Poul Anderson Die helfende Hand

Das Original „The Helping Hand“ erschien im Mai 1950 in ASTOUNDING SCIENCE FICTION

(deutsche Übersetzung von Bodo Baumann, erschienen in einem alten SF-Taschenbuch)


Der melodische Glockenklang wurde begleitet von der sachlichen Stimme des Roboters im Vorzimmer: „Seine Exzellenz, Valka Vahino, Sonderbotschafter der Liga von Cundaloa bei der Regierung des Solaren Commonwealth.“ Die Irdischen erhoben sich höflich, als der Botschafter eintrat. Trotz der Schwerkraft und der trockenen Kälte — so mußten ihm die irdischen Verhältnisse erscheinen — trat der Botschafter mit der typischen Anmut seiner Rasse auf, und wieder einmal waren die Irdischen beeindruckt von der Schönheit dieser Geschöpfe.

Geschöpfe — nun, die Bevölkerung von Cundaloa war ziemlich menschenähnlich, sowohl geistig wie auch physisch, um mit irdischen Maßstäben gemessen zu werden. Ihre Unterschiede im Vergleich zu den Menschen waren nicht bedeutend. Ein gewisser Charme, eben das „Anderssein“, das immer romantische Betrachtungen auslöst, umgab diese Fremdlinge, so daß man bei ihrem Anblick mit Genugtuung feststellte, daß nichts Unheimliches diese Rasse von den Menschen unterschied.

Ralph Dalton betrachtete den Botschafter von Kopf bis Fuß. Valka Vahino war ein typischer Vertreter seines Volkes — menschenähnlicher Zweifüßler mit einem Gesicht, das männlich wirkte, doch dessen Züge feiner, hübscher waren als bei einem irdischen Mann. Die Wangenknochen waren kräftig, die Augen groß und dunkel. Die Statur war kleiner und zierlicher als die eines Erdenbewohners, und die katzenhafte Geschmeidigkeit der Glieder verband sich mit der Anmut der schlanken Gestalt. Langes blauschimmerndes Haar fiel auf die Schultern herab, bildete einen Kontrast zu der hohen Stirn und der goldfarbenen Haut. Der Botschafter trug die uralte zeremonielle Kleidung von Cundaloa — Tunika aus Silber, Mantel aus purpurfarbenem Material, hier und dort mit Metall durchwirkt, das wie Sterne am Abendhimmel aufblitzte — und dazu mit Gold besetzte Stiefel aus weichem Leder. Die eine schlanke Hand mit den sechs Fingern hielt den kunstvoll geschnitzten Stab, der als Beglaubigung seines Planeten angesehen werden mußte, während er die andere Hand feierlich zum Gruß hob.

Er verbeugte sich — doch nichts Serviles lag in dieser Geste, nur Anmut. Dann sprach er in fehlerloser irdischer Sprache: „Friede sei mit eurem Haus! Das Große Haus von Cundaloa schickt seine besten Grüße und Wünsche für Euer Wohlergehen! Ich, das unwürdige Mitglied seines Haushaltes, komme zu seinen solaren Brüdern und erbitte ihre Freundschaft!“ Ein paar Irdische bewegten sich ein bißchen verlegen. In der Übersetzung klang das alles ein wenig gespreizt, dachte Dalton. Aber die Sprache von Cundaloa war trotzdem eine der schönsten in der Milchstraße.

Dalton erwiderte mit der gleichen Feierlichkeit: „Grüße und Wilkommen. Das Solare Commonwealth empfängt den Abgesandten der Liga von Cundaloa mit aufrichtiger Freundschaft. Ralph Dalton, Premierminister des Commonwealth, spricht für alle Bewohner des Sonnensystems.“

Er stellte dann die anderen Anwesenden vor — die Minister, die technischen Berater, die Mitglieder der militärischen Stäbe. Es war eine imponierende Versammlung. Ein beträchtlicher Teil von denen, die im Sonnensystem Rang und Macht besaßen, war heute hier im Raum anwesend.

Er schloß seine Rede mit den Worten: „Dies ist eine vorbereitende Konferenz über die wirtschaftlichen Maßnahmen, die wir vor kurzem Ihrem Regime, dem Großen Haus von Cundaloa vorgeschlagen haben. Diese Konferenz hat noch keine gesetzlich verbindlichen Beschlüsse gefaßt. Doch sie wird über alle Kanäle ausgestrahlt, und somit wird die Solare Generalversammlung auf der Grundlage dieser und ähnlicher Konferenzen ihre Entscheidung treffen.“

„Ich verstehe. Das ist eine löbliche Einstellung.“

* * *

Vahino wartete, bis alle wieder Platz genommen hatten, und ließ sich dann ebenfalls nieder.

Jetzt folgte eine Pause. Alle Augen blickten immer wieder hinauf zur Wanduhr. Vahino war pünktlich erschienen, doch Skorrogan von Skontar verspätete sich. Taktlos, dachte Dalton, aber das war man von diesen Geschöpfen gewöhnt. Ihre Sitten waren eben barbarisch — ganz und gar nicht mit der liebenswürdigen Ehrerbietung der Cundaloaner zu vergleichen, die man nicht als Schwäche mißdeuten durfte.

Man füllte die Wartezeit mit höflichen Floskeln. „Wie gefällt es Ihnen bei uns?“ und so fort. Vahino, wie sich herausstellte, hatte in den verflossenen zehn Jahren das Sonnensystem schon oft besucht. Das war kein Wunder, wenn man die immer enger werdenden Handelsbeziehungen zwischen seinem Planeten und dem Solaren Commonwealth in Betracht zog. Eine stattliche Anzahl von cundaloanischen Studenten bildete sich auf irdischen Universitäten, und vor dem Krieg hatte auch ein lebhafter Touristenverkehr zwischen Sol und Avaiki bestanden. Wahrscheinlich würde er sich wieder beleben — bald sogar, sofern die Verwüstungen rasch beseitigt werden konnten…

„Oh, ja“, lächelte Vahino, „es ist der Ehrgeiz aller jungen anamai — der Männer von Cundaloa, die Erde zu besuchen, und wenn es auch nur zu einem kurzen Aufenthalt reicht. Es ist keine Schmeichelei, wenn ich behaupte, daß unsere Bewunderung für die Irdischen und ihre Errungenschaften geradezu grenzenlos ist.“

„Die Bewunderung ist gegenseitig“, beeilte sich Dalton zu versichern. „Ihre Kultur, die cundaloanische Kunst und Musik, die Literatur — all das findet hier im solaren System begeisterte Bewunderer und Nachahmer. Viele Menschen — und nicht bloß Gelehrte — lernen die Sprache von Luaia nur, um das Dvanagoa-Epos im Original lesen zu können. Cundaloanische Sänger und Sängerinnen bekommen mehr Applaus als die einheimischen Künstler.“ Er lächelte. „Ihre jungen Studenten an unseren Universitäten können sich kaum vor Verehrerinnen retten, und Ihre wenigen weiblichen Vertreter an den Stätten der Gelehrsamkeit sind wegen der zahlreichen Einladungen wohl kaum in der Lage, einem geregelten Studium nachzugehen. Ich glaube, nur der Umstand, daß eine Verbindung zwischen ihnen und irdischen Männern unfruchtbar bleibt, hat bisher die Zahl der Eheschließungen von Einwohnern beider Planetensysteme so niedrig gehalten.“

„Vielleicht“, erwiderte Vahino. „Trotzdem sind wir uns auf meinem Planeten bewußt, daß Ihre Zivilisation in der uns bekannten Milchstraße den Ton angibt. Nicht allein, daß die Zivilisation des Sonnensystems technisch am weitesten fortgeschritten ist — natürlich ist das auch ein wichtiger Faktor — sondern auch die Tatsache ist entscheidend, daß ihr zu uns gekommen seid — mit euren Raumschiffen, eurer Atomenergie, eurer Medizin und so fort. Doch das läßt sich lernen und aufholen. Nicht aufholen oder überbieten können wir jedoch eure Großzügigkeit, mit der ihr uns — nun, eure Unterstützung anbietet: Ihr baut zerstörte Welten wieder auf, die Lichtjahre von euch entfernt sind. Ihr pumpt euren Reichtum und euer technisches Wissen in unsere Heimstätten und Länder, obwohl wir doch nur Bescheidenes als Gegengabe anzubieten haben. Das ist es, was euch zur führenden Rasse der Milchstraße macht!“

„Nun, wir haben auch eigensüchtige Motive, die wir mit unserer Hilfe verbinden“, erwiderte Dalton. „Viele eigensüchtige Gründe.“

Natürlich gibt es auch humanitäre Erwägungen. Wir können nicht Rassen, die uns verwandt sind, in Not und Bedürftigkeit verkommen lassen, wenn unser Sonnensystem und seine Kolonien mehr Reichtum besitzen, als sie verbrauchen können. Aus unserer eigenen blutigen Vergangenheit wissen wir sehr wohl, daß wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen meist zum Nutzen des Wohltäters geraten. Wenn wir Cundaloa und Skontar wieder aufgebaut haben, ihre rückständigen Industrien modernisiert, ihre Ernteerträge gesteigert und ihre wissenschaftlichen Methoden verbessert haben, werden beide mit uns Handel treiben. Und unsere Wirtschaft ist immer noch — trotz ihres hohen Alters — vorwiegend auf Gewinn und Geldvermehrung aufgebaut. Und dann werden beide Planeten zu sehr aufeinander angewiesen sein, um sich noch einmal in so verheerendem Zwiespalt zu zerfleischen wie in dem Krieg, der kürzlich erst endete. Und von da an werden sie unsere Verbündeten in einem Kampf sein, der sich gegen Kulturen richtet, die uns tatsächlich fremd und gefährlich sind — Reiche und Planeten, die wir eines Tages in der Milchstraße entdecken werden und gegen die wir uns dann behaupten müssen.“

„Möge der Göttliche verhindern, daß der Friede der Milchstraße erneut gebrochen wird“, erwiderte Vahino ernst. „Wir haben genug vom Krieg.“

In diesem Augenblick läutete die Glocke zum zweitenmal, und der Roboter verkündete: „Seine Exzellenz, Skorrogan Valthaks Sohn, der Herzog von Kraakahaym, Sonderbotschafter des Skontarischen Reiches beim Commonwealth!“ Die Irdischen erhoben sich wieder — diesmal etwas langsamer —, und Dalton sah den Ausdruck von Ablehnung auf den Gesichtern vieler, die hier versammelt waren. Natürlich verflog dieser Ausdruck sofort, als der Botschafter eintrat, wurde durch die Miene neutraler Sachlichkeit ersetzt. Aber es bestand gar kein Zweifel, daß die Skontaraner im Sonnensystem keine Popularität genossen.

Das war natürlich zum Teil ihre eigene Schuld. Eine Schuld, die sich wohl gar nicht vermeiden ließ.

Auf den ersten Blick sah es so aus, als wären die Skontaraner für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gewesen. Das war ein Irrtum. Das Mißgeschick wollte es, daß die Sonnen Skang und Avaiki, die ein halbes Lichtjahr voneinander entfernt ihr Planetensystem um sich scharten, noch ein drittes System in der Nähe hatten. Dieses System — nach seinem irdischen Entdecker, Captain Allan, der dort mit einer irdischen Raumflotte gelandet war, meist Allan-System genannt — war unbewohnt.

Als nun die irdische Technik und Zivilisation sowohl in Skontar wie auch in Cundaloa eingeführt wurden, hatte man diese beiden Planeten natürlich zuerst einmal zu einer Union zusammenschließen wollen. Doch sie entwickelten sich schließlich — sie und ihre kolonisierten Nachbarplaneten — zu zwei rivalisierenden Blöcken, die beide begehrliche Augen auf das dritte System warfen — eben auf das unbewohnte Allan-System. Beide hatten dort Kolonien eingerichtet. Es kam zu kriegerischen Handlungen, schließlich zu einem verheerenden, fünf Jahre dauernden Krieg, der beide Systeme bis auf den Tod erschöpfte und der nur mit irdischer Unterstützung geschlichtet werden konnte. Im Grunde war dieser Krieg nichts als der sattsam bekannte Zusammenstoß zweier imperialistischer Mächte gewesen, wie ihn die Erde in ihrer langen Vergangenheit oft genug erlebt hatte, ehe ihre Bewohner den großen Frieden geschlossen und die Charta des Commonwealth erlassen hatten.

Die Bedingungen des Friedensvertrages, den die Regierung des Solaren Commonwealth hier auf der Erde für die beiden Planeten erlassen hatte, waren gerecht und fair. Sie würden den Frieden bestimmt erhalten, besonders weil sie beide auf die wirtschaftliche Unterstützung durch das Sonnensystem für ihren Wiederaufbau dringend angewiesen waren.

Dennoch — die menschliche Vorliebe galt den Cundaloanern. Es war natürlich die logische Folge, daß Mißbilligung und Abscheu in gleichem Maße den Skontaranern galt. Die Menschen schoben ihnen die Schuld an dem Krieg in die Schuhe. Aber schon vor dem Krieg hatten sie nicht viel für diese Rasse übrig gehabt. Ihr Isolationismus, ihr zähes Festhalten an alten Traditionen, ihre rauhe Sprache, ihre abstoßenden Manieren, selbst ihr Aussehen — alles das machte die Menschen gegen diese Rasse voreingenommen.

Dalton hatte schon vor der Konferenz Schwierigkeiten gehabt, die Generalversammlung dazu zu bewegen, auch einen Abgesandten von Skontar einzuladen. Es gelang ihm schließlich, den Rat des Commonwealth zu überzeugen, daß diese Einladung wesentlich für die Gestaltung der Zukunft war — denn die Bodenschätze des Skang-Systems sollten für den Wiederaufbau herangezogen, und die Freundschaft dieses bisher so zurückhaltenden, aber potentiell gefährlichen Imperiums mußte gewonnen werden.

Das Hilfsprogramm war bisher noch ein Vorschlag. Die Generalversammlung mußte erst entsprechende Gesetze erlassen, wem und in welchem Maße geholfen werden sollte. Dann mußten diese Gesetze Bestandteile von Verträgen werden, die mit diesen Planeten abgeschlossen werden sollten. Die heutige Konferenz war erst der Anfang dieses langwierigen Prozesses — aber der entscheidende erste Schritt…

* * *

Dalton verbeugte sich förmlich, als der Skontaraner eintrat. Der Botschafter erwiderte diese Höflichkeitsbezeigung dadurch, daß er mit dem Schaft seiner Lanze auf den Boden stieß. Dann lehnte er diese archaische Waffe gegen die Wand und überreichte Dalton seine eigentliche Waffe — den Atomstrahler — mit dem Griff voran. Dalton ergriff sie und legte die Waffe beiseite. „Grüße und Willkommen“, begann dann Dalton, da der Skontaraner bisher kein Wort gesagt hatte. „Das Commonwealth…“

„Schon gut“, erwiderte der Skontaraner. Seine Stimme war ein heiserer Baß. „Der Valtam des Imperiums von Skontar läßt seine Grüße durch Skorrogan Valthaks Sohn, den Herzog von Kraakahaym, an den Premier des Solaren Commonwealth entbieten.“ Der Botschafter schien den ganzen Raum mit seiner kräftigen, Schrecken einflößenden Gestalt auszufüllen. Obgleich er von einem Planeten stammte, dessen Schwerkraft größer und dessen Durchschnittstemperatur niedriger war als die der Erde, waren er und seine Artgenossen größer als die Menschen — über zwei Meter groß, mit mächtigem Brustkorb. Menschenähnlich konnte man sie trotzdem noch nennen, denn sie waren Zweifüßler, Säugetiere und mit Sprache begabt. Doch hier endete die Ähnlichkeit. Unter breiter, niedriger Stirn lagen goldfarbene Augen, geschützt von wulstigen Brauen. Es waren die Augen eines Sperbers. Das Gesicht war einem kurzen Rüssel nicht unähnlich — mit scharfen Zähnen in mächtigen Kiefern. Die Ohren saßen ziemlich weit oben am massigen Schädel, und kurzes braunes Fell bedeckte den muskulösen Körper bis hinunter zum langen, nervös zuckenden Schwanz.

Eine rötliche Mähne umgab Kopf und Hals, und trotz der tropischen Temperatur, die seinem Empfinden nach hier auf der Erde herrschen mußte, trug er die Felle und Häute, die bei ihm zu Hause für Staatsempfänge vorgeschrieben waren. Der scharfe Geruch von Schweiß umgab ihn.

„Sie kommen spät“, bemerkte einer der Minister mit unterkühlter Höflichkeit. „Ich hoffe doch nicht, daß Sie unterwegs aufgehalten wurden?“

„Nein, ich unterschätzte nur die Zeit, die ich für meinen Weg brauchen würde“, erwiderte Skorrogan. „Bitte, mir mein Verspäten nachzusehen.“

Das klang gar nicht wie eine Entschuldigung. Skorrogan warf seinen massigen Körper in den nächstbesten Sessel und öffnete seine Aktentasche. „Und nun zu dem geschäftlichen Teil, meine Herren — oder?“

„Hm — ja — natürlich.“ Dalton ließ sich am Kopfende des langen Konferenztisches nieder. „Obgleich wir bei dieser vorbereitenden Konferenz noch nicht um Zahlen und Fakten feilschen wollen, werden wir uns doch auf gemeinsame Ziele festlegen — auf den Kurs unseres Hilfsprogramms sozusagen.“

„Und dazu brauchen Sie natürlich eine Übersicht über die zur Verfügung stehenden Rohstoffreserven und wirtschaftlichen Kapazitäten der beiden Planetensysteme um die Sonnen Avaiki und Skang sowie deren Kolonien auf dem Gebiet der Allan-Planeten“, setzte Vahino die Einleitung des Premiers mit seiner melodischen Stimme fort. „Die fruchtbaren Ackerbaugebiete von Cundaloa und die Erzbergwerke von Skontar werden schon jetzt einen bedeutenden Beitrag für das Hilfsprogramm leisten. Ist es erst einmal angelaufen, soll an seinem Ende natürlich die volle wirtschaftliche Gleichberechtigung und Unabhängigkeit stehen.“

„Das ist auch eine Frage der Nachwuchsbildung und Erziehung“, bemerkte Dalton. „Wir werden Experten, technische Berater, Lehrer zu Ihrer Unterstützung zur Verfügung stellen…“

„Und natürlich gibt es da auch die militärische Frage“, meldete sich der Chef des Stabes zu Wort.

„Skontar hat seine eigene Armee“, knurrte Skorrogan. „Darüber brauchen wir nicht zu verhandeln.“

„Mag sein“, meinte der Minister der Finanzen verbindlich. Er holte eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an. „Bitte, Sir!“ Einen Moment lang wurde Skorrogans Stimme so laut wie das Brüllen eines Stieres. „Rauchen Sie nicht! Sie wissen, daß die Skontaraner allergisch gegen Tabak sind!“

„Entschuldigung“ Der Minister der Finanzen löschte den Glühzylinder. Seine Hand zitterte ein wenig, und er funkelte den Botschafter böse an. Es wäre wirklich kein Anlaß gewesen, sich zu beschweren, denn das Ventilationssystem saugte den Rauch sofort ab. Und vor allem schreit man keinen Kabinettminister an — schon gar nicht, wenn man als Bittsteller kommt…

„Es wird in diesem Rahmenvertrag nicht nur um die bestehenden Planetensysteme gehen“, sagte Dalton hastig. In einem jähen Gefühl der Verzweiflung versuchte er, das Unbehagen und die aufkommende Feindseligkeit zu verdrängen. „Auch nicht um die Kolonien des Solaren Commonwealth allein. Denn ich kann wohl annehmen, daß sich Ihre Rassen nicht auf die bestehenden drei Planetensysteme beschränken wollen. Sie werden expandieren. Und die Rohstoffquellen, die Sie dabei erschließen, werden ebenfalls…“

„Wir werden wohl expandieren müssen“, unterbrach Skorrogan den Premier finster. „Nachdem der Vertrag uns den vierten Planeten geraubt hat… Egal. Bitte entschuldigen Sie. Es ist schon schlimm genug, daß man mit dem Feind an einem Tisch sitzen muß. Man muß nicht dauernd daran erinnert werden, daß noch vor Wochen gegen uns gekämpft wurde.“ Diesmal war das Schweigen geradezu drohend. Dalton erkannte — und dabei wurde ihm fast übel —, daß Skorrogan seine Verhandlungsposition endgültig verdorben hatte. Selbst wenn er jetzt versuchen sollte, sich zu entschuldigen — und wer hätte schon einmal einen skontaranischen Adeligen erlebt, der sich für irgend etwas entschuldigt! — , war die Lage nicht mehr zu retten. Zu viele Millionen Bewohner des Sonnensystems sahen der Übertragung zu, hatten als Zeugen die unverzeihliche Arroganz des Botschafters miterlebt. Zu viele einflußreiche Persönlichkeiten, die Führungselite des Sonnensystems, saßen hier im gleichen Saal mit dem Skontaraner zusammen, blickten in seine von Verachtung sprühenden Augen, rochen den scharfen Geruch des Schweißes.

Für Skontar würde es keine Wirtschaftshilfe geben.

* * *

Bei Sonnenuntergang türmten sich dunkle Wolken über den Klippen im Osten von Geyrhaym. Ein schneidend kalter Wind wehte den Hauch des Winters über die Ebene. Ab und zu wirbelten Schneeflocken über den verblassenden Purpurhimmel, rosig angehaucht vom Abendrot. Noch vor Mitternacht würde es einen Schneesturm geben.

Das Raumschiff fiel aus der Dunkelheit herab und landete auf der Raketenpiste. Hinter dem kleinen Raumschiffhafen lag die alte Stadt Geyrhaym im grauen Zwielicht, duckte sich vor dem Wind. Aus den spitzgiebeligen Häusern fiel Lampenschein. Aber die gewundenen Gassen mit dem Kopfsteinpflaster waren verlassen. Wie öde Schluchten zwischen den Mauern führten sie im Zickzack zu dem Hügel hinauf, auf dem noch die Burg der Barone stand.

Der Valtam hatte die Burg übernommen, und das kleine Geyrhaym war jetzt die Hauptstadt des Reiches. Denn das stolze Skirnor und das prächtige Thruwang waren zu radioaktiven Aschehaufen zerfallen. Wölfe — oder das, was auf diesem Planeten die Wölfe waren — strichen um die Stätten ehemaligen Glanzes.

Skorrogan Valthaks Sohn erschauerte, als er die Luftschleuse verließ und die Gangway herunterkam. Skontar war ein kalter Planet.

Er hüllte sich in seinen schweren Fellumhang. Sie warteten gleich neben der Gangway, die Fürsten von Skontar. Skorrogans Muskeln verkrampften sich. Vielleicht wartete der Tod dort unten auf ihn, in der schweigenden Gruppe mit den finsteren Mienen. Auf jeden Fall Ungnade — gegen die er sich nicht verteidigen konnte…

Der Valtam persönlich war gekommen. Seine weiße Mähne flatterte im bitterkalten Wind. Seine goldenen Augen schienen im Zwielicht zu leuchten — hart und grausam, ja voll verhohlenem Hass. Sein ältester Sohn, der Thronerbe Thordin, stand neben ihm.

Das letzte Sonnenlicht spiegelte sich in der Spitze seines Speeres, schien sie in Blut zu tauchen. Und dahinter verharrten die anderen Würdenträger des Reiches, die Grafen von Skontar und seiner Satelliten. Der ganze Platz schien streng bewacht; denn die Leibwache des kaiserlichen Palastes stand in Helm und Rüstung wie eine schweigende Mauer des Hasses und der Verachtung am Rande des Flugfeldes…

Skorrogan ging auf den Valtam zu, stieß den Schaft seines Speeres auf den Boden und neigte den Kopf, wie es das Zeremoniell vorschrieb. Dann sank Schweigen über das Feld herab. Nur das Pfeifen des Windes war noch zu vernehmen. Es hatte zu schneien begonnen.

Schließlich ergriff der Valtam das Wort. Er verzichtete auf den zeremoniellen Gruß. Es war eine absichtliche Demütigung. „Du bist also wieder zurück.“

„Ja, Sire.“ Skorrogan bemühte sich, steif und kühl zu bleiben. Das war nicht einfach. Er fürchtete den Tod nicht; doch als gescheiterter Mann wiederzukommen, war eine grausame Strafe. „Wie Ihr wißt, Sire, muß ich das Scheitern meiner Mission melden.“

„In der Tat. Auch wir empfangen die Nachrichtenbilder von Sol“, erwiderte der Valtam schneidend.

„Sire — die Solarier geben unbegrenzte Wirtschaftshilfe, jedoch nur den Cundaloanern. Skontar bekommt nichts — keine Kredite, keine technischen Berater, nichts. Und wir können keinen Güteraustausch erwarten und auch keine Touristen.“

„Wir wissen es“, sagte Thordin. „Und dich haben wir zur Erde gesandt, um Hilfe zu erbitten.“

„Ich habe es versucht, Sire“, erwiderte Skorrogan mit ausdrucksloser Stimme. Doch die Solarier haben uns gegenüber grundlose Vorurteile“. Er mußte etwas sagen, doch verdammt wollte er sein, wenn er um Gnade winselte! „Zum Teil liegt das an ihrer sentimentalen Vorliebe für die Cundaloaner, zum Teil auch daran, daß wir ihnen in so vieler Hinsicht unähnlich sind.“

„Tatsächlich“, entgegnete der Valtam eisig. „Früher war das Vorurteil nicht so groß. Und den Mingoniern, die den Menschen viel weniger ähneln als wir, haben die Solarier geholfen. Sie bekamen die gleiche Hilfe, die jetzt die Cundaloaner beziehen werden. Wir hätten das Gleiche erhalten können! Wir wünschen nichts anderes als gute Beziehungen zu der größten Macht in der Milchstraße.

Wir hätten sogar noch mehr erreichen können. Ich weiß aus erster Hand von der Stimmung und Einstellung des Commonwealth. Sie waren bereit, uns zu helfen, hätten wir nur das geringste Entgegenkommen gezeigt. Wir hätten wiederaufbauen können, sogar mehr…“ Seine Stimme verhallte im Wind.

Nach einer Weile fuhr er fort, und der Zorn schien wie eine Flamme aus ihm herauszubrechen: „Ich sandte dich als meinen Sonderbevollmächtigten, um diese großzügige Hilfe entgegenzunehmen. Dich, dem ich mehr vertraute als allen, dem die Sorge des Reiches am Herzen liegen mußte… Ah!“ Er spuckte aus. „Und du hast deine Zeit dort damit vergeudet, arrogant, ungehobelt und beleidigend zu sein. Du, auf dem alle Augen des Solaren Commonwealth ruhten, hast alles getan, um ihre Vorurteile gegen uns zu bestätigen. Kein Wunder, daß unsere Bitte zurückgewiesen wurde. Du kannst froh sein, daß Sol uns nicht den Krieg erklärt hat!“

„Noch ist es vielleicht nicht zu spät“, sagte Thordin. „Wir könnten einen zweiten Botschafter…“

„Nein!“ Der Valtam hob den Kopf mit dem unbeugsamen Stolz dieser Rasse, der es mehr bedeutete, das Gesicht zu bewahren als das Leben. „Skorrogan war unser bevollmächtigter Abgesandter. Falls wir ihn desavouieren, uns für sein Verhalten entschuldigen — nicht wegen eines formellen Fehlers, sondern seines schlechten Benehmens wegen! — , falls wir vor der Milchstraße zu Kreuze kriechen — nein! Das ist die Sache nicht wert. Wir müssen eben ohne die Hilfe der Solarier auskommen…!“ Der Schnee fiel jetzt dichter. Dunkle Wolken verhüllten den Himmel. Und es war kalt — bitterkalt.

„Welch ein Preis für unsere Ehre!“ sagte Thordin niedergeschlagen. „Unsere Leute hungern — Nahrungsmittel von den Solariern würden sie retten. Sie tragen nur noch Lumpen am Leib — Sol würde Kleidung für sie schicken. Unsere Fabriken sind ausgebrannte Ruinen. Unsere jungen Männer wachsen auf, ohne die galaktische Zivilisation und ihre Technologie kennenzulernen. Sol würde uns Maschinen und Ingenieure senden, damit wir die Fabriken neu aufbauen könnten. Sol würde uns Lehrer schicken — und wir könnten groß und mächtig werden. Zu spät, zu spät.“ Seine Augen suchten den Blick des Freundes. „Warum hast du das getan? Warum nur?“

„Ich tat mein Bestes“, erwiderte Skorrogan steif. „Falls ich nicht taugte für die Mission, hättest du mich nicht schicken dürfen.“

„Aber das ist es ja gerade!“ sagte der Valtam. „Du bist unser bester Diplomat. Deine Geschmeidigkeit, deine Kenntnis der außerskontaranischen Psychologie, deine Persönlichkeit: alles war bisher von unschätzbarem Wert für unsere auswärtigen Missionen.

Und dann, bei dieser so klaren und so überaus wichtigen Mission… Nie mehr!“ Seine Stimme schrie es in den Wind. „Nie mehr will ich dir vertrauen. Ganz Skontar soll wissen, daß du versagt hast!“

„Sire…“ Skorrogans Stimme bebte. „Ich habe mir von Euch Dinge sagen lassen, die ich mir von niemand sonst hätte bieten lassen, ohne ihn zum Duell zu fordern. Wenn Ihr noch etwas zu sagen habt — sagt es jetzt. Sonst laßt mich lieber gehen!“

„Ich kann dich nicht deiner ererbten Titel und Lehen entkleiden“, murmelte der Valtam. „Doch deine Stellung in der Regierung ist dir entzogen. Am Hof brauchst du dich nie mehr blicken zu lassen. Und ich glaube nicht, daß dir viele Freunde geblieben sind.“

„Mag sein“, erwiderte Skorrogan. „Ich habe getan, was ich getan habe — und selbst wenn ich mein Tun erklären könnte, ich würde nach diesen beleidigenden Worten darauf verzichten. Doch wenn Ihr meinen Rat hören wollt, was die Zukunft von Skontar betrifft…“

„Ich will ihn nicht hören“, erwiderte der Valtam. „Du hast schon genug Unheil über den Staat gebracht!“

„…dann bedenket drei Dinge“, fuhr Skorrogan unbeirrt fort und deutete mit dem Speer auf die wolkenverhangenen Sterne. „Erstens die Sonnen im All. Zweitens bestimmte neue wissenschaftliche und technologische Entwicklungen bei uns — zum Beispiel Dyrins Arbeit über die Semantik. Und letztens: schaut Euch um. Seht die Häuser, die Eure Väter bauten. Betrachtet die Kleidung, die Ihr tragt. Besinnt Euch auf die Sprache, die Ihr sprecht. Und kommt dann nach fünfzig Jahren zu mir und bittet mich um Entschuldigung!“

Er raffte seinen Pelz um sich, grüßte kurz vor dem Valtam und ging mit langen Schritten zur Stadt. Sie blickten ihm nach — Bitterkeit und Verständnislosigkeit in den goldenen Augen.

Hunger herrschte in der Stadt. Er konnte ihn fast spüren, durch die Mauern hindurch — den Hunger eines verzweifelten Volkes in Lumpen, das sich über Herdfeuer beugte und nicht wußte, ob es den Winter überleben würde. Flüchtig überlegte Skorrogan, wie viele sterben würden — doch er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

Er hörte jemand singen und verhielt den Schritt. Ein wandernder Barde, der bettelnd von Stadt zu Stadt zog, kam die Gasse herunter, einen zerschlissenen Pelz über den Schultern. Er zupfte die Harfe mit klammen Fingern, und er sang eine trutzige Ballade in der altmodischen Sprache der Heldenlieder von Skontar. Einen Moment lang, in einer bitteren Laune galligen Humors, überlegte Skorrogan, wie die Ballade in der Sprache der Erdbewohner klingen würde:

Wild wogten die

wehrhaften Vögel, dem Winter weichend,

wissend, daß seine Macht nach Süden drängt.

Sie suchen den Seeweg,

Sehnsucht in den Schwingen,

singen vom Sommer und

säuselnden Winden.

Lebewohl, wirtliches Gestade,

lachend beugt sich der Starke

der Liebe…

Es stimmte nicht so recht. Der harte Rhythmus und die schroffen Silben gingen verloren, und die Alliteration und der verschlungene Reim ließen sich nur unvollkommen übersetzen. In irdischer Sprache klang es platt und langweilig. Die Bilder waren matt. Die Psychologie der beiden Planetensysteme war eben zu unterschiedlich.

Und hier mochte auch der Grund für seine Erklärung liegen, die er den Würdenträgern schuldig geblieben war. Sie verstanden nicht.

Sie konnten gar nicht verstehen. Er war allein — und der Winter stand vor der Tür.

* * *

Valka Vahino saß in seinem Garten in der Sonne. Manchmal kam es Vahino vor, als habe er seit einer Ewigkeit keine Ruhe mehr gehabt. Zuerst der Krieg, anschließend die Reise zum solaren System — und seither seine Aufgabe als Verbindungsmann zu den Solariern, zu dem ihn das Hohe Haus ernannt hatte, weil er die menschliche Rasse besser kannte und verstand als jeder andere in der Liga.

Vielleicht traf das zu. Er verbrachte viel Zeit in ihrer Gesellschaft und schätzte sie als Rasse und auch als Individuen. Doch, bei allen Geistern, das Tempo, mit dem sie arbeiteten! Man hätte glauben können, sie seien von Dämonen besessen! Sie schonten sich nie!

Nun, es gab wohl keinen anderen Weg als den Wiederaufbau, zu Reformen und zu den neuen Errungenschaften, die nur darauf warteten, verwirklicht zu werden. Doch im Augenblick tat es wirklich wohl, im Garten zu liegen, umgeben von goldenen Blüten, deren Duft den Sinnen schmeichelte. Honigsauger umgaukelten ihn, während sich die Strophen eines neuen Gedichts in seinem Gedächtnis formten.

Die Solarier hatten es schwer zu begreifen, daß eine ganze Rasse nur aus Dichtern bestand. Der dümmste Cundaloaner brauchte sich nur in die Sonne zu legen, um meisterhafte Lyrik zu schmieden. Nun, jede Rasse hatte ihre Talente. Wer konnte die Menschen in ihrer technischen Begabung übertreffen?

Hymnische Gesänge formten sich in seinem Gehirn. Er fügte Silbe an Silbe. Dies würde etwas Gelungenes werden! Man würde sich daran erinnern, würde es noch in Jahrhunderten singen und preisen! Man würde Valka Vahino nicht vergessen.

„Entschuldigen Sie, Sir!“ Eine metallische Stimme schreckte ihn auf, zerriß das feine Gespinst der Verse und trieb sie hinaus in die Nacht des Vergessens und der Unwiederbringlichkeit. Einen Moment lang spürte er nur den Schmerz des Verlustes. Die Unterbrechung hatte etwas Einmaliges zerstört.

„Entschuldigung, Sir, aber Mr. Lombard möchte Sie sprechen!“

Es war die Stimme des Roboters. Lombard selbst hatte ihm das Gerät geschenkt. Natürlich hatte das schimmernde Metallgerät nicht zu den geschnitzten Möbeln und gestickten Gobelins seines Hauses gepaßt. Doch er hatte Lombard nicht beleidigen wollen.

Außerdem war das Ding zweifellos nützlich und praktisch.

Lombard, Leiter der Wiederaufbaukommission — der ranghöchste Mensch im Avaikianischen System —, kam zu ihm. Das schmeichelte Vahino natürlich. Schließlich hätte Lombard ihn ebenso zu sich bitten können. Nur — warum ausgerechnet in dieser Minute?

„Sag Mr. Lombard, ich werde gleich kommen.“

Vahino betrat das Haus durch einen Nebeneingang und zog sich an. Die Menschen hatten nicht diese unbefangene Einstellung zum nackten Körper wie die Cundaloaner. Dann trat er in die Vorhalle. Er hatte dort ein paar Sessel aufstellen lassen, um den Gewohnheiten der Irdischen entgegenzukommen, die sich nicht gern auf eine Matte auf dem Boden hockten. Lombard stand auf, als Vahino eintrat.

Der Mensch war untersetzt und klein. Eine Strähne grauer Haare hing ihm in die gefurchte Stirn. Er hatte einen zähen, beharrlichen Aufstieg hinter sich — vom einfachen Arbeiter zum Hohen Kommissar. Alles in seiner freien Zeit hart erkämpft — durch Selbststudium.

Die Spuren dieses Ringens waren nicht zu übersehen. Er packte jede Aufgabe mit einer Besessenheit an, als ginge es um Leben und Tod, und er konnte härter als Werkzeugstahl sein. Doch die meiste Zeit über benahm er sich umgänglich und liebenswürdig. Er besaß eine erstaunlich reiche Palette von Interessen und Talenten und hatte Wunder im Avaikianischen System bewirkt.

„Friede in dein Haus, Bruder“, sagte Vahino.

„Wie geht es Ihnen?“ entgegnete der Solarier knapp. Als sein Gastgeber den Dienern ein Zeichen geben wollte, fuhr der Solarier hastig fort: „Bitte keine Umstände. Ich schätze natürlich Ihre Gastlichkeit, doch ich habe keine Zeit, drei Stunden speisen und über Kultur reden zu müssen, ehe ich zur Sache kommen darf. Ich wünschte — nun, Sie sind hier zu Hause. Ich nicht. Ich möchte Ihnen nahelegen, durch Ihr Einwirken — taktvoll natürlich — diese Sitte abzuschaffen.“

„Aber sie gehört zu den ältesten Kulturgütern dieses Planeten!“

„Das ist es ja gerade! Alte, rückständige Sitten und Gebräuche! Ich möchte mich nicht herablassend äußern, Mr. Vahino, das liegt mir fern; ich halte diese Sitte sogar für bezaubernd, für uns Solarier geradezu nachahmenswert. Aber, bitte, nicht während der Arbeitszeit!“

„Nun — ich muß gestehen, Sie haben nicht ganz unrecht. Es paßt nicht zu einer modernen Industriegesellschaft. Und die bauen wir ja zur Zeit auf, nicht wahr?“ Vahino zog sich einen Sessel heran und bot seinem Gast eine Zigarette an. Das Rauchen war eines der charakteristischen Laster der Solarier — sicherlich eine Sitte, die sich hier leicht einführen ließ. Vahino zündete sich selbst einen Rauchzylinder an und inhalierte mit dem Behagen eines überzeugten Kultanhängers.

„Richtig. Genau das, was ich sagen wollte. Und deswegen bin ich auch gekommen, Mr. Vahino. Ich habe keine Beschwerden vorzubringen — nichts Spezifisches, verstehen Sie? Aber es haben sich unzählige kleine Schwierigkeiten ergeben, die nur ihr Cundaloaner selbst abstellen könnt. Wir Solarier können und dürfen uns nicht in eure inneren Angelegenheiten einmischen. Doch einiges muß anders werden, oder unsere Hilfe ist umsonst.“

Vahino hatte bereits eine Vorstellung von dem, was jetzt auf ihn zukam. Er hatte es seit einiger Zeit kommen sehen, dachte er voll Unbehagen. Man konnte der Zukunft eben nicht ausweichen. Er rauchte und hob die Augenbrauen in stummer, höflicher Frage. Dann erinnerte er sich daran, daß die Irdischen ja nicht in der Lage waren, Zeichen zu verstehen, und sagte deshalb: „Sprechen Sie sich ruhig aus. Äußern Sie Ihre Wünsche. Ich begreife, daß Sie nicht beleidigen wollen. Wir fassen es deshalb auch gar nicht so auf.“

„Gut.“ Lombard lehnte sich vor und knetete nervös seine von harter Arbeit gezeichneten Hände. „Ihre Kultur, Ihre psychologische Einstellung ist für eine moderne Zivilisation völlig ungeeignet. Das läßt sich ändern, aber nur, wenn es drastisch geschieht. Nur Sie können das erreichen, durch Gesetze, Propaganda, Änderung des Erziehungssystems und so weiter. Aber es muß geschehen!“ Lombard blickte auf den Boden und dachte kurz nach. „Zum Beispiel Ihre Siesta. Im Augenblick läuft im gesamten Datumsbereich dieses Planeten nicht ein Rad, nicht eine Maschine. Ihre Leute liegen alle in der Sonne, dichten Verse oder summen Melodien vor sich hin. Viele dösen auch nur. Wir müssen eine ganze Zivilisation neu aufbauen, Vahino! Plantagen müssen angelegt, Fabriken müssen gebaut, Städte müssen errichtet, Kanäle müssen gezogen werden! So etwas läßt sich nicht mit einem Vier-Stunden-Arbeitstag erreichen!“

„Nein. Aber vielleicht besitzen wir nicht dieselbe Energie wie Ihre Rasse. Sie haben eine Überfunktion der Schilddrüse, wie Sie wissen!“

* * *

„Sie müssen sich eben anpassen, dazu erziehen. Nicht jeder muß arbeiten, bis er umfällt. Außerdem steht ein erstrebenswertes Ziel am Ende dieser Plagerei. Die Mechanisierung Ihrer Kultur wird Ihr Volk von körperlicher Arbeit und der Abhängigkeit von wechselnden Ernteerträgen befreien, Vahino! Und eine technische Zivilisation kann man einfach nicht mit Aberglauben, Riten, Gebräuchen, zeremonieller Tradition belasten, auf die man hier auf Ihrem Planeten auf Schritt und Tritt stößt! Wir haben keine Zeit dazu. Das Leben ist viel zu kurz. Außerdem ist da alles paradox. Sie gleichen in vielen Punkten den Skontaranern, die immer noch mit ihren altmodischen Speeren herumlaufen, obwohl sie jeden Sinn und Zweck verloren haben.“

„Tradition ist Leben, macht seinen Sinn, seinen Wert aus…“

„Die Maschinenkultur hat ihre eigene Tradition. Sie werden das schon noch begreifen. Sie hat ihre eigene Bedeutung, und es ist die Bedeutung der Zukunft. Falls Sie darauf bestehen, an alten Gebräuchen kleben zu bleiben, werden Sie die Geschichte nie einholen können. Ihr Münzsystem zum Beispiel…“

„Es ist praktisch.“

„Auf seine Weise, ja. Aber wie wollen Sie mit Sol Handel treiben, wenn Sie Ihren Kredit immer noch in Silber berechnen und die Solarier in abstrakten Begriffen und Größen? Sie müssen sich unserem System anpassen, wenn Sie mit uns Handelsbeziehungen anknüpfen wollen. Was Sie nach außen hin tun müssen, können Sie auch gleich im Inneren vollziehen. Sie müssen das metrische System einführen, wenn Sie unsere Maschinen verwenden und unsere Wissenschaft begreifen wollen. Sie müssen — oh, alles muß geändert werden. Ihre Gesellschaft zum Beispiel… Kein Wunder, daß Sie sogar die Planeten Ihres eigenen Sonnensystems noch nicht erforscht haben, solange jeder Cundaloaner darauf besteht, an seinem Heimatort begraben zu werden. Eine hübsche Sitte, ohne Zweifel. Aber außer sentimentalem Wert sehe ich keinen Sinn darin. Wenn Sie nach den Sternen greifen wollen, müssen Sie diese Sentimentalitäten aufgeben. Sogar Ihre Religion — entschuldigen Sie —, aber Sie werden einsehen, daß sie viele Elemente enthält, die die moderne Wissenschaft widerlegt hat.“

„Ich bin Agnostiker“, erwiderte Vahino leise. „Doch die Religion des Mauiroa bedeutet sehr viel für die meisten von uns.“

„Wenn das Große Haus es erlaubt, können wir ein paar Missionare als dem Solaren Commonwealth kommen lassen. Wir können Ihre Landsleute zum Beispiel zum Neopantheismus bekehren. Welche Religion meiner Ansicht nach viel mehr Überzeugungskraft, Trost und Zuversicht für das Individuum und wissenschaftliche Wahrheit enthält als Ihre Religion. Falls Ihre Landsleute auf den Glauben angewiesen sind, braucht er nicht unbedingt mit Tatsachen zu kollidieren, die sich in einer modernen Technologie bald bemerkbar machen werden.“

„Mag sein. Und natürlich ist Ihnen auch das System der familiären Beziehungen viel zu kompliziert und eng geknüpft, nicht wahr?

Unbrauchbar in einer modernen Industriegesellschaft… Ja, ja, ja… Uns neue Maschinen zu bringen, genügt eben nicht.“

„Genau! Der Geist muß sich umstellen“, stimmte ihm Lombard zu und fuhr dann verbindlicher fort: „Aber Sie werden das schon schaffen. Sie haben ja schon früher Raumschiffe und Atomkraftwerke gebaut. Ich schlage lediglich vor, diesen Prozeß etwas zu beschleunigen…“

„Und was die Sprache anlangt…“

Lombard ließ sich auch über dieses Thema aus: „Richtig. Ich will keinem Chauvinismus das Wort reden — weit gefehlt —, doch ich halte es für richtig, daß alle Cundaloaner die Sprache der Solarier lernen sollten. Sie werden sie gut gebrauchen können. Und Ihre Wissenschaftler und Techniker müssen diese Sprache ja sowieso beherrschen. Die Mundarten von Laui und Muara klingen wirklich schön; doch für wissenschaftliche Begriffe sind sie nicht zu gebrauchen. Und was die Philosophie betrifft — nun, die Lehrbücher scheinen mir nichts anderes als blumenreiches Kauderwelsch zu enthalten. Schön, doch ohne Substanz. Ihre Sprache entbehrt der — Präzision.“

„Arakles und Wranamaui wurden jedoch seit Jahrhunderten als klassische Beispiele kristallklarer Logik gefeiert“, erwiderte Vahino niedergeschlagen. „Und ich muß gestehen, daß ich Ihren Kant, Russell und Kozybiski auch nicht ganz verstehe. Nun, ich bin in diesen Kategorien natürlich nicht geschult. Zweifellos haben Sie recht. Die jüngeren Generationen werden mir zustimmen. Ich werde mit dem Großen Haus sprechen. Vielleicht läßt sich sofort eine Regelung treffen. Auf jeden Fall werden Sie nicht Jahre warten müssen, bis Reformen durchgeführt werden. Alle unsere jungen Leute sehnen sich danach, Ihren Idealen zu folgen. Es sind die Leitbilder des Erfolges.“

„Genau“, erwiderte Lombard und fügte dann verbindlich hinzu: „Manchmal wünschte ich mir, der Fortschritt verlange nicht einen so hohen Preis. Doch Sie brauchen sich nur Skontar anzusehen, um zu begreifen, wie notwendig man den Erfolg braucht.“

„Nun, die Skontaraner haben Erstaunliches geleistet in den letzten drei Jahren. Nach der großen Hungersnot haben sie sich wieder gefangen. Sie bauen alles aus eigener Kraft wieder auf. Sie haben sogar Forscher ausgeschickt, die sich nach Sonnen mit Planeten umsehen, wo sie Kolonien gründen können.“ Vahino lächelte dünn. „Ich liebe unsere ehemaligen Feinde nicht, aber die Bewunderung kann ich ihnen nicht versagen.“

„Sie haben Mut“, gab Lombard zu. „Doch was ist Mut ohne Beistand? Sie verstricken sich in ein Gestrüpp von Rückständigkeit. Schon jetzt ist das Sozialprodukt von Cundaloa dreimal so hoch wie das der Skontaraner. Die interstellare Kolonisation ist nur eine bedeutungslose Geste — getragen von ein paar hundert Individuen. Skontar wird weiterexistieren, doch nur als Macht zehnter Ordnung. Es wird nicht lange dauern, und Skontar wird ein Satellit der Cundaloaner sein. Schuld daran ist nicht, daß sie etwa keinen Erfindungsgeist oder keine Ausdauer besäßen. Nein. Sie verfügen über Bodenschätze, über praktische Veranlagungen. Doch indem sie unser Hilfsangebot arrogant von sich gewiesen haben, haben sie sich vom Stamm der galaktischen Zivilisation abgetrennt. Zum Beispiel versuchen sie, wissenschaftliche Theorien und Apparate weiterzuentwickeln, die wir schon vor hundert Jahren gekannt und verworfen haben. Sie entfernen sich immer weiter von den Gleisen des Fortschritts, daß man nur darüber lachen könnte, wäre es nicht ein so tragischer Anblick. Ihre Sprache — so wie eure — ist für wissenschaftliche Zwecke ungeeignet. Und dazu schleppen sie noch die rostigen Ketten ihrer Tradition mit sich herum. Ich habe zum Beispiel einige ihrer Raumschiffe gesehen, die sie selbst entwickelten, statt irdische Modelle zu übernehmen. Sie sind einfach lächerlich. Ein halbes Hundert neuer Ansätze, keine klare Grundkonzeption. Kugeln, eiförmig, würfelförmig — ja, ich hörte neulich, daß sie sogar Raumschiffe in Doppelpyramidenform bauen wollen!“


„Es könnte sogar funktionieren“, überlegte Vahino laut. „Die Riemannsche Geometrie, auf der die interstellare Raumfahrt aufbaut, würde erlauben…“

„Nein, nein! Die Erde hat diese Konzepte ausprobiert und dabei festgestellt, daß es nicht funktioniert. Nur ein Narr — und die Wissenschaftler von Skontar in ihrer selbstgewählten Isolation müssen sich ja dazu entwickeln — könnte so etwas für brauchbar halten. Wir Menschen hatten eben Glück, das war alles. Selbst wir mußten einen langen Weg zurücklegen, ehe unsere Mentalität reif für die wissenschaftliche Zivilisation wurde. Davor gab es keine technologische Entwicklung. Doch danach — danach erreichten wir die Sternenwelten. Natürlich können andere Rassen dasselbe schaffen wie wir, aber zuerst müssen sie die geeignete Zivilisation dafür schaffen, die richtige Grundlage erarbeiten. Und ohne unsere Anleitung wird weder Skontar noch irgendein anderer Planet die Basis besitzen, um nach den Sternen zu greifen. — Sie brauchen Jahrhunderte, bis sie das erreichen.“ Lombard nickte heftig.

„Ah, das bringt mich auf einen Gedanken“, setzte Lombard seine Erläuterungen fort und griff in seine Jackentasche. „Ich habe hier eine Fachzeitschrift, eine Broschüre, die von einer der skontaranischen philosophischen Gesellschaften herausgegeben wird. Die Nachrichtenverbindungen sind ja nicht ganz abgerissen, wie Sie wissen. Es besteht kein Embargo. Die Solarier haben Skang lediglich aufgegeben, weil es sich nicht lohnt, dort Geld und Intelligenz zu investieren. Nun“ — er zog eine Zeitschrift aus der Tasche —, „hier habe ich jedenfalls eine Denkschrift von einem ihrer Philosophen, Dyrin, der an einer neuen Bedeutungslehre arbeitet, die dort ziemlich viel Staub aufgewirbelt haben soll. Sie verstehen doch Skontaranisch, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Vahino. Ich habe im Krieg in der militärischen Abwehr gedient. Lassen Sie mich sehen…“ Er blätterte in der Broschüre, bis er den bewußten Artikel fand, und übersetzte vom Blatt:

„Die Arbeiten des Verfassers haben bisher gezeigt, daß der Nonelementalismus nicht als solcher ein Umfassendes ist, sondern bestimmten psychomathematischen Einschränkungen unterworfen. Diese Einschränkungen rühren von dem broganar — ein Wort, das ich leider nicht verstehe — Feld her, das sich mit den elektronischen Wellenkernen verbindet, und…“

„Was ist das für ein Kauderwelsch?“ unterbrach Lombard an dieser Stelle.

„Keine Ahnung“, sagte Vahino hilflos. „Der skontaranische Geist ist mir ebenso fremd wie Ihnen.“

„Blödsinn“, sagte Lombard, „vermischt mit der sattsam bekannten Arroganz der Skontaraner.“ Er warf die Zeitschrift in das kleine, mit Kohlen gefüllte Bronzebecken. Die Flammen verzehrten die dünnen Blätter. „Vollkommener Blödsinn, wie jeder sofort erkennen wird, der etwas von Bedeutungslehre versteht — oder auch nur einen Atomkern Verstand im Kopf hat.“ Er lächelte, sogar ein bißchen traurig, und schüttelte dabei den Kopf. „Eine Rasse von Verrückten!“

* * *

„Ich wünschte, du könntest mir morgen ein paar Stunden widmen“, sagte Skorrogan.

„Hm, das ließe sich einrichten“, erwiderte Thordin XI., der gegenwärtige Valtam des Imperiums von Skontar. Er nickte. „Obgleich mir nächste Woche besser passen würde.“

„Morgen — bitte!“

Dieses Drängen mußte einen tieferen Sinn haben. „Also gut“, meinte Thordin. „Was ist los?“

„Ich möchte dich auf einen kleinen Ausflug nach Cundaloa mitnehmen.“

„Weshalb ausgerechnet dorthin? Und warum muß es gerade morgen sein?“

„Das werde ich sagen, wenn wir dort sind.“ Skorrogan neigte den Kopf, der zwar noch dichtbemähnt, aber schon weiß war. Dann schaltete er den Fernsehkommunikator aus. Thordin lächelte. Skorrogan war schon ein eigenartiger Mann — in vieler Hinsicht. Doch — nun —, die Alten mußten zusammenhalten. Eine neue Generation drängt heran, und dahinter bereits wieder eine, die den Platz an der Sonne für sich erobern will.

Ohne Zweifel, das Leben in der Verbannung hatte den früher so heiter-zuversichtlichen Skorrogan stark verändert. Kein Wunder, hatte diese innere Emigration doch über dreißig Jahre gedauert. Doch sie hatte ihn wenigstens nicht verbittert. Als sich der langsame, aber stetige Fortschritt auf Skontar abzeichnete und sein eigenes Versagen in den Schatten der Vergessenheit gedrängt wurde, hatte der Kreis der früheren Freunde ihn wieder aufgenommen. Skorrogan lebte immer noch sehr zurückgezogen, doch er war jetzt wieder willkommen, wo er sich sehen ließ. Thordin selbst hatte entdeckt, daß ihre alte Freundschaft nie erloschen war, und weilte oft drüben in der Zitadelle von Kraakahaym, dem Palast Skorrogans. Er hatte sogar dem alten Adeligen wieder einen Sitz im Hohen Rat angeboten; doch Skorrogan hatte abgelehnt. Und inzwischen waren weitere zehn Jahre — oder waren es zwanzig? — verflossen, in denen Skorrogan nichts anderes getan hatte, als seine Pflichten als Herzog zu erfüllen. Heute bat er zum erstenmal um einen Gefallen. — Ja, ich werde morgen mitfliegen. Zum Teufel mit der Arbeit. Auch Monarchen haben Recht auf Urlaub! Thordin stand von seinem Sessel auf und ging, das eine Bein nachziehend, hinüber zum breiten Söller. Er fröstelte, als er dem Schneetreiben zusah. Der Winter kam wieder einmal ins Land.

Die Geologen prophezeiten, daß Skontar erneut in eine Eiszeitepoche eintrat. Doch sie würde sich nicht voll entfalten können. Im Gegenteil. In zehn Jahren würden die Klimaingenieure ihr technisches Können so sehr erweitert haben, daß sie das Vordringen der Gletscher aufhalten konnten. Doch bis dahin war es kalt und weiß draußen, und ein schneidender Wind heulte um die Türme des Palastes.

Auf der südlichen Halbkugel herrschte jetzt Sommer. Die Felder wurden grün, und Rauch aus den Schornsteinen der Höfe der Freisassen kräuselte sich in den blauen Himmel. Wer hatte eigentlich das wissenschaftliche Team angeführt? Ach ja, Aesgayr Haastings’ Sohn. Seine Arbeiten auf dem Gebiet der Agronomie und Vererbungslehre hatte es einem Volk von Freisassen ermöglicht, auf eigener Scholle so viel Getreide und landwirtschaftliche Produkte zu erzeugen, daß die heranwachsende Generation der wissenschaftlichen Zivilisation nicht zu hungern brauchte. Der alte Freibauer, das Rückgrat der Welt von Skontar in seiner ganzen Geschichte, hatte nicht auszusterben brauchen.

Andere Dinge hatten sich natürlich ebenfalls verändert. Thordin lächelte still vor sich hin, wenn er daran dachte, wie sehr sich das Valtamat in den letzten fünfzig Jahren gewandelt hatte. Das hatten sie Dyrins Arbeiten auf dem Gebiet der allgemeinen Bedeutungslehre zu verdanken, die als Grundlage aller Wissenschaften so wichtig war. Sie hatte zu dem gegenwärtigen psychosymbologischen Charakter der Regierungsform geführt. Skontar war nur dem Namen nach noch ein Reich, ein absolutistisch regiertes Imperium. Dyrin hatte den Widerspruch zwischen der Bedeutung des Begriffs Willensfreiheit und einer nichtgewählten, leistungsfähigen Regierungsform gelöst. Natürlich nur zum Vorteil von Slontar — und auf dieses Ziel hatte sich der schmerzhafte Entwicklungsprozeß der skontaranischen Geschichte hinbewegt. Die neue Wissenschaft hatte den Prozeß beschleunigt, hatte den Fortschritt von Jahrhunderten auf die Zeitspanne zweier Generationen zusammengedrängt. Und dann hatten Physik und Biologie ungeahnte Erkenntnisse vermittelt… Seltsam, daß die schönen Künste darunter kaum gelitten hatten, Literatur, Musik, und Architektur. Auch die alten Kunsthandwerke standen in Ansehen und Blüte, und man pflegte die Bardensprache des Hoch-Naarhaym.

Nun, so war das Leben. Thordin kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Die Arbeit drängte. Er mußte Entscheidungen fällen, die die Kolonien auf dem Aesric-Planeten betrafen. Man konnte nicht erwarten, daß es ohne Schwierigkeiten möglich war, mehrere hundert interstellare Kolonien, die alle blühten und gediehen, zu regieren. Doch Fehlentwicklungen waren äußerst selten. Das Imperium war gesichert und stark. Und es wuchs immer mehr.

Sie hatten einen langen Weg zurückgelegt seit dem Tage der Verzweiflung vor fünfzig Jahren. Ein langer, langer Weg. Thordin fragte sich, ob er überhaupt noch übersehen konnte, wie lang der Weg tatsächlich gewesen war.


Thordin kam aus dem Höhlengang unterhalb der Zitadelle. Skorrogan hatte sich dort mit ihm verabredet, weil er den Ausblick von dieser Stelle besonders schätzte. Das Panorama war geradezu majestätisch, dachte der Valtam, doch auch schwindelerregend. Eine langgezogene Kette hoher grauer Gipfel und windgepeitschter Wolken, die sich bis zur fernen grünen Ebene ausdehnten. Über ihm ragten die alten Befestigungsanlagen auf.

Die Wachen hoben grüßend die Speere. Bis auf diese waren sie unbewaffnet. Die Vortex-Kanonen auf den Wällen verrotteten allmählich. Die Hauptstadt eines Reiches, das nur noch dem Solaren Commonwealth an Macht und Bedeutung nachstand, brauchte keine Waffen mehr. Skorrogan stand im äußeren Hof. Fünfzig Jahre hatten seinen Rücken nicht gebeugt oder den Glanz der goldenen Augen getrübt. Und doch kam es Thordin so vor, als trage der Alte eine innere Unruhe mit sich herum, eine Erwartung, als könne er die vor ihnen liegende Reise nicht rasch genug hinter sich bringen.

Skorrogan vollzog die traditionelle Begrüßung und deutete auf das Flugfeld. „Mein Schiff ist startbereit.“ Es stand hinter den Wällen, ein elegantes kleines Roboterschiff mit den verwirrenden Konturen der Doppelpyramidenkonstruktion.

Sie stiegen ein und nahmen in der Mitte Platz, von wo aus sie in allen Richtungen gleich gute Aussicht hatten.

„Nun“, sagte Thordin, „verrate mir, weshalb du unbedingt heute nach Cundaloa fliegen willst.“ Skorrogan sah in an. Alter, längst vergessener Schmerz sprach aus diesem Blick. „Heute“, sagte er leise, „ist es genau fünfzig Jahre her, daß ich von der Erde nach Hause zurückkehrte.“

„Ja — und?“ fragte Thordin, etwas verwirrt. Es war nicht die Art des schweigsamen Alten, vergangene Niederlagen wieder zur Sprache zu bringen.

„Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr“, erwiderte Skorrogan, „aber wenn du dein Unterbewußtsein durchforschst, wirst du es wieder ins Licht des Bewußtseins heben. Damals sagte ich zu euch, in fünfzig Jahren könnt ihr wiederkommen und mich um Verzeihung bitten.“

„Also willst du dich heute rechtfertigen.“ Für Thordin war das keine Überraschung — es war typisch für die skontaranische Psychologie; doch wußte er immer noch nicht, was es hier zu entschuldigen gab.

„Das stimmt. Damals konnte ich es niemandem sagen oder erklären. Niemand hätte mir damals zugehört, und auch ich fühlte noch kleine Zweifel, ob ich auch richtig gehandelt hatte.“ Skorrogan lächelte. „Doch jetzt weiß ich es. Die Zeit hat mir recht gegeben. Und ich will mir heute die Ehre zurückholen, die ich damals verloren habe, indem ich dir zeige, daß ich damals auf meiner Mission nicht so versagte, wie ihr alle geglaubt habt.“

Er nickte nachdenklich. „Im Gegenteil, meine Mission war erfolgreich. Ich stieß die Solarier absichtlich vor den Kopf.“ Skorrogan drückte auf den Antriebsknopf, und der Raumkreuzer legte die Strecke eines halben Lichtjahres durch den Raum zurück. Die große blaue Kugel von Cundaloa hing vor ihnen im All.

Thordin saß ganz still da, ließ diese einfache, ungeheure Feststellung durch alle Ebenen seines Geistes wandern. Seine erste Gefühlsreaktion war die Erkenntnis, daß er, im Unterbewußtsein, schon immer auf so eine Erklärung gewartet hatte! Er hatte nie glauben können, daß Skorrogan damals so plötzlich sein diplomatisches Gespür verloren haben sollte.

Doch dann wäre er ja ein Verräter — nein, keinesfalls! Was dann? Was hatte er damit gemeint? War er während all der Jahre geistesgestört gewesen…?

„Seit dem Krieg bist du nicht oft in Cundaloa gewesen, nicht war?“ unterbrach Skorrogan Thordins Gedanken.

„Nein. Nur dreimal, zu flüchtigen Besuchen. Es ist ein wohlhabendes System. Die Hilfe der Solarier hat sie wieder auf die Füße gestellt.“

„Wohlhabend — ja, das sind sie.“ Einen Moment lang zuckte ein Lächeln um Skorrogans Mundwinkel; doch es war ein trauriges Lächeln — als müsse er eher weinen. „Ein betriebsames, erfolgreiches kleines System, mit ganzen drei Kolonien.“ Mit einer jähen, ärgerlichen Bewegung drückte er den Nahsteuerhebel, und das Schiff zog im flachen Bogen zur Oberfläche des Planeten hinunter. Es landete in einer Ecke des großen Raumflughafens von Cundaloa-City. Die Roboter machten sich an die Arbeit, warfen ein schützendes Schwerefeld darüber.

„Was jetzt?“ flüsterte Thordin. Er hatte plötzlich Angst, ahnte, daß er keinen Gefallen an dem finden würde, was er jetzt zu sehen bekam.

„Nur ein kleiner Spaziergang durch die Hauptstadt“, sagte Skorrogan. „Mit ein paar Abstechern ins Landesinnere. Ich wollte, daß unsere Reise inoffiziell blieb. Nur so bekommt man die wahren Verhältnisse zu sehen, das Alltagsleben der Einwohner, das viel bezeichnender und wahrhaftiger ist als jede statistische oder wirtschaftliche Bestandsaufnahme. Ich will dir zeigen, Thordin, vor welchem Schicksal ich Skontar bewahrt habe.“ Er lächelte wieder traurig. „Ich gab mein Leben für unseren Planeten. Fünfzig Jahre meines Lebens auf jeden Fall — fünfzig Jahre in Einsamkeit und Schande.“ Sie tauchten unter im Lärm der großen Stahl- und Betonbauten des Raumschiffhafens und wurden zu den Ausgängen geschleust. Ein ununterbrochener Strom von Lebewesen wogte hin und her, die lärmende, ruhelose Zivilisation der Solarier. Ein großer Teil dieser Menge bestand aus Menschen, die nach Avaiki gekommen waren, um Geschäften oder dem Vergnügen nachzugehen. Auch Vertreter anderer Rassen waren darunter. Doch die meisten Wesen, die sich dort drängten, waren natürlich Einheimische — Cundaloaner.

Manchmal war es gar nicht einfach, sie von den Menschen zu unterscheiden. Schließlich ähnelten sich die beiden Arten sehr, und da die Cundaloaner die Mode der Solarier übernommen hatten…

Thordin schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich verstehe das nicht“, rief er Skorrogan über den Lärm hinweg zu. „Ich habe doch die Sprachen der Cundaloaner gelernt, Laui und Muara, und dennoch…“

„Natürlich verstehst du sie nicht“, erwiderte Skorrogan, „weil die meisten hier die solarische Sprache sprechen. Die einheimischen Mundarten sterben aus.“

Ein plumper Solarier in schreiend bunten Kleidern rief einem einheimischen Ladenbesitzer etwas zu, der sich vor seiner Auslage sonnte: „Du — du da, Boy! Haben Souvenir zu verkaufen? Money — Moneten, Geld, ja? Shoppen Souvenir, ja?“

„Pidgin-Solarisch“, meinte Skorrogan mit einer Grimasse. „Auch das wird importiert, obgleich alle jungen Cundaloaner von Kindheit an die irdische Sprache lernen. Doch die Touristen lernen nie etwas dazu.“ Einen Moment lang tastete die Hand zu seinem Energiewerfer, so wütend war er. Doch nein — die Zeiten hatten sich geändert. Man tötete niemand mehr, weil er einem persönlich widerwärtig war. So etwas gab es auch in Skontar nicht mehr.

Der Tourist wendete sich ab und rempelte Skorrogan an. „Oh, tut mir leid“, entschuldigte er sich höflich genug. „Ich hätte aufpassen sollen, wohin ich gehe.“

„Keine Ursache“, murmelte Skorrogan.

Doch der Solarier verfiel plötzlich in ein mühsames, mit starkem Akzent durchsetztes Hoch-Naarhaym: „Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Darf ich Sie zu einem Drink einlanden?“

„Aber durchaus keine Ursache“, murmelte Skorrogan wieder, diesmal mit grimmigem Unterton.

„Was für ein Planet! Rückständig wie — wie Pluto! Ich reise von hier aus nach Skontar weiter. Ich hoffe, ich kann dort einen Vertrag unter Dach und Fach bringen. Ihr wißt, wie man Handel treibt, ihr Skontaraner!“ Skorrogan wendete sich ab und riß Thordin buchstäblich mit sich. Sie waren einen Häuserblock weit gekommen, als der Valtam sagte: „Was hast du nur? Er hat sich sehr angestrengt, höflich zu uns zu sein. Oder hasst du alle Menschen?“

„Ich schätze die meisten von ihnen“, erwiderte Skorrogan. „Aber nicht die Touristen. Danke dem Schicksal, daß wir nicht viele von dieser Brut in Skontar zu sehen bekommen. Ihre Ingenieure, Geschäftsleute und Gelehrten sind in Ordnung. Ich bin froh darüber, daß enge Beziehungen zwischen Sol und Skang bestehen, sodaß wir vor allem mit solchen Leuten zu tun haben. Aber halte uns die Touristen vom Leib!“

„Weshalb?“

Skorrogan deutete nur auf ein Leuchtschild. „Deswegen“, sagte er und übersetzte dann:

ERLEBEN SIE DIE ALTEN MAUIROA-SITTEN!

AUTHENTISCH! FARBENPRÄCHTIG!

DER ZAUBER DES ALTEN CUNDALOA! NUR HIER!

Der Tempel des Höchsten.

Eintrittspreise angemessen.

„Die Religion des Mauiroa hatte früher einmal eine große Bedeutung“, erklärte Skorrogan leise. „Es war ein ehrwürdiger Glaube, obgleich er viele unwissenschaftliche Elemente enthielt. Man hätte sie der Entwicklung anpassen können — doch jetzt ist es zu spät.

Die meisten Einheimischen sind inzwischen Neopantheisten oder Ungläubige. Die alten religiösen Bräuche führen sie nur noch gegen Bezahlung vor. Sie sind zu einer Schau geworden.“

Er zog eine Grimasse. „Cundaloa hat noch nicht alle seine malerischen alten Gebäude und Volksbräuche verloren. Auch Reste ihrer Musik bestehen noch. Doch sie sind zu Schaustücken geworden.“

„Ich verstehe nicht ganz, warum du darüber so verbittert bist“, sagte Thordin. „Die Zeiten wandeln sich. Auch in Skontar ist die Zeit nicht stehengeblieben.“

„Wir haben uns gewandelt, aber nicht so wie hier! Blicke dich um! Du bist noch nie im Sonnensystem gewesen, aber du hast Filme von der Erde gesehen. Deshalb wirst du erkennen, daß es sich hier um eine typische irdische Stadt handelt — ein wenig rückständig vielleicht, aber immerhin typisch. Du wirst keine Stadt mehr im Avaikianischen System finden, die nicht — menschlich geworden ist.

Und du wirst auch keine nennenswerte Kunst mehr finden, keine eigenständige Literatur, Musik oder Malerei — nur billige Imitationen irdischer Produkte oder Kopien längst versunkener einheimischer Meisterwerke, romantische Fälschungen der Vergangenheit. Du wirst keine Wissenschaft hier entdecken, die nicht von den Irdischen übernommen wurde. Du siehst keine Maschine, die nicht den Stempel der Erde trägt und findest von Jahr zu Jahr weniger Häuser, die nicht von irdischen Architekten entworfen wurden. Die alte Gesellschaft ist tot, nur ein paar Reste von ihr sind übriggeblieben. Die engen Familienbande, die früher das Rückgrat der einheimischen Kultur bildeten, sind längst zerrissen, und Ehen werden hier genauso leichtsinnig geschlossen und aufgelöst wie auf der Erde. Die alte Bindung an Heimat und Scholle existiert nicht mehr. Es gibt hier keine Erbhöfe. Die jungen Leute strömen in die Stadt, um Geld zu verdienen. Sie essen die Konserven der solaren Nahrungsmittelfabriken, und die einheimische Küche findet man nur noch in ein paar teuren Restaurants. Es gibt keine Handarbeit mehr — kein Kunsthandwerk, keine Töpferei, keine Webwaren. Man trägt, was die Massenhersteller jedes Jahr auf den Markt werfen. Es gibt keine Barden mehr, die die alten Heldenlieder singen und neue ersinnen. Man starrt in die Fernseh-Fühlröhren. Es gibt keine Philosophen mehr aus der Schule des Arakles und Wranamaui — nur noch zweitklassige Kommentare über den Streit der Pragmatiker wider die Dogmatiker, zwischen den Anhängern des Aristoteles und denen von Korzybiski und Russell…“

Skorrogans Stimme verhallte. Thordin sagte nach ein paar Minuten bedächtig: „Ich sehe, worauf du hinauswillst. Cundaloa hat sich den Lebensgewohnheiten der Irdischen unterworfen.“

„Genau. Und das konnte von dem Augenblick an nicht ausbleiben, wo sie die Hilfe der Irdischen annahmen. Sie mußten sich der Solaren Wissenschaft anpassen, ihrer Wirtschaft, schließlich ihrer gesamten Kultur und Zivilisation. Denn das war die einzige Möglichkeit, die den Irdischen einleuchtete, nachdem sie das Kommando beim Wiederaufbau übernommen hatten. Und da die irdische Kultur ganz offensichtlich erfolgreich war, wurde sie von den Cundaloanern kritiklos übernommen. Jetzt ist es zu spät. Sie können nicht mehr Geschehenes ungeschehen machen. Ja, sie wollen gar nicht mehr umkehren, um einen anderen Weg einzuschlagen. Und es ist nicht das erste Mal, daß so etwas geschehen ist. Ich habe die Geschichte des Solaren Systems genau studiert. Ehe die menschliche Rasse sich der Raumfahrt zuwandte, gab es dort viele Kulturen, von denen sich manche radikal voneinander unterschieden. Doch schließlich setzte sich eine von ihnen, die sogenannte westliche Gesellschaft, so überwältigend kraft ihrer technologischen Überlegenheit durch, daß — nun, daß die anderen neben ihr nicht mehr existenzfähig waren. Wollten sie mithalten, mußten sie die westlichen Errungenschaften übernehmen. Und wenn der Westen ihnen bei der Überwindung ihrer Rückständigkeit half, half er ihnen natürlich nach seinen Erfolgsrezepten, weil er anderes gar nicht kannte. Mit den besten Absichten vernichtete der Westen alle anderen abweichenden Lebensarten und Kulturen.“

„Und du wolltest uns vor diesem Schicksal retten?“ fragte Thordin. „Ich kann deinen Gedanken durchaus folgen, frage mich aber, ob der sentimentale Wert ehrwürdiger Institutionen das Leben von Millionen Verhungerter und Erfrorener aufwog — den Preis der Entbehrungen und Opfer eines ganzen Jahrzehnts wert war!“

„Es war nicht nur ein sentimentaler Wert“, grollte Skorrogan. „Verstehst du denn immer noch nicht? Die Wissenschaft ist unsere Zukunft. Wenn wir noch bestehen wollten, mußten wir eine Rasse von wissenschaftlich bewußten und denkenden Wesen werden!

Doch bot sich da die Wissenschaft der Solaren als einzige Möglichkeit an? Mußten wir zweitrangige Menschen werden, um überleben zu können? Oder konnten wir neue Wege beschreiten, unbehindert von der überwältigenden Hilfsbereitschaft einer zwar hochentwickelten, uns aber im Grunde wesensfremden Zivilisation? Ich hoffte, wir könnten uns unsere eigene Wissenschaft erarbeiten. Ich meinte, es blieb uns gar keine andere Wahl!“

Er schüttelte die weiße Mähne. „Denn eines ist klar: keine nichtmenschliche Rasse wird jemals so erfolgreich sein wie die Menschen, wenn sie die Menschen kopieren muß. Die grundlegenden Wesenszüge sind zu verschieden. Eine Rasse kann zwar die Denkschablonen der anderen Rasse nachvollziehen, aber nicht erfolgreich anwenden. Du weißt, wie große Schwierigkeiten es macht, von der einen Sprache in die andere zu übersetzen. Und doch ist jeder Gedanke Sprache, und die Sprache spiegelt die Grundzüge des Denkens wider. Die präziseste, durchdachteste, rigoroseste Philosophie der einen Rasse wird der anderen Rasse nie so sehr einleuchten wie der eigenen. Denn keine Rasse hat die gleichen Abstraktionen von der universalen Welt der Wirklichkeit abgeleitet oder entworfen — nicht ganz die gleichen. Ich wollte also verhindern, daß wir von den Solariern geistig abhängig werden. Skang war rückständig. Es mußte sich ändern. Aber weshalb sollte es sich dabei selbst entfremden? Warum sollte man es nicht gewaltsam auf dem eigenen Weg der Evolution vorantreiben — auf unserem Weg?“

Er zuckte mit den mächtigen Schultern. „Ich habe Skang auf diesen Weg gezwungen. Es war ein gewaltiges Lotteriespiel, aber es hatte Erfolg. Wir retteten unsere Kultur. Es ist unsere Kultur. Von den Umständen gezwungen, selbst Wissenschaften zu gründen, entwickelten wir unsere eigenen Wege und Möglichkeiten. Du kennst die Ergebnisse. Dyrins Bedeutungslehre wurde entwickelt — die Solarier hätten sich darüber totgelacht. Wir entwickelten das Vierflächen-Raumschiff, das die menschlichen Ingenieure als unmöglich abgetan hatten. Und jetzt können wir damit die Milchstraße durcheilen, während altmodische Raumfahrzeuge zwischen der Solaren Welt und dem Alpha Centauri hin und her hinken. Wir verfeinerten die Raumkrümmung, die Psychosymbologie unserer eigenen Rasse, die jeder anderen Rasse verschlossen bleibt. Wir schufen das neue agronomische System, das unsere Freibauern rettete — das Rückgrat unserer Kultur. Alles haben wir bewahrt! In fünfzig Jahren ist Cundaloa von außen revolutioniert worden, während wir uns aus eigener Kraft diesem Prozeß unterzogen. Und deshalb konnten wir auch bewahren, was unser Wesen ist — die Kunst, das Kunsthandwerk, die Volksgebräuche, die Musik, die Sprache, die Literatur, die Religion. Das Goldene Zeitalter der Geschichte ist für uns wieder angebrochen. Und das alles nur, weil wir uns selbst treu geblieben sind.“ Er schwieg, und Thordin entgegnete darauf eine Weile nichts. Sie waren jetzt in eine ruhigere Straße gelangt. Hier stammten die meisten Gebäude noch aus der Zeit vor Beginn des irdischen Hilfsprogramms, und viele Kostüme aus alten einheimischen Kulturepochen waren noch auf der Straße zu sehen. Eine Gruppe Touristen von der Erde wurde gerade durch diesen Stadtteil geführt. Sie drängte sich jetzt um einen Stand mit Töpferwaren.

„Nun?“ fragte Skorrogan nach einer Weile. „Ich weiß nicht“, murmelte Thordin und rieb sich die Augen, eine Geste der Verlegenheit und Verwirrung. „Das ist alles noch zu neu und frisch für mich. Vielleicht ist alles richtig, was du sagst, vielleicht auch nicht. Ich muß eine Weile darüber nachdenken.“

„Ich hatte fünfzig Jahre Zeit, darüber nachzudenken“, erwiderte Skorrogan. „Ich glaube, du hast ein Recht darauf, dir ein paar Minuten Bedenkzeit zu nehmen.“

Sie gingen zu dem Töpferstand. Ein alter Cundaloaner saß dahinter. Eine Menge Waren war um ihn herum aufgetürmt — buntbemalte Vasen, Schüsseln und Näpfe. Einheimische Arbeit. Eine Frau feilschte um den Preis.

„Sieh dir das an“, sagte Skorrogan zu Thordin. „Hast du die Arbeiten aus der alten Epoche gekannt? Das hier ist billiger Ramsch im Vergleich dazu — tausendstückweise hergestellt, um die Touristen mit Souvenirs zu versorgen. Die Formen der Massenware sind nicht mehr nachempfunden, die Handarbeit schlampig. Doch jeder Strich, jede Form, jede Krümmung auf diesen Mustern hatte einmal seine Bedeutung.“

Ihre Blicke fielen auf eine Vase, die neben dem Besitzer des Standes auf einem Kissen ruhte. Selbst der Valtam, der sich nie aus der Fassung bringen ließ, hielt jetzt den Atem an. Diese Vase leuchtete. Sie schien lebendig zu sein — besaß eine schimmernde Vollendung der Linien, Kurven und Muster. Ihr Schöpfer hatte seine ganze Liebe und Sehnsucht auf sie übertragen. Vielleicht hatte er dabei gedacht: Sie wird weiterleben, wenn ich vergangen bin.

Skorrogan pfiff leise vor sich hin. „Das ist eine echte alte Vase“, sagte er leise. „Mindestens einhundert Jahre alt — ein echtes Museumsstück! Wie kommt sie hierher unter diesen Touristenplunder?“

Die Gruppe der Menschen wich ein wenig vor den mächtigen Gestalten aus Skontar zurück. Mit grimmiger Genugtuung stellte Skorrogan fest: Sie haben Ehrfurcht vor uns. Die Solarier hassen die Skontaraner nicht mehr — sie bewundern uns. Sie senden ihre jungen Leute zu uns, damit sie unsere Wissenschaft sehen und unsere Sprache lernen. Doch wer kümmert sich noch um Cundaloa?


Die Frau aber war dem Blick Skorrogans gefolgt und erkannte ebenfalls das Leuchten der Vase. Sogleich wendete sie sich an den Standbesitzer.

„Wieviel?“

„Verkaufe nicht“, murmelte der Cundaloaner. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern, und er drückte den schäbigen Mantel noch fester um seinen schlanken Leib.

„Du verkaufen!“ Sie sah ihn mit breitem, künstlichem Lächeln an. „Ich dir geben viel Geld dafür. Zehn Kredite.“

„Verkaufe nicht.“

„Ich gebe dir hundert Kredite. Verkaufen!“

„Das meine Vase. Familie sie haben noch aus alten Tagen. Verkaufe nicht.“

„Fünfhundert Kredite!“ Sie wedelte ihm mit den Geldscheinen vor der Nase herum. Er raffte die Vase an sich, drückte sie gegen seine Brust. Seine dunklen Augen bekamen einen feuchten Glanz. „Nicht verkaufen. Geh weg.“

„Komm“, sagte Thordin. Er packte Skorrogan am Arm und zog ihn vom Stand weg. „Komm — wir gehen. Wir reisen zurück nach Skontar.“

„So rasch?“

„Ja. Du hattest recht, Skorrogan. Du hattest recht, und ich werde den großen Rat einberufen, um dich vor aller Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Du bist der Retter unserer Geschichte. Nur laß uns jetzt gehen — sofort!“ Sie eilten aus der Gasse. Thordin versuchte, die Erinnerung an die Augen des alten Cundaloaners zu verdrängen. Vergeblich. Er würde sie nie wieder vergessen…

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