobald die Tür sich geschlossen hatte, ging Naki im Raum auf und ab und begann eine Tirade von Flüchen, wie Lilia sie nicht mehr gehört hatte, seit sie als Kind den Hafen besucht hatte.
»Was ist los?«, fragte Lilia.
Naki seufzte und drehte sich zu ihr um. »Ich kann dir die Einzelheiten nicht verraten. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er etwas über ein kleines Projekt herausgefunden hat, das ich heimlich in Gang gesetzt hatte, und um mich zu bestrafen, hat er mir etwas weggenommen – nein, er hat mir etwas gestohlen.« Sie ballte die Fäuste, stolzierte zum Bett hinüber und setzte sich auf die Kante. Als sie zu Lilia aufblickte, verdrängte ein verlorener Ausdruck den früheren Zorn. »Weißt du, er gibt mir nur gerade genug Geld, um davon alles zu kaufen, was ich für die Universität brauche. Wenn ich Spaß haben will, muss ich eine andere Möglichkeit finden, dafür zu bezahlen. Und jetzt habe ich keine mehr.«
Das Glühhaus. Der Wein, den sie in die Gilde schmuggelt. Sie hat immer dafür bezahlt. Ich habe nichts bezahlt. Lilia fühlte sich schuldig. Sie ging zum Bett hinüber und setzte sich neben ihre Freundin.
»Was ist mit dem Taschengeld, das wir bekommen?«
Naki verzog das Gesicht. »Du bekommst es; ich bekomme es nicht. Weil ich aus einem der Häuser stamme, bekomme ich gar nichts. Stattdessen wird von meiner Familie erwartet, mir ein Taschengeld zu zahlen.«
»Du hast immer alles bezahlt«, begann Lilia. »Ich sollte …«
»Nein!« Naki schnitt ihr das Wort ab. »Biete mir ja nicht an, für meine kleinen Extras zu bezahlen.«
»Unsere Extras«, korrigierte Lilia sie. »Lass mich zumindest dafür bezahlen, bis du … eine andere Möglichkeit findest, etwas Geld zu verdienen. Es wäre schön, wenn ich für eine Weile dich verwöhnen könnte.«
Naki sah Lilia überrascht an, dann verzog sie die Lippen zu einem breiten Lächeln. »Oh Lilia. Du bist so nett.« Sie schlang die Arme um Lilia und zog sie an sich.
Lilia erwiderte die Umarmung ihrer Freundin. Die schlichte Wärme dieser Geste erfüllte sie mit Glück. Als Naki von ihr abrückte, ließ sie sie los, aber das andere Mädchen lehnte sich nur ein wenig zurück. Lilia schaute auf und stellte fest, dass Naki sie mit nachdenklicher Miene eindringlich musterte.
Dann beugte Naki sich vor und küsste sie.
Wieder einmal stürmten alle möglichen Hoffnungen und Ideen auf Lilia ein, die die anderen Novizen missbilligten, und ihr Herz begann sehr schnell zu schlagen. Sie erwiderte den Kuss und wagte nicht, darüber nachzudenken, was als Nächstes geschehen könnte; sie wollte das Risiko nicht eingehen, den Augenblick zu verderben.
Unausweichlich beendete Naki den Kuss. Ihre Augen waren dunkel, ihre Miene undeutbar. Lilia hätte ihr gern ihre Liebe gestanden, aber sie zögerte aus Angst, dass sie die Situation falsch einschätzte und Naki sie vielleicht abstoßend finden mochte.
Plötzlich grinste Naki und sprang vom Bett. »Lass uns in die Bibliothek gehen«, sagte sie. »Ich habe dort ein wenig Feuel verstaut.«
Können wir denn gar nichts ohne Feuel tun? Lilia schob den mürrischen Gedanken beiseite und stand auf. »In Ordnung …«
Naki wurde noch übermütiger und rastloser, als sie sich leise in die Bibliothek schlichen, und ihre Bewegungen verrieten größte Erregung. Sobald das Kohlebecken brannte, drängte sie Lilia, den Rauch tief einzuatmen. Sie ließen sich in zwei großen Sesseln nieder.
»Wird dein Vater nicht hier hereinkommen?«, fragte Lilia, bevor die Droge sie daran hindern konnte, der Angelegenheit genug Beachtung zu schenken.
»Er wird schlafen«, erwiderte Naki. »Bevor du gekommen bist, hat er sich darüber beklagt, dass er einen langen Tag gehabt habe und so müde sei.«
Sie entspannten sich für ein Weilchen und genossen das Feuel, dann stand Naki auf und ging zu dem Tisch mit der Glasplatte. Sie stützte sich darauf und schaute auf den Inhalt hinab. Einen Moment später richtete sie sich auf, als sei sie zu einer Entscheidung gekommen, und öffnete die Seite des Fachs unter der Glasplatte. Sie griff hinein und holte etwas heraus, und als sie zu den Sesseln zurückkam, sah Lilia, dass es das Buch war, das Naki ihr schon einmal gezeigt hatte. Das Buch, das Anweisungen über die Benutzung von schwarzer Magie enthielt.
Ein schwaches Unbehagen regte sich in Lilia, aber sie war zu träge, um auch nur die Stirn zu runzeln.
Mit einem Seufzen ließ Naki sich wieder in ihren Sessel fallen. Sie hob das Buch hoch und musterte es nachdenklich. Dann schlug sie es auf und blätterte vorsichtig in den Seiten.
»Ich könnte wahrscheinlich ganze Absätze daraus zitieren.«
»Wie oft hast du es dir angesehen?«, fragte Lilia.
»Öfter, als ich mich erinnern kann.« Naki zuckte die Achseln. »Mein Vater sollte wissen, dass ich es als Herausforderung auffasse, wenn er mir etwas verbietet.«
»Du hast das ganze Ding gelesen?«
Naki blickte zu Lilia auf und lächelte. »Natürlich. Es ist kein dickes Buch.«
»Also hast du auch den Teil gelesen … der …«
Nakis Lächeln wurde breiter. »Den Teil über schwarze Magie. Ja. Habe ich.« Sie senkte den Blick. »Es ist erstaunlich einfach. Ich habe mich oft gefragt, ob ich es tun könnte, wenn ich diese Anweisungen befolge.«
»Aber man kann schwarze Magie nicht aus einem Buch lernen«, rief Lilia ihr ins Gedächtnis. »Sie muss von Geist zu Geist gelehrt werden.«
»Das ist wahr. Ich frage mich, warum sie sich dann die Mühe gemacht haben, es aufzuschreiben.« Naki blätterte weiter in den Seiten, dann hielt sie Lilia das aufgeschlagene Buch hin. »Was meinst du?«
Trotz des Feuels zögerte Lilia. Schon etwas über schwarze Magie zu lesen war verboten.
»Nur zu«, sagte Naki. »Ich wollte es schon immer jemandem zeigen und ihn nach seiner Meinung fragen, aber ich habe noch nie jemandem genug vertraut.«
Ein Glücksgefühl stieg in Lilia auf, und sie lächelte Naki an, während sie die Hand nach dem Buch ausstreckte. Sie vertraut mir. Sie denkt, meine Meinung sei etwas wert. Sie senkte den Blick auf die offene Seite und begann zu lesen.
… Die Möglichkeiten, mit denen der Körper dies erreicht, werden weniger verstanden als gespürt. So ist es auch mit der höheren Magie. Im frühen Stadium seiner Ausbildung lehrt man einen Meisterschüler, sich seine Magie als ein Gefäß vorzustellen – vielleicht eine Schachtel oder eine Flasche. Während er mehr lernt, begreift er, was seine Sinne ihm sagen: dass sein Körper das Gefäß ist und dass die natürliche Barriere der Magie an der Haut seine Macht im Inneren festhält. Und so kommt es, dass er, sollte er auf eine Bresche in der Barriere einer anderen Person stoßen (wie im Ritual der höheren Magie), seine Sinne in den Körper des anderen ausstrecken kann, und zwar auf eine vollkommen andere Art als beim Heilen. Er erkundet nämlich die Macht im Körper des anderen, nicht dessen Körper selbst. Außerdem kann er diese Macht beeinflussen, sie entfernen oder ihr etwas hinzufügen. Obwohl es möglich ist zu spüren, wie viel Macht eine Person besitzt, ist es nicht möglich einzuschätzen, wie stark die betreffende Person ist. Man kann die körperliche Erschöpfung eines Mannes spüren, der seiner Magie beraubt wurde, was die Vermutung nahelegt, dass die körperliche Energie angezapft wird, sobald die magische Energie aufgebraucht wurde. Aber bevor dieser Punkt erreicht wird, ist es unmöglich festzustellen, ob überhaupt etwas von der Magie weggenommen worden ist. Ebenso ist es schwierig, die Magie gleichzeitig mit dem Körper selbst zu erkunden oder zu manipulieren …
Von diesem Punkt an schwafelte der Autor über Heilkunst. Sein Stil ist schrecklich, ging es Lilia durch den Kopf. Er schreibt einfach immer weiter und weiter und kommt niemals zum Punkt. Es gibt keine Absatzunterteilungen. Sie blätterte die Seiten durch. Kein einziger Absatz in dem ganzen Buch.
»Und? Was denkst du?«, fragte Naki, während sie erneut Feuel in das Kohlebecken legte.
Lilia kehrte zu der Seite über schwarze Magie zurück und zwang sich, die Passage noch einmal zu lesen. »Das ist nicht viel.«
»Mehr als irgendjemand uns je erzählt hat«, bemerkte Naki. »Ich habe versucht, meine Magie so zu spüren, wie er es beschreibt.«
Lilia blickte auf. »Und?«
Naki lächelte. »Ich denke, ich habe den Bogen raus.« Sie beugte sich vor. »Versuch es einmal.«
»Jetzt?«, protestierte Lilia schwach. Sie war zu träge, um irgendwelche geistigen Tricks zu versuchen.
»Ja. Es ist ganz einfach, sobald man die richtige Vorstellung davon hat. Und wenn du ein wenig Rauch in dir hast, wird sich dir dabei ganz schön der Kopf drehen.« Nakis Augen blitzten.
Achselzuckend schloss Lilia die Augen. Sie kämpfte gegen die Lethargie, dann beschwor sie im Geiste ein Bild der Tür herauf, die man sie als den Eingangspunkt zu ihrer Magie zu sehen gelehrt hatte. Sie öffnete die Tür und spürte, wie ihre Sinne kribbelten und die Wirkung des Feuels ein wenig nachließ.
Wie immer stellte sie sich einen Raum in sich selbst vor, winzig und spärlich möbliert, was sie sowohl an das kleine Schlafzimmer erinnerte, das sie mit ihren Geschwistern geteilt hatte, als auch an ihr Zimmer im Novizenquartier. Der Raum war erfüllt von einem warmen Licht.
Aber das Buch sagt, dies sei lediglich eine Methode, um meine Macht zu visualisieren. Die realen Mauern sind die Barriere meiner Haut. Also müsste ich in der Lage sein …
Sie ließ die Mauern los, und sie verblassten und wurden dunkel. Die Wärme und das Leuchten des Lichts entglitten langsam ihrer Wahrnehmung, und es blieb lediglich eine andere Art, sich ihrer bewusst zu sein. Sie erweiterte dieses Bewusstsein bis an seine Grenzen. Sie hatten nicht die Form eines Beines und eines Arms, stellte sie fest, und doch … sie hatte ein Gefühl für ihre körperliche Gestalt, so als ob deren blasses Abbild die Magie in ihr überlagerte.
Für eine gewisse Zeit dachte sie darüber nach, dann fiel ihr Naki wieder ein, und sie zog ihr Bewusstsein aus sich selbst heraus.
»Das ist … erstaunlich«, hauchte sie.
Naki lächelte. »Du hast es geschafft? Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Du bist einfach zu klug.« Sie stand auf, kam näher, stützte sich auf die Armlehne des Sessels und drehte Lilias Hände so, dass sie das Buch lesen konnte. »Lass uns etwas anderes versuchen. Mal sehen, ob du meine Magie spüren kannst.«
»Aber … du müsstest dich schneiden, damit ich das tun könnte.«
Naki beugte sich näher zu Lilia heran. Ihr Atem roch nach Feuel. Sie verzog einladend die Lippen. »Das werde ich für dich tun. Ich würde alles für dich tun.«
Lilia sah ihre Freundin an und spürte, wie ihr Herz warm wurde und sich ausdehnte. »Ich würde auch alles für dich tun«, erwiderte sie aufrichtig.
Nakis Lächeln wurde breit vor Entzücken. »Nun, lass es uns tun«, sagte sie. Sie blickte sich suchend um, dann tänzelte sie zu dem Tisch mit der gläsernen Oberfläche und griff abermals hinein. Was immer sie herausgeholt hatte, war klein und in ihrer Hand verborgen. »Es ist alt, also weiß ich nicht, ob es scharf genug ist … au! Ja, das hat funktioniert.«
Naki hockte sich wieder auf die Sessellehne und streckte die Hand aus. Ein winziges Messer lag darin, und eine kleine, rote Linie, aus der Blutstropfen sickerten, verunzierte ihre Haut. Lilia befiel ein Frösteln, das drohte die Wirkung des Feuels endgültig aus ihrem Kopf zu vertreiben.
»Nur zu. Bevor die Wunde wieder verheilt.«
Ich würde alles für dich tun. Widerstrebend nahm Lilia das Messer in eine Hand und umfasste Nakis Hand mit der anderen. Sie schloss die Augen.
Es war nicht schwer, zu dem neuen Bewusstsein ihrer Magie zurückzufinden. Irgendwie wusste sie, wohin sie ihren Geist senden musste, um ihre Hand zu finden. Und dann spürte sie es. Die Präsenz von etwas anderem war schwach … außer an dieser Stelle. Der Schnitt fühlte sich wie ein Lichtblitz in ihrem Geist an. Er zog sie an wie das Versprechen auf Sonnenlicht am Ende eines Tunnels. Als sie ihn erreichte … Naki.
Das andere Mädchen verströmte eine vertraute rastlose Erregung und Neugier, mit einem Unterton von Ärger – alt und auf jemand anderen gerichtet, also galt er höchstwahrscheinlich ihrem Vater.
– Nimm etwas von meiner Macht, erklang Nakis Stimme am Rand von Lilias Wahrnehmung.
Ein Blitz aus Magie sprang durch die Bresche in Nakis Barriere. Sofort verstand Lilia, wie einfach es sein würde, durch die Bresche zu greifen und diese Energie in sich selbst hineinzuziehen. Aber sie wollte es nicht tun und brauchte es auch nicht zu tun. Also zog sie sich aus Nakis Präsenz zurück und öffnete die Augen.
»Ich denke, es hat funktioniert. Nur dass … es ist zu einfach.« Sie runzelte die Stirn. »Ich kann es unmöglich richtig machen.«
Ein Finger zeichnete ein träges Muster auf ihren Arm und ihre Hand. Sie schaute hinab und blickte dann zu Naki auf. In den Augen des Mädchens brannte eifrige Erwartung. »Lass mich es versuchen.« Sie bedachte Lilia mit einem vielsagenden Blick. »Wir machen das zusammen.«
Eine Welle der Zuneigung stieg in Lilia auf. Sie ergriff das kleine Messer, biss die Zähne zusammen und fuhr sich dann damit über die Rückseite ihres Arms. Naki strahlte sie an, dann berührte sie sanft die Schnittwunde. Als sie die Augen schloss, tat Lilia das Gleiche und fragte sich, wie es sich anfühlen würde, diejenige zu sein, deren Barriere durchbrochen wurde.
Diesmal stellte sich ihr Bewusstsein sofort auf die neue Aufgabe ein. Die Bresche in ihrer natürlichen Barriere war leicht aufzuspüren; sie weckte ein Gefühl von Dringlichkeit, das sie verärgerte. Plötzlich spürte sie wieder Nakis Präsenz, aber diesmal nahm sie nichts von ihren Gefühlen wahr.
Eine seltsame Schwäche, wie die Losgelöstheit von aller Willenskraft, die Feuel mit sich brachte, überkam sie, und sie spürte, wie Energie aus ihr herausfloss.
Doch so schnell es begonnen hatte, hörte es wieder auf. Naki ließ ihren Arm los, und Lilia zog ihr Bewusstsein zurück in die körperliche Welt. Ihre Freundin runzelte kopfschüttelnd die Stirn.
»Ich glaube nicht, dass es funktioniert hat.«
»Nein?«, fragte Lilia überrascht. »Ich bin mir sicher, dass ich gespürt habe, wie du Macht von mir genommen hast.«
Naki schüttelte abermals den Kopf. Sie verzog die Lippen zu einem Schmollmund, ging zu ihrem Sessel hinüber und warf sich hinein. »Ich konnte nichts spüren. Nicht die Bresche in deiner Barriere. Nicht dich.« Sie seufzte. »All die Jahre, in denen ich es ausprobieren wollte … und jetzt, da ich jemanden habe, dem ich genug vertraue, um es zu versuchen, funktioniert es nicht …«
»Nun, wenn es so einfach wäre, wäre es möglich, es aus einem Buch zu lernen. Wenn du willst, können wir es noch einmal versuchen«, bot Lilia an.
Naki schüttelte den Kopf. Sie betrachtete verdrossen das Kohlebecken, dann benutzte sie ein wenig Magie, um es zu öffnen und den brennenden Inhalt zu löschen. Einen Moment später stand sie auf und verstaute das Kohlebecken.
»Lass uns ins Bett gehen.«
Voller Erleichterung, da sie langsam den Schwindel und den Kopfschmerz verspürte, die bedeuteten, dass sie ein wenig zu viel Feuel gehabt hatte, stand Lilia auf und folgte ihrer Freundin aus der Bibliothek. Naki ging an ihrem Schlafzimmer vorbei und trat in das Gästezimmer, in dem Lilia schlief, wenn sie bei ihr übernachtete. Sie hielt schnurstracks auf eine kunstvoll geschnitzte Truhe zu, wühlte unter einigen Bündeln und förderte eine Flasche Wein zutage.
»Durst?«
Lilia zögerte, dann nickte sie. Obwohl sich ihr Kopf bereits von dem Feuel ein wenig drehte, hatte sie großen Durst. Naki öffnete die Flasche und hob sie an die Lippen. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, grinste sie und reichte Lilia die Flasche, deren Inhalt umherschwappte. »Hier in diesem Zimmer gibt es keine Gläser. Vater hat Wein und Feuel verboten, aber ich habe Freunde unter den Dienern.«
Lilia nahm einen unbeholfenen Schluck aus der Flasche. Mit einem Seufzer warf Naki sich auf das Bett. Als Lilia ihr die Flasche zurückgeben wollte, machte sie eine abwehrende Handbewegung.
»Er ist nicht mein richtiger Vater«, murmelte sie. »Mutter hat ihn geheiratet, nachdem mein richtiger Vater gestorben war. Nach ihrem Tod bekam Leiden alles, was sie hatte, mich eingeschlossen. Wir haben einander nie gemocht. Er wird mich verheiraten, sobald ich meinen Abschluss habe, an den ersten Mann, der fragt, nur um mich loszuwerden.« Sie seufzte abermals.
Lilia stellte die Flasche beiseite und legte sich neben ihre Freundin. »Das ist ja schrecklich.« Der Gedanke, dass Naki an einen Mann verheiratet werden würde, den sie offensichtlich niemals begehren würde, tat Lilia bis in die Seele weh. Wenn er es tut, nachdem sie ihren Abschluss gemacht hat … das ist nur noch ein halbes Jahr! Würden sie einander dann noch sehen können? Konnten sie ihre Liebe geheim halten?
»Ich wünschte, er wäre tot«, flüsterte Naki. Sie drehte den Kopf, um Lilia anzusehen. »Du hast gesagt, du würdest alles für mich tun. Würdest du ihn töten, wenn ich dich darum bäte?«
Lilia lächelte und zuckte die Achseln. Der Wein stieg ihr zu Kopf, und sie hatte keine Energie für eine Antwort. Es muss eine andere Möglichkeit geben, Nakis Probleme zu lösen. Mord ist ein wenig extrem. Aber was war, wenn es keine andere Möglichkeit gab? Könnte ich schwarze Magie benutzen und es verbergen? Es wie einen Unfall aussehen lassen? Naki murmelte etwas, aber die Worte waren weit entfernt, und es hätte sie zu große Konzentration gekostet, um sie zu verstehen.
Den Kopf voller dunkler Gedanken glitt Lilia in seltsame, lebhafte Träume, in denen sie Naki all ihrer Probleme entledigte und sie ein Leben voller Liebe und Geheimnisse führten, in einem Haus mit Treppen und versteckten Türen und Schränken voller frustrierend rätselhafter Bücher.
Als die Kutsche vor dem Turm vorfuhr, lächelte Sonea schief.
Es hatte sich als schwierig erwiesen, ein passendes Gefängnis für Lorandra zu finden. Die städtische Wache hatte Einwände dagegen erhoben, eine Magierin in ihrem Gefängnis aufzunehmen – selbst eine, deren Kräfte blockiert worden waren. Auf dem Gelände der Gilde gab es kein Gefängnis, und im Magierquartier war kein Platz für sie – und selbst wenn dort Platz gewesen wäre, Sonea bezweifelte, dass die dort lebenden Magier glücklich darüber gewesen wären, Lorandra als Nachbarin zu haben. Man hatte kurz die Dienstbotenquartiere in Erwägung gezogen, aber sie waren noch überfüllter – etwas, worum man sich bald kümmern sollte, hatte Osen bemerkt. Der Vorschlag, Lorandra auf Dauer in der Kuppel zu lassen, wurde nur im Scherz gemacht.
Die vorübergehende Lösung bestand darin, den Ausguck als Gefängnis zu benutzen. Der Wiederaufbau des Turms hatte auf Akkarins Vorschlag hin vor der Invasion der Ichani begonnen. Danach war er fertiggestellt worden, und einige Alchemisten hatten ihn für ein paar kurze Jahre benutzt, um das Wetter zu studieren. Schließlich lieh man ihn der Wache für Trainingszwecke, unter der Auflage, dass er gewartet wurde und stets besetzt sein würde.
Obwohl die Wache klargemacht hatte, dass sie Lorandra in ihrem Gefängnis nicht wollte, hatte sie deren Bewachung im Ausguck bereitwillig übernommen. Also war es eindeutig nicht die Tatsache, dass Lorandra eine Magierin war, was der Wache zu schaffen machte. Es leuchtete ihr ein, dass eine Bewachung des Turms, sollte Skellin eine Rettungsmission anstreben, einfacher sein würde als die des städtischen Gefängnisses. Sonea wusste, dass das Problem der Bestechlichkeit unter den Wachen schon früher dazu geführt hatte, dass Gefangene entkommen waren. Die Gefahr, dass sie Lorandra freiließen, war geringer, wenn sie von einer kleineren Gruppe bewacht wurde, von Männern, die sorgfältig aufgrund ihrer Loyalität und Vertrauenswürdigkeit ausgewählt wurden.
Oder vielleicht weiß die Wache auch, dass die Gilde weiterhin einen Magier abstellen wird, um Lorandra zu bewachen. Wie lange würden Magier sich bereitfinden, die Frau zu bewachen, wenn sie es in dem schmutzigen, unangenehmen städtischen Gefängnis tun müssten?
Nachdem Sonea aus der Kutsche gestiegen war, blickte sie zu dem Gebäude auf, und ein kleiner Stich der Traurigkeit durchzuckte sie. Hätte es dich gefreut, dass wir den Turm fertiggestellt haben, Akkarin?, dachte sie. Oder war er nur als Ablenkung gedacht, um die Aufmerksamkeit der Gilde von dir fernzuhalten, wie manche es glauben?
Es war ein schlichtes Gebäude, nur ein runder Turm, der doppelt so hoch war wie die ihn umgebenden Bäume. Die Mauern waren glatt, die Fenster klein – das erinnerte sie an das Fort mit seinen Mauern aus magisch gebundenem Stein und seinen winzigen Fenstern. Rund um den Turm waren Wachen postiert. Eine von ihnen, die neben der schweren Holztür stand, verbeugte sich, als sie näher kam, und öffnete ihr die Tür.
Sie trat in einen großen, von mehreren kleinen Lampen erhellten Raum. Zwei weitere Wachen und ihr Hauptmann erhoben sich und verneigten sich. Sie hatten zusammen mit einem jungen Krieger, der Sonea respektvoll zunickte, an einem Tisch gesessen.
Der Hauptmann trat vor und verneigte sich abermals.
»Schwarzmagierin Sonea. Ich bin Hauptmann Sotin«, sagte er.
»Ich bin hier, um die Gefangene zu sprechen«, erklärte sie.
»Folgt mir.«
Er führte sie eine Wendeltreppe hinauf und blieb vor einer Holztür stehen, in die man jüngst eine kleine Luke geschnitten hatte. Nachdem er die Luke geöffnet hatte, bedeutete er ihr hindurchzuschauen. Sie sah ein Bett und einen Schreibtisch und eine vertraute alte Frau mit rötlicher Haut, die auf einem Stuhl saß. Lorandras Aufmerksamkeit war auf etwas in ihren Händen gerichtet.
»Schwarzmagierin Sonea ist hier, um Euch zu sprechen«, verkündete der Hauptmann, dessen Stimme laut in Soneas Ohren klang.
Die Frau schaute auf und starrte, ohne das Gesicht zu verziehen, auf die Luke. Dann senkte sie den Blick wieder auf ihre Hände, die sich noch immer bewegten.
»Sie spricht nicht viel«, sagte der Hauptmann entschuldigend.
»Das hat sie noch nie getan«, erwiderte Sonea. »Schließt die Tür auf.«
Er gehorchte, nahm einen Schlüsselring von seinem Gürtel und öffnete die Schlösser. Zwei Schlösser, bemerkte Sonea. Sie muss sie wirklich nervös machen. Sonea trat in den Raum und hörte, wie die Tür hinter ihr geschlossen wurde. Lorandra schaute wieder auf und bedachte Sonea mit einem harten Blick, bevor sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Gegenstand in ihren Händen richtete. Sonea sah genauer hin und stellte fest, dass es sich um eine Art Stoff handelte, den die Frau mit dickem Zwirn und einem kurzen, gebogenen Draht herstellte. Die Geschwindigkeit, mit der der improvisierte Haken sich durch den Rand des Stoffes bewegte und ständig neue Maschen anknotete, ließ auf jahrelange Übung schließen.
»Was tut Ihr da?«, fragte Sonea.
Lorandra betrachtete sie mit schmalen Augen. »Es nennt sich ›binda‹, und die meisten Frauen in meinem Heimatland verstehen sich auf dieses Handwerk.«
Der Stoff bewegte sich in ihren Händen, und Sonea sah, dass es eine Art Schlauch war. Überrascht und ermutigt durch Lorandras Bereitschaft zu sprechen dachte sie darüber nach, wie sie die Frau dazu bringen könnte fortzufahren.
»Und was stellt Ihr da her?«
Lorandra schaute hinab. »Etwas, um mich warmzuhalten.«
Sonea nickte. Natürlich. Der Mittwinter steht bevor, also wird es noch kälter werden. Sie kann keine Magie mehr benutzen, um die Luft zu wärmen. Einen Kamin gibt es nicht, und ein Kohlebecken werden die Wachen ihr nicht anvertrauen. Trotzdem war es im Raum nicht besonders kalt. Die Wärme aus den unteren Räumen musste einiges dazu beitragen, die Kälte zu vertreiben.
»Wir benutzen normalerweise einen Stock, in dessen Ende ein Haken geschnitzt ist, aber sie denken, ich würde ihn benutzen, um mich damit zu töten«, fügte Lorandra hinzu.
Sonea konnte sich ein schwaches Lächeln nicht verkneifen. »Würdet Ihr es tun?«
Die Frau zuckte die Achseln und antwortete nicht. Sie rechnet nicht damit, dass ich ihr glaube, also spart sie sich die Mühe.
»Werdet Ihr gut behandelt?«, erkundigte sich Sonea.
Lorandra zuckte abermals die Achseln.
»Gibt es irgendetwas, das ich Euch mitbringen kann?«
Ein ungläubiges Zucken der Mundwinkel. Und wiederum keine Antwort.
»Euren Sohn vielleicht?«, hakte Sonea nach und ließ ein wenig Skepsis in ihre Stimme fließen. Es überraschte sie nicht, als Lorandra nicht antwortete. Mit einem unterdrückten Seufzer ging sie zu dem niedrigen Bett, setzte sich und wandte sich wieder dem Thema zu, über das die Frau zu reden bereit zu sein schien. Wenn sie daraus eine Gewohnheit machen konnte, wer wollte sagen, wohin das führen würde? »Also, was stellen die Frauen Eures Heimatlandes mit Binda her?«
Lorandra arbeitete schweigend weiter, aber der Zug um ihren Mund verriet Sonea, dass sie es erwog zu antworten.
»Hüte. Handschuhe. Kleidungsstücke. Decken. Körbe. Hängt vom Garn ab. Weicheres, feineres Garn für Handschuhe. Starkes, widerstandsfähiges für Körbe.«
»Dauert es lange?«
»Das hängt davon ab, was man macht und wie dick das Garn ist. Binda dehnt sich, was für einige Dinge gut ist und für andere nicht. Wenn wir ein festes Tuch wollen, weben wir.«
»Woraus macht man das Garn?«
Ein leerer Ausdruck trat in Lorandras Augen. »Größtenteils aus Reberwolle. Es gibt eine Sorte von Gräsern, die man weich machen und für Körbe spinnen kann, aber südlich der Wüste habe ich diese Gräser nicht gesehen. Außerdem kann man ein feines, weiches Garn aus den Nestern von Vogelmotten spinnen, das sich nur die Reichen leisten können.«
»Motten? Hier fressen Motten Kleider und machen kein Garn, aus dem man Kleidung weben könnte.« Sonea lächelte. »Wie ist das Tuch denn beschaffen?«
»Weich, aber stark. Es wird normalerweise poliert, bis es glänzt, und weiteres Garn wird benutzt, um Muster und Bilder darauf zu sticken. Ich habe von Frauen gehört, die Röcke tragen, die zu besticken Jahre gedauert hat.«
»Ihr habt sie nicht selbst gesehen?«
Lorandra zog die Brauen zusammen. »Das einzige Vogeltuch, das ich je gesehen habe, wurde von den Kagar getragen.«
Da Sonea einen Anflug von Verachtung und Furcht in den Augen und der Stimme der Frau wahrnahm, überlegte sie, wer diese »Kagar« sein mochten.
»Sind das die Leute, die jeden töten, der über Magie verfügt? Und die selbst Magier sind?«
Lorandra warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. »Ja.«
»Warum töten sie Magier?«
»Magie ist böse.«
»Aber sie benutzen selbst Magie?«
»Ihr großes Opfer, um unsere Gesellschaft zu reinigen.« In ihrer Stimme schwang Bitterkeit mit.
»Denkt Ihr, Magie sei böse?«
Lorandra zuckte die Achseln.
»Denkt Ihr, dass sie Euch, nachdem Eure Kräfte blockiert wurden, am Leben ließen, wenn Ihr in Eure Heimat zurückkehren würdet?«
Die Frau drehte sich um, um Sonea anzusehen. »Plant Ihr, mich zurückzuschicken?«
Sonea beschloss, nicht zu antworten.
Lorandra seufzte. »Nein. Sie trachten danach, Magie aus unseren Blutlinien zu säubern. Es würde keine Rolle spielen, dass ich zu alt bin, um Kinder zu bekommen. Ich könnte andere das Böse lehren.«
»Es ist unglaublich. Sie haben offenbar keine Feinde, gegen die sie sich verteidigen müssen. Was ist mit benachbarten Ländern? Verbieten die ebenfalls Magie?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir haben keine benachbarten Länder. Die Kagar haben sie alle vor hundert Jahren besiegt.«
»Alle? Wie viele gab es denn?«
»Hunderte. Die meisten waren klein, aber zusammengenommen lassen sie Eure Verbündeten Länder winzig erscheinen.« Lorandra lächelte grimmig. »Ihr solltet am besten hoffen, dass sie niemals über die Wüste blicken, sonst wird Sachaka die geringste Eurer Sorgen sein.«
Soneas Magen krampfte sich zusammen, aber dann erinnerte sie sich daran, dass Lorandra nicht gewusst hatte, dass Kallen ihre Gedanken würde lesen können. Lorandras Volk besitzt keine schwarze Magie, und die Kagar versuchen aktiv, die Magie aus den Blutlinien zu säubern. Und doch hatten sie all ihre Nachbarn erobert.
»Wenn sie es täten und tatsächlich eine Bedrohung darstellen, wärt Ihr und Skellin in weit größeren Schwierigkeiten als wir«, bemerkte Sonea. »Es ist ein Jammer, dass Ihr Euch nach Eurer Ankunft hier nicht uns angeschlossen habt. Wir hätten von einem neuen Land erfahren, und Ihr hättet unseren Schutz genossen. Wenn Skellin …«
»Schwarzmagierin Sonea«, erklang eine Stimme von der Tür.
Als Sonea sich umdrehte, sah sie den Hauptmann hereinspähen.
»Ja?«
»Hier ist jemand, der Euch sprechen möchte. Es ist … wichtig.«
Sonea erhob sich und ging zur Tür. Als der Hauptmann sie aufschloss, schaute sie noch einmal zu Lorandra hinüber. Die Frau starrte sie einen Moment lang an, dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Der Schlauch war während ihres Gesprächs beträchtlich gewachsen, wie Sonea bemerkte.
Sie stellte fest, dass einer von Schwarzmagier Kallens Gehilfen auf sie wartete. Einer der Magier, die sie früher beobachtet hatten, stellte sie fest. Sie versuchte, nicht sofortige Abneigung zu verströmen, nicht zuletzt, weil er erschrocken und erregt wirkte.
»Verzeiht mir die Störung, Schwarzmagierin Sonea«, sagte er. »Aber es hat einen Mord gegeben. Ein Magier. In der Stadt. Schwarzmagier Kallen ist bereits dort. Ihr sollt Euch mit ihm treffen.«
Sie schnappte nach Luft. Die Ermordung eines Magiers war erschreckend genug, aber Kallens Anwesenheit konnten nur eines bedeuten.
Das Opfer musste mit schwarzer Magie getötet worden sein.
Dannyl seufzte, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte sich in seinem Büro um. Der Umstand, dass er sich gegen die schützende Rückenlehne eines Stuhls sinken lassen konnte, war ein schlichter Luxus, der ihn an zu Hause erinnerte. Auch der Schreibtisch vor ihm war ein Gegenstand von kyralischer Nützlichkeit und Funktionalität, wie er ihn in sachakanischen Häusern nicht gesehen hatte. Wären nicht die gebogenen Wände gewesen, hätte er sich einbilden können, wieder in Imardin zu sein.
Vielleicht gab es in den sachakanischen Häusern sowohl Stühle als auch Schreibtische – in den persönlichen Räumen, die er nicht zu Gesicht bekommen hatte. Vielleicht hatten die Sachakaner sogar noch bessere Möbel für die Arbeit und das Studium und sich nur nicht die Mühe gemacht, das Gildehaus damit auszustatten. Diese Dinge werden meinen Zwecken wunderbar genügen.
Vor ihm lagen seine Notizen und die Bücher, die er auf dem Markt gekauft hatte. Er hatte gerade eine Liste dessen zusammengestellt, was er seit seiner Ankunft in Sachaka in Erfahrung gebracht hatte, und er war recht zufrieden mit sich.
Der erste Punkt lautete: Beweis, dass Imardin im Sachakanischen Krieg nicht zerstört wurde. Er hatte diesen Nachweis nicht lange nach seiner Ankunft in Arvice in den Aufzeichnungen in der Bibliothek eines Ashaki gefunden. Darunter hatte er geschrieben: Die Existenz des Lagersteins. Auf sie war Lorkin in der gleichen Sammlung von Unterlagen gestoßen.
Zwischen diesem und dem nächsten Punkt hatte er in winziger Schrift eingefügt: Dass die Duna wussten und vielleicht immer noch wissen, wie man magische Edelsteine fertigt. Dass diese Steine gemacht und nicht natürlichen Ursprungs sind. Dass die Verräterinnen den Duna dieses Wissen gestohlen haben. All das hatte er von Unh erfahren, dem Duna, der sich auf die Fährte von Lorkin und seinen Entführern gesetzt hatte.
Als Nächstes kam eine längere Passage mit Beobachtungen aus den Dokumenten, die er gekauft hatte.
Dass Narvelan, der Anführer der über Sachaka herrschenden Kyralier, einen Sklaven besessen hatte, dass er als verrückt galt, den Lagerstein stahl und ihn benutzte, um das Ödland zu schaffen, entweder vorsätzlich oder in einer Konfrontation mit seinen kyralischen Verfolgern.
Dass die Drohung, den Lagerstein zu benutzen, höchstwahrscheinlich die Übermacht der überlebenden sachakanischen Magier unter Kontrolle gehalten hatte, und dass Kyralia, sobald es den Lagerstein verloren hatte, gezwungen war, das Land wieder unter sachakanische Herrschaft zu stellen.
Dass das Ödland sich anfangs zu erholen schien, diese Erholung aber wieder zunichte wurde, als das Ödland sich stattdessen auszubreiten begann.
Es war eine gute Liste, befand Dannyl. Es war einzig die Frustration darüber, in jüngster Zeit keine Fortschritte gemacht zu haben, die den Anschein erweckte, als habe er hier überhaupt nichts erreicht. Es gab jedoch noch immer Fragen, die beantwortet werden mussten.
Dannyl beugte sich vor und begann sich zu notieren, was er noch zu entdecken hatte.
Vorzeigbare Beweise dafür, dass Imardin nicht im Sachakanischen Krieg zerstört wurde. Achati schien es lieber zu sein, wenn Dannyl keine sachakanischen Unterlagen erwarb, aber vielleicht würde ihm ein gelegentlicher Kauf nichts ausmachen. Wenn Dannyl irgendjemanden von seiner Theorie überzeugen wollte, dass Imardin zu einem späteren Zeitpunkt zerstört worden war, würde er ihm ein Dokument vorlegen müssen.
Beweise dafür, dass der verrückte Novize Imardin zerstört hat. Dannyl glaubte jedoch nicht, dass er diese Beweise in Sachaka finden würde.
Woher kam der Lagerstein? Wie wurde er geschaffen? Wurde er geschaffen, oder war er natürlichen Ursprungs? Existieren noch immer solche Steine? Weiß irgendjemand, wie man sie herstellt?
Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob Lorkin die Antwort auf diese Fragen kannte. Die Verräterinnen hatten den Duna das Geheimnis der Herstellung von Edelsteinen gestohlen. Wenn irgendjemand anderer als die Duna die Antworten kannte, dann waren es die Verräterinnen.
Dannyl zuckte zusammen, als er an die Bitte des sachakanischen Königs dachte, er möge eine Verbindung zu Lorkin herstellen. Er hatte Merria, seine Assistentin, gebeten nachzuhaken, falls ihr irgendwelche Informationen zugetragen würden. Aber bei wem sollen wir uns danach erkundigen? Die Ashaki laden mich nicht länger zum Abendessen ein, und ich habe Merria ohnehin nie mitgenommen. Ich bezweifle, dass die Sklaven eine andere Möglichkeit haben, Lorkin zu erreichen, als über die Verräterinnen.
Er bedachte noch einmal seine Listen. Die Idee hinter ihrer Anfertigung war die, dass er eine klare Vorstellung davon gewinnen wollte, wonach er suchte, wenn er sich zu den Duna oder den sachakanischen Landgütern aufmachte. Obwohl er Antworten auf einige historische Fragen gefunden hatte, war es immer besser, mehrere Quellen zu haben, auf die man sich stützen konnte, wenn man behauptete, dass ein Ereignis auf eine bestimmte Weise geschehen oder verlaufen sei, daher würde er weiterhin nach Hinweisen darauf suchen müssen, dass Imardin den Sachakanischen Krieg heil überstanden und Narvelan den Lagerstein gestohlen hatte. Was Informationen über Lagersteine betraf, hatte er nur eine Quelle, die ihm weiterhelfen konnte: die Duna. Er konnte die Verräterinnen nicht fragen, also musste er sich darauf verlassen, dass Lorkin festhielt, was sie wussten, und ihm seine Informationen irgendwann zukommen ließ.
Die einzige Sorge, die er in Bezug auf die bevorstehende Reise hegte, war die Frage, wie die Duna auf ihn und seine Nachforschungen reagieren würden. Unh war freundlich gewesen, aber auf seine Erwähnung Unhs hatten die Duna auf dem Markt schlecht reagiert. Doch zuvor waren sie freundlich gewesen. Vielleicht, wenn ich Unh nicht erwähne …
»Botschafter Dannyl?«
Er blickte auf. Merria rief aus dem Hauptraum nach ihm.
»Kommt herein, Lady Merria«, erwiderte er. Schritte näherten sich, und seine Assistentin trat in die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Er winkte sie heran und bedeutete ihr, auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. »Wie geht es Euch?«, erkundigte er sich.
Sie zuckte die Achseln. »Gut. Ich hatte erwartet, dass es mehr Papierkram und nicht allzu viel Kontakt zu den Menschen hier geben würde, wegen ihrer Sitten in Bezug auf Frauen. Das genaue Gegenteil ist der Fall.«
»Ihr habt viele dieser Frauen gesehen, mit denen Ashaki Achati Euch bekannt gemacht hat?«
»Ja, sie und ihre Freundinnen. Sie haben ein beachtliches Netzwerk. Natürlich treffen sie sich niemals alle gleichzeitig. Die Männer würden denken, dass sie eine geheime Rebellengesellschaft bilden.« Ihr Lächeln verriet ihm, wie sehr sie das erheiterte. »Man sollte meinen, all diese Frauen, die einander Nachrichten zuspielen, würden ihren Argwohn erregen, aber …« Sie hob die Schultern. »Vielleicht bemerken sie es gar nicht.«
Dannyl nickte. »Ich habe nichts darüber gehört. Denkt Ihr, sie organisieren irgendetwas?«
»Ich hätte es nicht geglaubt, nur dass ich einige Tage, nachdem ich eine Bemerkung darüber fallen gelassen hatte, dass Lorkins Mutter gern von ihm hören würde, eine Nachricht bekam, die besagte, dass er in der Stadt der Verräterinnen sei und es ihm gutgehe. Ich wurde außerdem eingeladen, ihm meinerseits eine Nachricht zu schicken.«
Dannyls Herz machte einen Satz. »Wo ist diese Nachricht, die sie Euch gegeben haben?«
Merria schüttelte den Kopf. »Sie wurde mündlich überbracht. Die Frauen schreiben niemals etwas nieder.«
Er dachte über das nach, was sie ihm erzählt hatte. »Meint Ihr, diese Nachricht ist über die Verräterinnen gekommen?«
Sie nickte. »Ich kann nicht erkennen, wie die Nachricht ihn sonst erreichen sollte, wenn er in der Stadt der Verräterinnen ist und nur Verräterinnen jemals dort hingelangen. Es sei denn, es gäbe Spione unter den Spionen.«
»Möglich wäre es.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass diese Frauen nur vorgeben, die Verräterinnen zu hassen, damit die Männer ihnen erlauben, sich zu treffen.«
Dannyl nickte zustimmend. »Verratet das sonst niemandem«, riet er ihr.
Jede Verbindung zu Lorkin war besser als gar keine. Obwohl König Amakira ihm gesagt hatte, er solle sich auf eine andere Weise als mithilfe der Verräterinnen mit Lorkin in Verbindung setzen, wollte Dannyl diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. Er hatte jede Menge Fragen an Lorkin, obwohl die Tatsache, dass andere die Nachricht hören oder sehen würden, seinen Fragen gewisse Beschränkungen auferlegen würde.
Außerdem sollte er sich mithilfe seines Blutrings mit Administrator Osen in Verbindung setzen und herausfinden, ob Sonea Lorkin ebenfalls eine Nachricht schicken wollte.
»Wartet hier«, bat er Merria. »Ich werde feststellen, was die Gilde zu sagen hat.«
Ein Hämmern in ihrem Kopf weckte Lilia. Sie stöhnte. Sie hatte sich schon früher nach dem Gebrauch von Feuel dumpf, niedergeschlagen und müde gefühlt, aber nicht so krank. Vielleicht war der Wein stärker gewesen als üblich. Andererseits hatte sie nicht allzu viel davon getrunken.
Dann begann außerhalb ihres Kopfes ein anderes Hämmern. Jemand klopfte an die Tür. Sie zwang sich, ein Auge zu öffnen, aber natürlich konnte sie nicht durch Türen sehen. Es waren wahrscheinlich die Diener.
»Geht weg«, sagte sie schwach und schloss ihr Auge wieder.
Das Klopfen brach ab. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht konnten die Diener ihr etwas gegen ihre Kopfschmerzen geben. Sie machte den Mund auf, um zu rufen.
Die Tür öffnete sich. Sie riss die Augen auf und sah Magier anstelle von Dienern den Raum betreten; sie brauchte einen Moment, um das zu begreifen.
Sie stemmte sich auf den Ellbogen hoch. Sofort wurde ihr bewusst, dass sie nicht länger Roben trug. Wann hatte sie ihre Nachtgewänder angezogen? Sie griff nach den Laken, um sich zu bedecken, und spürte etwas Trockenes, Bröckliges in den Innenflächen ihrer Hände. Sie drehte die Hände. Etwas Dunkles war auf ihrer Haut getrocknet.
Wein? Ich kann mich nicht erinnern, welchen verschüttet zu haben. Und er wäre klebrig …
Die Magier umstellten das Bett. Sie schaute zu ihnen auf und erkannte einen Heiler, einen Freund Lord Leidens, und … ihr Herz blieb stehen … Schwarzmagier Kallen.
»Lady Lilia?«, fragte Kallen.
»J-ja?« Lilias Herz begann wieder zu schlagen, viel zu schnell. »Was ist passiert?«
»Lord Leiden ist tot«, sagte der Heiler.
Sie starrte ihn entsetzt an. »Wie?« Noch während sie die Frage stellte, überlief sie ein Schauer des Schuldgefühls. Wir haben gestern Nacht versucht, uns schwarze Magie beizubringen. Was haben wir uns nur dabei gedacht? »Wo ist Naki?«
»WIE KONNTEST DU DAS TUN?« Die Stimme war ein Kreischen, aber sie war immer noch als die Nakis zu erkennen. Lilia zuckte zusammen. Ihre Freundin mochte sich den Tod ihres Vaters gewünscht haben, aber sie hatte nicht … Irgendjemand drängte sich an den Magiern vorbei, wurde aber von dem Heiler gepackt. Naki wehrte sich nach Leibeskräften, um ihn abzuschütteln, während sie Lilia anfunkelte.
»Du!«, knurrte Naki.
»Ich?« Lilia starrte ihre Freundin an.
»Du hast ihn getötet!«, schrie Naki. »Meinen Vater!«
»Das habe ich nicht getan.« Lilia schüttelte den Kopf. »Ich bin eingeschlafen. Und nicht wieder aufgewacht.«
Naki schüttelte ungläubig den Kopf. »Wer sonst könnte es getan haben? Ich hätte dich dieses Buch nicht lesen lassen sollen. Ich wollte dich nur beeindrucken.«
Ein Frösteln überlief Lilia. Plötzlich war sie sich Kallens Blick, der sich in ihre Augen bohrte, nur allzu bewusst. »Wie ist er gestorben?«, fragte sie schwach.
»Schwarze Magie«, zischte Naki. Dann senkte sie den Blick. »Was ist das? Was hast du an den Händen?«
Lilia schaute auf die dunklen Flecken hinab. »Ich weiß es nicht.«
»Das ist Blut, nicht wahr?« Nakis Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Das Blut meines Vaters …« Dann füllten ihre Augen sich mit Tränen, sie wirbelte herum und rannte aus dem Raum.
Lilia starrte ihr nach. Sie denkt, ich hätte ihren Vater getötet. Sie hasst mich. Ich habe sie verloren. Aber … ich habe ihren Vater nicht getötet. Oder doch? Ihre Erinnerungen an die vergangene Nacht waren an manchen Stellen vage. Das geschah immer, wenn sie zu viel Wein trank oder zu viel Feuel benutzte. Ihre Träume – waren es Träume gewesen? – hatten sich um eine Fantasie gedreht, in der sie Naki ihres Vaters entledigte, ohne über das Wie überhaupt nachzudenken.
»Habt Ihr Lord Leiden getötet?«, fragte Schwarzmagier Kallen.
Sie zwang sich, zu ihm aufzublicken. »Nein. Ich glaube es nicht.«
»Habt Ihr schwarze Magie erlernt oder zu erlernen versucht?«
Wie sollte sie diese Frage beantworten? Sie stellte fest, dass sie keine Worte fand. Ihr Kopf hämmerte so heftig, dass sie glaubte, er werde jeden Moment bersten.
»Lady Naki hat zugegeben, versucht zu haben, aus einem Buch schwarze Magie zu erlernen«, sagte der Heiler. »Sie behauptet, Lilia habe das Gleiche getan.«
Eine verräterische Erleichterung stieg in Lilia auf. Sie nickte. »Sie hat ein Buch. Nun, es gehört – gehörte – ihrem Vater. Er bewahrt es in der Bibliothek in einem Tisch mit gläserner Oberfläche auf. Sie hat es herausgeholt, und wir haben es gelesen – aber es ist angeblich nicht möglich, schwarze Magie aus einem Buch zu lernen.«
Kallen zuckte nicht mit der Wimper. »Trotzdem ist der Versuch verboten.«
Sie senkte den Blick. »Ich habe ihren Vater nicht getötet.« Wieder regte sich Zweifel in ihr und schlängelte sich in ihre Gedanken.
»Ist das die Angeklagte?«, erklang eine neue Stimme.
Die Magier drehten sich zur Tür um, so dass Lilia an ihnen vorbeischauen konnte. Ihr wurde flau im Magen, als sie Schwarzmagierin Sonea näher kommen sah. Nicht dass ein weiterer Schwarzmagier ihre Situation noch schlimmer gemacht hätte. Sie hatte Sonea immer bewundert, obwohl einem das, was die Schwarzmagierin in ihrem Leben alles getan hatte, durchaus Furcht einflößen konnte.
»Ja«, antwortete Kallen und trat vom Bett weg. »Ich werde in die Bibliothek gehen, um nach einem Buch zu suchen, das Anweisungen für die Benutzung von schwarzer Magie enthält. Sie haben beide gestanden, sich damit beschäftigt zu haben. Könntet Ihr die Gedanken der beiden Mädchen lesen?«
Sonea zog die Augenbrauen hoch, aber sie nickte. Als Kallen den Raum verließ, wandte sie sich den anderen Magiern zu.
»Zumindest sollten wir ihr gestatten, sich anzukleiden«, sagte sie. »Ich werde hierbleiben.«
»Findet heraus, was sie an den Händen hat, bevor sie es sich abwäscht«, rief der Heiler.
Lilia schaute ihnen nach, und als die Tür geschlossen war, schlüpfte sie aus dem Bett.
»Zeigt mir Eure Hände«, verlangte Sonea. Sie ergriff sie mit ihren eigenen Händen, die seltsam klein für eine so mächtige Magierin erschienen. Nicht dass Magie dazu führt, dass man größere Hände bekommt, ging es Lilia durch den Kopf. Also, das wäre unangenehm. Sonea hob eine von Lilias Händen, schnupperte daran und zog Lilia dann zum Waschbecken hinüber, wo sie etwas Wasser hineingoss.
»Wascht Euch«, befahl sie.
Lilia gehorchte mit einiger Erleichterung. Es dauerte ein Weilchen, bis sie den Fleck abgerieben hatte.
»Wir brauchen mehr Licht«, murmelte Sonea. Sie schaute zu den Rollos hinüber, die die Fenster bedeckten und im nächsten Moment nach oben glitten. Der Raum füllte sich mit Morgenlicht. Lilia schaute hinab und schnappte nach Luft.
Das Wasser hatte sich rot verfärbt.
»Aber wie …? Ich erinnere mich nicht …«, stieß sie hervor.
Sonea beobachtete sie nachdenklich. Sie trat einen Schritt zurück. »Zieht Euch an«, sagte sie, und ihr Tonfall lag irgendwo zwischen einem Befehl und einem Vorschlag. »Dann werden wir herausfinden, woran Ihr Euch erinnern könnt.«
Lilia gehorchte und schlüpfte so schnell sie konnte in ihre Novizenroben. Als sie damit fertig war, die Schärpe zu verknoten, ging sie zu Sonea hinüber. Die Schwarzmagierin streckte die Hände aus und legte sie links und rechts an Lilias Kopf.
Noch nie zuvor hatte ein Schwarzmagier Lilias Gedanken gelesen. Nun, es hatte auch kein gewöhnlicher Magier jemals ihre Gedanken gelesen. Ihre Lektionen an der Universität hatten es gelegentlich erforderlich gemacht, dass ein Lehrer in ihren Geist eindrang, aber man brachte den Novizen bei, ihre Gedanken hinter imaginierten Türen zu verbergen. Wenn eine Person es aus freien Stücken zuließ, dass ihre Gedanken gelesen wurden, sollten die hinter den Türen versteckten Erinnerungen hervortreten, so dass der Gedankenleser sie sehen konnte.
Dies war etwas anderes. Sofort nahm Lilia die Präsenz der älteren Frau in ihrem Geist wahr. Aber wie in weiter Entfernung, als höre sie Stimmen durch eine Mauer. Dann spürte sie etwas, das ihre Gedanken beeinflusste. Sie konnte den Willen dahinter nicht spüren, also zeigte ihr instinktiver Versuch, sich dem zu widersetzen, keine Wirkung. Sie zwang sich nachzugeben und beobachtete, wie die Erinnerungen an die vergangene Nacht wiederkehrten.
Verlegenheit und Furcht machten sich in ihr breit, als sie sich an Nakis Kuss erinnerte, aber sie konnte bei Sonea keine Missbilligung wahrnehmen. Ihre Erinnerungen waren jetzt etwas weniger vage, da jemand anderer sie betrachtete, aber es gab Zeitspannen, die undeutlich waren.
Eine dieser Zeitspannen betraf die Stunden, nachdem Lilia sich neben Naki gelegt und sie den Wein getrunken hatte. Ihre Gedanken waren mörderisch gewesen, rief sie sich beschämt ins Gedächtnis. Aber sie erinnerte sich nicht daran, tatsächlich jemanden ermordet zu haben. Es sei denn, in ihren Träumen. Aber waren es Träume?
Was war, wenn sie Nakis Vater ermordet hatte, während sie einen von Wein und Feuel herbeigeführten Tagtraum gehabt hatte?
Was, wenn ihrer beider Experiment funktioniert und sie tatsächlich schwarze Magie aus einem Buch erlernt hatte?
– Oh, das habt Ihr ganz gewiss getan, erklang Soneas Stimme in ihrem Kopf. Es wird für unmöglich gehalten. Nicht einmal Akkarin glaubte, dass es möglich sei. Aber es hat mindestens einen anderen Novizen in der Geschichte gegeben, der schwarze Magie ohne die Hilfe eines anderen Magiers erlernt hat, und die Magier jener Zeit müssen einen Grund gehabt haben für ihre Entschlossenheit, alle Schriften darüber zu zerstören. Bedauerlicherweise ist der Umstand, dass Ihr unsere Vermutung widerlegt habt, keine Leistung, die irgendjemand wohlwollend betrachten wird. Warum habt Ihr es versucht, obwohl Ihr wusstet, dass es verboten war?
– Ich weiß es nicht. Ich habe mich einfach Naki angeschlossen. Sie hat mir gesagt …
Sie hatte Lilia gesagt, dass sie ihr vertraue. Würde sie ihr jemals wieder vertrauen?
Plötzlich wurde ihr das ganze Ausmaß von Verlust und Schock bewusst, und sie brach in Tränen aus. Soneas Berührung verschwand aus ihrem Kopf und verlagerte sich auf ihre Schultern, die die ältere Frau sanft, aber energisch massierte, während Lilia sich mühte, ihre Fassung wiederzufinden.
»Ich werde nicht behaupten, alles werde wieder gut werden«, sagte Sonea seufzend. »Aber ich denke, ich kann sie überzeugen, dass es nicht direkt vorsätzlich geschah, und sie dazu bewegen, eine mildere Strafe zu verhängen. Doch das wird davon abhängen, woran Naki sich erinnert.«
Eine mildere Bestrafung? Lilia schauderte, als sie sich daran erinnerte, was man sie im Geschichtsunterricht gelehrt hatte. Akkarin wurde nur deshalb in die Verbannung geschickt, weil die Gilde nicht wusste, ob sie ihn besiegen konnte. Anderenfalls hätten sie ihn hingerichtet. Aber schließlich hatte er Menschen mit schwarzer Magie getötet. Ich habe das nicht getan … hoffe ich.
Wenn sie es nicht getan hatte, würde Sonea keine Beweise in Nakis Geist entdecken. Plötzlich wünschte Lilia sich dringend, dass Sonea zu ihr gehen und es herausfinden würde. Das letzte Verlangen zu weinen verschwand.
»Geht es Euch jetzt wieder gut?«, fragte Sonea.
Lilia nickte.
»Bleibt hier.«
Das Warten war eine Folter. Als Sonea endlich zurückkam, mit Schwarzmagier Kallen und zwei weiteren Magiern, war ihre Miene grimmig.
»Sie hat den Tod ihres Vaters nicht mit angesehen«, berichtete ihr Sonea. »Noch findet sich in ihrem Geist irgendein Beweis dafür, dass Ihr ihn getötet habt, abgesehen von der Art seines Todes und des Bluts an Euren Händen. Beides könnte Zufall sein.«
Lilia seufzte vor Erleichterung. Ich habe es nicht getan, sagte sie sich.
»Ihre Erinnerungen an die vergangene Nacht unterscheiden sich sehr von Euren«, fuhr Sonea fort. »Aber doch nicht so, dass ein Missverständnis diese Unterschiede nicht erklären könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Obwohl Ihr Euch daran erinnern könnt, es gespürt zu haben, hat sie keine schwarze Magie gelernt.«
Daraufhin stieg in Lilia eine bittersüße Erleichterung auf. Zumindest hatte Naki kein ebenso großes Verbrechen begangen wie sie selbst. Aber sie hatte versucht, schwarze Magie zu erlernen, daher bezweifelte Lilia, dass sie einer Bestrafung gänzlich entgehen würde.
Vielleicht können wir uns jetzt, da sie weiß, dass ich ihren Vater nicht getötet habe, gemeinsam dem stellen, was uns erwartet.
Aber als die Magier Lilia aus dem Raum begleiteten, war Naki da und funkelte sie derart wütend an, dass ihre Hoffnungen zu schwinden begannen.
Das Brausen des unterirdischen Flusses umfing Lorkin, als er aus dem Tunnel trat. Tyvara saß wie zuvor auf der Bank und betrachtete nachdenklich das Wasserrad der Kanalisation. Er fühlte sich versucht, mittels Gedankenrede nach ihr zu rufen, aber selbst wenn er dadurch ihr Treffen nicht verraten hätte, herrschte bei den Verräterinnen eine noch strengere Einschränkung der Gedankenrede als in der Gilde, da sie das Risiko nicht eingehen konnten, dass andere Magier selbst den kürzesten Ruf auffingen und auf diese Weise zum Sanktuarium geführt wurden.
Also wartete er, bis sie ihn bemerkte und ihn zu sich winkte.
»Lorkin«, sagte sie, während er auf den Sims trat. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass du in den nächsten Tagen Zeit für einen Besuch finden würdest. Ist das Kältefieber nicht im zweiten Stadium?«
Er nickte und setzte sich neben sie. »Doch. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Aber zunächst einmal, wie geht es dir?«
Sie zog erheitert die Augenbrauen hoch. »Ihr Kyralier. Immer so förmlich. Mir geht es gut.«
»Langweilst du dich?«
Sie lachte. »Natürlich. Aber ich bekomme Besuch. Und …« Sie zog einen Ring von einem ihrer Finger und hielt ihn einen Moment lang hoch, bevor sie ihn in einer Tasche verstaute. »Die Menschen halten mich über die Ereignisse in der Stadt auf dem Laufenden. Man hat mir übrigens gerade erzählt, dass Kalia fuchsteufelswild ist, weil du einfach weggegangen bist.«
Er zuckte die Achseln. »Ich hatte keine Zeit, darauf zu warten, dass die Dinge sich beruhigen.«
Tyvara runzelte die Stirn. »Du vernachlässigst doch nicht meinetwegen mein Volk, oder?«
»Ja und nein.« Er verzog das Gesicht. Trotz der Magier, die sich gemeldet hatten, um in der Krankenstation auszuhelfen, gab es dort viel Arbeit. Er konnte nicht lange bleiben. Es wurde Zeit, zur Sache zu kommen. »Ich brauche deinen Rat.«
Ihr Blick wurde wachsam. »Tatsächlich?«
»Es war unausweichlich, dass jemand so schwer krank oder verletzt wird, dass er nur dann überleben kann, wenn ich ihn mit Magie heile«, begann er. »Ich habe immer geplant, in diesem Fall zu helfen. Ich habe auch immer gewusst, dass es Konsequenzen haben würde. Ich will hören, wie diese Konsequenzen deiner Meinung nach aussehen werden und ob ich sie vermeiden oder möglichst gering halten kann.«
Sie betrachtete ihn schweigend und mit ernster Miene, dann nickte sie. »Wir haben darüber gesprochen«, erwiderte sie, und irgendwie erkannte er an einer subtilen Veränderung ihres Tonfalls, dass sie nicht ihn und sich selbst meinte, sondern ihre Gruppe innerhalb der Verräterinnen.
»Und?«
»Savara dachte, du würdest dich weigern, in einem solchen Fall mit Magie zu heilen. Zarala sagte, du würdest dich nicht weigern, aber darauf warten, dass man dich fragt.«
»Sollte ich warten? Ist Kalia skrupellos genug, um das Mädchen sterben zu lassen?«
»Möglich wäre es.« Tyvara runzelte die Stirn. »Ihre Ausrede wird die sein, dass du klargemacht hast, dass du nicht bereit seist, mit Magie zu heilen, und dass sie deine Entscheidung respektiert habe, indem sie dich nicht belästigte. Die Menschen werden entscheiden müssen, was schlimmer war: Dass sie dich nicht gefragt hat oder dass du es nicht angeboten hast, und wahrscheinlich werden sie sich auf Kalias Seite stellen. Du hast deine heilenden Kräfte bisher nicht benutzt und auch nicht durchblicken lassen, dass du etwas anderes tun würdest, als dich zu weigern, falls man dich darum bäte.«
»Also sollte ich nicht abwarten. Wenn ich meine heilenden Kräfte einsetze, werden die Leute es dann so empfinden, als stelle ich ihnen damit das zur Schau, was ich mich weigere und mein Vater versäumt hat, sie zu lehren?«
»Vielleicht. Nicht so sehr, wenn du sie nur in der größten Not einsetzt, wenn der Patient anderenfalls sterben würde.«
»Was ist mit denen, die Schmerzen haben?«
»Es würde beweisen, dass du Mitgefühl hast, wenn du auch diesen Menschen helfen würdest.«
»Zahnschmerzen tun weh. Ebenso wie viele alltägliche Leiden. An welchem Punkt werden die Menschen es für vernünftig halten, wenn ich eine magische Heilung verweigere? Werden sie erwarten, dass ich alles behandle, sobald ich damit angefangen habe?«
Sie runzelte erneut die Stirn, dann grinste sie plötzlich. »Es könnte die Mühe wert sein, wenn Kalia dadurch arbeitslos würde.« Dann wurde sie wieder ernst und schüttelte den Kopf. »Aber das wäre töricht. Kalia wird von zu vielen unterstützt.« Ihre Schultern hoben und senkten sich in einem Seufzer, den er wegen des rauschenden Wassers nicht hören konnte. »Es wird unterschiedliche Meinungen darüber geben, wann es vernünftig ist, dass du eine magische Heilung verweigerst, und die Menschen werden ihre Meinung ändern, wenn sie selbst zufällig diejenigen mit den Zahnschmerzen sind. Ich denke, die meisten Leute werden zustimmen, dass es einen Punkt gibt, an dem du recht daran tust, dich zu weigern, aber es wird interessant sein festzustellen, ob sie dir erlauben, derjenige zu sein, der darüber entscheidet.«
Er nickte. »Sonst noch etwas?«
»Sieh zu, dass du die Erlaubnis der Patientin oder ihrer Eltern bekommst, bevor du irgendetwas tust«, fügte sie hinzu.
»Sollte ich Kalia fragen?«
Sie zuckte zusammen. »Dieser Punkt hat Zarala die größten Sorgen bereitet. Wenn du Kalia fragst, wird sie dir verbieten, Magie zu benutzen, um irgendjemanden zu heilen, und stattdessen darauf bestehen, dass du sie heilende Magie lehrst. Wenn der Patient dann stirbt, ist es immer noch deine Schuld, weil du dich geweigert hast. Wenn du sie nicht fragst, hast du sie als deine Vorgesetzte missachtet. Da du ein Mann bist, ist das besonders schlimm. Aber wenn du jemandem das Leben rettest, werden die Menschen dir diese Respektlosigkeit verzeihen. Es gibt ebenso viele Leute, die Kalia nicht mögen, wie solche, die sie unterstützen.« Sie breitete die Hände aus. »Weise zu deiner Verteidigung darauf hin, dass niemand hier Kalias Erlaubnis einholen muss, bevor er einen Kranken oder Verletzten behandelt. Die Patienten gehen freiwillig auf die Krankenstation.«
Lorkin seufzte. »Ich kann es nicht vermeiden, Kalia zu verärgern, aber solange ich so wenige andere Menschen wie nur möglich verärgere, werde ich damit wohl leben müssen.«
»Und du wirst Leben retten«, sagte sie.
Er erwiderte ihr Lächeln. »Ihr Verräterinnen habt die einfachere Entscheidung«, entgegnete er. »Wenn ihr eure Kenntnisse der Herstellung von Steinen für euch behaltet, muss niemand sterben.«
»Man genießt die Vorteile der Steine, auch wenn man sie nicht selbst macht«, stellte sie fest. »Warum sollten wir also nicht unsererseits die Vorteile magischer Heilung haben?«
Er grinste. »Nun, wenn du es so ausdrückst, klingt es sehr gerecht und vernünftig.«
»Das wäre es auch, wäre da nicht nur ein einziger Kyralier, der von den Steinen profitiert, und viele, viele Verräterinnen, die potenziell von deiner heilenden Magie profitieren.«
Er schaute ihr in die Augen und sah dort etwas, das ihm guttat. Sie versteht. Und sie lässt mich wissen, dass sie versteht – und mir vielleicht darin zustimmt –, warum ich hier bin.
Plötzlich verspürte er den starken Drang, sie zu küssen, aber er widerstand ihm. Schließlich hatte sie durch nichts zu erkennen gegeben, dass sie mit seinem anderen Grund, sich im Sanktuarium aufzuhalten, einverstanden war: sie.
»Danke«, sagte er und stand auf.
»Viel Glück«, erwiderte sie.
Widerstrebend wandte er sich ab und ging zurück zum Tunnel. Obwohl er wusste, dass die Entscheidung, die er bereits getroffen hatte, ihm eine Menge Ärger eintragen würde, hatte das Gespräch mit Tyvara ihn dahingehend beruhigt, dass er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, ohne dass die Konsequenzen schlimmer sein würden als unbedingt nötig.
Die einzige Entscheidung, die er jetzt treffen musste, betraf das Wann.
Als Dannyl nach seinem Besuch bei Achati ins Gildehaus zurückkehrte, stellte er fest, dass Tayend und Merria sich einen spätabendlichen Umtrunk und ein Plauderstündchen im Herrenzimmer gönnten. Er hielt inne, um sie zu betrachten. Achatis Vorbereitungen für die Reise zu den Duna entwickelten sich ziemlich schnell, und Dannyl würde seiner Assistentin und dem elynischen Botschafter früher als erwartet davon erzählen müssen.
Es hat keinen Sinn, es auf die lange Bank zu schieben, sagte er sich. Er ging zu den Hockern hinüber und deutete mit dem Kopf auf die Weinflasche.
»Ist noch etwas übrig?«
Tayend grinste und winkte einen Sklaven heran, der an einer Wand stand. »Hol noch ein Glas«, befahl er, dann klopfte er auf den größeren Hocker in der Mitte der Sitzplätze, der für den Hausherrn bestimmt war. »Wir haben ihn dir freigehalten.«
Dannyl schnaubte leise und nahm Platz. Obwohl er die Person mit dem höchsten Rang im Gildehaus war, bezweifelte er, dass Tayend den Hocker aus diesem Grund gemieden hatte.
»Was habt ihr beiden denn so getrieben?«, erkundigte er sich.
Tayend machte eine wegwerfende Handbewegung. »Noch mehr wichtige Leute besucht, noch mehr köstliche Mahlzeiten verzehrt. Dergleichen Dinge.«
»Genieße es, solange es dauert«, erwiderte Dannyl. Dann sah er Merria an.
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe meine neuen Freundinnen besucht und ihnen die Nachricht von Schwarzmagierin Sonea übermittelt. Und Ihr?«
Der Sklave kehrte zurück und hielt Dannyl das Weinglas mit geneigtem Kopf und gesenkten Augen hin. Tayend ergriff die Flasche und füllte das Glas auf. Dannyl nahm einen Schluck, dann seufzte er anerkennend. »Ashaki Achati und ich haben eine Reise zu den Duna geplant. Sieht so aus, als würden wir früher aufbrechen, als ich erwartet habe: in einer Woche – vielleicht sogar schon in wenigen Tagen.«
Merrias Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Forschung oder diplomatische Pflichten?«, fragte Tayend mit einem wissenden Ausdruck in den Augen.
»Größtenteils Forschung«, gestand Dannyl. »Obwohl es in politischer Hinsicht auch nicht schaden wird.«
»Es waren die Bücher vom Markt, nicht wahr?« Tayend blickte selbstgefällig drein.
»Ich schätze, in gewisser Hinsicht haben sie tatsächlich Achati zu dem Vorschlag verleitet, eine Forschungsreise zu unternehmen.« Zu Dannyls Befriedigung verschwand der selbstgefällige Ausdruck.
»Also, wann brechen wir auf?«, fragte Merria.
Dannyl zog eine Augenbraue hoch. »Wir?«
Sie machte ein langes Gesicht. »Ihr nehmt mich nicht mit?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Es ist eine Angewohnheit von ihm«, murmelte Tayend. »Immer lässt er Menschen zurück.«
Dannyl warf Tayend einen tadelnden Blick zu. Die Augen des Gelehrten weiteten sich in gespielter Unschuld.
»Gewiss werdet Ihr auf dieser Reise einen Assistenten brauchen«, beharrte Merria. »Jedenfalls mehr, als Ihr ihn hier braucht.«
»Ich – die Gilde – brauche Euch hier in Arvice«, entgegnete Dannyl. »Ihr müsst Euch um alles kümmern, sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass etwas geschieht. Wir können das Gildehaus nicht zurücklassen, ohne dass sich dort ein Gildemagier aufhält.«
»Das ist wahr«, stimmte Tayend ihm leise zu. »Mich würden sie hinauswerfen, da man von mir erwartet, ein eigenes Quartier zu finden.«
»Aber …« Merria begann panisch zu klingen. »Wenn etwas Wichtiges geschieht, werden sie mit einer Frau nicht verhandeln wollen.«
»Sie werden es eben müssen, oder aber sie müssen bis zu meiner Rückkehr warten. Wenn es etwas Dringendes ist …« Er schürzte die Lippen und dachte nach. Er würde Osens Blutring zurücklassen müssen, so dass Merria sich mit dem Administrator beraten konnte, falls etwas Wichtiges geschah. Auf diese Weise konnte sie Nachrichten an die Gilde und an Sonea weiterleiten. Wenn ich doch nur meinen eigenen Blutring machen könnte. Oder den einer anderen Person hätte … ah, natürlich! Ich habe Soneas Ring. Vielleicht wäre sie einverstanden damit, wenn ich ihn für Merria hier in Arvice ließe. Er würde sich morgen mit ihr in Verbindung setzen, beschloss er.
»Falls es dringend ist, werdet Ihr Euch über einen der Blutringe mit Osen oder Sonea in Verbindung setzen. Ich werde einen mitnehmen und einen hierlassen.« Dannyl richtete sich auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ihr werdet Eure Sache gut machen, Merria. Ihr habt einen Weg in die verborgene Welt sachakanischer Frauen gefunden und Verbindungen zu den Verräterinnen hergestellt, und das alles in bemerkenswert kurzer Zeit. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Ihr, sollte etwas geschehen – was unwahrscheinlich sein dürfte –, in der Lage sein werdet, die Dinge zusammenzuhalten.«
»Ich habe auch keine Zweifel daran«, fügte Tayend hinzu.
Ihr angespanntes Lächeln war eher eine Grimasse, aber sie wirkte ruhiger und nicht mehr so verunsichert, wenn auch weiterhin enttäuscht.
»Wie lange werdet Ihr fort sein?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Dannyl. »Einige Wochen, vielleicht länger. Es hängt von den jahreszeitlichen Winden ab und von der Frage, ob die Duna sich überhaupt bereitfinden, mit uns zu sprechen.«
Merria stieß ein leises Schnauben aus. »Jetzt reibt Ihr es mir auch noch unter die Nase. Ich würde die Stämme liebend gern besuchen.«
»Vielleicht werden wir eines Tages noch einmal dort hinreisen«, meinte er. »Sobald ich weiß, ob sie in Bezug auf Frauen genauso restriktiv sind wie die Sachakaner.«
Sofort leuchteten ihre Augen auf. »Die Männer auf dem Markt waren freundlich.«
»Ja, aber wir können nicht davon ausgehen, dass sie alle so sind. Händler haben allen Grund, freundlich zu ihren Kunden zu sein, ganz gleich welchen Sitten sie folgen, wenn sie unter sich sind.«
Sie runzelte die Stirn. »Was ist, wenn in Eurer Abwesenheit eine Nachricht von Lorkin kommt?«
»Ihr werdet sie mithilfe des Blutrings an den Empfänger weiterleiten«, erwiderte er.
Merria nickte. »Vielleicht könnten die Verräterinnen Nachrichten an Euch übermitteln?«
»Ich bezweifle, dass sie Verbindungen zu den Stämmen haben«, bemerkte er. »Und es wäre vielleicht klug, nicht allzu abhängig von den Verräterinnen zu werden. Sie sind nicht unsere Feinde, soweit wir wissen. Aber sie sind auch keine Verbündeten.«
Das Büro des Administrators war voller Höherer Magier – es waren mehr, als auf den Stühlen Platz fanden, und Sonea stellte mit einiger Erheiterung fest, wer saß und wer stand. Die Oberhäupter der Disziplinen waren traditionell die Wortführer. Lady Vinara, Lord Peakin und Lord Garrel saßen Osens Schreibtisch am nächsten. Obwohl der Hohe Lord Balkan im Rang über ihnen stand, hatte er es vorgezogen, mit verschränkten Armen an einer der Wände zu stehen.
Die Studienleiter, die Lords Rothen, Erayk und Telano, sowie Universitätsdirektor Jerrik saßen ebenfalls, aber auf den schlichteren Stühlen, die von dem kleinen Esstisch herübergestellt worden waren. Sonea hatte sich oft gefragt, ob Osen hier jemals kleinere Abendgesellschaften gab, und wenn ja, wie oft. Sie war nie zu einer solchen Gesellschaft eingeladen worden.
Der Heiler und der Alchemist, die in Nakis Gästezimmer gewesen waren, als Sonea dort eingetroffen war, waren ebenfalls zugegen und standen im hinteren Teil des Raums. Einer der königlichen Ratgeber saß auf einer Seite, und Sonea fragte sich, ob sie darin ausgebildet wurden, wie man es vermied, Aufmerksamkeit zu erregen – unbeobachtet zu bleiben, während sie selbst alles beobachteten.
Wie immer blieben sie und Schwarzmagier Kallen stehen. Kallen überragte alle anderen. Sie selbst hätte es einfacher gefunden, wenn sie vorn säße und alle sie sehen konnten, wenn sie über ihre Ergebnisse Bericht erstattete, aber irgendein kleiner Trotz in ihr ließ es nicht zu, dass sie weniger autoritär auftrat als Kallen.
Die Tür wurde geöffnet, und alle Anwesenden drehten sich um, als Novizendirektor Narren den Raum betrat. Der Mann war jünger, als es sein Vorgänger, Ahrind, in Soneas Novizenzeit gewesen war, aber er war genauso streng und humorlos. Während Osen ihn willkommen hieß, schaute er sich um und nickte höflich. Als sein Blick auf sie und Kallen fiel, runzelte er die Stirn.
»Wer bewacht Lilia?«, fragte er beunruhigt.
Sonea sah Kallen an und bemerkte ein Aufblitzen der gleichen Erheiterung, die sie selbst empfand. »Lilia ist nicht stärker, als sie es natürlicherweise immer war«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Die beiden Magier, die sie bewachen, werden keine größere Mühe mit ihr haben, als ich selbst und Schwarzmagier Kallen es hätten.«
Er blinzelte, dann lief er dunkelrot an. »Ah. Verzeiht mir. Das hatte ich vergessen.«
»Also hat Lilia von niemandem Macht genommen?«, fragte Vinara und sah Sonea an.
»Ich habe in ihr kein unnatürliches Ausmaß an Macht entdeckt. Sie könnte Macht genommen und sie dann benutzt haben, aber sie kann sich nicht daran erinnern, es getan zu haben, nur dass …«
Osen räusperte sich und hob die Hände zum Zeichen, dass sie ihre Gespräche einstellen sollten. »Vergebt mir die Unterbrechung, aber lasst uns am Anfang beginnen.« Er schaute in den hinteren Teil des Raums. »Lord Roah und Lord Parrie, berichtet uns bitte, wann Ihr von Lord Leidens Ermordung erfahren habt.«
Der Heiler und der Alchemist traten vor. Alle drehten sich zu ihnen um, und es war Letzterer, der das Wort ergriff.
»Ich unterhielt mich gerade mit Lord Roah, als von Lady Naki die Nachricht kam, ihr Vater sei während der Nacht ermordet worden. Wir sind direkt zu ihrem Haus gegangen, wo sie uns Lord Leidens Leichnam zeigte und uns eröffnete, dass Lilia ihn getötet haben müsse. Lord Roah untersuchte Leiden und stellte fest, dass jemand ihm alle Macht entzogen hatte, während ich Naki dazu befragt habe, warum sie denke, dass ihre Mitschülerin dafür verantwortlich sei.« Er hielt mit bekümmerter Miene inne. »Sie hat gestanden, den vergangenen Abend mit Lilia damit verbracht zu haben, ein Buch über schwarze Magie zu studieren. Sie hatten beide mit den Anweisungen experimentiert und wähnten sich sicher vor den Gefahren eines Erfolgs, weil man ihnen gesagt hatte, schwarze Magie könne nicht aus einem Buch erlernt werden. Sie hatte keinen Erfolg gehabt, und Lilia behauptete ebenfalls, gescheitert zu sein, aber jetzt, da ihr Vater mit schwarzer Magie getötet worden war, fiel Naki niemand anderer ein, der daran die Schuld tragen konnte.« Er sah Kallen an. »Schwarzmagier Kallen erschien, und wir gingen ins Gästezimmer. Lilia schlief, erwachte aber bei unserem Eintreffen. Sie wirkte überrascht und schockiert über die Neuigkeit und Nakis Anklagen.«
»Aber sie schien getrocknetes Blut an den Händen zu haben«, fügte der Heiler hinzu. Er wandte sich an Sonea. »War es Blut?«
Sonea nickte. »Ja.«
»War viel Blut an Lord Leidens Körper und dort, wo er gelegen hatte?«
»Ein wenig. Die Schnittwunde war saubergewischt worden.«
»Das ist seltsam«, sagte Lady Vinara. »Warum den Leichnam säubern, aber nicht die Hände?«
»Vielleicht ist ihr in der Aufregung und Dunkelheit nicht aufgefallen, dass sie sich die Hände beschmutzt hatte«, meinte Garrel.
»Lilia kann sich nicht daran erinnern, wie das Blut auf ihre Hände gelangt ist«, bemerkte Sonea. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie. Sie sah Lord Parrie an, der nickte und erklärte, er sei mit seinem Bericht am Ende. »Lilia lag noch im Bett, als ich eintraf«, erklärte sie. »Kallen war fortgegangen, um nach dem Buch zu suchen, während ich das Blut untersucht und Lilias Gedanken gelesen habe. Sie hatte infolge einer Nacht mit Feuel und Wein üble Kopfschmerzen, und ich habe den Verdacht, dass ihr Gedächtnisverlust zum großen Teil auf diese Einflüsse zurückzuführen ist. Sie erinnert sich daran, dass Naki die Initiative mit dem Buch ergriffen hat. Sie gingen in die Bibliothek, wo Naki das Buch aus seinem Versteck holte – wie sie es schon in der Vergangenheit getan hatte. Naki schlug die Seite auf und drängte Lilia zu lesen. Dann probierten sie abwechselnd die beschriebenen Schritte aus. Lilia als Erste, danach Naki.« Sonea hielt inne und widerstand dem Drang, das Gesicht zu verziehen. »Lilia erinnert sich deutlich daran, den erforderlichen Geisteszustand erreicht und sogar ein wenig Macht von Naki genommen zu haben.« Ein allgemeines Aufkeuchen erklang im Raum. »Sie erinnert sich auch daran, dass Naki Macht von ihr genommen hat. Dann gingen sie wieder in das Gästeschlafzimmer, um Wein zu trinken und zu reden, und während des Gesprächs verlieh Naki dem Wunsch Ausdruck, dass Lilia sie von ihrem Vater befreien möge, der ihren Zugang zu Wein, Feuel und Geld eingeschränkt hatte. Danach erinnert Lilia sich an nichts mehr, bis sie am Morgen erwachte.« Sonea räusperte sich und fuhr mit etwas lauterer Stimme fort. »Naki erinnert sich an die gleichen Ereignisse, aber aus einer ganz anderen Perspektive. Sie erinnert sich daran, dass Lilia sie überredet hat, das Buch zu holen, um sie anschließend zu ermutigen, die darin enthaltene Lektion auszuprobieren, und Naki fügte sich, weil sie sie beeindrucken wollte – und weil sie nicht glaubte, dass sie Erfolg haben würde. Sie konnte die Anweisungen jedoch nicht verstehen, und als ich nach einer Erinnerung an die Gefühle oder das Wissen suchte, die mit der Benutzung schwarzer Magie einhergehen, konnte ich nichts finden. Allerdings hat Naki tatsächlich dem Wunsch Ausdruck verliehen, dass Lilia sie von ihrem Vater befreien möge, was sie jetzt bereut.«
»Wie können die beiden so unterschiedliche Erinnerungen haben?«, fragte Peakin.
»Sie haben beide jeweils vieles an Erwartungen in den anderen hineinprojiziert«, antwortete Sonea. »Sie haben die Motive und Wünsche des anderen missverstanden. Beide Mädchen dachten, die andere dränge sie dazu, schwarze Magie auszuprobieren, und dass sie, wenn sie sich weigerte, für schwach und langweilig gehalten werden würde.« Einmal mehr zögerte Sonea, die Schwärmerei zu enthüllen, die Lilia für Naki hegte. Sie hatte als Kind in den ehemaligen Hüttenvierteln gelernt, dass sich solche Bande auf natürliche Weise sowohl zwischen Männern als auch zwischen Frauen bilden konnten. Sie sah darin keinen größeren Schaden als in einer Liebesbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Aber sie wusste, dass viele anderer Meinung waren, und es stimmte, dass nicht alle Schwärmereien, ungeachtet des Geschlechts, für die Betroffenen zum Besten waren. Obwohl Lilias Gefühle einseitig gewesen waren, hatte Naki sie offenkundig ermutigt. Es war anscheinend Teil ihrer verwegenen, vergnügungssüchtigen Abenteuer gewesen.
Lady Vinara seufzte. »Ah, junge Menschen können solche Narren sein.«
Wie wahr das ist, dachte Sonea. Aber dies ist eine private Angelegenheit, und es ist noch nicht wichtig für die begangenen Verbrechen. Es wäre grausam, es zu enthüllen.
»Wir haben ihnen gesagt, dass sie aus Büchern keine schwarze Magie erlernen könnten«, rief Direktor Jerrik ihnen ins Gedächtnis. »Allerdings haben wir ihnen außerdem verboten, Bücher zu diesem Thema zu lesen. Aber das muss es für bestimmte Personen umso verführerischer machen. Es muss manchem als eine relativ ›sichere‹ Art erschienen sein, den Regeln zu trotzen, ohne gleich aufs Ganze zu gehen.«
»Wir haben uns geirrt«, erklärte Garrel und machte sogar den Eindruck, als bedauere er das, wie Sonea auffiel.
»Ja, wir sind zum Teil mitschuldig«, sagte Osen. »Was die Entscheidung noch schwerer machen wird, wie wir mit Naki und Lilia verfahren sollen.«
Sonea sah viele der Anwesenden zustimmend nicken.
»Ich denke nicht, dass irgendjemand uns für pflichtvergessen halten würde, wenn wir eine mildere Strafe wählen, als die alten Vorschriften sie vorschreiben«, meldete Vinara sich zu Wort.
Diesmal nickten alle. Zwei Novizinnen dafür hinzurichten, dass sie mit etwas herumgespielt haben, von dem wir ihnen erklärt hatten, es sei ungefährlich, würde jetzt große Empörung verursachen, überlegte Sonea. Wie sehr sich die Einstellung schwarzer Magie gegenüber doch verändert hat.
»Naki hat keine schwarze Magie erlernt«, sagte Peakin. »Sie kann nicht für den Tod ihres Vaters verantwortlich sein. Sie sollte eine mildere Strafe erhalten.«
Wieder nickten etliche Anwesende zustimmend. In Sonea stieg ein leichtes Unbehagen auf. Die beiden Mädchen hatten sich in gleichem Maße schuldig gemacht, soweit es sie betraf. Es gab keinen Beweis dafür, dass Lilia Lord Leiden getötet hatte. Das einzige beweisbare Verbrechen bestand darin, dass sie versucht hatten, schwarze Magie zu erlernen. Dass Lilia dabei Erfolg gehabt hatte, war ein bedauerliches Ergebnis, aber kein vorsätzliches von ihrer Seite.
Waren hier Vorurteile im Spiel? Naki entstammte der Oberklasse; Lilia kam aus einer Familie von Dienstboten. Naki war hübsch und beliebt; Lilia war still und hatte wenig Freunde.
»Die Strafe muss schwer genug sein, um andere Novizen davon abzuhalten zu versuchen, schwarze Magie zu erlernen«, fügte Vinara hinzu.
»Ich schlage vor, dass wir Nakis Abschluss hinauszögern«, sagte Direktor Jerrik. »Sie hat ihren Vater verloren. Das ist schmerzlich genug. Außerdem muss sie mit der plötzlichen Verantwortung fertig werden, die einzige Erbin des Vermögens ihrer Familie zu sein. Sie wird in ihren Studien wahrscheinlich ohnehin zurückfallen.«
»Sie sollte sich öffentlich entschuldigen«, warf Garrel ein. »Und ihre Rückkehr an die Universität sollte davon abhängig gemacht werden, dass sie kein weiteres Verbrechen begeht.«
»Wie lange sollten wir ihren Abschluss verzögern?«, fragte Osen.
»Ein Jahr?«, schlug Jerrik vor.
»Drei«, sagte Vinara entschieden. »Die Strafe soll ein Abschreckungsmittel sein, kein Urlaub.«
»Irgendwelche Einwände oder Vorschläge?«, fragte Osen. Niemand sprach. Er nickte. »Was ist mit Lilias Strafe?«
»Das hängt davon ab, ob sie Lord Leiden getötet hat«, bemerkte Peakin. »Welche Beweise haben wir?«
»Gar keine«, antwortete Kallen. »Es gab keine Zeugen. Die Diener haben nichts gehört oder gesehen. Wir haben nur Nakis Schlussfolgerung, dass Lilia schwarze Magie erlernt habe und die einzige Person im Haus mit dem entsprechenden Wissen war, so dass sie die Schuldige sein musste.«
»So ausgedrückt scheint es offensichtlich zu sein, dass es Lilia war«, sagte Vinara. Sie sah Sonea an, und ihre Mundwinkel zuckten nach oben. »Wäre da nicht die Tatsache, dass sie sich an nichts erinnern kann. Macht sie den Eindruck, als könnte sie eine Mörderin sein?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist ziemlich entsetzt und voller Angst, dass sie es im Schlaf oder unter dem Einfluss von Feuel getan haben könnte.«
»Könnte sie unter Drogen gehandelt haben und sich nicht daran erinnern?«, fragte Peakin. »Naki hat es ihr gegenüber schließlich angedeutet.«
Sonea schauderte. »Ich habe gelernt, mich nicht mehr überraschen zu lassen, wenn es um die vielen abträglichen Wirkungen von Feuel geht, aber ich habe noch nie zuvor gehört, dass so etwas geschehen wäre. Und selbst wenn etwas derart Außergewöhnliches vorgefallen ist, bedeutet das immer noch, dass Lilia Lord Leiden nicht bewusst und vorsätzlich ermordet hat. Es könnte nur als ein Unfall betrachtet werden.«
Ein kurzes, nachdenkliches Schweigen senkte sich über den Raum. Der Hohe Lord Balkan trat vor.
»Eines ist bekannt: Lilia hat schwarze Magie erlernt. Der König und das Volk werden von uns erwarten, dass wir sicherstellen, dass sie, sollte sie am Leben bleiben, niemanden gefährdet.«
»Wir müssen ihre Kräfte blockieren«, sagte Vinara.
»Kann man ihre Kräfte blockieren?«, fragte Peakin und blickte zwischen Kallen und Sonea hin und her.
»Es hat noch nie zuvor jemand versucht, die Kräfte eines Schwarzen Magiers zu blockieren«, erklärte sie ihm. »Ob es möglich ist, können wir erst herausfinden, wenn wir es versuchen.«
»Wenn es uns gelingt, was tun wir dann mit ihr?«, fragte Garrel. »Sie ist keine Magierin mehr und damit kein Mitglied der Gilde, aber wir können sie auch nicht auf die Straße setzen.«
»Sie wird ständig bewacht werden müssen«, sagte Peakin. »Wer wird das übernehmen?«
Blicke wurden getauscht. Mienen wurden grimmig. Ein Frösteln überlief Sonea.
»Gewiss haben wir eine bessere Möglichkeit, als sie in den Ausguck zu stecken«, sagte sie laut.
»Ich sehe nicht, dass wir eine Wahl hätten«, erwiderte Vinara. Die anderen nickten.
»Bis die Ursache für Lord Leidens Tod geklärt ist, wissen wir nicht, ob man ihr vertrauen kann oder nicht«, fügte Garrel hinzu. »Wenn sie jemanden im Schlaf getötet hat … nun, wir wollen nicht, dass das noch einmal geschieht.«
»Die Gilde hatte seit Jahren keinen Gefangenen mehr«, murmelte Lord Telano. »Plötzlich hat sie zwei.«
Sonea zuckte leicht zusammen. Die letzten Gefangenen waren sie und Akkarin gewesen, obwohl man sie nicht lange festgehalten hatte.
»Lasst uns sicherstellen, dass sie es so behaglich wie möglich hat und gut versorgt wird«, sagte Osen. »Es erscheint mir durchaus richtig, dass ihre Strafe weniger hart ausfällt als die Lorandras, von der wir wissen, dass sie Gesetze gebrochen und andere getötet hat. Sind wir uns in diesem Punkt einig?«
Zustimmendes Gemurmel folgte. Osen sah Sonea an. »Ihr wirkt bekümmert, Schwarzmagierin Sonea.«
Sie nickte. »Ich bin durchaus der Meinung, dass eine Strafe vonnöten ist, aber … sie ist kein schlechter Mensch, und sie ist so jung. Es ist eine Schande, sie für den Rest ihres Lebens einzusperren. Vielleicht könnten wir ihren Fall in einigen Jahren noch einmal betrachten, wenn auch sie ein gutes Benehmen an den Tag gelegt hat.«
Er schürzte die Lippen, während er nachdachte. »Wie viele Jahre?«
»Zehn?«, schlug irgendjemand vor. Sonea zuckte erneut zusammen, als die anderen zustimmten, nickte jedoch, als Osen sie ansah. Sie bezweifelte, dass sie die anderen Magier zu einer kürzeren Zeit würde überreden können.
»Also, wer wird ihre Kräfte blockieren?«, fragte er und schaute zwischen ihr und Kallen hin und her.
»Ich übernehme das«, erwiderte sie. »Wenn Ihr keine Einwände habt, möchte ich mir ihre Erinnerungen noch einmal ansehen.«
Er lächelte und nickte. »Keine Einwände. Wenn Ihr irgendetwas herausfinden könnt, das mehr Licht auf die Ereignisse der vergangenen Nacht wirft, wäre das überaus willkommen.« Er sah die anderen Magier an. »Und jetzt müssen wir uns der Frage von Lord Leidens Ermordung zuwenden. Wir wissen, wo sich Sonea und Kallen zur fraglichen Zeit aufgehalten haben. Wenn Lilia ihn nicht getötet hat, wer war es dann?«
Ein Kratzen riss Lilia aus ihren Gedanken, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass die Tür der Kuppel zurückwich. Als die Tür zur Seite glitt, trat an ihre Stelle ein Kreis aus kaltem Licht, vor dem sich die Silhouette einer Magierin abzeichnete. Die Magierin winkte, daher stand Lilia auf und ging gehorsam durch den Raum und zur Tür hinaus.
Als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass es später Nachmittag war. Ich war weniger als einen Tag dort drin, dachte sie. Es kam mir viel länger vor. Obwohl es anderthalb Tage gewesen sein könnten. Aber dann hätte ich Hunger. Ihr Magen knurrte. Nun, größeren Hunger.
»Es ist Zeit, Lilia.«
Lilia begriff, dass die Magierin Schwarzmagierin Sonea war, und machte eine hastige Verbeugung. Die Frau musterte Lilia mitfühlend. Einige Schritte entfernt warteten zwei weitere Magier. Lilia mied ihre Blicke und schloss sich Sonea an, als diese auf die Universität zuging.
»Ich wünschte, wir könnten diese Anhörung vermeiden«, sagte Sonea. »Aber ich fürchte, das ist unmöglich. Ihr und Naki müsst vor der Gilde verurteilt werden.«
Lilia nickte. »Ich verstehe.«
»Es ist Euch verboten, miteinander zu sprechen«, fügte Sonea leise hinzu. »Sprecht nur, wenn man Euch auffordert oder Ihr eine Frage beantworten müsst.«
Lilia nickte. Sie konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass Sonea sie eingehend musterte, und begriff, dass von ihr eine eindeutige Antwort erwartet wurde zum Zeichen, dass Lilia sie wirklich gehört und verstanden hatte.
»Ja«, brachte Lilia heraus; ihre Stimme war heiser vom Weinen und von den langen Stunden der Einsamkeit. »Nicht reden mit … es sei denn, man fordert mich dazu auf.« Sie konnte Nakis Namen nicht aussprechen, und Sonea wandte sich, anscheinend zufrieden, ab.
Sie gingen an der ganzen Länge der Universität vorbei zum Vordereingang. Die Taubheit, die Lilia verspürte, seit sie in der Gilde angekommen und in die Kuppel gesperrt worden war, begann zu verebben, als sie die Stufen hinaufstiegen, und wurde durch eine wachsende Furcht verdrängt. Sie würde vor allen Magiern der Gilde stehen und deren Blicke und Missbilligung ertragen müssen. Alle würden sich fragen, ob sie eine Mörderin war. Alle würden wissen, dass sie schwarze Magie erlernt hatte. Ganz gleich ob sie dachten, sie habe es aus Dummheit oder mit böser Absicht getan, sie würden sie verachten.
Lilia dachte an die Enttäuschung, die sie für ihre Familie sein musste, und drängte den Gedanken hastig beiseite. Sie durchquerten zügig die spektakuläre Eingangshalle der Universität und gingen den Flur entlang zur Großen Halle. Zu ihrer Erleichterung trafen sie auf dem Weg zu dem uralten Bau innerhalb der riesigen Halle nicht eine Menschenseele. Sie hatte erwartet, dass vor dem Eingang zur Großen Halle zumindest einige Novizen herumlungern würden, um so viel wie möglich mitzubekommen.
Die Türen zur Gildehalle wurden geöffnet, und Lilia gefror das Blut in den Adern.
Der Raum zwischen den Sitzreihen zu beiden Seiten der Halle war mit Stühlen gefüllt, und auf den Stühlen saßen Novizen in braunen Roben und verrenkten sich den Hals, damit sie sehen konnten, wie Lilia hereinkam.
Sie richtete den Blick auf den Boden. Das Herz donnerte ihr in den Ohren, während sie ihre zitternden Beine zwang, sie den Gang hinunterzutragen. Falls irgendwelche Novizen etwas flüsterten – falls irgendwelche etwas riefen –, hörte sie es nicht. Das Blut rauschte in ihren Ohren und übertönte alle anderen Geräusche. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und darauf, ein bebendes Bein vor das andere zu setzen.
Sie erreichten die Stirnseite der Halle und gingen nach rechts, wo Sonea stehen blieb und Lilia sanft eine Hand auf die Schulter legte.
»Bleibt hier«, murmelte sie, dann eilte sie weiter und stieg die steile Treppe zu ihrem Platz unter den Höheren Magiern hinauf. Lilia, die sie beobachtete, sah, dass einige der Höheren Magier die Stirn runzelten. Ein Magier sagte etwas, aber Sonea machte eine beruhigende, wegwerfende Handbewegung.
Dann begegnete Lilia dem Blick eines Höheren Magiers, der sie anstarrte, und sie schaute hastig wieder zu Boden.
»Ihr habt die Berichte der wenigen Zeugen dieser Ereignisse gehört«, dröhnte eine männliche Stimme. Lilia schaute auf und sah, dass der in eine blaue Robe gekleidete Administrator in der Mitte der Stirnseite stand. Sie hatte so konzentriert zu Boden geblickt, dass sie ihn dort nicht bemerkt hatte. »Ihr habt gehört, was Schwarzmagierin Sonea in den Gedanken der beiden jungen Frauen gefunden hat, die vor uns stehen. Jetzt lasst uns hören, was sie zu sagen haben. Lady Naki.«
Ein Schauer überlief Lilia, und als sie Osens Blick folgte, sah sie, dass Naki nur etwa zehn Schritte von ihr entfernt stand, auf der von ihr aus linken Seite des Raums. Ihr wurde beim Anblick des vertrauten, schönen Gesichts leichter ums Herz, aber dieses Gefühl flaute schnell wieder ab und machte einem Schmerz Platz, der Lilia den Atem stocken ließ.
»Ja, Administrator Osen«, erwiderte Naki gelassen und ein wenig kalt. Sie stand mit durchgedrücktem Rücken und hoch erhobenem Kopf da. Unter ihren roten Augen lagen dunkle Ringe. Sie wirkt stark, aber auch wie jemand, der jeden Moment zusammenbrechen könnte, ging es Lilia durch den Kopf. Wie wirke ich, mit vorgebeugten Schultern und außerstande, irgendjemanden anzusehen? Ich muss so schuldig wirken, wie sie es mir unterstellen.
Naki erzählte ihre Geschichte. Bei jedem Wort wurde Lilia ein wenig kälter, bis sie bis ins Mark fror. Aber sie war diejenige, die das Buch lesen und schwarze Magie ausprobieren wollte! Es war allein ihre Idee! Als Naki beschrieb, wie sie den Leichnam ihres Vaters gefunden hatte, drehte sie sich um und funkelte Lilia an.
»Sie hat ihn getötet. Wer hätte es sonst sein können? Sie muss aus dem Buch gelernt haben. Vielleicht beherrschte sie schon schwarze Magie.« Nakis Gesicht zerfiel, und sie bedeckte es mit den Händen. »Warum? Warum hast du es getan?«
Lilia wollte vor Mitleid fast das Herz zerspringen. »Ich habe es nicht getan, Naki. Ich …«, begann Lilia, aber Osen sah sie stirnrunzelnd an, und sie schluckte die Worte herunter.
Nach einer Pause, während Naki ihre Fassung wiederfand, befragten die Höheren Magier sie, aber Lilia schien es, als erwarteten sie, nicht mehr zu erfahren, als man ihnen bereits erzählt hatte. Osen wandte sich Lilia zu, und sie holte tief Luft und hoffte, dass ihre Stimme fest bleiben würde.
»Lady Lilia«, sagte er. »Berichtet uns, was in der Nacht geschah, in der Ihr Euch in Lady Nakis Haus aufgehalten habt.«
Sie versuchte zu erklären, aber wann immer sie etwas beschrieb, das sich von Nakis Schilderung unterschied, gab das andere Mädchen leise Laute des Abscheus oder des Protests von sich, und Lilia sprach hastig weiter. Erst als sie das Thema des Buches hinter sich ließ, wurde Lilia bewusst, dass sie hätte erwähnen sollen, dass Naki es ihr schon früher gezeigt hatte, aber es schien ihr in dem Moment die Mühe nicht wert zu sein, noch einmal zu dem Punkt zurückzukehren und diese Einzelheit hinzuzufügen. Als Osen sie nach dem Blut auf ihren Händen fragte, fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie gespürt hatte, wie Naki Macht von ihr nahm, aber als sie versuchte, es Osen zu erzählen, wertete er es als eine Bemühung, die Aufmerksamkeit von dem Blut abzulenken. Schließlich wurden seine Fragen direkter.
»Habt Ihr versucht, schwarze Magie zu erlernen?«
»Ja«, antwortete sie und spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde.
»Hattet Ihr Erfolg?«
»Ja«, stieß sie gezwungen hervor. »Zumindest sagt das Schwarzmagierin Sonea …«
»Habt Ihr Lord Leiden getötet?«
»Nein.«
Er nickte und sah die Höheren Magier an, und Lilia wappnete sich gegen ihre Fragen. Sie hatten mehr Fragen an sie als an Naki. Als die Tortur vorüber war und Osen seine Aufmerksamkeit endlich auf den Rest der Halle richtete, verspürte sie eine ungeheure Erleichterung.
»Wir haben nicht genug Beweise, um irgendjemanden wegen der Ermordung Lord Leidens anzuklagen«, sagte er. »Obwohl die Nachforschungen dazu keineswegs beendet sind. Es wurden jedoch zwei Verbrechen zugegeben: der Versuch, schwarze Magie zu erlernen, und das Erlernen von schwarzer Magie. Die Hohen Magier haben über die geziemenden Strafen für diese Verbrechen entschieden und dabei das Alter der Angeklagten und die Absicht hinter ihren Taten berücksichtigt.« Er hielt inne. »Die Strafe für Lady Naki, die zugibt, versucht zu haben, schwarze Magie zu erlernen, jedoch keinen Erfolg hatte, ist ein dreijähriger Ausschluss von der Universität, nachdem ihre Kräfte blockiert wurden. Nach Ablauf dieser Zeit wird man ihr Verhalten noch einmal betrachten, und wenn es als befriedigend erachtet wird, darf sie zurückkehren.«
Die zuschauenden Magier und Novizen stießen einen schwachen Seufzer aus, dem ein leises Raunen von Gesprächen folgte, aber es wurde sofort wieder still in der Halle, als Osen weitersprach.
»Die Strafe für Lady Lilia, die zugibt, versucht zu haben, schwarze Magie zu erlernen, und Erfolg dabei hatte, ist der Ausschluss aus der Gilde. Ihre Kräfte werden blockiert werden, und sie wird an einem geziemend sicheren Ort verbleiben müssen. Ihre Strafe werden wir in zehn Jahren noch einmal überdenken.«
Kein Seufzer kam von den Magiern und Novizen in der Halle. Stattdessen setzte das Gemurmel unverzüglich ein und wurde lauter. Osen runzelte die Stirn, da er den Ton der Unzufriedenheit hörte. Lilia wurde flau im Magen.
Sie denken, die Strafe sei nicht hart genug. Sie denken, ich sollte hingerichtet werden. Sie …
»Bevorzugung«, sagte jemand hinter ihr laut.
»Naki hat sie dazu gebracht, es zu tun!«, erklärte eine andere Stimme.
»Nein! Von euch ist schon immer ein schlechter Einfluss ausgegangen«, kam die Antwort.
»Bitte, eskortiert Lady Naki und Lady Lilia aus der Gildehalle«, sagte Osen, dessen mit Magie verstärkte Stimme die Streitigkeiten übertönte. Es wurde ein wenig stiller im Raum, und die beiden Magier, die Lilia und Sonea zuvor begleitet hatten, traten vor und bedeuteten ihr, auf einen Nebeneingang in der Nähe zuzugehen.
»Wir sind auf deiner Seite, Lilia!«, rief jemand.
Für einen winzigen Moment wurde ihr leichter ums Herz, dann rief jemand: »Mörderin!«, und sie sackte wieder in sich zusammen. Ich werde eingesperrt. Für zehn Jahre. Und länger, denn ganz gleich wie gut ich mich benehme, ich werde immer noch wissen, wie man schwarze Magie benutzt, und das bedeutet, dass ich immer noch eine Verbrecherin sein werde. Oh, wie sehr ich mir wünschte, sie könnten nicht nur meine Kräfte, sondern auch meine Erinnerungen blockieren. Warum habe ich mich von Naki überreden lassen zu versuchen, schwarze Magie zu erlernen?
Weil sie Naki liebte. Weil keine von ihnen gedacht hatte, dass es funktionieren würde. Aber es hatte funktioniert, was erklärte, warum es verboten war, etwas über schwarze Magie zu lesen. Die Gilde hatte nicht zugeben wollen, dass es möglich war, denn dann würde jemand mit bösen Absichten sich ein Buch beschaffen und es versuchen. Ich hätte das wissen müssen.
Und dann begriff sie, was sie und Naki getan hatten. Jetzt wissen alle, dass man schwarze Magie aus Büchern lernen kann. Wir haben ein Geheimnis aufgedeckt, das hätte verborgen bleiben sollen. Und wie die schwarze Magie ist es ein Geheimnis, dessen Entdeckung man nicht ungeschehen machen kann.
Es war ein langer Tag für Lorkin gewesen. Nicht nur weil Kalia ihren Ärger an ihm ausgelassen hatte, nachdem er aus der Krankenstation geschlüpft war, sondern weil er hatte zusehen müssen, wie es mit der Gesundheit des kranken Kindes bergab ging, während er sich die ganze Zeit gefragt hatte, wie er sie mit Magie heilen sollte, ohne dass Kalia es sah und ihn daran hinderte.
Sein Dilemma hatte sich jedoch auf eine überraschende Art und Weise gelöst. Irgendwann am späten Abend waren die Eltern des Mädchens zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht wollten, dass ihr Kind in der sehr öffentlichen, häufig lauten Krankenstation starb, sondern daheim bei seiner Familie. Kalia hatte versucht, es ihnen auszureden, aber sie hatten sich bereits entschieden.
Dies hatte Kalia aus dem Gleichgewicht gebracht, und sie war während des Rests des Tages geistesabwesend gewesen. Zweifellos ist sie damit beschäftigt zu versuchen herauszufinden, ob sie aus der Situation Gewinn ziehen kann, ohne selbst schlecht dazustehen.
Zwei weitere Patienten litten schwer am Kältefieber: eine alte Frau und ein halbwüchsiger Junge, die beide bereits andere gesundheitliche Probleme gehabt hatten. Kalia verließ den Raum nicht, um das kranke Mädchen zu besuchen – vielleicht, weil man sie nicht darum gebeten hatte, vielleicht, weil sie befürchtete, Lorkin werde in ihrer Abwesenheit die anderen gefährlich kranken Patienten mit Magie heilen. Sie ließ Lorkin bis spät in die Nacht arbeiten, dann entließ sie ihn endlich, als eine hochrangige Magierin ihren kranken Ehemann herbrachte und bezweifelte, dass es klug von Kalia sei, so lange zu arbeiten und sich derart zu erschöpfen, obwohl andere Magierinnen sich erboten hatten, nachts über die Patienten zu wachen, um genau das zu vermeiden.
Als er aufbrach, rief Kalia seinen Namen. Er drehte sich um.
»Du darfst gehen«, sagte sie. »Besuche Velyla nicht ohne mich.«
Er nickte zum Zeichen, dass er verstand. Als er sich auf den Weg zur Wohnung des kranken Mädchens machte, fragte er sich, was sein Ungehorsam ihn wohl kosten würde.
Er kam nicht bis zu der Wohnung.
Eine Frau trat aus einem Nebenraum und winkte ihn heran. Er wusste, dass sie eine von Savaras Anhängerinnen war, aber trotzdem zögerte er, bevor er ihr in den Raum folgte. Dann sah er die vier Menschen, die dort warteten, und seine Zweifel zerstoben.
Der Raum war ein großer, halb leerer Lagerraum für Nahrungsmittel. Auf einem improvisierten Bett lag Velyla, und sie war bewusstlos. Ihre Eltern beugten sich über sie. Neben ihnen stand Savara.
»Lorkin.« Savara lächelte. »Ich dachte schon, sie würde dich niemals gehen lassen«, sagte sie.
Er verzog das Gesicht. »Ich denke, sie hat gehofft …« Er riss sich zusammen und sah die Eltern an. Gehofft, dass das Mädchen sterben würde, bevor ich eine Chance hatte, es zu heilen. Aber das kann ich vor ihnen nicht laut aussprechen. Er ging zu dem provisorischen Bett hinüber, dann blickte er zu dem Ehepaar auf. »Ich werde versuchen, sie mit Magie zu heilen, aber ich kann nicht versprechen, dass ich in der Lage sein werde, sie zu retten. Eine magische Heilung hat nicht immer Erfolg, obwohl ich nie erlebt habe, dass sie Schaden angerichtet hätte. Ich werde es nur versuchen, wenn Ihr mir die Erlaubnis dazu gebt.«
»Die geben wir«, sagte der Vater, und seine Frau nickte.
»Und ich werde das Geschehen bezeugen«, ergänzte Savara leise.
Lorkin sah sie an. Tyvara musste Savara von seinen Plänen erzählt haben. Vielleicht hatte Savara die Eltern überredet, ihr Kind aus der Krankenstation zu holen, damit Kalia seine Heilung nicht verhindern oder in den Prozess eingreifen konnte. Vielleicht hatte sie auch erraten, dass Kalia ihm verbieten würde, Velyla allein aufzusuchen, und dafür gesorgt, dass das Mädchen stattdessen hierher gebracht wurde.
Savara lächelte, und in ihren Augen stand ein Leuchten, das sowohl Selbstgefälligkeit als auch Zustimmung ausdrückte.
Lorkin wandte sich wieder dem Kind zu, legte der Kleinen eine Hand auf die Stirn und sandte seine Sinne in ihren Körper. Was er sah, bescherte ihm eine Gänsehaut. Die Krankheit war überall, griff überall an. Ihre Lungenflügel waren voll davon, und ihr Herz war schwach.
Er begann, indem er ihr einfach Körperenergie sandte. Oft war das genug – der Körper benutzte die Energie automatisch, um sich selbst zu heilen. Diese Krankheit, die sie im Griff hatte, war zu heftig für ihre Abwehrkräfte. Wenn er in die Verräterinnen geschaut hätte, die nicht allzu schlimm vom Kältefieber betroffen waren, hätte er gesehen, wie ihre Körper sich gegen die Krankheit wehrten. Aber Velylas Körper verlor diesen Kampf.
Es konnte sein, dass die Abwehrkräfte ihres Körpers langsam und schwach waren und dass sie lediglich zusätzliche Energie brauchte, um lange genug durchzuhalten, um die Schlacht zu gewinnen. Oder es konnte sein, dass sie sie niemals gewinnen würde, ganz gleich wie viel zusätzliche Zeit er ihr verschaffte. Kalia wird sagen, ich hätte ihren Schmerz in die Länge gezogen, wenn ich keinen Erfolg habe. Aber ich muss es versuchen.
Als Nächstes zwang er die Flüssigkeit aus ihrer Lunge – was für niemanden angenehm war, es dem Mädchen jedoch für eine Weile erlauben würde, richtig zu atmen –, dann heilte er so viel von dem Schaden, wie er konnte. Dieser letzte Schritt kostete ihn einiges von seiner Kraft, aber bei der Arbeit in der Krankenstation brauchte er ohnehin nicht viel von seiner Macht, und ein paar Stunden Schlaf sollten ihn wieder auf die Beine bringen.
»Benutzt weiter Kalias Heilmittel«, erklärte er Velylas Eltern. »Sie werden helfen, ihre Lunge freizuhalten und ihre Halsschmerzen zu lindern.« Als er hinabschaute und sah, dass die Lider des Mädchens flatterten, fügte er hastig hinzu: »Ich habe alles getan, was man mit Magie tun kann, was bedeutet, dass ich ihrem Körper noch eine Chance verschafft habe, gegen das Kältefieber zu siegen. Ich kann es noch einmal tun, wenn ihr Zustand sich verschlechtert, aber wenn ihr Körper nicht dagegen ankämpft …« Er ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte den Kopf.
Die Eltern nickten mit grimmiger Miene. »Vielen Dank«, sagte der Vater.
Interessant, dass er derjenige ist, der spricht, obwohl die Frau doch als das Oberhaupt der Familie gilt, überlegte Lorkin.
Er spürte eine Hand auf der Schulter, und als er sich umdrehte, stand Savara neben ihm. »Du solltest dich besser ein wenig ausruhen. Ich nehme an, das erfordert mehr Magie, als es den Anschein macht.«
Er zuckte die Achseln, obwohl sie recht hatte. Sie blickte zu der Frau auf, die ihn in den Raum gebracht hatte, woraufhin diese die Tür einen Spaltbreit öffnete, um hinauszusehen, bevor sie sich wieder umdrehte und nickte.
»Du gehst zuerst«, murmelte Savara. »Wir werden getrennt aufbrechen, um weniger Verdacht zu erregen, falls man uns sieht.«
Nachdem er hinausgeschlüpft war, machte er sich auf den Weg zum Männerraum. Savara schien vorzuhaben, die Heilung des Mädchens geheim zu halten. Würde es Verdacht erregen, wenn sich das Mädchen erholte? Es war jedenfalls vorläufig immer noch krank und würde niemanden damit überraschen, dass es morgen gesund und munter herumtobte. Es würde eine Reihe von Tagen brauchen, um zu genesen – vorausgesetzt, dass das Mädchen die Krankheit überhaupt überstand. Die meisten Menschen hier würden das nicht verdächtig finden, aber ob das auch für Kalia galt, die wusste, wie schlecht es um die kleine Patientin bestellt war, musste zweifelhaft bleiben.
Ich schätze, ich werde es bald herausfinden.
Als Achatis Sklaven den Rest der Mahlzeit forträumten, wollte Dannyl noch einen Schluck Wein nehmen, besann sich dann jedoch eines Besseren. Es war ein besonders starker Jahrgang, und das Essen war ausgesprochen würzig gewesen. Ihm drehte sich der Kopf bereits auf eine beinahe unangenehme Art und Weise.
Für einen Magier war es niemals klug, sich allzu sehr zu betrinken. Alle Magier erhielten ein stetiges Maß an Kontrolle über ihre Kräfte aufrecht, und unter dem Einfluss von Alkohol konnte ihnen diese Kontrolle ein wenig entgleiten. Im Allgemeinen war es eher peinlich als gefährlich, obwohl es im Laufe der Jahre etliche Magier gegeben hatte, die, nachdem sie sich etwas zu viel gegönnt hatten, versehentlich ihre Häuser niedergebrannt hatten.
Einige Drogen – besser bekannt als Gifte – konnten einem Magier jede Kontrolle rauben, was auf spektakuläre Weise fatal sein konnte. Er hatte über einige Zwischenfälle in der frühen kyralischen Geschichte gelesen, größtenteils vor der Entdeckung der magischen Heilkunst. Glücklicherweise hatten die Drogen Nebenwirkungen, die die Opfer auf die Gefahr aufmerksam machten, und sie hatten Zeit, das Gift aus ihrem Körper zu entfernen, wenn sie wussten, wie man es anstellte.
Dannyl sah Achati an, der ihn nachdenklich beobachtete. Sofort verspürte er ein Kribbeln der Sorge, aber auch sein Pulsschlag beschleunigte sich ein wenig. Er erinnerte sich an den Tag, an dem Achati sein Interesse verraten hatte, dass sie mehr wären als Magierkollegen und Diplomaten. Mehr als Freunde.
Dannyl hatte sich geschmeichelt gefühlt, war aber auch auf der Hut gewesen. Als er ihn zögern sah, hatte Achati Dannyl vorgeschlagen, die Idee für eine Weile zu erwägen.
Wie lang ist eine Weile?
Dannyl musste zugeben, dass er die Idee erwogen hatte. Er mochte Achati sehr. Er fühlte sich auf eine ganz andere Art zu Achati hingezogen, als er sich zu Tayend hingezogen gefühlt hatte. Achati war intelligent und ein interessanter Gesprächspartner. Nicht dass Tayend das nicht gewesen wäre, aber er neigte auch dazu, schnippisch, töricht und gelegentlich gedankenlos zu sein. Nichts von alledem traf jemals auf Achati zu.
Aber irgendetwas ließ Dannyl zögern, und er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was es war: Achati war ein mächtiger Mann, sowohl in magischer als auch in politischer Hinsicht. Dannyl fand diesen Umstand attraktiv, bis ihm einfiel, dass Achati ein Sachakaner und ein Schwarzmagier war, und dann konnte er nicht umhin, sich an die Invasion der Ichani zu erinnern und wie nah Kyralia daran gewesen war, von bloßen Ausgestoßenen dieser mächtigen Gesellschaft erobert zu werden.
Er ist kein Ichani, rief Dannyl sich ins Gedächtnis. Es hat sich herausgestellt, dass es in Sachaka keineswegs von ehrgeizigen, mordlustigen und auf Eroberung erpichten Schwarzmagiern nur so wimmelt. Achati ist das Gegenteil eines Ichani – zivilisiert und bedacht auf Frieden zwischen unseren Ländern.
Trotzdem, es ist niemals weise, Politik und Vergnügen zu vermischen … es sei denn, das Vergnügen wäre Politik.
Falls die Verwicklungen und tragischen Romanzen der Höflinge der Verbündeten Länder ein Maßstab waren, konnten die Dinge wirklich schmutzig werden und sich zu guter Letzt als nachteilig für mindestens einen der Beteiligten erweisen. Aber dies war keine jener Romanzen, bei denen es um heimliche Hochzeiten oder skandalöse Affären ging. Es war nichts, was seine Loyalität Kyralia gegenüber in Zweifel ziehen würde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Achati unvernünftige Erwartungen hatte und unrealistische Versprechungen geben würde …
»Worüber denkt Ihr nach?«, fragte Achati.
Dannyl sah seinen Gefährten an und zuckte die Achseln. »Nichts.«
Der Sachakaner lächelte. »Es ist eine seltsame Angewohnheit von Euch Kyraliern zu behaupten, einen leeren Kopf zu haben, wenn Ihr über Eure Gedanken nicht sprechen wollt.«
»Oder wenn unsere Gedanken zu verworren und uneindeutig sind – höchstwahrscheinlich vom Wein –, um sie zu erklären – was wahrscheinlich ebenfalls am Wein liegt«, erwiderte Dannyl.
Achati lachte leise. »Ja, das kann ich mir vorstellen.« Er schaute Dannyl an und runzelte die Stirn. »Es gibt da etwas, das ich Euch sagen muss, und ich bin mir nicht sicher, ob es Euch nicht missfallen wird.«
Ein kleiner Stich der Enttäuschung durchzuckte Dannyl. Er hatte sich beinahe selbst dazu überredet, Achatis Antrag anzunehmen, aber jetzt, da Achati ernster wurde, kehrten Dannyls Zweifel langsam zurück.
Wie würde sich eine solche Verbindung, sollte sie entdeckt werden, auf unser Ansehen in der sachakanischen Gesellschaft auswirken? Dann fiel ihm ein, dass sie kurz davorstanden, Arvice zu verlassen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Diese Reise könnte die perfekte Gelegenheit sein …
»Ich habe mich einverstanden erklärt, eine weitere Person auf unsere Forschungsreise mitzunehmen«, sagte Achati. »Er war ziemlich überzeugend, und ich kann an seinen Argumenten keinen Fehler entdecken. Ich habe bereits versprochen, dass ich ihm, sollten ihm die Dinge hier ein wenig über den Kopf wachsen, helfen würde, dem Interesse der Ashakis zu entkommen.«
Dannyl wurde flau im Magen. Dann folgte seiner Enttäuschung über Achatis Worte ein aufkeimender Verdacht.
»Wer?«
Achati lächelte. »Ich habe zugestimmt, Botschafter Tayend mitzunehmen.«
Dannyl wandte den Blick ab, um sein Missfallen zu verbergen. »Ah«, war alles, was er sich zu sagen zutraute.
»Es missfällt Euch.« Achati klang besorgt. »Ich dachte, Ihr beide würdet gut miteinander auskommen.«
Dannyl zwang sich, die Achseln zu zucken. »Das tun wir auch.« Ich nehme an, ich kann Achati nicht bitten, Tayend zurückzulassen, ohne alle möglichen Peinlichkeiten und Kränkungen zu verursachen. »Doch einen möglichen Nachteil hätte es. Ich vermute, er hat versäumt, Euch etwas sehr Wichtiges zu erzählen.«
Achati runzelte die Stirn. »Und was ist das?«
Dannyl brauchte sich bei dieser Erinnerung nicht zu einem Lachen zu zwingen. »Tayend wird schrecklich, unerträglich, beinahe tödlich seekrank.«
Lilia musterte ihre Umgebung, nicht sicher, ob sie wach war oder noch träumte. Eine Zeitlang lag sie still da, dann kam sie zu dem Schluss, dass sie wach sein müsse, weil sie kein Gefühl drohender Gefahr empfand, das in ihren Träumen zu ihrem ständigen Begleiter geworden war.
Nichts bewegte sich, nichts veränderte sich, und nichts machte ein Geräusch oder sprach. Ah. Ich habe mich geirrt. Hier ist doch eine Art von Gefahr, aber sie ist subtiler und finsterer. Es ist der vollkommene Mangel an Ereignissen. Es ist die Gefahr endloser, einförmiger Stunden, die sich unendlich in die Zukunft erstrecken.
Es war die Gefahr von Langeweile und vergeudeten Jahren. Die Gefahr, nie geliebt zu werden und nie zu lieben. Oder vergessen zu werden.
Aber es hätte schlimmer kommen können. Ihr Blick verweilte auf den bequemen, guten Möbeln und dem Rest der Einrichtung. Nicht viele Gefängnisse sahen so aus. Vielleicht war dies das einzige seiner Art.
Die Mahlzeit am Abend zuvor war genauso gut, wenn nicht besser gewesen als die, die sie im Speisesaal der Universität zu sich genommen hatte. Die Wachen waren höflich, und wenn überhaupt, schienen sie Mitleid mit ihr zu haben. Vielleicht erinnerte sie sie an ihre Töchter.
Ich wette, ihre Töchter bringen sich niemals in solche Schwierigkeiten, wie ich es getan habe.
Dann zuckte sie zusammen, als sie sich an die kurze Begegnung mit ihren Eltern erinnerte, die in die Gilde gekommen waren, um sie zu sehen, bevor man sie in den Ausguck gesperrt hatte. Sie war zu benommen gewesen, um viel zu sprechen. Sie erinnerte sich daran, dass sie oft »Es tut mir leid« gesagt hatte. Ihre Mutter hatte lediglich gefragt: »Warum?«, und sie hatte nicht antworten können. Wie hätte sie ihrer Mutter erklären können, dass sie ein anderes Mädchen liebte?
Es hatte Tränen gegeben.
Die Erinnerung war schmerzhafter, als es die Begegnung selbst gewesen war. Sie stand auf und zog sich an, nur um ihre Gedanken auf etwas anderes richten zu können, und ihr Atem formte eine Wolke in der kalten Luft. Irgendjemand hatte beschlossen, dass sie die Art von schlichten Hosen und Obergewändern tragen sollte, die die meisten Diener trugen, aber aus einem Tuch von besserer Qualität. Ein warmes Unterhemd gehörte auch dazu. Roben wären zu dünn und zu leicht gewesen, um die Kälte abzuwehren – wenn es ihr denn erlaubt gewesen wäre, weiterhin welche zu tragen. Sie zitterte, und plötzlich spürte sie schmerzhaft den Verlust ihrer Magie.
Man hatte ein Kohlebecken im Raum aufgestellt, mit einem Abzug, der den Rauch durch die Außenmauer des Gebäudes leitete. Daneben befand sich ein Stapel Feuerholz und Anzündmaterial. Da der Ausguck für Magier erbaut worden war, vermutete sie, dass das Gebäude über keine Kamine oder Schornsteine verfügte. Als die Wache ihren Dienst übernommen hatte, waren sie wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass Kohlebecken die einfachste nichtmagische Methode waren, um die Räume warmzuhalten.
Jemand hatte auch Drehstöcke und Zünder bereitgelegt, also machte sie sich daran, das Kohlebecken zu entzünden. Sie versuchte nicht, ihre Kräfte zu benutzen, davon überzeugt, dass die Blockade, die Schwarzmagierin Sonea über ihren Geist gelegt hatte, undurchdringlich war und dass es unangenehm sein würde, dagegen anzukämpfen. Sie konnte sich an die Prozedur selbst kaum erinnern. Ihr Geist war vor Schreck ganz benommen gewesen.
Sonea hat mir einige Fragen gestellt, erinnerte sie sich. Ich war ihr nicht gerade von großem Nutzen. Aber zumindest hat sie immer noch versucht zu helfen. Oder zumindest herauszufinden, wer Nakis Vater getötet hat.
Würde die Gilde die Suche nach dem Mörder aufgeben, jetzt, da sie eingekerkert war? Sie hoffte es nicht. Obwohl Naki ihren Stiefvater nicht gemocht hatte, hatte sein Tod sie offensichtlich bekümmert. Sie verdiente es zu wissen, was wirklich geschehen war.
Vor allem da sie in Gefahr sein könnte. Wer immer ihren Vater getötet hat, könnte es auch auf sie abgesehen haben.
Lilias Herz begann schneller zu schlagen, aber sie holte einige Male tief Luft und sagte sich, dass Naki auf sich selbst aufpassen könne. Aber ganz konnte sie es doch nicht glauben. Naki war durch ihre jüngsten Schwächen zu leicht ablenkbar. Wie gut würde sie sich verteidigen, wenn Feuel sie in seinen Fängen hielt?
Nun, das ist etwas, mit dem ich keine Probleme mehr haben werde. Kein Feuel mehr für mich, hier in meinem Gefängnis.
Bei dem Gedanken überlief sie ein Schauer der Furcht. Sie schüttelte den Kopf. Es war nicht so, als brauche sie Feuel. Oder als hätte sie auch nur ein so großes Verlangen danach. Aber es hätte ihr geholfen, alles zu vergessen. Sich nicht um die Dinge zu scheren, die sie nicht ändern oder tun konnte. Aufzuhören, sich so dumm vorzukommen, weil sie die Anweisungen des Buches über schwarze Magie ausprobiert hatte. Es zu ertragen, nicht zu wissen, ob Naki in Gefahr war. Und vielleicht sogar die Liebe zu ersticken, die sie für Naki empfand. Waren sich die Liedermacher und Dichter nicht alle einig darin, dass Liebe nur zu Schmerz führte?
Wenn sie Naki nicht liebte, würde sie jetzt vielleicht einen Groll gegen das Mädchen hegen, das sie beide in diese Schwierigkeiten gebracht hatte. Das Problem ist nur, dass ihre Leichtsinnigkeit zu den Dingen gehört, die ich an ihr liebe. Obwohl die Liebe zu dieser Eigenschaft jetzt vielleicht nicht mehr so ausgeprägt ist …
Das Kohlebecken war klein, und ihre Haut kribbelte vor Kälte. Sie stand auf, legte sich die Bettdecke um die Schultern und ging im Raum auf und ab. Für eine Weile stand sie an einem der schmalen Fenster und blickte auf den Wald draußen hinab. Es war der gleiche Wald, der an die Gebäude der Gilde grenzte. Sie hatte ihn nie erkundet, wie andere Novizen es getan hatten. Da sie in der Stadt aufgewachsen war, war die Aussicht, ein wildes, von Tieren beherrschtes Gewirr von Bäumen zu betreten, seltsam und ein wenig furchterregend gewesen. Von ihrem hohen Standort aus – im zweiten Stock eines Turms, der auf einem Hügel mit Blick auf den Wald erbaut war – konnte sie sehen, dass die Bereiche zwischen den Bäumen dicht ausgefüllt waren mit einem wüsten Gestrüpp toten Holzes und nachwachsender Vegetation. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ein Mensch durch dieses Gestrüpp gehen konnte, ohne zu stolpern. Wahrscheinlich nur sehr langsam.
Als der Anblick des Waldes sie zu langweilen begann, beschäftigte sie sich damit, sämtliche Gegenstände im Raum genau zu betrachten. Alle waren praktisch. Es gab keine Bücher, kein Papier, keine Schreibutensilien. Würden die Wachen ihr etwas davon bringen, wenn sie darum bat?
Die Tür zum Flur war aus schwerem, gutem Holz. Im Nachhinein hatte man ein kleines, quadratisches Stück Glas eingebaut, so dass die Wachen überprüfen konnten, wo ihre Gefangene war, bevor sie die Tür öffneten. Außerdem befand sich eine Tür zwischen ihrem Zimmer und dem benachbarten. Sie hatte am vergangenen Abend versucht, den Türknauf zu drehen, weil sie gedacht hatte, die Tür führe vielleicht zu einem zweiten Raum – vielleicht einem privateren Waschraum –, aber er hatte sich nicht bewegen lassen. Jetzt trat sie wieder vor die Tür und fragte sich, was dahinter lag. Aus Neugier drückte sie ein Ohr an das Holz.
Zu ihrer Überraschung konnte sie eine Stimme hören. Eine Frauenstimme. Sie konnte nicht hören, was die Frau sagte, aber das Geräusch war ziemlich melodisch. Vielleicht sang die Frau.
Ein Klopfen an der Haupttür ließ sie heftig zusammenzucken. Da sie wusste, dass man sie dabei beobachtet haben würde, wie sie ihre Nachbarin belauschte, trat Lilia hastig von der Nebentür weg.
Die Haupttür wurde geöffnet, und ein lächelnder Wachposten trat mit einem Tablett ein. Er war jung – nur wenige Jahre älter als sie. Auf dem Tablett befand sich eine typisch kyralische Morgenmahlzeit.
»Einen guten Morgen, Lilia«, sagte er und stellte das Tablett auf den kleinen Esstisch. »Habt Ihr gut geschlafen?«
Sie nickte.
»Habt Ihr es warm genug? Braucht Ihr weitere Decken?«
Sie nickte, dann schüttelte sie den Kopf.
»Soll ich Euch irgendetwas bringen?« Sein Benehmen war seltsam freundlich für einen Mann in einer Uniform, die man für gewöhnlich mit Autorität und Gewalt in Verbindung brachte.
Sie dachte nach. Besser, ich nehme das Angebot an. Ich werde lange hier sein.
»Bücher?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Ich werde sehen, was ich für Euch auftreiben kann. Sonst noch etwas?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, Ihr seid leicht zufriedenzustellen. Die nebenan will Garn aus Reberwolle, damit sie Decken und Mützen machen kann.«
Lilia blickte zu der Seitenwand, die sie von ihrer singenden Nachbarin trennte. »Wer …?«, begann sie.
Zum ersten Mal verblasste das Lächeln des Wachmanns, und er runzelte die Stirn. »Lorandra. Die wilde Magierin, die von Schwarzmagierin Sonea gefangen wurde. Eine seltsam aussehende Frau, aber sie ist höflich und bereitet uns keine Schwierigkeiten.«
Lilia nickte. Sie hatte von der wilden Magierin gehört. Der Sohn der Frau war ebenfalls ein wilder Magier, den man noch nicht aufgespürt hatte. Er arbeitete für einen Dieb oder etwas in der Art.
»Mein Name ist Welor«, eröffnete ihr der Wachposten. »Ich soll dafür sorgen, dass Ihr es bequem habt, während Ihr bei uns im Ausguck seid. Ich werde Euch einige Bücher beschaffen. In der Zwischenzeit«, er deutete mit dem Kopf auf das Tablett, »wird ein wenig Essen Euch helfen, Euch zu wärmen.«
»Danke«, brachte sie heraus. Er nickte, zog sich zur Tür zurück und lächelte noch einmal, bevor er sie schloss.
Trotz all der Freundlichkeit und seines entgegenkommenden Benehmens war das Klirren des Schlosses, in dem sich jetzt der Schlüssel drehte, fest und ohne Zögern. Mit einem Seufzen setzte Lilia sich hin und begann zu essen.
Als Lorkin an diesem Morgen in die Krankenstation zurückgekehrt war, hatte sich eine unerklärliche Stimmung Kalias bemächtigt. Mit einem neutralen Tonfall und leerer Miene erklärte sie Lorkin, dass die alte Frau, die am Kältefieber gelitten hatte, während der Nacht gestorben war.
Sie verlor kein Wort über Velyla, aber er stellte bald fest, dass die heimliche Heilung der vergangenen Nacht ihn nicht mehr allzu sehr beschäftigte, während er sich zu sorgen begann, wie die Verräterinnen auf den Tod der alten Frau reagieren würden. Er wappnete sich gegen Anklagen und Tadel.
Doch nichts dergleichen kam. Während die Stunden verrannen, sagten die Patienten und Besucher der Krankenstation lediglich, dass die Frau bereits sehr alt gewesen sei, und obwohl es traurig sei, dass sie gestorben war, sei es nicht unerwartet gekommen. Niemand warf vielsagende Blicke in Lorkins Richtung. Falls Kalia irgendeine Versuchung verspürte anzudeuten, dass er die alte Frau hätte retten können, widerstand sie ihr.
Dem halbwüchsigen Jungen ging es jedoch nicht gut, und als Lorkin mit dem anbrechenden Abend die Erschöpfung nach einer nur kurzen Nacht zu spüren begann, trafen die Eltern des Jungen ein und eröffneten Kalia, dass sie ihn mit nach Hause nehmen würden.
Der Blick aus schmalen Augen, den Kalia Lorkin zuwarf, ließ ihn frösteln. Er bemühte sich, verwirrt zu wirken oder zumindest müde und verständnislos. Sie sagte nichts und bestand darauf, die Familie zu begleiten.
Wird man mir heute Nacht auf dem Rückweg zum Männerraum auflauern?, fragte er sich. Wie lange wird es dauern, bis Kalia dahinterkommt, was hier vorgeht? Falls sie es nicht bereits weiß.
Er zog ein wenig Magie in sich hinein, vertrieb die Müdigkeit aus seinem Körper und wandte sich wieder der Arbeit zu, die er vor dem Erscheinen der Familie getan hatte. Nicht lange danach hörte er Schritte vom Eingang, und als er aufschaute, bemerkte er einen neuen Patienten.
Evar lächelte, nickte Lorkin zu, sah sich im Raum um und kam dann auf ihn zu. Seine Nase war rot, und seine Augen waren geschwollen.
»Du hast dir wirklich einen wunderbaren Zeitpunkt ausgesucht«, sagte Lorkin.
»Wie meinst du das?«, fragte Evar und blinzelte mit geheuchelter Unschuld. Er hustete. »Uh«, murmelte er. »Ich hasse das Kältefieber.«
»Du wirst es überleben.«
»Ich habe Halsschmerzen.«
Lorkin lachte leise, bedeutete Evar, ihm zu folgen, und ging dann zu den Heilmitteln, die Kalia für den Tag aus ihrem Lagerraum geholt hatte.
»Wo ist Kalia?«, fragte er.
Evar zuckte die Achseln. »Auf dem Weg nach irgendwohin. Ich habe nicht gesehen, wohin genau sie gegangen ist. Ich habe nur bemerkt, dass sie die Krankenstation verlassen hat, und bin sofort hierhergekommen.«
Lorkin reichte seinem Freund eine kleine Menge Tee. »Du kennst die Dosierung?«
»Natürlich. Ich hatte das Fieber jedes Jahr, solange ich denken kann.«
»Und doch bist du ein Magier«, erwiderte Lorkin. Nicht dass Gildemagier niemals Krankheiten bekämen. Aber sie neigten dazu, sich schnell zu erholen. Selbst wenn Evar sich das Kältefieber zugezogen hatte, würde es Lorkin nicht überraschen, wenn Evar am nächsten Morgen vollkommen genesen aufwachen würde.
Evar blickte sich um. »Wie läuft es denn so?«
»Ein wenig besser. Bald werden weniger Menschen herkommen, im Wesentlichen, weil es niemanden mehr gibt, der sich an dem Fieber anstecken könnte.«
»Ich hatte schon gedacht, ich wäre für dieses Jahr daran vorbei…«
»Lorkin.«
Sie beide blickten auf und sahen Kalia in der Tür stehen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stolzierte auf ihn zu; ihre festen Schritte hallten im Raum wider. Ihre Augen wurden schmal, und sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.
»Oh-oh«, flüsterte Evar. Er trat einen Schritt zurück, als Kalia herbeikam. Sie blieb ein wenig näher bei Lorkin stehen, als man es wahrscheinlich für normal oder angenehm gehalten hätte, und funkelte ihn an.
Funkelte zu ihm auf, bemerkte Lorkin. Es war ein lächerlicher Gedanke, aber es wirkte einfach komisch, dass sie, die einen Kopf kleiner war als er, ihn körperlich einzuschüchtern versuchte. Er hoffte, dass sein Gesicht möglichst ausdruckslos war.
»Hast du Velyla mit Magie geheilt?«, fragte sie. Sie sprach langsam und mit einer Stimme, die leise war, aber doch laut genug, dass alle im Raum sie hören konnten.
Stoff raschelte, als die Patienten und Besucher sich aufrichteten oder umwandten, um die Auseinandersetzung zu beobachten, dann wurde es still im Raum.
»Ja«, antwortete Lorkin. »Mit der Erlaubnis ihrer Eltern«, fügte er hinzu.
Kalias Augen weiteten sich, dann wurden sie wieder schmal. »Also bist du ohne mich in ihr Quartier gegangen, trotz meiner Befehle …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Ich bin nicht in ihr Quartier gegangen.«
Die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss sie ihn wieder, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Sie reckte das Kinn, bedachte ihn mit einem herrischen, wütenden Blick, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und stolzierte wieder aus dem Raum.
Sobald sie fort war, wurde ein Raunen laut. Lorkin sah Evar an, der ihm zulächelte.
»Sie ist sauer. Sie ist sehr, sehr sauer. Aber das hast du erwartet, nicht wahr? Hat die magische Heilung funktioniert?«
Lorkin verzog das Gesicht. »Nach ihrer Reaktion zu urteilen, sieht es so aus, als könnte es tatsächlich funktioniert haben.«
»Du meinst, du weißt es nicht?« Evar klang überrascht.
»Nein. Man kann nicht alles mit Magie heilen. Ein Fieber wie dieses könnte trotzdem tödlich sein, wenn der Körper des Patienten nicht in der Lage ist, dagegen anzukämpfen. Mit Magie kann man lediglich den Schaden heilen und dem Patienten ein wenig neue Kraft geben.«
Evar schüttelte den Kopf. »Wenn Kalias Verbündete das gewusst hätten, wären sie vielleicht nicht so versessen darauf gewesen, dieses Wartespiel mit dir zu spielen.«
»Nun, ich hoffe, sie genießen das Spiel, Evar«, erwiderte Lorkin kurz angebunden. »Denn mir gefällt es nicht, mit Menschenleben zu spielen.«
Evar sah Lorkin nachdenklich an, dann nickte er. »Wenn das Mädchen überlebt, dann hast du wenigstens einen Grund, dich gut zu fühlen.«
Lorkin seufzte. »Ja.« Er sah seinen Freund an. »Ich nehme nicht an, dass du für mich herausfinden könntest, wie es ihr geht?«
Sein Freund richtete sich auf. »Das kann ich tun. Falls Kalia bis dahin wieder da ist, werde ich zwinkern, wenn alles gut ist, die Achseln zucken, wenn man nichts Genaues sagen kann, und schielen, wenn es ihr schlecht geht.« Er grinste. »Viel Glück.«
Evar wandte sich ab und ging in den Flur. Lorkin sah ihm nach, dann rief jemand anderer seinen Namen, und er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Patienten.
»In das Westseite-Hospital kommen weniger einheimische Patienten«, erklärte Sonea, als sie Dorrien den Hauptflur entlangführte. »Aber das machen fremdländische Patienten mehr als wett, da das Hospital dem Hafen und dem Markt am nächsten liegt.«
Dorrien lachte leise. »Ich schätze, in ihren Heimatländern haben sie keine Hospitäler.«
»Tatsächlich haben einige der Verbündeten Länder durchaus welche«, erwiderte sie. »In Vin und Lonmar gibt es ein paar Hospitäler, und Lan steht im Begriff, ebenfalls welche zu eröffnen. Sie wurden entweder von Heilern gegründet, die von dem Gedanken beseelt waren, in anderen Ländern Hospitäler zu eröffnen, oder von den Heilern dieser Länder selbst, die ihren eigenen Leuten so helfen wollen, wie wir hier in Kyralia es tun.«
»Aber nicht in Elyne?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht weil sie es nicht versucht hätten. Der elynische König will es nicht zulassen. Die Elyner haben noch immer ihre Gilde nichtmagischer Heiler, die lange vor der Gilde gegründet wurde. Und diese Heiler schätzen es gar nicht, wenn Magier sie ihres Gewerbes berauben. Nun, die Behandlungsräume hier sind ziemlich genauso eingerichtet …«
Sonea trat vor eine Tür mit der Nummer, nach der Ausschau zu halten man sie gebeten hatte. Sie klopfte leise, und kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und das vertraute Gesicht einer der Heilerinnen von der Nordseite grinste ihnen entgegen.
»Geht hinein«, sagte Sylia, während sie in den Flur schlüpfte, sie passieren ließ und dann die Tür schloss.
Der Raum ähnelte denen im Nordseite-Hospital. Ein Tisch teilte den Raum, und es standen einige Stühle für Patienten und eventuelle Begleiter bereit sowie ein Stuhl für den Heiler auf der anderen Seite des Tisches.
Anstelle eines Patienten erwartete sie Cery. Er lächelte, doch seine Haltung war gebeugt und angespannt. Sein Blick wanderte von Sonea zu Dorrien.
»Das ist also dein neuer Assistent und Leibwächter?«, fragte er.
Sonea schnaubte leise. »Assistent, ja. Was die Frage betrifft, ob Dorrien mein Leibwächter ist oder ich seiner bin …« Sie blickte Dorrien an, der schief lächelte. »Wir werden sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Cery, das ist Dorrien. Dorrien, das ist Cery.«
Die beiden Männer nickten höflich.
»Habt Ihr lange gewartet?«, fragte Dorrien.
Cery zuckte die Achseln. »Ein Weilchen. Ich bin früh hier gewesen.«
»Um das Gebäude auszukundschaften?«
»Natürlich.«
»Wie laufen die Geschäfte?«, erkundigte sich Sonea.
Cerys Lächeln verblasste, und er wirkte jetzt ausgezehrt und müde. »Nicht gut. Es ist ein glücklicher Umstand, dass ich für Zeiten wie diese reichlich Geld in meinen Verstecken deponiert habe.«
»Wird es genügen?«
Er verzog das Gesicht. »Höchstens für ein Jahr. Ich wäre versucht, dich allein weitermachen zu lassen und früher aus der Stadt zu verschwinden, wäre da nicht …« Er breitete die Arme aus.
Anyi, dachte sie. Ich hoffe, es gelingt ihr davonzuschlüpfen, ohne Verdacht zu erregen.
Cery hatte eine Nachricht des Sinnes erhalten, dass Anyi hier eine Heilerin aufsuchen werde. Sie konnten nur hoffen, dass die Nachricht von seiner Tochter kam und nicht Teil einer Verschwörung war, ihm aufzulauern. Was der Grund ist, warum Dorrien und ich hier sind.
Sie plauderten noch einige Minuten. Sonea hatte Dorrien eingeschärft, Cery nicht nach Einzelheiten seines Geschäfts zu befragen, und dankenswerterweise befolgte er ihren Rat. Je weniger er wusste, desto unwahrscheinlicher war, dass er mit dem Gesetz in Konflikt geriet, das jeden verpflichtete, illegale Aktivitäten der Wache zu melden.
Es klopfte an der Tür, und alle drei wandten sich dem Eingang zu. Sonea trat vor und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Dann stieß sie einen erleichterten Seufzer aus, als sie Anyi und Sylia vor sich sah. Sie bedankte sich bei Sylia und ließ Anyi herein.
Cery erhob sich und musterte seine Tochter mit unübersehbarem Beschützerinstinkt von Kopf bis Fuß.
»Bist du … ist alles … ist das eine Prellung?«
»Mir geht es gut«, erwiderte Anyi. »Ich habe Rek gesagt, ich dächte, ich hätte mir beim Training das Handgelenk gebrochen und sollte es besser untersuchen lassen. Eine verletzte Wächterin versieht ihre Arbeit nicht so gut wie eine unverletzte.«
»Was lässt er dich denn bewachen?«
Sie lächelte. »Seine Geliebte. Sie scheint zu denken, dass ›Leibwächterin‹ gleichbedeutend ist mit ›Dienerin‹, und ich habe das Vergnügen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.«
Cery nahm wieder Platz. »Also. Welche Neuigkeiten hast du für uns?«
Anyi sah sich im Raum um und verzog die Lippen zu einem wenig überzeugenden Schmollmund. »Ist meine wunderbare Gesellschaft nicht genug? Hast du mich nicht vermisst?«
»Du hättest dieses Treffen nicht riskiert, wenn du keine Neuigkeiten hättest.«
Sie verdrehte seufzend die Augen. »Du könntest zumindest so tun, als hättest du mich vermisst.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun, wie der Zufall es will, habe ich tatsächlich Neuigkeiten. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass Jemmi Rek Aufgaben übertragen hat, die Gefälligkeiten für Skellin waren.«
»Jemmi ist ein Dieb«, murmelte Sonea an Dorrien gewandt.
»Was für ein Tier ist ein Jemmi?«, murmelte er zurück.
»Die Diebe nehmen jetzt nicht mehr immer Tiernamen an.«
»Ah.«
»Wie oft?«, fragte Cery seine Tochter.
»Oft genug.« Anyis Augen glänzten. »In einigen Wochen trifft eine Lieferung Feuel ein. Ich kann versuchen herauszufinden, wo. Ich weiß jedoch nicht, ob Skellin dort sein wird.«
»Aber Skellins Männer werden dort sein?«, hakte Dorrien nach.
Anyi nickte.
Dorrien sah Sonea an, und seine Augen leuchteten vor Erregung. »Also fangen wir sie ein, und du kannst ihre Gedanken lesen und herausfinden, wo Skellin steckt.« Er runzelte die Stirn. »Halt … das würde gegen die Bestimmungen verstoßen, die für die Schwarzmagier gelten, oder?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Osen hat Kallen und mir die Erlaubnis gegeben, in den Geist anderer einzudringen, wenn es notwendig ist. Aber das eigentliche Problem ist: Falls Skellins Leute gar nicht wissen, wo er steckt, werden wir umsonst offenbart haben, dass Anyi eine Spionin ist.«
»Hmm«, brummte Cery. Er sah Anyi an. »Obwohl ich dich lieber wieder bei mir hätte, sollten wir warten, bis wir von einem Treffen erfahren, an dem Skellin definitiv teilnehmen wird.«
Anyi zuckte die Achseln. »Ich werde die Ohren offen halten. Es muss noch eine bessere Gelegenheit kommen.«
Sie erörterten Strategien und Möglichkeiten, wie sie sich miteinander in Verbindung setzen konnten, bis es an der Tür klopfte. Sylia berichtete, es werde bemerkt, dass sie ziemlich lange für eine medizinische Untersuchung brauchten. Anyi verabschiedete sich von ihrem Vater und ging. Als sie fort war, starrte Cery die Tür an, dann seufzte er und wandte sich an Sonea.
»Hast du etwas von Lorkin gehört?«
Sie zuckte zusammen, als ein Stich der Sorge sie durchfuhr, dann schüttelte sie den Kopf. »Aber Dannyl hat die Nachricht geschickt, dass die Verräterinnen vielleicht geneigt wären, Botschaften zwischen mir und ihm zu vermitteln, also habe ich ihm für den Fall, dass sie Wort halten, eine geschickt.«
»Das ist immerhin ein Anfang«, sagte er und brachte ein Lächeln zustande.
Sie nickte. »Ich sollte besser fortfahren, Dorrien herumzuführen. Es war schön, dich zu sehen. Pass auf dich auf.«
»Du auch«, erwiderte er.
Nachdem sie und Dorrien den Raum verlassen hatten, schlüpfte Sylia wieder hinein, um Vorbereitungen dafür zu treffen, Cery aus dem Hospital zu schmuggeln. Sonea führte Dorrien den Flur entlang zum Lagerraum.
»Er ist ein sehr besorgter Mann«, bemerkte Dorrien, als er sich davon überzeugt hatte, dass sie allein waren.
»Ja«, pflichtete Sonea ihm bei.
»Ich denke an meine Töchter, und ich bin mir nicht sicher, ob ich eine von ihnen in eine gefährliche Situation schicken könnte, damit sie für mich spioniert.«
»Nein, aber er hat sie nicht direkt geschickt. Sie hat sich selbst geschickt. Sie ist eine ziemlich entschlossene junge Frau.«
Dorrien blickte nachdenklich drein. »Sie ist im härteren Teil der Stadt groß geworden, nicht wahr? Und es muss eine schwere Jugend gewesen sein, die Tochter eines Diebes zu sein.«
»Sie ist nicht unter Cerys Schutz aufgewachsen. Als ihre Mutter ihn verließ, nahm sie Anyi mit. Sie war eine stolze Frau und wollte Cerys Hilfe nicht akzeptieren, obwohl sie bitterarm waren. Anyi ist schnell und hart groß geworden, aber aus anderen Gründen.«
»Trotzdem, eine Ehefrau und Kinder verloren zu haben und dann mit ansehen zu müssen, wie deine einzige Tochter sich in Gefahr bringt …« Er schüttelte den Kopf.
»Das ist der Grund, warum wir vorsichtig sein müssen. Wir müssen sicherstellen, dass, wenn wir Skellin finden, keine Gefahr besteht, dass Anyi oder Cery dadurch gefährdet werden.«
Dorrien nickte zustimmend. Gut, dachte Sonea. Ich dachte langsam, er sei ein wenig zu erpicht darauf, seine Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, und könnte sich auf die erste Gelegenheit stürzen, die sich bietet, wenn ich nicht da wäre, um ihn daran zu hindern. Jetzt wird er die Risiken überdenken, bevor er handelt.
Hoffentlich würde sich nun, da Anyi die Spionin spielte, bald eine bessere Gelegenheit bieten – und nicht nur weil sie Skellin fangen mussten. Cery sah aus, als hätte er einen Monat lang nicht geschlafen.
Sachaka handelte überwiegend mit Ländern im Norden und Osten, auf der anderen Seite des Aduna-Meeres, und dies war im Hafen offensichtlicher als überall sonst in der Stadt. Dannyl war verblüfft von der Größe der exotischen Schiffe, die dort vor Anker lagen, und von ihrer schieren Anzahl. Masten schwankten wie ein großer, unbelaubter Wald und erstreckten sich vom Ufer hinaus in die breite Bucht von Arvice.
Die Sklaven des Gildehauses banden Achatis, Dannyls und Tayends Reisetruhen von der Kutsche los und hoben sie mit der Hilfe der beiden persönlichen Sklaven Achatis herunter. Dannyl bemerkte, dass Achati die Prozedur genau beobachtete. Ein kyralischer Magier hätte die Truhen mit Magie bewegt, aber Sachakaner gaben sich nicht für solch minderwertige Arbeiten her. Die Sklaven benutzten zu diesem Zweck Seile und eine in den hinteren Teil des Gefährts eingebaute Winde, aber die Tatsache, dass die vier dünnen Männer kaum Probleme hatten, die schweren Truhen zu heben, weckte in Dannyl den Verdacht, dass sie trotzdem ein wenig magische Hilfe von ihrem Herrn bekamen.
Es waren zwei Männer nötig, um Achatis Truhe zu tragen. Tayends Truhe hatte ungefähr die gleiche Größe. Dannyls war erheblich kleiner. Manchmal hat es seine Vorteile, sein Leben lang eine Uniform tragen zu müssen, dachte Dannyl. Aber er hatte auch eine zusätzliche Truhe mitgenommen – kaum mehr als eine große Kiste –, die Schreibgerät und Notizbücher enthielt und Platz für jedwede Unterlagen oder Gegenstände hatte, die er vielleicht erwerben würde.
Ein Seufzen lenkte Dannyls Aufmerksamkeit ab. Er sah Merria an, deren finstere Miene sich nur geringfügig aufhellte, als sie seinen Blick bemerkte. Seine Assistentin war immer noch wütend darüber, zurückgelassen zu werden. Seit sie erfahren hatte, dass auch Tayend an der Forschungsreise teilnehmen würde, hatte sie kaum mit ihm gesprochen.
Er widerstand dem Drang, Tayend anzusehen. Der elynische Botschafter stand neben Dannyl und wiegte sich leicht in seinen kunstvollen, teuren Schuhen. Nachdem Dannyl von Achatis Haus zurückgekehrt war und seinen ehemaligen Geliebten gefragt hatte, warum er sie auf ihrer Reise begleiten wolle, hatte er kaum ein Wort mit Tayend gewechselt.
»Oh, als Botschafter sollte ich wirklich so viel wie möglich über dieses Land in Erfahrung bringen«, hatte Tayend erwidert. »Ich habe viel von Arvice gesehen. Es wird Zeit, dass ich etwas jenseits der Stadtmauern zu Gesicht bekomme.«
Dannyl hatte auch nicht gehört, dass Tayend und Merria sich unterhalten hatten. Da die meisten seiner Bewohner nicht miteinander redeten, war es im Gildehaus sehr still gewesen.
Er dachte über Tayends Vorwand nach. War das alles, was dahintersteckte? Ich bezweifle, dass er mitkommt, weil er sich für meine Forschungen interessiert. Oder tut er es doch? Wenn er von dem Lagerstein weiß, ist er vielleicht genauso besorgt wie Achati und ich über die Möglichkeit, es könnte noch ein anderer Stein existieren oder geschaffen werden. Aber wie könnte er von dem Lagerstein erfahren haben? Ich habe ihm nicht davon erzählt. Gewiss hatte auch Achati nicht …
Vielleicht gab es einen anderen Grund, warum Tayend sie begleiten wollte. Er hatte bereits offenbart, dass er von Achatis persönlichem Interesse an Dannyl wusste. Versuchte er, dafür zu sorgen, dass Dannyl und Achati kein Liebespaar wurden?
Dannyl runzelte die Stirn. Warum sollte er das tun? Eifersucht? Nein. Tayend war derjenige, der festgestellt hat, dass er und ich kein Paar mehr sind. Er hat nie gesagt, dass er etwas daran ändern wolle.
Neben ihm räusperte sich Tayend. Er hielt inne, dann holte er Luft, um zu sprechen.
»Botschafter?«
Dannyl wandte sich ihm widerstrebend zu.
»Bist du dir sicher, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich mitkomme?«
»Natürlich macht es mir nichts aus«, erwiderte Dannyl.
Er drehte sich wieder zu den Sklaven um. Die beiden persönlichen Sklaven Achatis waren nicht dieselben zwei, die den Mann auf der Suche nach Lorkin begleitet hatten. Dannyl fragte sich, was aus Varn geworden war. Dann wanderten seine Gedanken wieder zurück zu seinen Gefährten, als er spürte, dass Merria ihn anstarrte. Er drehte sich zu ihr um, und sie lächelte. Das erschien ihm eigenartig. In dem Lächeln lag Erheiterung, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie sich auf seine Kosten amüsierte.
»Dort ist der Kapitän«, erklärte Achati. Er deutete auf das Schiff, zu dem die Sklaven die Reisetruhen trugen. Es war kleiner als die exotischen Handelsschiffe, die es umgaben, und einzig für den Transport von Passagieren gedacht – wichtigen Passagieren. Auf seinem Deckshaus war der Name Inava eingeschnitzt und mit Gold ausgelegt, so dass er in der Sonne glitzerte. Ein Sachakaner, der so prächtig gekleidet war, wie Dannyl es von einem Ashaki erwartet hätte, stand auf Deck und wartete darauf, dass sie über den schmalen, zwischen Kai und Schiff gelegten Laufgang an Bord kamen. Die Sklaven trugen die Truhen zu einem zweiten Laufgang näher am Bug des Schiffes. »Es wird Zeit, dass wir uns verabschieden«, fügte Achati hinzu.
Dannyl und Tayend wandten sich zu Merria um. Sie lächelte strahlend.
»Eine gute Reise, Botschafter, Ashaki«, sagte sie und nickte höflich. Dann trat ein wissender, leicht selbstgefälliger Ausdruck in ihre Augen. »Ich hoffe, Ihr werdet einander nicht auf die Nerven gehen.«
Das ist es also, was sie so erheiternd findet, überlegte Dannyl. »Auf Wiedersehen, Lady Merria«, erwiderte er. »Ich weiß, dass ich das Gildehaus in tüchtigen Händen hinterlasse.«
Ihr Lächeln verblasste und wurde durch einen resignierten Ausdruck ersetzt. »Danke.« Sie zog sich rückwärts zur Kutsche zurück und wedelte mit den Händen. »Lasst den Kapitän nicht warten.«
Dannyl drehte sich um und folgte Achati über die Planken an Bord des Schiffes. Die Männer machten sich miteinander bekannt, und der Kapitän hieß sie auf seinem Schiff willkommen.
»Seid Ihr bereit, in See zu stechen?«, fragte er Achati.
»Ja. Besteht irgendeine Notwendigkeit, noch zu warten?«, erwiderte Achati.
»Nicht die geringste«, versicherte ihm der Kapitän. Er ging davon und rief den Sklaven Befehle zu. Achati führte Dannyl und Tayend an einen sicheren Platz, von dem aus sie alles beobachten konnten.
»Es wird eine nette Abwechslung vom Leben in der Stadt sein«, bemerkte Achati, als das Schiff sich vom Kai entfernte.
Dannyl nickte. »Es ist zu lange her, seit ich das letzte Mal auf einem Schiff gereist bin.«
»Ja! Ein Abenteuer für uns alle«, bemerkte Tayend, dessen Stimme ein wenig angespannt klang. Dannyl fiel auf, dass sein ehemaliger Geliebter schon jetzt etwas blass wirkte.
Achati schenkte dem elynischen Botschafter ein Lächeln. Es war ein nachsichtiges Lächeln. Beinahe ein Lächeln der Zuneigung. Plötzlich kam Dannyl der Gedanke, dass Achati Tayend dabeihaben wollte. Er hatte angenommen, dass das ursprünglich nicht der Wunsch des Ashakis gewesen war, dass Tayend ihn aber politisch und gesellschaftlich in die Enge getrieben habe. Er wandte sich dem Elyner zu.
»Lass mich wissen, wenn du Hilfe brauchst«, bot er an.
Tayend nickte dankend. »Ich habe die Heilmittel, die Achati mir empfohlen hat.«
»Als Euer Führer bin ich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Eure Reise nicht allzu unangenehm wird«, sagte Achati. »Aber vergesst nicht: Die Heilmittel könnten Nebenwirkungen haben.«
Tayend neigte den Kopf. »Ich habe es nicht vergessen. Ich … ich denke, ich werde mich jetzt hinsetzen.«
Er ging zu einer einige Schritte entfernten Bank. Dannyl widerstand dem Drang, Achati anzusehen und nach irgendwelchen Anzeichen zu suchen, dass … er war sich nicht sicher, was.
Vielleicht ist er auch, was Tayend betrifft, an mehr als bloßer Freundschaft interessiert.
Vielleicht sind sie bereits mehr als Freunde. Vielleicht stand hinter Tayends Warnung vor Achati Eifersucht …
Oh, mach dich nicht lächerlich!
Als das Schiff sich weiter vom Ufer entfernte, wünschte sich Dannyl, dass Achati – oder selbst Tayend – ein Gespräch beginnen würde, damit er von den Verdächtigungen, die sein Verstand heraufbeschwor, abgelenkt wurde. Als keiner der beiden etwas sagte, dachte er darüber nach, welches Thema er selbst anschneiden könnte.
Er wusste, worüber er gern gesprochen hätte. Aber in Tayends Gegenwart konnte er nicht über das reden, was er auf dieser Reise zu erfahren hoffte, für den Fall, dass der Elyner noch nichts von dem Lagerstein wusste.
Dann deutete Achati auf das Ufer.
»Seht Ihr dieses Gebäude? Das ist eins der wenigen Herrenhäuser, die über zweihundert Jahre alt sind und nicht nach sachakanischer Mode gebaut wurden. Gebaut haben es …«
Dannyl stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Danke, Achati, dachte er. Obwohl ich glaube, du hast dich gerade dazu verurteilt, für den Rest der Reise Phasen des Schweigens mit Beschreibungen und historischen Exkursen zu füllen – aber wenigstens wird uns das vor Tagen verlegenen Schweigens bewahren.
Lilia hatte immer vermutet, dass eine Einkerkerung unter anderem dazu diente, dem Betreffenden nichts anderes zu tun zu geben, als über sein Verbrechen nachzudenken.
Ich glaube, bei mir funktioniert es nicht, überlegte sie. Oh, ich habe reichlich Zeit damit verbracht zu bedauern, schwarze Magie erlernt zu haben, und mich deswegen wie eine Närrin zu fühlen. Aber ich habe viel mehr Zeit damit verbracht, über Naki nachzudenken, und das fühlt sich erheblich schlimmer an.
Selbst wenn sie versuchte, an etwas anderes zu denken, besonders daran, ob Lord Leidens Mörder bereits gefunden worden war, wusste sie, dass sie sich in Wirklichkeit um Naki sorgte.
Da die Gilde keinerlei Beweise dafür gefunden hatte, dass sie Leiden getötet hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie es tatsächlich nicht getan hatte. Aber um Nakis willen hoffte sie, dass irgendjemand herausfand, wer der Schuldige war. Wenn man Leidens Mörder gefunden hat, wird gewiss jemand herkommen und es mir erzählen. Es würde, was ihre Strafe betraf, keinen Unterschied machen, da sie dafür bestraft wurde, schwarze Magie erlernt zu haben – aber wenigstens würde Naki sie dann nicht mehr hassen. Schwarzmagierin Sonea wird es mir sagen, dachte sie. Es wäre noch besser, wenn Naki selbst es mir erzählte. Vielleicht wird sie mich regelmäßig besuchen … nein, ich sollte mir besser keine zu großen Hoffnungen machen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Aber wenn sie mich genauso liebt wie ich sie, wird sie mich bestimmt besuchen.
Sie versuchte, an schönere Dinge zu denken, aber irgendetwas machte sie immer trüb. Es war wie an dem Abend, als sie in dem Glühhaus gewesen waren und sie sich eingebildet hatte, dass jemand sie beobachtete. Ihre Gedanken brachten es immer fertig, sich trostloseren Dingen zuzuwenden.
Bisweilen suchte sie nach Ablenkung und ging im Raum umher. Manchmal drückte sie ein Ohr an die Seitentür, und gelegentlich konnte sie die andere Frau vor sich hin summen hören.
Nachdem sie wieder einmal zum Fenster zurückgekehrt war, an das sie sich einen Stuhl gestellt hatte, stützte sie sich auf die Fensterbank. Dort draußen veränderte sich zumindest etwas, selbst wenn es nur ein Vogel war, der über die Baumwipfel flog, oder die Neigung der Schatten, während die Stunden langsam verstrichen. Den Anblick ihres Zimmers war sie inzwischen gründlich leid.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Sie setzte sich aufrecht hin und drehte sich um, um zur Haupttür hinüberzuschauen. Sie konnte in dem Fenster in der Tür einen Teil eines Gesichts sehen, dann verschwand es. Das Schloss klackte, und die Tür wurde geöffnet.
Welor kam mit einem Tablett herein. Aber ich habe nicht mal Hunger …
»Ich wünsche Euch einen guten Abend, Lady Lilia«, sagte er, während er das Tablett auf den Esstisch stellte. »Euer Mahl – und ich habe noch etwas, das ich Euch versprochen habe.«
Er hatte sich zwei harte, rechteckige Gegenstände unter den Arm geklemmt und hielt sie ihr jetzt hin. Ihr Herz machte einen Satz, als sie erkannte, was es war. Bücher!
Bevor es ihr recht bewusst wurde, war sie auch schon auf den Beinen und eilte durch den Raum. Welor grinste, als sie ihm die Bücher abnahm.
»Sie stammen aus der Bibliothek der Wache«, erklärte Welor. »Vielleicht nicht so interessant wie Bücher über Magie, aber es stehen einige aufregende Geschichten darin.«
Sie las die Titel, und ihre Schultern sackten ein wenig herab. Schlachten der Vin-Flotte vor dem Bündnis stand in winzigen Lettern auf einem Buchdeckel, und Strategien für effektive Kontrolle von Menschenmengen während Prozessionen und anderer Ereignisse stand umgeben von einem kunstvoll verzierten Rahmen auf dem anderen. Sie blickte zu Welor auf, sah, dass er sie erwartungsvoll beobachtete, und hoffte, dass man ihr ihre Enttäuschung nicht anmerkte.
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Es ist alles, was ich in die Finger bekommen konnte«, erklärte er. »Bis ich einen freien Tag habe.«
»Es ist mehr, als ich jemals erwarten sollte«, erwiderte sie und senkte den Blick.
»Nun … wir sollen dafür sorgen, dass Ihr es bequem habt.« Er zuckte die Achseln. »Wenn Euch diese Bücher gefallen, kann ich weitere beschaffen. Oder vielleicht … meine Frau mag diese romantischen Abenteuer. Ich weiß nicht, ob sie nach Eurem Geschmack sind, aber ich bin mir sicher, sie würde Euch erlauben, sie auszuborgen.«
Lilia lächelte. »Ich könnte es ja einmal versuchen. Wenn sie sie für gut hält.«
Er grinste. »Sie mag sie sehr.« Er richtete sich ein wenig höher auf. »Nun, Ihr solltet besser essen, bevor es kalt wird.« Er machte eine flüchtige Verbeugung und verließ den Raum.
Da niemand da war, den sie kränken konnte, wenn sie während der Mahlzeit las, nahm Lilia beim Essen das erste Buch in Augenschein. Die Einführung war lang und trocken und das erste Kapitel nicht viel besser. Sie war sich nicht sicher, ob sie beeindruckt sein sollte, dass Welor ein solch schwieriges Buch gelesen und genossen hatte. Nicht alle Männer, die der Wache beitraten, konnten lesen, und jene aus den Klassen, die sich eine Ausbildung leisten konnten, sich dann aber mit einer Laufbahn in der Wache begnügten, taten das im Allgemeinen deshalb, weil sie nicht klug genug für besser bezahlte Arbeiten waren.
Vielleicht ist Welor eine Ausnahme. Vielleicht gefällt es ihm, in der Wache zu sein. Bei dem Gedanken schürzte sie die Lippen. Aber wie ist er dann zu einer niederen Arbeit als Gefängniswächter gekommen?
Es war ein Rätsel, das sie würde entwirren müssen. Oder vielleicht war es doch kein so großes Rätsel; der Umstand, dass sie sich mit einer kleineren Welt begnügen musste, ließ es so erscheinen.
Als sie mit der Mahlzeit fertig war, griff sie nach den Büchern und ging zum Fenster, doch als sie an der Nebentür vorbeikam, hörte sie ein dreimaliges scharfes Klopfen.
Sie erstarrte, dann schaute sie zu der Tür hinüber. Ihr Herz schlug vier … fünf Mal, dann klopfte es von neuem.
Das ist verrückt. Das leiseste Geräusch von draußen, und ich bin vollkommen nervös. Sie ging zur Tür und legte ein Ohr an das Holz.
»Lasst Euch nicht von dem täuschen, was er über die Ehefrau sagt. Er mag Euch.«
Lilia machte einen Sprung rückwärts und starrte die Tür an. Dann blitzte Ärger in ihr auf, und sie kehrte zurück.
»Ihr denkt, er lügt? Dass er gar keine Ehefrau hat?«
Durch die Tür gedämpft, erklang ein leises Geräusch. Wahrscheinlich ein Kichern.
»Vielleicht nicht. Oder vielleicht erzählt er Euch von ihr, damit Ihr ihm vertraut.«
»Gewiss würde er mir von ihr erzählen, damit ich nicht auf falsche Ideen komme.«
»Falsche Ideen in Bezug worauf?«
»Dass er mir Gefälligkeiten erweist. Dass er nett zu mir ist.«
»Vielleicht. Aber seid auf der Hut. Wenn er beginnt, Euch zu erzählen, wie einsam er ist, dann seid nicht überrascht, wenn er eine Gegenleistung für diese Gefälligkeiten will.«
Lilia zog sich ein wenig von der Tür zurück. Hatte diese Frau etwas zu gewinnen, wenn Lilia Welor nicht traute?
»Warum erzählt Ihr mir das?«
»Ich versuche nur zu helfen. Ihr seid jung. Ihr seid noch nie eine Gefangene gewesen. Ihr wollt Euch sicher fühlen, aber Ihr solltet Euch von diesem Wunsch nicht blind gegen die Gefahren Eurer Situation machen lassen.«
Lilia dachte darüber nach. Obwohl es ihr Unbehagen bereitete, ergaben die Worte der Frau durchaus einen Sinn. Ich fühle mich hier bereits zu wohl. Und dabei bin ich erst seit zwei Tagen hier!
»Mein Name ist Lorandra«, fuhr die Frau auf der anderen Seite der Tür fort.
Lilia beugte sich vor und lehnte den Kopf an das Holz. »Mein Name ist Lilia.«
»Ich bin hier, weil fremdländische Magier der Gilde beitreten oder darauf verzichten müssen, Magie zu benutzen«, sagte Lorandra. »Ich habe nicht eingesehen, warum ich beitreten sollte, wenn ich es nicht wollte.«
Obwohl Lilia bereits wusste, warum die Frau eingesperrt war, erschien es ihr plötzlich ein wenig ungerecht. Warum sollte ein fremdländischer Magier der Gilde beitreten müssen? Vielleicht hätte diese Frau sich niemals mit den Dieben eingelassen, wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, sich zwischen der Gilde und einem Leben im Verborgenen zu entscheiden.
»Warum seid Ihr hier?«, fragte Lorandra. »Wenn es Euch nichts ausmacht, darüber zu sprechen.«
»Ich bin hier, weil ich schwarze Magie erlernt habe – aber wir waren nur dumm, und ich hatte nicht erwartet, dass es funktionieren würde.«
Die Frau schwieg eine Weile und fragte dann: »Das ist die Magie, die die in Schwarz benutzen?«
»Ja.« Lilia nickte unwillkürlich, obwohl sie wusste, dass Lorandra sie nicht sehen konnte. »Schwarzmagier Sonea und Kallen.«
»Sie haben auch Eure Kräfte gebunden?«
»Ja.«
»Und Ihr sagt, Ihr hättet nicht erwartet, dass das, was Ihr getan habt, funktionieren würde. Meint Ihr den Versuch, diese Magie zu erlernen?«
»Ja. Man hat uns gesagt, wir könnten es nicht lernen, es sei denn, ein Schwarzmagier würde uns diese Magie lehren, also dachte ich, mein Tun sei ungefährlich.«
»Also haben sie sich geirrt. Das klingt nicht sehr gerecht.«
»Der Versuch, schwarze Magie zu erlernen, ist ebenfalls verboten.«
»Ah. Warum habt Ihr dann versucht, sie zu erlernen?«
Lilia musterte nachdenklich die Tür. Vielleicht sollte sie gar nicht mit dieser Frau sprechen. Aber mit wem hätte sie sonst reden können? Und solange sie nicht beschrieb, wie sie schwarze Magie erlernt hatte – und ihr Verlangen nach Naki ebenfalls für sich behielt –, würde sie Lorandra nichts erzählen, was sie nicht erzählen sollte. Und Lorandra würde ohnehin nicht in der Lage sein, irgendetwas, das Lilia ihr erzählte, zu benutzen oder weiterzugeben.
Sie holte tief Luft und begann es der Frau zu erklären.
Lorkin war sich nicht sicher, warum er die letzten beiden Abende nicht einfach aus der Krankenstation marschiert und ins Bett gegangen war oder zumindest Kalias Befehl ignoriert hatte, früh anzufangen. Kalia hatte ihn so lange dabehalten, dass er während der beiden letzten Nächte im Durchschnitt weniger als vier Stunden Schlaf bekommen hatte.
Sie bestrafte ihn zweifellos, weil er heilende Magie benutzt hatte, ohne die Missbilligung der Verräterinnen zu erregen. Stattdessen hatte er die Missbilligung einiger Verräterinnen auf Kalia selbst gelenkt. Höchstwahrscheinlich versuchte sie außerdem, ihn daran zu hindern, den jungen Mann zu heilen, der an Kältefieber litt.
Aber sie konnte ihn nicht die ganze Nacht hindurch arbeiten lassen, und irgendwann musste sie ihm erlauben zu gehen. Es hatte ihn nicht überrascht, als man ihm auf dem Weg zum Männerraum abermals aufgelauert und diesmal zu dem kranken jungen Mann gebracht hatte. Immer noch geschwächt von der letzten magischen Heilung, von der er sich aus Schlafmangel nicht ausreichend hatte erholen können, war seine Erschöpfung nach der zweiten Heilung noch tiefer gewesen. Jetzt hatte er nicht einmal mehr die Magie in sich, um seine Müdigkeit zu vertreiben.
Morgen werde ich Kalias Befehl, früh anzufangen, einfach missachten. Tatsächlich werde ich vielleicht gar keine andere Wahl haben. Sobald ich erst einmal schlafe, wird es wohl einer heranrückenden Armee bedürfen, um mich zu wecken.
Er bog um eine Ecke und zwang seine Beine, ihn weiterzutragen. Es war jetzt nicht mehr weit bis zum Männerraum. Nur noch hundert Schritte – oder zwei …
Etwas streifte seine Wange. Er hob die Hand, um es wegzuwischen, und begriff gleichzeitig, dass er nichts mehr sehen konnte. Ein Geruch nach trockenem Gemüse lag in der Luft, und etwas wickelte sich fest um seine Schultern.
Ein Sack? Ja. Es ist ein Sack. Er versuchte, ihn vom Kopf zu ziehen, aber etwas krachte gegen seinen Rücken und warf ihn zu Boden. Instinktiv griff er nach seiner Magie. Ah, aber ich habe keine mehr. Starke Hände packten seine Arme und drückten sie mit Gewalt hinter seinen Rücken, und er begriff, dass er nichts tun konnte.
Woher wussten sie es? Nun, Kalia hat mich offenbar nicht nur deshalb bis spät in die Nacht dabehalten, weil sie mich bestrafen wollte …
Zu seiner Überraschung wurde der Sack, der sein Gesicht bedeckte, angehoben, wenn auch nicht so weit, dass er irgendetwas anderes als den Flur und zwei Paar Beine sehen konnte. Er sog die saubere Luft tief in seine Lunge.
Aber das war ein Fehler. Irgendetwas wurde ihm auf Mund und Nase gepresst, und er nahm einen vertrauten Geruch wahr. Obwohl er den Atem anhielt, war genug von der Droge in seinen Körper eingedrungen, dass ihm die Sinne schwanden. Ihm ging der Atem aus, und er keuchte und begann das Bewusstsein zu verlieren.
Das Letzte, was er hörte, war eine leise, heisere Stimme, in der ein deutlicher Unterton von Abscheu und Befriedigung mitschwang. »Zu einfach«, sagte die Stimme. »Nehmt ihn hoch. Folgt mir.«