George Platen konnte nicht verhindern, daß eine unbestimmte Sehnsucht in seiner Stimme mitschwang, als er sagte: "Morgen ist der erste Mai. Die Olympischen Spiele!"
Er richtete sich halb auf und starrte über das Fußende seines Bettes zu dem jungen Mann hinüber, mit dem er sein Zimmer teilte. Empfand er nicht auch etwas Ähnliches?
George war hager. Er hatte während der fast zwei Jahre in der Anstalt an Gewicht verloren. Aber seine blauen Augen wirkten noch so wach und intelligent wie früher, selbst wenn sie ins Leere blickten.
Georges Zimmergenosse sah kurz von seinem Buch auf. Er hieß Hali Omani und war gebürtiger Nigerianer. Seine dunkelbraune Haut und sein massiver Körper strahlten eine Ruhe aus, die sich durch die bloße Erwähnung der Olympischen Spiele nicht beeinflussen ließ.
Er sagte: "Ich weiß, George."
George wußte, daß Hali ihm durch seine unbeirrbare Geduld und Freundlichkeit viel geholfen hatte - aber jetzt fand er sie übertrieben. Mußte der andere immer wie eine Ebenholzstatue wirken, die durch nichts aus ihrer Ruhe zu bringen war?
George überlegte, ob er selbst nach zehn Jahren in der Anstalt ebenso reagieren würde, und wies den Gedanken daran weit von sich. Nein!
Er sagte herausfordernd: "Ich glaube, du hast schon vergessen, was der erste Mai bedeutet."
Der andere antwortete: "Ich erinnere mich sehr gut daran. Er bedeutet gar nichts! Du hast das vergessen. Der erste Mai bedeutet nichts für dich, George Platen, und", fügte er mit leiser Stimme hinzu, "nichts für mich, Hali Omani."
George sagte: "Die Raumschiffe kommen, um die Rekruten abzuholen. Im Juni fliegen dann Tausende von Schiffen mit Millionen von Männern und Frauen an Bord zu unzähligen Welten - und das soll alles nichts bedeuten?"
"Weniger als nichts. Was habe ich eigentlich damit zu schaffen?" Omani runzelte die Stirn, als er eine schwierige Stelle in seinem Buch erreichte, und las halblaut weiter.
George beobachtete ihn. Der Teufel soll dich holen, dachte er, du könntest doch wenigstens irgend etwas sagen. Oder mir einen Tritt geben; selbst das wäre schon besser.
Er wollte nur nicht in seinem Zorn allein sein. Er wollte nicht der einzige sein, der an dem Leben hier verzweifelte; nicht der einzige, der einen langsamen Tod zu sterben glaubte.
Es war besser gewesen, als das Universum noch aus ungewissen Geräuschen und Lichtempfindungen bestanden hatte. Es war besser gewesen, bevor Omani aufgetaucht war und ihn in ein Leben zurückgezerrt hatte, das nicht lebenswert war.
Omani! Er war alt! Er war mindestens dreißig. George dachte: Werde ich mit dreißig ebenso sein? Werde ich in zwölf Jahren nicht anders sein?
Und weil er Angst hatte, daß er nicht anders sein würde, schrie er Omani an: "Warum hörst du nicht endlich auf, dein verrücktes Buch zu lesen?"
Omani blätterte um, las noch ein paar Zeilen und hob erst dann den Kopf. "Was hast du gesagt?"
"Was hast du davon, wenn du das Buch liest?" George sprang auf, schnaubte "schon wieder Elektronik", und schlug Omani das Buch aus der Hand.
Der Nigerianer schob seinen Stuhl zurück und hob das Buch auf. Er glättete eine zerknitterte Seite, ohne dabei zu zeigen, ob er sich ärgerte. "Man könnte es als Befriedigung meiner Neugier bezeichnen", erklärte er George. "Heute verstehe ich ein bißchen davon; morgen vielleicht etwas mehr. Das ist auch eine Art Sieg."
"Ein Sieg. Was für ein Sieg? Bist du damit schon zufrieden? Wenn du mit fünfundsechzig ungefähr ein Viertel von dem beherrschst, was ein Registrierter Elektroniker wissen muß?"
"Vielleicht schon mit fünfunddreißig."
"Und wer braucht dich dann? Wo willst du arbeiten? Wohin willst du gehen?"
"Niemand. Nirgendwo. Nirgendwohin. Ich bleibe hier und lese andere Bücher."
"Und damit bist du zufrieden? Das kannst du mir nicht erzählen! Du hast mich in den Unterricht mitgezerrt. Du hast mir Bücher besorgt, aus denen ich lernen kann. Wozu? Damit bin ich bestimmt nie zufrieden."
"Was hast du davon, wenn du dir dieses Gefühl der Zufriedenheit versagst?"
"Eines Tages werde ich es ihnen zeigen. Ich werde genau das tun, was ich vorhatte, bevor du mich dazu überredet hast, meinen Plan aufzugeben. Ich werde sie zwingen, mir... mir..."
Omani ließ sein Buch sinken und wartete, bis der andere sich verausgabt hatte. Dann sagte er: "Wozu willst du sie zwingen, George?"
"Daß sie diesen Justizirrtum aufklären. Daß dieses Komplott zerschlagen wird. Ich werde diesen Antonelli erwischen und ihn dazu bringen, daß er... er..."
Omani schüttelte den Kopf. "Alle Neuzugänge behaupten, daß ihre Einlieferung auf einem Irrtum beruhen muß. Ich dachte, du hättest dieses Stadium bereits hinter dir."
"Es ist kein Stadium", antwortete George wütend. "In meinem Fall ist es eine Tatsache. Ich habe dir doch erzählt, daß..."
"Du hast mir davon erzählt, aber im Grunde genommen weißt du recht gut, daß in deinem Fall kein Irrtum vorliegt."
"Weil keiner es zugeben will? Glaubst du, daß sie einen Irrtum zugeben würden, wenn man sie nicht dazu zwingt?" George atmete schwer. "Aber ich werde sie dazu zwingen!"
George wußte genau, daß nur die Olympischen Spiele an seiner Erregung schuld waren. Er spürte, daß er seine Beherrschung verlor, unternahm aber nichts dagegen. Er wollte nichts vergessen und vergeben.
Er sagte: "Ich wollte Programmierer werden, und ich weiß, daß ich das Zeug dazu habe. Ich könnte heute einer sein, obwohl die Analyse angeblich ein anderes Ergebnis gebracht hat. Sie haben sich geirrt; sie müssen sich geirrt haben."
"Die Analytiker irren sich nie."
"Sie müssen sich geirrt haben. Bezweifelst du etwa, daß ich intelligent bin?"
"Intelligenz hat gar nichts damit zu tun. Hast du das nicht schon oft genug gehört? Wann begreifst du das endlich?"
George ließ sich wieder auf sein Bett sinken und starrte zur Decke hinauf.
"Was wolltest du ursprünglich werden, Hali?"
"Ich hatte keine bestimmten Pläne. Biochemiker wäre nicht schlecht gewesen, schätze ich."
"Hast du geglaubt, daß du es schaffen würdest?"
"Ich wußte es nicht sicher."
"Hast du jemals daran gedacht, daß du hier landen würdest?"
"Nein, aber ich bin trotzdem hier."
"Und du bist zufrieden. Wirklich völlig zufrieden. Du bist gern hier. So gern, daß du gar nicht mehr fort möchtest."
Omani sah ihn nachdenklich an. "George, du bist ein schwieriger Fall. Du machst dich selbst fertig, weil du den Tatsachen nicht ins Auge sehen willst. George, du bist hier in einer Anstalt, deren vollen Namen ich noch nie aus deinem Mund gehört habe. Warum sprichst du ihn nie aus? Komm, dann hast du es hinter dir und schläfst ruhiger."
George knirschte mit den Zähnen. "Nein!" stieß er heftig hervor.
"Dann werde ich es für dich tun", sagte Omani und machte seine Drohung wahr. Er betonte jede einzelne Silbe besonders deutlich.
George hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und wandte entsetzt den Kopf ab.
George Platen hatte den größten Teil seines achtzehnjährigen Lebens damit verbracht, sich innerlich auf den erstrebten Beruf eines Programmierers vorzubereiten. Seine Freunde sprachen oft von Raumnavigation, Kältetechnik, Transportkontrolle oder sogar vom höheren Verwaltungsdienst. Aber George blieb fest.
Trotzdem beteiligte er sich immer wieder an ihren Diskussionen. Warum auch nicht? Schließlich lag der Erziehungstag vor ihnen, der ihre Existenz maßgeblich beeinflussen würde. Er kam stetig näher, als sei er ein fester Bestandteil des Kalenders - der erste November des Jahres, in dem die jungen Leute achtzehn geworden waren.
Später gab es andere Themen, über die man sich unterhielt: die Vorteile eines bestimmten Berufs, die Annehmlichkeiten des Familienlebens, den Tabellenplatz eines bestimmten Raumpoloteams, oder die Erfahrungen aus den Olympischen Spielen. Vor dem Erziehungstag gab es allerdings nur ein Thema, das allgemein Interesse erweckte - der Erziehungstag selbst.
"Was hast du vor? Glaubst du, daß du es schaffen wirst? Ach was, das taugt doch nichts. Sieh dir nur das Verzeichnis an; die Quote ist gekürzt worden. Aber Logistik...
Oder Hypermechanik... oder Fernmeldewesen... oder Astrophysik... oder Schwerkraftphysik..."
Im Augenblick besonders Schwerkraftphysik. In den letzten Jahren vor Georges Erziehungstag gehörte die Schwerkraftphysik zu den beliebtesten Unterhaltungsthemen, weil damals der Schwerkraftantrieb entwickelt worden war.
Jeder Planet in einer Entfernung von weniger als zehn Lichtjahren zum nächsten Zwergstern würde alles tun, um einen Registrierten Schwerkraftingenieur zu bekommen, behauptete jeder, wenn dieses Thema diskutiert wurde.
George beschäftigte sich nie sehr lange mit diesem Gedanken. Sicher, die anderen hatten vielleicht nicht unrecht, aber George hatte schon zu oft gehört, was passierte, wenn neue Verfahren weiterentwickelt wurden. Dann kamen jedes Jahr neue Modelle heraus, die neuen Erkenntnissen entsprachen - und die zuerst so gesuchten Fachleute mußten feststellen, daß sie nicht mehr auf der Höhe der Technik waren. Sie konnten sich entweder als Hilfsarbeiter durchschlagen oder auf einen unterentwickelten Planeten auswandern, wo sie jämmerlich genug bezahlt wurden.
Aber Programmierer wurden immer gesucht. Die Nachfrage erreichte keine astronomischen Ziffern; Programmierer gingen nie wie warme Semmeln weg; aber alle fanden einen sicheren Arbeitsplatz, weil ständig neue Welten erschlossen wurden.
George hatte dieses Thema schon oft mit Stubby Trevelyan diskutiert. Sie waren gute Freunde, deshalb machte keiner von ihnen ernsthafte Anstrengungen, den anderen zu seiner Ansicht zu bekehren.
Aber Trevelyans Vater war ein Registrierter Metallurg, der tatsächlich einige Jahre auf einem anderen Planeten zugebracht hatte, und sein Großvater war ebenfalls ein Registrierter Metallurg gewesen. Deshalb war Trevelyan davon überzeugt, daß kein anderer Beruf für ihn in Frage komme, und betrachtete jeden anderen als suspekt.
"Metall wird es immer geben", sagte er, "und die Arbeit damit ist wenigstens eine aufregende Sache. Aber was tut ein Programmierer? Er füttert eine riesige Maschine mit Lochstreifen - und das von morgens bis abends."
Selbst mit sechzehn Jahren war George bereits praktisch veranlagt. Er sagte nur: "Gleichzeitig mit dir wird bestimmt eine Million Metallurgen fertig."
"Weil sie vernünftig sind. Metallurgie ist ein guter Beruf."
"Aber mit wenig Aussichten, Stubby. Wenn du Pech hast, landest du irgendwo ganz hinten. Auf jedem Planeten gibt es bereits Metallurgen, und die Nachfrage nach den auf der Erde ausgebildeten ist nicht übermäßig groß. Meistens haben nur die kleineren Welten Stellen frei."
Trevelyan warf ihm einen wütenden Blick zu. "Ich sehe es nicht als Schande an, auf der Erde zu bleiben. Die Erde braucht auch Techniker. Und nicht unbedingt die schlechtesten Leute." Sein Großvater hatte auf der Erde gearbeitet.
George wußte selbstverständlich davon und dachte dabei an seine eigenen Vorfahren, die alle hiergeblieben waren. Deshalb sagte er diplomatisch: "Natürlich ist das kein Qualitätsmerkmal. Selbstverständlich nicht. Aber es wäre doch hübsch, wenn man auf einem Planeten von Typ A leben könnte, nicht wahr?"
"Kann schon sein", antwortete Trevelyan mürrisch.
"Sprechen wir lieber von Programmierern", lenkte George ab. "Die Aussichten sind erstklassig, weil sämtliche Planeten vom Typ A mehr Programmierer benötigen, als sie selbst ausbilden können. Das läßt sich statistisch nachweisen. Pro Million Bewohner kann man einen wirklich guten Programmierer rechnen. Wenn eine Welt zehn Millionen Bewohner hat und zwanzig Programmierer braucht, muß sie zwischen fünf und fünfzehn von der Erde importieren. Habe ich recht?
Weißt du, wie viele Registrierte Programmierer letztes Jahr von Planeten vom Typ A angestellt worden sind? Ich werde es dir sagen - jeder einzelne! Wenn man Programmierer ist, hat man es praktisch schon geschafft."
Trevelyan runzelte die Stirn. "Wie kommst du auf die Idee, daß ausgerechnet du es schaffen wirst, nachdem Programmierer so selten sind? Warum sollst du gerade der eine aus einer Million sein?"
"Ich werde es schon schaffen", meinte George vorsichtig.
Er war so zuversichtlich wie es die achtjährigen Kinder waren, wenn der Lesetag näher rückte - dieses kindliche Vorspiel des Erziehungstages.
Selbstverständlich war der Lesetag anders verlaufen. Zum Teil war daran das Alter der Beteiligten schuld, denn ein Achtjähriger macht sich noch keine wirklichen Sorgen. Gestern konnte er noch nicht lesen; heute kann er es eben. Das ist der Lauf der Welt.
Außerdem hing eigentlich nichts davon ab. Zum Lesetag kamen noch keine Abordnungen von anderen Planeten, um junge Leute anzuwerben. Ein Junge, der eben seinen Lesetag hinter sich gebracht hatte, wußte ebensogut wie jeder andere, daß seine Ausbildung erst in weiteren zehn Jahren ihr Ende finden würde. Vorläufig war er nur ein Dreikäsehoch mit einer neuen Fertigkeit.
Als zehn Jahre später der Erziehungstag herankam, erinnerte George sich nur noch undeutlich an seinen Lesetag.
Am deutlichsten erinnerte er sich daran, daß es an jenem Septembertag geregnet hatte. (Lesetag im September, Erziehungstag im November, die Olympischen Spiele im Mai.) Georges Vater war wesentlich aufgeregter gewesen als sein Sohn. Er war ein Registrierter Installateur und übte seinen Beruf auf der Erde aus. Diese Tatsache hatte er stets als beschämend empfunden, obwohl jeder wußte, daß schließlich nicht alle zu anderen Planeten auswandern konnten.
Auch auf der Erde mußte es Farmer, Handwerker und sogar Techniker geben. Nur erstklassige Spezialisten wurden von anderen Planeten gesucht, so daß die acht Milliarden zählende Erdbevölkerung sich jedes Jahr nur um einige Millionen verringerte. Nicht alle Menschen konnten zu den Glücklichen zählen, denen anderswo eine Chance geboten wurde.
Aber jeder konnte hoffen, daß seine eigenen Kinder eines Tages dazu gehören würden, und Platen Senior machte keine Ausnahme. Für ihn war es ganz offensichtlich, daß George außergewöhnlich intelligent und aufgeweckt war. Er würde seinen Weg machen und mußte es auch, nachdem er das einzige Kind war.
George spürte die erwartungsvolle Spannung im Benehmen seines Vaters, und wenn er an diesem Morgen überhaupt Angst empfand, dann nur deswegen, weil er fürchtete, daß der hoffnungsvolle Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters verschwinden würde, wenn er zurückkam und ihm zum erstenmal vorlas.
Die Kinder versammelten sich in der riesigen Erziehungshalle der Stadt. An diesem Morgen fanden ähnliche Zusammenkünfte in jeder Stadt der Erde statt. George paßte sich sofort dem Benehmen der anderen an und gesellte sich zu der Gruppe von Kindern aus dem Block, in dem seine Eltern wohnten.
Trevelyan, der in einem benachbarten Appartement wohnte, wandte sich sofort an George. "Wetten, daß du Angst hast", sagte er.
"Nein, ich habe keine", gab George zurück. "Meine Eltern haben ein ganz dickes Buch, und wenn ich nach Hause komme, lese ich ihnen etwas daraus vor." (Georges größtes Problem bestand im Augenblick daraus, daß er nicht recht wußte, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Er war ermahnt worden, sich weder am Kopf zu kratzen noch in der Nase zu bohren noch die Hände in die Hosentaschen zu versenken. Damit waren die Möglichkeiten eigentlich fast erschöpft.)
Trevelyan steckte seine Hände in die Hosentaschen und sagte: "Mein Vater macht sich keine Sorgen."
Trevelyan senior hatte sieben Jahre lang auf Diporia als Metallurg gearbeitet und verdankte dieser Tatsache sein gesellschaftliches Ansehen, obwohl er nach seiner Pensionierung auf die Erde zurückgekehrt war.
Offiziell wurden diese Rückkehrer aus bevölkerungspolitischen Gründen nicht gern gesehen, aber trotzdem kamen jedes Jahr einige zurück. Die Lebenshaltungskosten waren auf der Erde wesentlich niedriger, so daß ein bescheidenes Einkommen auf Diporia hier ein verhältnismäßig luxuriöses Leben gestattete.
"Mein Vater macht sich auch keine Sorgen. Er will mich nur lesen hören, weil er weiß, daß ich es bestimmt gut kann. Ich schätze, daß dein Vater dich lieber nicht vorlesen läßt, weil er weiß, daß du alles falsch liest."
"Ich lese nichts falsch. Lesen ist gar nichts. Auf Novia werde ich Leute anstellen, die mir vorlesen."
"Weil du nicht selbst lesen kannst. Du bist viel zu dumm dazu!"
"Wie kommt es dann, daß ich nach Novia auswandern werde?"
George war so wütend, daß er zum erstenmal widersprach. "Wer sagt denn, daß sie dich dort nehmen? Ich wette, daß du auf der Erde bleibst."
Stubby Trevelyan wurde rot. "Aber jedenfalls nicht als Installateur wie dein Alter."
"Nimm das sofort zurück, du Trottel!"
"Nimm du das zurück!"
Sie standen sich mit geballten Fäusten gegenüber. Aber noch bevor die Rauferei beginnen konnte, erklang eine Frauenstimme aus den Lautsprechern. George ließ die Hände sinken und vergaß Trevelyan.
"Kinder", sagte die Stimme, "wir werden jetzt eure Namen aufrufen. Jedes Kind, das seinen Namen hört, geht zu einem der Männer hinüber, die an den Seitenwänden stehen. Seht ihr sie? Sie tragen rote Uniformen. Mädchen gehen nach links, Jungens nach rechts. Seht euch um und merkt euch den Mann, der euch am nächsten steht..."
George fand sofort einen und wartete darauf, daß sein Name aufgerufen wurde. Er wußte noch nicht, wie weit unten sein Name im Alphabet stand, deshalb warf er einen besorgten Blick zu dem Lautsprecher hinauf, der immer wieder andere verkündete.
Als der Name "George Platen" endlich aufgerufen wurde, stieß er einen erleichterten Seufzer aus und freute sich gleichzeitig, daß Stubby Trevelyan noch immer an seinem Platz stand.
"He, Stubby, vielleicht wollen sie dich gar nicht", rief er ihm zu, während er selbst auf den Mann in der roten Uniform zuging.
Seine Fröhlichkeit machte jedoch bald einer gewissen Niedergeschlagenheit Platz, als er nach der gründlichen ärztlichen Untersuchung allein in einem Wartezimmer saß. Er betrachtete die Karteikarte, die er in dem nächsten Raum abgeben sollte. Kleine schwarze Kringel in verschiedenen Formen. Er wußte, daß das Buchstaben waren, aber wie wurden daraus Wörter? Er schüttelte verwirrt den Kopf.
Endlich erklang sein Name aus dem Deckenlautsprecher. George betrat den großen Raum, der voller eigenartiger Maschinen stand. In der Mitte des Raumes saß ein Mann hinter einem Schreibtisch und sortierte Papiere.
Er fragte: "George Platen?"
"Jawohl, Sir", sagte George mit zitternder Stimme.
"Ich bin Doktor Lloyed, George", sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. "Wie geht es dir?"
Der Arzt sah nicht auf, während er mit George sprach.
"Danke, gut."
"Hast du Angst, George?"
"N-nein, Sir", antwortete George nicht sehr überzeugend.
"Das ist gut", meinte der Arzt, "weil du wirklich keine zu haben brauchst. Schön, George, hier auf deiner Karte steht, daß dein Vater mit Vornamen Peter heißt und ein Registrierter Installateur ist. Deine Mutter heißt Amy und ist eine Registrierte Heimtechnikerin. Stimmt das?"
"J-ja, Sir."
"Du bist am dreizehnten Februar acht geworden und hast vor etwa einem Jahr die Masern gehabt. Richtig?"
"Richtig, Sir."
"Weißt du, woher ich das alles weiß?"
"Es steht auf der Karte, glaube ich, Sir."
"Genau." Der Arzt sah zum erstenmal auf und lächelte George an. Er war viel jünger, als George vermutet hatte. George fühlte, daß seine Nervosität allmählich schwand.
Der Arzt gab ihm die Karte in die Hand. "Weißt du, was das alles heißt, George?"
George warf einen kurzen Blick darauf und überzeugte sich, daß er die Zeichen nicht besser verstand als zuvor im Wartezimmer. Er gab die Karte zurück und antwortete wahrheitsgemäß: "Nein, Sir."
"Und weshalb nicht?"
George zweifelte einen Augenblick lang an der geistigen Verfassung des Arztes. Kannte er den Grund dafür wirklich nicht?
"Ich kann nicht lesen, Sir", antwortete er dann.
"Möchtest du es lernen?"
"Jawohl, Sir."
"Warum, George?"
George starrte ihn sprachlos an. Diese Frage war bisher noch nie aufgetaucht. Er wußte keine Antwort darauf. "Ich weiß nicht, Sir", sagte er schließlich nach einer längeren Pause.
"Gedruckte Informationen werden dich dein ganzes Leben lang anleiten. Selbst nach dem Erziehungstag gibt es noch eine Menge zu lernen. Karten wie diese hier, Bücher und Lesebänder enthalten Informationen. Erst dadurch wird das Leben wirklich so interessant, wie du es dir jetzt vielleicht vorstellst. Hast du das verstanden?"
"Ja, Sir."
"Hast du Angst, George?"
"Nein, Sir."
"Ausgezeichnet. Hör gut zu. Ich lege dir jetzt diese Drähte an den Kopf. Sie bleiben von selbst dort, tun aber nicht weh. Dann stelle ich eine Maschine an, die ein bißchen summt. Vielleicht spürst du dann ein leichtes Kitzeln, aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn es weh tun sollte, brauchst du es mir nur zu sagen. Ich schalte die Maschine dann sofort wieder ab. Hast du das verstanden?"
George nickte und schluckte trocken.
"Können wir anfangen?"
George nickte nochmals. Er schloß die Augen, während der Arzt die Drähte anlegte.
Erst einige Minuten später öffnete er sie wieder. Der Arzt stand mit dem Rücken zu ihm. Aus einer der Maschinen kam ein schmaler Papierstreifen heraus, auf dem eine dunkelrote Wellenlinie erkennbar war. Der Arzt riß kleine Stücke davon ab und steckte sie in den Schlitz einer anderen Maschine. Jedesmal fiel ein Stück bedruckte Folie aus der anderen Maschine, das der Arzt genau betrachtete. Schließlich wandte er sich wieder zu George um und runzelte dabei die Stirn.
Das Summen der Maschine hörte auf.
"Ist es jetzt vorbei?" erkundigte George sich atemlos.
"Ja", antwortete der Arzt.
"Kann ich jetzt lesen?" fragte George. Er spürte keine Veränderung in sich.
Dr. Lloyed lächelte und hielt ihm die Karte entgegen. "Hier ist deine Karteikarte, George. Was steht darauf?"
George sah sie an und stieß einen erstickten Laut aus. Die Kringel waren nicht nur schwarze Zeichen. Sie bildeten Wörter. Sie waren so klar, als läse sie jemand leise vor.
"Was steht darauf, George?"
"Dort steht... dort steht... Platen, George. Geboren am dreizehnten Februar 6492. Eltern: Peter und Amy Platen, wohnhaft in..." Er las nicht weiter.
"Du kannst lesen, George", sagte der Arzt. "Jetzt ist alles vorbei."
"Für immer? Kann ich jetzt immer lesen?"
"Selbstverständlich." Der Arzt schüttelte ihm die Hand. "Du kannst jetzt nach Hause gehen."
George brauchte fast eine Woche, bis er diese herrliche neue Begabung voll erfaßte. Aber er las seinem Vater, Platen senior, so schwere Sätze vor, daß seine Eltern vor Begeisterung weinten und sämtliche Verwandten anriefen, um ihnen dieses freudige Ereignis mitzuteilen.
Mit achtzehn war George nur mittelgroß, aber hager genug, um größer zu wirken. Trevelyan, der kaum zwei Zentimeter kleiner war, hatte einen ungewöhnlich gedrungenen Körperbau, der den Spitznamen "Stubby" noch gerechtfertigter als zuvor erscheinen ließ. Aber in den letzten Jahren war er selbstbewußter geworden und bestand nun darauf, daß jedermann ihn einfach mit seinem Familiennamen anzureden hatte, weil ihm sein wirklicher Vorname ebenfalls mißfiel. Als weiteren Beweis seiner jungen Männlichkeit hatte er sich außerdem einen Schnurrbart stehenlassen, der vorläufig noch kümmerlich genug war.
Jetzt schwitzte er vor Aufregung, und George, der die Entwicklung der Ereignisse mit Gelassenheit betrachtete, machte sich innerlich über ihn lustig.
Sie standen in der gleichen Halle wie vor zehn Jahren, die sie in der Zwischenzeit nicht wieder betreten hatten.
Diesmal war die Halle nicht so gedrängt voll, denn heute waren nur junge Männer anwesend. Die achtzehnjährigen Mädchen versammelten sich an einem anderen Tag.
Trevelyan beugte sich zu George hinüber. "Allmählich habe ich die Warterei gründlich satt."
"Bürokratie", antwortete George. "Wahrscheinlich unvermeidlich."
"Warum spielst du dich eigentlich so verdammt gelassen auf?" wollte Trevelyan wissen.
"Ich mache mir eben keine Sorgen."
"Menschenskind, du ödest mich wirklich an. Hoffentlich wirst du ein Registrierter Miststreuer, damit ich sehe, was du dann für ein Gesicht machst." Er sah sich neugierig um.
George ebenfalls. Diesmal wurde ein anderes System verwendet. Sämtliche Anweisungen wurden in Form von Drucksachen ausgeteilt. Die Namen Platen und Trevelyan kamen noch immer ziemlich spät an die Reihe, aber diesmal wußten sie Bescheid.
Junge Männer kamen aus den Erziehungsräumen, sahen sich unsicher um, runzelten die Stirn und gingen dann in das Analysenbüro, wo sie ihre Resultate erfahren würden.
Jeder von ihnen war sofort von einigen Neugierigen umgeben.
"Wie war es?"
"Wie fühlst du dich?"
"Glaubst du, daß du es geschafft hast?"
Die Antworten waren in jedem Fall ausweichend.
George stellte absichtlich keine Fragen. Damit erhöhte man nur seinen Blutdruck. Jeder wußte, daß man die besten Ergebnisse erzielte, wenn man möglichst ruhig blieb.
"Was soll der Unsinn überhaupt?" murmelte Trevelyan aufgebracht. "Zuerst heißt es immer, daß man sich nicht aufregen soll. Aber dann lassen sie einen warten, bis man ganz bestimmt aufgeregt ist."
"Vielleicht ist das der Zweck der Übung. Wahrscheinlich treffen sie hier bereits eine Vorauswahl. Ruhig Blut, Trevelyan."
"Halt den Mund."
George war an der Reihe. Diesmal wurde sein Name nicht aufgerufen, sondern erschien in Leuchtbuchstaben auf einer Anzeigetafel.
Er winkte Trevelyan noch einmal zu. "Immer mit der Ruhe, es wird schon schiefgehen."
Er war glücklich, als er den Testraum betrat. Richtig glücklich.
Der Mann hinter dem Schreibtisch fragte: "George Platen?"
Einen Augenblick lang fühlte George sich an den anderen Mann vor zehn Jahren erinnert, der die gleiche Frage gestellt hatte. Aber dann sah der Mann auf, und sein Gesicht paßte ganz und gar nicht zu Georges Erinnerungen. Die Nase war knollig, das Haar dünn und strähnig, während das schwabbelige Doppelkinn verriet, daß sein Besitzer eine Abmagerungskur hinter sich hatte.
Der Mann hinter dem Schreibtisch machte eine ungeduldige Handbewegung. "Nun?"
George faßte sich wieder. "Ich bin George Platen, Sir."
"Dann sagen Sie es gefälligst auch. Mein Name ist Doktor Zachary Antonelli. Wir werden uns in der nächsten Viertelstunde noch näher kennenlernen."
Er betrachtete einen Filmstreifen, den er gegen das Licht hielt.
George fuhr innerlich zusammen. Er erinnerte sich an den anderen Arzt, der ebenfalls einen Film angestarrt hatte. Konnte es sich um den gleichen handeln? Der andere Arzt hatte nur die Stirn gerunzelt, aber dieser hier sah wirklich zornig aus.
George fühlte sich bereits wesentlich weniger glücklich als zuvor.
Dr. Antonelli öffnete einen dicken Ordner und legte den Filmstreifen sorgfältig beiseite. "Hier steht, daß Sie Programmierer werden möchten."
"Richtig, Doktor."
"Immer noch?"
"Jawohl, Sir."
"Das ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf. Fühlen Sie sich ihm gewachsen?"
"Jawohl, Sir."
"Die meisten jungen Männer in Ihrem Alter geben keinen bestimmten Beruf an. Ich glaube, daß sie sich vor einer ablehnenden Antwort fürchten."
"Ich bin der gleichen Meinung, Sir."
"Haben Sie keine Angst davor?"
"Nein, wenn ich ganz ehrlich sein soll, Sir."
Dr. Antonelli nickte, aber sein düsterer Gesichtsausdruck hellte sich nicht merklich auf. "Warum wollen Sie Programmierer werden?"
"Es ist ein verantwortungsvoller Beruf, wie Sie bereits sagten, Sir. Es ist ein wichtiger Beruf, der zugleich abwechslungsreich ist. Er gefällt mir, und ich glaube, daß ich ihm gewachsen bin."
Dr. Antonelli klappte den Ordner zu und sah George finster an. "Woher wissen Sie, daß der Beruf Ihnen gefällt? Weil Sie glauben, daß Sie auf einen Planeten vom Typ A auswandern können?"
George dachte unbehaglich: Er versucht dich aus der Ruhe zu bringen. Am besten läßt du dich nicht beirren und antwortest ganz offen.
Deshalb sagte er: "Ich glaube, daß Programmierer eine gute Chance haben, Sir, aber mir würde der Beruf auch gefallen, wenn ich auf der Erde bleiben müßte." (Das stimmte tatsächlich. Ich habe nicht gelogen, dachte George.)
"Schön, woher wissen Sie es dann?"
Antonelli stellte die Frage, als wisse er, daß niemand sie zufriedenstellend beantworten konnte. Aber George hätte fast gelächelt, denn er wußte eine Antwort darauf.
"Ich habe einiges über die Programmierung von Datenverarbeitungsmaschinen gelesen, Sir", sagte er einfach.
"Was haben Sie?" Der Arzt starrte ihn erstaunt an, und George freute sich innerlich darüber.
"Ich habe darüber nachgelesen, Sir. Ich habe mir ein Buch besorgt und es gründlich gelesen."
"Ein Buch für Registrierte Programmierer?"
"Jawohl, Sir."
"Aber davon haben Sie doch kein Wort verstanden."
"Zuerst nicht. Ich mußte mir erst andere Bücher über Mathematik und Elektronik kaufen. Dann begriff ich allmählich etwas davon - jedenfalls genug, um zu sehen, daß mir der Beruf gefällt." (Selbst Georges Eltern hatten diese Bücher nie zu Gesicht bekommen und wußten nicht, was der Junge so spätabends noch las.)
"Und was wollten Sie damit erreichen, mein Junge?" erkundigte der Arzt sich nachdenklich.
"Ich wollte sichergehen, daß der Beruf mich wirklich interessiert, Sir."
"Aber Sie wissen doch, daß bloßes Interesse nichts bedeutet. Wenn Ihre Gehirnstruktur Sie für einen anderen Beruf geeigneter macht, werden Sie einem anderen zugeteilt. Ist Ihnen das klar?"
"Das habe ich bereits gehört", antwortete George vorsichtig.
"Sie dürfen es ruhig glauben. Es ist wahr."
George schwieg.
Dr. Antonelli schüttelte den Kopf. "Sie glauben doch nicht etwa, daß sie den Aufbau Ihres Gehirns verändern können - wie nach dem alten Aberglauben, daß Mütter nur viel Musik zu hören brauchen, um aus ihren noch ungeborenen Kindern Komponisten zu machen. Haben Sie das im Sinn gehabt?"
George wurde rot, weil er daran gedacht hatte. Er war überzeugt gewesen, daß seine einseitige Beschäftigung mit diesen Dingen ihm einen Vorsprung verschaffen würde. Deswegen war er auch so zuversichtlich gewesen...
"Ich habe nie...", begann er und konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
"Das ist aber nicht richtig. Großer Gott, junger Mann, Sie können doch Ihr Gehirn nicht verändern! Jedenfalls nicht auf diese Weise." Er starrte George nachdenklich an. "Wer hat Ihnen das geraten?" wollte er dann wissen.
"Niemand, Sir. Ich wollte nichts Unrechtes tun."
"Von Unrecht war nicht die Rede. Ich würde das Ganze eher unsinnig nennen. Warum haben Sie niemand davon erzählt?"
"Ich... ich dachte, die anderen würden mich auslachen." (George erinnerte sich noch deutlich genug an eine Unterhaltung mit Trevelyan, in der er vorsichtig dieses Thema erwähnt hatte. Trevelyan hatte nur gelacht. "George, wenn du so weitermachst, gerbst du dir schließlich noch deine Schuhe selbst und trägst nur noch selbstgewebte Hemden." Seit damals war George froh gewesen, daß er sein Geheimnis für sich behalten hatte.)
Dr. Antonelli sortierte einige Papiere. Dann sah er wieder auf und sagte: "So kommen wir nicht weiter. Fangen wir lieber mit der Analyse an."
George legte sich die Elektroden selbst an. Dann summte eine Maschine - wie damals vor zehn Jahren.
George hatte eiskalte Hände; sein Herz schlug vor Aufregung schneller. Er hätte dem Arzt nichts von seiner Freizeitbeschäftigung erzählen dürfen.
Das war nur meine verdammte Eitelkeit, dachte er. Er hatte zeigen wollen, wie unternehmungslustig und energisch er war. Aber statt dessen hatte er nur bewiesen, daß er abergläubisch und dumm war, wobei er gleichzeitig den Arzt gegen sich aufgebracht hatte.
Und jetzt war er so nervös, daß die Analyse ein völlig falsches Bild ergeben mußte. Wenige Minuten später war alles vorbei, als die Maschine zu summen aufhörte. George sah zu Dr. Antonelli auf.
"Unmöglich, schätze ich?" meinte George.
"Was unmöglich?"
"Ich als Programmierer?"
Dr. Antonelli rieb sich die Nase, bevor er antwortete. "Nehmen Sie Ihre Sachen und gehen Sie in Zimmer 15c. Dort liegt dann bereits Ihr Ordner. Mein Befund ebenfalls."
George war völlig überrascht. "Bin ich schon fertig? Ich dachte, das hier sei nur eine Vorbereitung auf..."
Dr. Antonelli sah auf den Schreibtisch hinunter. "Für weitere Erklärungen bin ich nicht zuständig. Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe."
George fühlte eine unbestimmte Angst in sich aufsteigen. Warum drückte der Arzt sich so undeutlich aus? Bestimmt taugte er nur zu einem Registrierten Arbeiter. Sie wollten ihn darauf vorbereiten; wollten es ihm allmählich beibringen.
Er wußte plötzlich, daß er mit seiner Vermutung recht hatte, und mußte sich mühsam beherrschen, um nicht vor Zorn in Tränen auszubrechen.
Ein Führer in roter Uniform begleitete ihn durch die langen Gänge, bis sie schließlich den Raum 15c erreicht hatten. George stieß einen erleichterten Seufzer aus, als er feststellte, daß außer ihm niemand mehr anwesend war. Das Klassifizierungsbüro für Arbeiter wäre doch bestimmt überfüllt gewesen...
Dann öffnete sich eine Tür hinter der hüfthohen Barriere. Ein weißhaariger Mann betrat den Raum und lächelte George aufmunternd zu.
Er sagte: "Guten Abend, George. Diesmal sind Sie anscheinend der einzige in Ihrem Sektor, wie ich sehe."
"Der einzige?" fragte George verständnislos.
"Selbstverständlich gibt es auf der Erde noch unzählige andere. Tausende. Sie sind nicht allein."
George war völlig verwirrt. "Das verstehe ich nicht, Sir", sagte er. "Wie bin ich klassifiziert worden? Was ist eigentlich mit mir los?"
"Immer mit der Ruhe, junger Freund. Alles ist in bester Ordnung. Schließlich kann das jedem passieren." Er streckte George die Hand entgegen. "Setzen Sie sich, mein Junge. Ich heiße Sam Ellenford."
George nickte ungeduldig. "Ich möchte endlich erfahren, was mit mir los ist, Sir."
"Natürlich, natürlich. Nun, Sie sind nicht als Programmierer geeignet, George. Aber das wissen Sie vermutlich bereits selbst."
"Ja, ich weiß", antwortete George langsam. "Wofür bin ich also geeignet?"
"Das ist nicht leicht zu erklären, George." Ellenford machte eine Pause, bevor er weitersprach. "Zu nichts."
"Was?"
"Zu nichts!"
"Aber was soll denn das heißen? Warum können Sie mir keinen Beruf zuweisen?"
"Uns bleibt keine andere Wahl, George. Ihre Gehirnstruktur ist dafür entscheidend."
George wurde leichenblaß. Seine Augen traten hervor. "Ist mein Verstand nicht ganz in Ordnung?"
"Irgendwie ist er anders. Vom Gesichtspunkt der Berufswahl aus könnte man vielleicht wirklich den Ausdruck ›nicht ganz in Ordnung‹ gebrauchen."
"Aber warum denn?"
Ellenford zuckte mit den Schultern. "Sie wissen doch, wie unser Erziehungsprogramm funktioniert, George. Fast jeder Mensch kann alles in sich aufnehmen, aber je nach seiner persönlichen Gehirnstruktur ist er für bestimmte Gebiete besser als für andere geeignet. Wir versuchen diese besonderen Fähigkeiten auszunützen, solange sie sich mit den Bedarfsmeldungen der einzelnen Berufe vereinbaren lassen."
George nickte. "Ja, das weiß ich."
"Aber gelegentlich geraten wir an einen jungen Mann, George, dessen Verstand für unsere Erziehungsmethode ungeeignet ist."
"Wollen Sie damit sagen, daß ich nicht erzogen werden kann?"
"Genau das."
"Aber das ist doch verrückt! Ich bin intelligent. Ich verstehe..." Er sah sich hilflos um, als suche er nach einem Weg, um zu beweisen, daß sein Gehirn funktionierte.
"Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch", sagte Ellenford ernst. "Sie sind intelligent. Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Sie sind sogar überdurchschnittlich begabt. Aber leider hat das keinen Einfluß auf die Tatsache, daß Sie unserer Erziehungsmethode nicht zugänglich sind. Vielleicht tröstet Sie der Gedanke, daß wir es hier mit äußerst intelligenten jungen Menschen zu tun haben."
"Soll das heißen, daß ich nicht einmal zu einem Registrierten Arbeiter tauge?" erkundigte George sich ungläubig. Selbst das wäre einem vorläufig noch sehr ungewissen Schicksal vorzuziehen gewesen. "Was muß denn ein einfacher Arbeiter schon können?"
"Unterschätzen Sie die Arbeiter nicht, junger Mann. Auch da gibt es große Unterschiede zwischen den zahllosen Sparten, die gewisse Kenntnisse voraussetzen. Außerdem gehört zu einem Arbeiter nicht nur ein entsprechendes Gehirn, sondern auch ein geeigneter Körper. Sie sind nicht der Typ, George, der für schwere Arbeiten geeignet ist."
George wußte selbst, daß er dazu zu leicht gebaut war. "Aber ich habe noch nie von jemand gehört, der gar keinen Beruf hatte", sagte er verstört.
"Es gibt nicht allzu viele", gab Ellenford zu. "Und wir beschützen sie."
"Beschützen?" George starrte Ellenford fragend an.
"Sie sind jetzt ein Mündel der Erde, George. Seitdem Sie diesen Raum betreten haben, sind wir für Sie verantwortlich."
Das Lächeln Ellenfords war freundlich. Für George wirkte es wie ein besitzergreifendes Lächeln; wie das Lächeln eines Erwachsenen einem hilflosen Kind gegenüber.
"Soll das heißen, daß ich eingesperrt werde?" erkundigte er sich mit tonloser Stimme.
"Selbstverständlich nicht. Sie werden mit anderen Ihrer Art zusammen sein."
Ihrer Art. Die beiden Wörter klangen in Georges Ohren schmerzhaft laut.
"Sie brauchen eine Spezialbehandlung", sagte Ellenford. "Wir werden für Sie sorgen."
George konnte plötzlich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ellenford wandte sich taktvoll ab und sah zum Fenster hinaus.
George beherrschte sich mit einer gewaltsamen Anstrengung. Er dachte an seine Eltern, an seine Freunde, an Trevelyan, an seine eigene Schande...
"Aber ich habe doch lesen gelernt", protestierte er dann.
"Das kann jeder, der geistig gesund ist. Gewisse Ausnahmen stellen sich erst später heraus - in Ihrem Fall erst heute. Aber selbst damals meldete der behandelnde Arzt verschiedene Abweichungen in Ihrer Gehirnstruktur."
"Können Sie denn nicht wenigstens den Versuch unternehmen, mich trotzdem zu erziehen? Warum eigentlich nicht? Ich nehme das Risiko gern auf mich."
Ellenford schüttelte den Kopf. "Nein, George, das ist streng verboten. Aber vielleicht ist alles doch nicht so schlimm, wie es jetzt aussieht. Wir werden Ihre Familie beruhigen, damit sie sich keine Sorgen macht. Und Ihnen werden wir alle Bücher besorgen, die Sie lesen möchten, um sich weiterzubilden."
"Ich soll also löffelweise lernen", sagte George wütend. "Stück für Stück. Bis im Alter von sechzig Jahren weiß ich dann vermutlich genug, um Registrierter Bürobote zu werden."
"Aber Sie haben doch schon aus Büchern gelernt..."
George erstarrte. Plötzlich glaubte er alles zu verstehen. "Deshalb also..."
"Was meinen Sie?"
"Dieser Antonelli. Er versucht mich hereinzulegen."
"Nein, George. Sie irren sich."
"Sie brauchen es gar nicht abzustreiten", schrie George wütend los. "Der verdammte Kerl will mich mundtot machen, weil ich ihm zu schlau war. Ich habe Bücher gelesen, um mich auf meinen Beruf vorzubereiten. Schön, was wollen Sie von mir? Geld? Keinen Cent bekommen Sie! Aber ich werde dafür sorgen, daß..."
Seine Stimme überschlug sich.
Ellenford schüttelte den Kopf und drückte auf einen Knopf.
Zwei Männer betraten leise den Raum und nahmen George in die Mitte. Während der eine ihm die Arme festhielt, gab der andere George eine Beruhigungsspritze, die fast augenblicklich wirkte.
Sein Kopf sank schwer nach vorn. Seine Knie gaben nach, so daß er gefallen wäre, wenn die beiden Männer ihn nicht gestützt hätten. Er schlief.
Sie sorgten für George, wie sie es ihm versprochen hatten; sie waren gut zu ihm und immer freundlich - etwa in der gleichen Art, dachte George, in der er sich selbst einer kranken kleinen Katze angenommen hätte.
Sie ermahnten ihn, er solle sich doch wieder für seine Umwelt interessieren. Und sie versuchten ihn dadurch zu trösten, daß sie ihm versicherten, sein Zustand sei durchaus nicht ungewöhnlich, und er werde schon wieder zur Vernunft kommen.
Dr. Ellenford suchte ihn persönlich auf, um ihm zu sagen, daß er Georges Eltern davon benachrichtigt hatte, ihr Sohn sei in einem Spezialauftrag unterwegs.
"Wissen sie...", murmelte George.
Ellenford schüttelte beruhigend den Kopf. "Ich habe keine näheren Angaben gemacht."
Zuerst hatte George jegliche Nahrungsaufnahme verweigert. Sie ernährten ihn intravenös, sie nahmen ihm alle scharfen Gegenstände fort und stellten ihn unter Bewachung. Hali Omani teilte ein Zimmer mit ihm, und seine unerschütterliche Ruhe beruhigte auch George.
Eines Tages bat George ihn aus reiner Langeweile um ein Buch.
Omani, der eigentlich ständig las, sah auf und grinste zufrieden. George hätte seine Bitte in diesem Augenblick am liebsten wieder zurückgenommen, aber dann überlegte er sich, daß das kindisch gewesen wäre.
Er hatte keinen bestimmten Wunsch geäußert, deshalb brachte Omani ihm ein Chemiebuch. Es war groß gedruckt, mit kurzen Sätzen und vielen Abbildungen. Ein Chemiebuch für Jugendliche. George warf es wütend an die Wand.
Das würde er also immer bleiben. Ein Jugendlicher sein ganzes Leben lang. Ewig ein Nicht-Erzogener, der speziell für ihn geschriebene Bücher lesen mußte. Er lag auf seinem Bett und starrte vor sich hin, bis er eine Stunde später doch aufstand und in dem Buch zu lesen begann.
Eine Woche darauf hatte er es ausgelesen und verlangte ein anderes.
"Soll ich das erste zurückbringen?" fragte Omani.
George runzelte die Stirn. Er hatte nicht alles verstanden, wollte diese Tatsache aber nicht gern zugeben.
Aber Omani erlöste ihn aus diesem Zwiespalt, als er hinzufügte: "Vielleicht behältst du es doch lieber. Schließlich muß man Bücher immer wieder lesen."
Das war an dem Tag, an dem George Omanis Einladung zu einer Besichtigung der Anstalt annahm. Er hielt sich dabei dicht hinter dem Nigerianer und sah sich nur widerstrebend um.
Die Anstalt war tatsächlich kein Gefängnis. Hier gab es weder hohe Mauern noch verschlossene Türen noch Wächter. Aber sie war ein Gefängnis, weil die Insassen nicht gewußt hätten, was sie in der Außenwelt tun sollten.
George fühlte sich durch den Anblick seiner Leidensgenossen irgendwie getröstet. Man konnte sich so leicht einbilden, man sei der einzige Mensch auf der Welt, der so... verkrüppelt war.
"Wie viele Leute sind hier eigentlich?" murmelte er.
"Zweihundertfünf, George, und dies ist nicht die einzige Anstalt auf der Welt. Es gibt noch Tausende von anderen."
Männer sahen auf, wenn George an ihnen vorbeiging; in der Turnhalle, auf den Tennisplätzen, in der Bibliothek (er hätte nie gedacht, daß es so viele Bücher geben könnte; hier waren sie tatsächlich in langen Regalen aufgereiht). Die anderen starrten George neugierig an, und er warf ihnen böse Blicke zu. Schließlich waren sie auch nicht besser als er; sie brauchten ihn nicht anzustarren, als sei er eine Abnormität.
Alle Insassen waren jünger als fünfundzwanzig. "Was geschieht mit den älteren Leuten?" wollte George plötzlich wissen.
Omani antwortete: "Diese Anstalt ist speziell für jüngere Menschen eingerichtet." Dann erst schien er Georges Gedanken zu erraten, denn er schüttelte ernst den Kopf und fuhr fort: "Da wirst nicht aus dem Weg geschafft, falls du das gemeint haben solltest. Es gibt andere Anstalten für ältere Leute."
"Wen kümmert das schon", murmelte George und versuchte uninteressiert zu erscheinen.
"Vielleicht dich. Wenn du älter bist, kommst du in eine Anstalt, in der nicht nur Männer sind."
George war ehrlich überrascht. "Frauen ebenfalls?"
"Natürlich. Oder hast du etwa geglaubt, daß Frauen dagegen immun sein könnten?"
George schüttelte den Kopf.
Omani blieb in der Tür eines größeren Raums stehen, in dem fünf oder sechs junge Männer vor einem Fernsehapparat saßen. "Das ist ein Klassenzimmer", erklärte er George.
"Und was tun diese Leute hier?"
"Sie werden erzogen", erklärte Omani ihm. "Allerdings", fügte er rasch hinzu, "nicht in der üblichen Weise."
"Sie lernen also langsam und allmählich, willst du damit sagen."
"Richtig. Früher war das die einzige Methode."
"Und was haben sie davon?" fragte er.
"Sie vertreiben sich die Zeit, George, und befriedigen gleichzeitig ihre Neugier."
"Was haben sie davon?"
"Es macht sie glücklicher."
George dachte abends im Bett darüber nach.
Am nächsten Morgen wandte er sich an Omani. "Kannst du mir ein Klassenzimmer zeigen, wo ich etwas über das Programmieren von Elektrorechnern lernen kann?"
"Gern", antwortete Omani herzlich.
Die Methode war langwierig, und George lehnte sie innerlich ab. Warum sollte man sich etwas immer und immer wieder erklären lassen müssen? Warum sollte er eine schwierige Stelle lesen und trotzdem nicht alles sofort verstehen? Andere Leute hatten es doch auch einfacher!
Manchmal wollte er schon aufgeben. Einmal blieb er dem Unterricht mehrere Wochen lang fern.
Aber er kam immer wieder zurück. Der Ausbilder, der einzelne Aufgaben zuteilte und schwierige Begriffe erklärte, verlor niemals ein Wort darüber.
George erhielt schließlich bestimmte Arbeiten innerhalb des Gartens und der Küche zugeteilt. Das sollte ein gewisser Fortschritt sein, aber George ließ sich davon nicht beeindrucken. Die Anstalt war absichtlich nicht vollautomatisiert, damit die jungen Leute beschäftigt werden konnten, um ihnen die Illusion einer verantwortungsvollen Tätigkeit zu vermitteln. Nein, George ließ sich nicht hereinlegen.
Sie erhielten sogar eine Entlohnung, die sie entweder für bestimmte Luxusartikel ausgeben oder für eine spätere Verwendung zurücklegen konnten. George bewahrte sein Geld in einer offenen Dose auf einem Regal auf. Er hatte keine Ahnung, wieviel er im Laufe der Zeit angesammelt hatte. Es war ihm auch gleichgültig.
Er schloß keine Freundschaften, lernte aber einige der anderen Insassen so gut kennen, daß sie ihn freundlich begrüßten, wenn sie sich zufällig trafen. Er dachte weniger oft über den Justizirrtum nach, dem er seine Einlieferung in die Anstalt verdankte. Manchmal träumte er wochenlang nicht mehr von Antonelli, den er noch immer als den eigentlich Schuldigen ansah.
An einem eiskalten Februartag sagte Omani zu ihm: "Eigentlich erstaunlich, wie du dich schon angepaßt hast."
Aber das war im Februar gewesen; genauer gesagt am dreizehnten Februar, seinem neunzehnten Geburtstag. Der März verging, dann der April, und als der Mai heranrückte, stellte George fest, daß er sich keineswegs angepaßt hatte.
Der letzte Mai war unbeachtet vorübergegangen, weil George damals noch teilnahmslos im Bett lag. Aber dieses Jahr war alles anders.
George wußte, daß nun bald die Olympischen Spiele stattfinden würden, bei denen die jungen Männer miteinander um einen Platz auf einer neuen Welt kämpften. George dachte an die festliche Stimmung, die Aufregung, die Zeitungsmeldungen, die Rekrutierungsbüros von anderen Planeten, den rauschenden Beifall für die Sieger...
Deshalb konnte er nicht verhindern, daß seine Stimme sehnsuchtsvoll klang, als er sagte: "Morgen ist der erste Mai. Die Olympischen Spiele!"
Und das führte zu seinem ersten Streit mit Omani, in dessen Verlauf der Nigerianer schließlich den vollen Namen der Institution aussprach, in der George sich befand.
Omani sah George in die Augen und sagte deutlich: "Eine Anstalt für Schwachsinnige."
George Platen wurde rot. Schwachsinnige!
Er schüttelte wütend den Kopf. "Ich muß von hier fort", meinte er impulsiv.
Omani, der wieder in seinem Buch gelesen hatte, hob den Kopf. "Was?"
Jetzt wußte George genau, was er wollte. "Ich verschwinde einfach", sagte er heftig.
"Das ist lächerlich. Und sinnlos dazu, George."
"Nein! Ich weiß genau, daß ich nur hier bin, weil dieser Antonelli mich auf den ersten Blick nicht ausstehen konnte. Aber so sind sie alle, diese kleinen Bürokraten - wenn man ihnen nicht unterwürfig genug begegnet, vernichten sie einen mit einem einzigen Federstrich."
"Fängst du wieder damit an?"
"Ich bleibe auch dabei, bis alles wieder in Ordnung ist. Warte nur, bis ich diesen Antonelli in die Finger bekomme..." George atmete schwer. Diesen Mai durfte er nicht wieder vorübergehen lassen, ohne etwas zu unternehmen. Wenn er das tat, konnte er gleich alle Hoffnungen begraben.
Omani stand auf, ging zu George hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Ich wollte dich wirklich nicht verletzen..."
George schüttelte seine Hand ab. "Du hast nur das gesagt, was du für wahr hältst, und ich werde beweisen, daß es nicht die Wahrheit war. Warum auch nicht? Hier gibt es keine verschlossenen Türen. Niemand hat mir je gesagt, daß ich das Haus nicht verlassen dürfe. Ich gehe einfach."
"Schön - aber wohin?"
"Zum nächsten Flughafen und von dort aus zu dem nächsten Olympiazentrum. Ich habe genügend Geld." Er griff nach der Dose, in der er seine Ersparnisse aufbewahrte. Einige Münzen rollten klirrend über den Fußboden.
"Vielleicht reicht das Geld für eine Woche. Und dann?"
"Bis dahin habe ich alles in Ordnung gebracht."
"Bis dahin kommst du wieder zurückgekrochen", widersprach Omani ernst. "Dann mußt du wieder von vorn anfangen. Du bist verrückt, George."
"Vorhin hast du mich noch schwachsinnig genannt."
"Gut, es tut mir leid. Bleibst du jetzt doch?"
"Willst du mich etwa aufhalten?"
Omani zuckte mit den Schultern. "Nein, dazu habe ich keinen Anlaß. Das ist schließlich deine Sache. Wenn du unbedingt mit blutender Nase zurückkommen willst, kannst du es ja versuchen... Los, geh schon endlich!"
George stand bereits in der Tür und sah noch einmal zurück. "Ich gehe jetzt..."
Omani zuckte mit den Schultern. Er war wieder in sein Buch vertieft.
George blieb noch einen Augenblick lang in der Tür stehen, aber Omani sah nicht mehr auf. George biß die Zähne aufeinander, drehte sich um und verließ rasch das Gebäude. Kurze Zeit später durchquerte er bereits den Park der Anstalt, der in tiefster Dunkelheit lag.
Er hatte erwartet, daß man ihn aufhalten würde, bevor er das Anstaltsgelände verließ. Aber niemand stellte sich ihm in den Weg. Er betrat ein auch nachts geöffnetes Schnellrestaurant, um dort nach dem Weg zum Flughafen zu fragen, und erwartete bestimmt, daß der Besitzer die Polizei verständigen würde. Auch das geschah nicht. Er rief ein Taxi an und ließ sich zum Flughafen fahren. Der Fahrer stellte keine überflüssigen Fragen.
Trotzdem fühlte George sich keineswegs erleichtert. Im Gegenteil, als er auf dem Flughafen ankam, war er unentschlossener denn je zuvor. Er war sich nicht darüber im klaren gewesen, wie es in der Außenwelt aussah. Er war von Profis umgeben. Der Besitzer des Restaurants hatte seinen Namen über der Kasse angebracht - mit dem Zusatz "Registrierter Koch". Der Taxifahrer bewahrte seinen Führerschein deutlich sichtbar in einer Plastikhülle auf - Soundso, Registrierter Chauffeur. George war sich peinlich bewußt, daß sein eigener Name keinen derartigen Zusatz enthielt. Aber niemand schien sich darum zu kümmern. Niemand sah ihn mißtrauisch an und wollte einen Nachweis darüber sehen.
George dachte verbittert: Wer konnte sich denn auch einen Menschen ohne Beruf vorstellen?
Er kaufte ein Flugticket nach San Francisco für das Flugzeug um drei Uhr morgens. Dann saß er zusammengekauert im Warteraum und erwartete, daß die Polizei ihn abholen würde. Aber kein Beamter tauchte auf.
Als er am Vormittag in San Francisco ankam, spürte er den Lärm und das Gewirr dieser Großstadt wie einen Schlag. San Francisco war die größte Stadt, die er je gesehen hatte, aber der Schock wurde vor allem durch die Tatsache hervorgerufen, daß er die letzten achtzehn Monate in völliger Ruhe und Einsamkeit verbracht hatte.
Aber hier fanden die Olympischen Spiele statt. George überlegte sich, daß der Lärm und die allgemeine Aufregung damit zu tun haben mußten.
Im Flughafengebäude standen große Anzeigetafeln, auf denen alles Wissenswerte über die einzelnen Wettbewerbe zu lesen war. Dort waren die besten Verkehrsverbindungen zu den jeweiligen Wettkampforten angegeben; die einzelnen Teilnehmer, ihr Geburtsort und der Planet, der das Protektorat übernommen hatte.
Die Aufregung des Publikums war zum Teil auf einen gewissen Lokalpatriotismus zurückzuführen (obwohl die Teilnehmer in vielen Fällen Unbekannte waren), aber auch auf die zahlreich abgeschlossenen Wetten. Diese Randerscheinung ließ sich nicht ausrotten und gehörte seit eh und je zu den Olympischen Spielen.
George drängte sich nicht gleich zu den Anzeigetafeln, sondern betrachtete die Umstehenden mit ganz neuen Augen.
Früher einmal mußten sie alle eine Chance gehabt haben, an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Was hatten sie getan? Nichts!
Wären sie siegreich gewesen, hätten sie sich längst von einem anderen Planeten anwerben lassen, anstatt hier auf der Erde zu bleiben. Ihre Berufe mußten sie von Anfang an auf der Erde festgehalten haben; oder diese Menschen hatten in den hochspezialisierten Berufen versagt, für die sie ausgebildet worden waren.
Jetzt standen diese Versager hier herum und schlossen Wetten über das Abschneiden anderer und jüngerer Männer ab. Aasgeier!
George wünschte sich nichts sehnlicher, als daß seinetwegen Wetten abgeschlossen würden.
Er fühlte sich selbst in dem Gewimmel der Großstadt nicht völlig sicher, obwohl niemand sich um ihn kümmern würde. Nicht einmal in der Anstalt, überlegte George verbittert. Sicher, sie sorgten für ihn wie für ein krankes Kätzchen, aber was konnte man dagegen tun, wenn die kleine Katze plötzlich fortlief?
Was sollte er tun, nachdem er nun in San Francisco war? Er dachte angestrengt darüber nach. Jemand aufsuchen? Wen? Wo sollte er überhaupt bleiben? Er hatte nicht mehr sehr viel Geld.
Er überlegte einen Augenblick lang, ob er nicht lieber in die Anstalt zurückkehren sollte. Wenn er zur Polizei ging... Er schüttelte heftig den Kopf, als streite er mit einem unsichtbaren Gegner.
Ein Wort auf einer der Anzeigetafeln erregte seine Aufmerksamkeit: Metallurgen. Darunter in kleineren Buchstaben: Nicht-eisenhaltige Metalle. Dann folgten die Namen der Teilnehmer und eine Notiz: Unter dem Patronat von Novia.
Das alles beschwor schmerzliche Erinnerungen herauf: Georges Diskussionen mit Trevelyan, das Bewußtsein, daß er selbst Programmierer werden würde, das Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit, weil er sich vorbereitet hatte...
So gut, daß er es dem rachsüchtigen Antonelli unbedingt unter die Nase reiben mußte. Er war seiner selbst so sicher gewesen, als er vor Trevelyan aufgerufen wurde, der nervös gewartet hatte.
In diesem Augenblick schien es, als ob die Anzeigetafel Georges unausgesprochene Frage beantwortete. Er dachte so intensiv "Trevelyan", daß die Tafel das Wort wiederholen mußte.
Tatsächlich, dort oben stand Trevelyan. Und Armand Trevelyan (Stubbys verhaßter Vorname in großen Buchstaben, damit jeder ihn lesen konnte) und der richtige Geburtsort. Noch mehr - Trev hatte nach Novia auswandern wollen, hatte nur Novia in Erwägung gezogen, hatte auf Novia bestanden; und dieser Wettbewerb fand unter dem Protektorat von Novia statt.
Das mußte Trev sein, der gute alte Trev. George nahm die Wegbeschreibung völlig unbewußt auf und stellte sich in einer Reihe an, um auf das nächste Taxi zu warten.
Dann überlegte er nüchtern: Trev hat es geschafft! Er wollte Metallurg werden und hat es tatsächlich geschafft!
George fühlte sich so allein wie nie zuvor.
Vor der Halle standen lange Zuschauerschlangen. Offenbar war dieser Wettbewerb besonders hart umkämpft, denn sonst wäre die Aufregung unter den Zuschauern geringer gewesen.
Über der Stadt schien eine dichte Wolkendecke zu liegen, aber George wußte, daß San Francisco nur eine Abschirmung über der Stadt errichtet hatte. Selbstverständlich kostete das eine Menge Geld, aber alle Ausgaben dafür waren gerechtfertigt, wenn es sich um das Wohlergehen der Besucher von anderen Planeten handelte. Diese Besucher brachten viel Geld mit in die Stadt und bezahlten zudem eine Gebühr für jeden Techniker, den sie angeworben hatten. Die Stadtväter von San Francisco waren gut beraten, als sie alle Anstrengungen unternahmen, um den Aufenthalt der Fremden so angenehm wie möglich zu gestalten.
George stand völlig in Gedanken verloren da, als er plötzlich einen leichten Stoß gegen den Rücken verspürte. Gleichzeitig sagte eine Stimme: "Stehen Sie hier an, junger Mann?"
Die Schlange war weiter aufgerückt, ohne daß George den vergrößerten Abstand zu seinem Vordermann bemerkt hatte. Er ging hastig weiter und murmelte: "Tut mir leid, Sir."
Als er sich umdrehte, nickte der Mann hinter ihm freundlich. Er hatte eisgraues Haar und trug eine altmodische Wollweste zu seiner Tweedjacke. "Ich wollte nicht sarkastisch sein", sagte er entschuldigend.
"Das waren Sie auch nicht."
"Dann bin ich beruhigt." Der Mann schien ein Gespräch anknüpfen zu wollen. "Ich wußte nur nicht ganz sicher, ob Sie nicht aus Versehen hier warteten. Ich dachte, Sie seien vielleicht ein..."
"Ein was?" fragte George scharf.
"Ein Teilnehmer, natürlich. Sie sind jung genug dazu."
George wandte sich wortlos ab. Ihm war nicht nach einer Unterhaltung zumute, vor allem nicht mit diesem Kerl, der sich in seine Angelegenheiten zu mischen versuchte.
Dann fuhr er plötzlich innerlich zusammen. Wurde er etwa bereits steckbrieflich gesucht? War sein Bild, seine Personenbeschreibung schon in ganz Amerika verbreitet worden? Versuchte der Grauhaarige hinter ihm sein Gesicht zu erkennen?
Er hatte die letzten Nachrichten noch nicht gesehen und strengte sich jetzt an, um die Schlagzeilen zu unterscheiden, die gegen den grauen Nachmittagshimmel projiziert wurden. Ohne Erfolg - aber die Schlagzeilen befaßten sich während der Olympischen Spiele ohnehin nur mit den Ergebnissen der Wettkämpfe und den Siegen, die jeder Kontinent, jedes Land und jede Stadt errungen hatte.
So würde es noch drei Wochen weitergehen, wobei die Ergebnisse in jeder Stadt manipuliert wurden, bis sie bewiesen, daß die betreffende Stadt im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl besonders ehrenvoll abgeschnitten hatte. Georges Heimatstadt hatte einmal den dritten Platz in den Olympischen Spielen für Fernmeldemonteure errungen. Im Rathaus hing seitdem eine Gedenktafel.
George entspannte sich und versuchte harmlos zu wirken, ohne sich deswegen sicherer zu fühlen. Er betrat die Halle, suchte sich einen Platz in den vorderen Reihen und war selbst überrascht, daß noch immer kein Polizist aufgetaucht war, um ihn abzuführen.
Dann bemerkte er, daß der Grauhaarige von vorhin ausgerechnet neben ihm saß. Er sah rasch wieder fort und versuchte nüchtern zu denken. Schließlich hatte der andere unmittelbar hinter ihm gewartet.
Der Grauhaarige lächelte ihm nur einmal freundlich zu, kümmerte sich aber sonst nicht weiter um George. Außerdem stand der Beginn des Wettbewerbs unmittelbar bevor. George stand auf und versuchte zu erkennen, wo Trevelyan sich im Augenblick aufhielt.
Die Halle war nicht übermäßig groß und in der klassischen Form errichtet, so daß die Zuschauer an den Längsseiten auf zwei Balkonen Platz fanden, während die Wettbewerbsteilnehmer sich in der länglichen Arena aufhielten. Die Maschinen waren bereits aufgestellt, aber die Anzeigetafeln über jedem Platz blieben vorläufig noch dunkel, bis auf den Namen und die Nummer jedes Teilnehmers. Die Wettkämpfer unterhielten sich in kleinen Gruppen, denn niemand durfte sich vor dem Startsignal mit den Problemen der gestellten Aufgabe befassen.
George las das Programm durch, das er auf seinem Platz gefunden hatte, und fand Trevelyans Namen. Er hatte die Nummer zwölf, und George stellte bedauernd fest, daß dieser Platz am anderen Ende der Halle lag. Von hier aus konnte er nur erkennen, daß Trevelyan mit dem Rücken zu seiner Maschine stand und zu den Zuschauern hinauf starrte, als wolle er sie zählen.
George ließ sich auf seinen Platz zurücksinken. Er überlegte, ob Trev gut abschneiden würde. Pflichtbewußt hoffte er, daß Trev erfolgreich sein würde, aber im Unterbewußtsein spürte er die Ungerechtigkeit, die in dieser Situation lag. George, der Berufslose, saß hier und sah zu, wie Trevelyan, der Metallurg, dort unten an den Olympischen Spielen teilnahm.
Fast alle Sitze waren belegt. Der Wettbewerb fand also vor einem größeren Publikum statt, was für die Teilnehmer eine größere Belastung bedeutete - oder vielleicht auch einen größeren Ansporn für manche.
Weshalb eigentlich Olympische Spiele, überlegte er plötzlich. Er hatte nie eine Erklärung gehört. Warum wurde Brot "Brot" genannt?
Früher einmal hatte er seinen Vater gefragt: "Weshalb heißt das Olympische Spiele, Dad?"
Und sein Vater hatte geantwortet: "Olympische Spiele bedeutet Wettbewerb."
George hatte gesagt: "Sind das auch Olympische Spiele, wenn Stubby und ich uns balgen?"
Platen senior hatte gesagt: "Nein. Die Olympischen Spiele sind ein besonderer Wettbewerb, und du sollst keine dummen Fragen stellen. Du wirst alles noch erfahren, wenn du erzogen wirst."
George fuhr sich mit der Hand über die Stirn und seufzte leise.
"Du wirst alles noch erfahren!"
Seltsam, daß er sich so deutlich an diese Szene erinnerte. "Wenn du erzogen wirst." Niemand sagte jemals, "falls du erzogen wirst."
George glaubte sich daran zu erinnern, daß er stets dumme Fragen gestellt hatte - als hätte er bereits damals geahnt, daß er nie erzogen werden könne, und hätte daher schon damals versucht, sein Wissen auf andere Weise zu bereichern.
Und in der Anstalt hatte man ihn dazu ermuntert, weil sie ihn bei guter Laune halten wollten. Nur deshalb.
Er richtete sich plötzlich auf. Was sollte das überhaupt? Glaubte er jetzt schon an diese Lügen? Wollte er nur deshalb aufgeben, weil Trevelyan dort unten vor ihm an den Olympischen Spielen teilnahm?
Er war nicht schwachsinnig. Nein!
In diesem Augenblick kam Bewegung in die Menge, als die Zuschauer sich erhoben. Eine zentral gelegene Loge füllte sich mit Männern in den Farben von Novia, während darüber gleichzeitig das Wort "Novia" aufleuchtete.
Novia war ein Planet vom Typ A mit einer großen Bevölkerung und einer hochentwickelten Zivilisation, die zu den besten der Galaxis gehörte. Das war einer der Planeten, zu denen sich jeder Mensch auf der Erde hingezogen fühlte; wenn er aber selbst dieses Ziel nicht erreichte, hoffte er wenigstens, daß seine Kinder eines Tages dort leben würden. (George erinnerte sich daran, daß Trevelyan immer von Novia gesprochen hatte - und jetzt stand er dort unten, um sich darum zu bewerben.)
Die Deckenleuchten wurden ausgeschaltet, so daß jetzt nur noch die Wettbewerbsteilnehmer von Scheinwerfern angestrahlt wurden. George versuchte Trevelyan deutlicher zu erkennen. Vergebens.
Die Stimme eines Ansagers erklang. "Verehrte Gäste. Die Olympischen Spiele für Metallurgen mit dem Fachgebiet Nichteisenmetalle sind hiermit eröffnet. Die Teilnehmer..."
Dann folgten Namen, Heimatstädte und Erziehungsjahre. Bei jedem Namen rauschte Beifall auf, besonders aber für die Teilnehmer aus San Francisco. Als Trevelyans Name vorgelesen wurde, war George selbst überrascht, als er begeistert klatschte. Aber der Grauhaarige neben ihm überraschte ihn noch mehr, indem er ebenfalls applaudierte.
Als er bemerkte, daß George ihn verblüfft anstarrte, beugte er sich zu ihm herüber. "Aus meiner Heimatstadt ist niemand hier; deshalb habe ich für Ihre Nummer geklatscht. Kennen Sie den jungen Mann persönlich?"
George zuckte zurück. "Nein."
"Mir ist aufgefallen, daß Sie ihn beobachtet haben. Soll ich Ihnen mein Opernglas leihen?"
"Nein. Vielen Dank." (Warum kümmerte der alte Trottel sich nicht lieber um seine eigenen Angelegenheiten?)
Der Ansager hatte die Namen verlesen und kam nun auf den wichtigsten Punkt zu sprechen. Die Zuschauer schwiegen gespannt.
"Die Teilnehmer erhalten eine Stange Nichteisenlegierung unbekannter Zusammensetzung. Ihre Aufgabe besteht darin, die einzelnen Bestandteile zu analysieren und auf vier Dezimalstellen genau in Prozent anzugeben. Zu diesem Zweck steht ihnen ein Beeman-Mikrospektrograph zur Verfügung, der im Augenblick allerdings nicht betriebsbereit ist."
Die Zuschauer klatschten beifällig.
"Die Teilnehmer müssen die Fehlerquelle feststellen und den Fehler selbst beseitigen. Werkzeuge und Ersatzteile stehen zur Verfügung. Das benötigte Teil ist nicht unbedingt vorhanden. In diesem Fall muß es angefordert werden, aber die dafür benötigte Zeit wird dem Teilnehmer gutgeschrieben. Sind alle Teilnehmer bereit?"
Auf der Tafel über dem Teilnehmer mit der Nummer fünf blinkte ein rotes Licht auf. Der Teilnehmer rannte hinaus und kam einige Augenblicke später zurück. Die Zuschauer lachten amüsiert.
"Alle Teilnehmer bereit?"
Die Tafeln blieben schwarz.
"Noch Fragen?"
Keine Veränderung.
"Los!"
Selbstverständlich konnten die Zuschauer nicht kontrollieren, welche Fortschritte die einzelnen Teilnehmer machten. Sie konnten sich nur an die Angaben halten, die auf den Tafeln über den Arbeitsplätzen aufleuchteten. Aber das war kein zuverlässiger Anhalt. Allerdings spielte das keine große Rolle, denn die Zuschauer verstanden ohnehin nicht, worum es hier ging. Sie waren nur am Endergebnis interessiert, weil sie gewettet hatten. Alles andere war unwichtig.
George beobachtete die Teilnehmer. Einer hatte das Gehäuse des Gerätes abgenommen, ein anderer untersuchte es von außen, ein dritter klemmte seine Legierung in den Halter, während ein vierter vorsichtig an einer Mikrometerschraube drehte.
Trevelyan arbeitete so konzentriert wie die anderen. George konnte nicht feststellen, wie er im Rennen lag.
Auf der Tafel über Platz siebzehn leuchteten Buchstaben auf: Scharfeinstellung nicht justiert.
Die Zuschauer klatschten begeistert.
Der Teilnehmer Nummer siebzehn konnte recht haben - aber vielleicht irrte er sich auch. Unter Umständen mußte er später sein Urteil revidieren und verlor dadurch wertvolle Zeit. Oder er bemerkte seinen Fehler nie und kam deshalb zu ungenügenden oder gar völlig falschen Ergebnissen.
Unwichtig. Im Augenblick klatschten die Zuschauer jedenfalls begeistert.
Die anderen Tafeln leuchteten auf. George achtete auf die Tafel Nummer zwölf. Endlich erschienen auch auf ihr Leuchtbuchstaben. "Probenhalter nicht zentriert. Neues Federstück erforderlich."
Ein Mann rannte fort und brachte das benötigte Ersatzteil. Wenn Trevelyan sich geirrt hatte, verlor er auf diese Weise unersetzbare Sekunden, denn in diesem Fall erhielt er keine Zeitgutschrift. George hielt unwillkürlich den Atem an.
Auf der Tafel über dem Teilnehmer siebzehn leuchteten die ersten Ergebnisse auf: Aluminium 41,2649%, Magnesium 22,1914%, Kupfer 10,1001%.
Auch auf den anderen Tafeln erschienen Zahlen.
Die Zuschauer schrien und klatschten wie wild.
Siebzehn stand auf, während ein grünes Blinklicht auf der Tafel anzeigte, daß er seine Analyse beendet hatte. Nummer vier war nur zwei Sekunden hinter ihm. Noch einer, und noch einer.
Trevelyan arbeitete noch immer, weil er einige Bestandteile nicht genau genug bestimmen konnte. Schließlich erhob er sich ebenfalls. Über eine Minute später stand Nummer fünf als letzter Teilnehmer auf und erhielt ironischen Beifall.
Noch war alles unentschieden, denn die offizielle Verkündung des Sieges stand noch aus. Aber wenige Minuten später ertönte wieder die Stimme des Ansagers:
"Sieger in vier Minuten und zwölf Sekunden mit richtig erkanntem Fehler und richtiger Analyse bis auf nullkommasieben Hunderttausendstel ist der Teilnehmer Nummer... siebzehn, Henry Anton Schmidt aus..."
Der Rest des Satzes ging in begeistertem Applaus unter. Nummer acht wurde Zweiter, dann folgte Nummer vier, dessen gute Zeit durch einen unbedeutenden Analysenfehler beeinträchtigt wurde. Zwölf wurde überhaupt nicht genannt. Er rangierte unter "ferner liefen".
George drängte sich durch die Menge zu dem für Teilnehmer reservierten Ausgang, der dicht umlagert war. Dort standen weinende Verwandte (aus Freude oder Kummer, je nachdem), Zeitungsreporter, Autogrammsammler, Lokalpatrioten und zahlreiche gewöhnliche Neugierige. Aber auch Mädchen, die den Sieger sehen wollten, der sicher nach Novia auswandern würde (oder vielleicht einen Verlierer, der Trost suchte und das nötige Kleingeld hatte).
George hielt sich im Hintergrund. Er sah niemand, der ihn erkennen würde. Vermutlich war Trevelyan allein nach San Francisco gekommen, weil die Entfernung bis zu seiner Heimatstadt beträchtlich war.
Die Teilnehmer kamen heraus, lächelten abgespannt und dankten schüchtern für die spontanen Beifallskundgebungen. Jeder der Besten zog einen Teil der Menge hinter sich her, als sei er ein Magnet, der einen Haufen Eisenfeilspäne berührte.
Als Trevelyan herauskam, hatte die Menge sich schon fast zerstreut. (George erriet, daß der andere nur auf diesen Augenblick gewartet hatte.) Er zog lustlos an einer Zigarette.
Das war der erste Kontakt mit der Heimat, den George in den vergangenen achtzehn Monaten gehabt hatte, die ihm wie achtzehn Jahre erschienen waren. Er war fast überrascht darüber, daß Trevelyan nicht gealtert zu sein schien.
George trat einen Schritt vor. "Trev!"
Trevelyan drehte sich überrascht um. Er starrte George an und streckte die Hand aus. "George Platen, was zum Teufel..."
Aber dann verschwand der freudige Ausdruck auf seinem Gesicht sofort wieder. Er ließ die Hand sinken, bevor George sie hatte drücken können.
"Bist du dort drinnen gewesen?" Trev wies auf die Halle.
"Ja."
"Um mich zu sehen?"
"Richtig."
"Nicht gerade gut, was?" Trevelyan ließ die Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus. Vor der Halle formierten sich bereits neue Schlangen aus Zuschauern für die nächsten Wettkämpfe.
"Na, wenn schon", meinte Trevelyan endlich. "Ich habe nach dem zweiten Mal ohnehin keine Lust mehr. Novia ist für mich erledigt, nachdem sie mich so hereingelegt haben. Es gibt genügend andere Planeten, die hinter Metallurgen her sind wie der Teufel hinter der armen Seele... Hör zu, ich habe dich seit unserem Erziehungstag nicht mehr gesehen. Wo hast du eigentlich gesteckt? Deine Eltern wußten auch nur, daß du eine Spezialaufgabe erhalten hast, aber sonst haben sie nie etwas erfahren. Du hättest wenigstens schreiben können."
"Richtig, das hätte ich tun sollen", antwortete George verlegen. "Ich wollte dir nur sagen, daß mir dein Pech von heute leid tut."
"Es braucht dir nicht leid zu tun", gab Trevelyan zurück. "Ich habe dir doch gesagt, daß Novia mich nicht mehr interessiert... Eigentlich hätte ich es ahnen müssen. Schon vor Wochen hieß es überall, daß Beemangeräte benutzt werden würden. Die verdammten Erziehungsbänder, die ich aufgenommen habe, waren für Henslergeräte - aber wer gebraucht denn schon Henslers? Die Planeten im Gomannebel, wenn man sie überhaupt Planeten nennen kann. War das nicht wirklich eine Gemeinheit?"
"Kannst du dich nicht beschweren..."
"Unsinn. Sie werden einfach sagen, daß mein Gehirn sich besser für Henslers eignet. Mit denen kann man nicht diskutieren. Alles ist heute schiefgegangen. Ich war der einzige Teilnehmer, der ein Ersatzteil anfordern mußte. Ist dir das aufgefallen?"
"Aber dafür hast du doch eine Zeitgutschrift erhalten."
"Natürlich, aber ich habe Zeit verloren, als ich darüber nachdachte, weshalb das Federstück nicht bei den bereits vorhandenen Ersatzteilen lag. Dafür gibt es keine Gutschrift. Bei einem Henslergerät hätte ich es einfach gewußt. Wie konnte ich mir da noch Hoffnungen machen? Der Sieger stammt aus San Francisco. Die ersten fünf kamen alle aus Großstädten, wo sie wirklich gute Erziehungsbänder zur Verfügung gehabt haben. Wie kann ich da noch auf einen guten Platz hoffen? Ich bin absichtlich nach San Francisco gekommen, weil hier die Novianer das Patronat über die Olympischen Spiele übernommen haben. Dabei hätte ich ebensogut zu Hause bleiben können. Aber Novia ist schließlich nicht die einzige Welt in dem ganzen verdammten Universum..."
Er sprach nicht mehr mit George. Er sprach nur mit sich selbst. George wußte, daß der andere über seine Niederlage zutiefst verbittert war.
George fragte: "Hättest du dich nicht über die Beemans informieren können, nachdem du erfahren hattest, daß sie benutzt werden würden?"
"Sie waren nicht auf meinen Bändern, sage ich dir."
"Du hättest... Bücher darüber lesen können."
Trevelyan sah ihn mißtrauisch an.
"Willst du dich über mich lustig machen? Hältst du das für einen guten Witz? Wie soll ich denn gegen andere aufkommen, die alles wissen?"
"Ich dachte nur..."
"Du kannst es ja versuchen. Bitte schön..." Trevelyan machte eine Pause und fuhr dann plötzlich fort: "Welchen Beruf hast du eigentlich?" Seine Stimme klang feindselig.
"Nun, ich..."
"Los, heraus damit! Wenn du dich über mich lustig machen willst, mußt du selbst etwas vorweisen können. Du bist noch auf der Erde, sehe ich gerade, deshalb kannst du kein Programmierer sein. Und deine Spezialaufgabe ist wahrscheinlich auch nicht viel wert."
George versuchte auszuweichen. "Leider habe ich im Augenblick nicht viel Zeit, Trev. Ich muß dringend zu einer Besprechung." Er lächelte verkrampft.
"Nein, das ist gelogen." Trevelyan hielt George am Jackenärmel fest. "Ich will eine Antwort! Warum hast du Angst davor? Was ist mit dir los? Du kannst dich nicht einfach über mich lustig machen, George, wenn du selbst nichts vertragen kannst. Hast du mich verstanden?"
Er schüttelte George heftig, obwohl George sich loszureißen versuchte. Dann ertönte plötzlich die Stimme eines Polizisten hinter ihnen.
"Aufhören! Sofort aufhören, sage ich!"
George erstarrte auf der Stelle. Der Polizist würde die Personalausweise verlangen - und George besaß keinen. Er würde Fragen beantworten müssen, wodurch seine Berufslosigkeit an den Tag kam; und das alles vor Trevelyan, der zu Hause wilde Gerüchte verbreiten würde, um sein eigenes Versagen zu vertuschen.
George konnte den Gedanken daran nicht ertragen. Er riß sich von Trevelyan los und wollte fortrennen, aber der Polizist hielt ihn auf. "Langsam, junger Mann. Ich möchte erst einmal Ihren Ausweis sehen."
Trevelyan hatte seinen bereits in der Hand und wandte sich an den Beamten. "Ich heiße Armand Trevelyan und bin Registrierter Metallurg. Ich habe eben an den Olympischen Spielen teilgenommen. Stellen Sie lieber fest, was mit ihm los ist..."
George starrte die beiden sprachlos an.
In diesem Augenblick ertönte eine andere Stimme: "Sergeant. Einen Augenblick, bitte."
Der Polizist trat einen Schritt zurück. "Sir?"
"Dieser junge Mann ist mein Gast. Worum handelt es sich?"
George sah sich überrascht um. Hinter ihm stand der grauhaarige ältere Mann, der neben ihm gesessen hatte. Der Grauhaarige nickte ihm wohlwollend zu.
Sein Gast? War der Kerl verrückt geworden?
"Diese beiden hier führten sich in der Öffentlichkeit unmöglich auf, Sir", erklärte der Polizist.
"Liegt etwas gegen sie vor? Haben sie einen Schaden angerichtet?"
"Nein, Sir."
"Ausgezeichnet, dann nehme ich den jungen Mann mit." Er zeigte dem Polizisten einen roten Ausweis, woraufhin der Beamte noch einen Schritt zurücktrat.
Trevelyan mischte sich wütend ein. "He, was geht hier eigentlich vor...", begann er, aber der Polizist ließ ihn nicht ausreden.
"Schon gut. Haben Sie etwas gegen diesen Herrn vorzubringen?" Er wies auf George.
"Ich wollte..."
"Dann brauchen Sie nicht mehr länger herumzustehen. Auch die anderen Herrschaften gehen gefälligst weiter." Unterdessen hatte sich eine Menschenmenge angesammelt, die sich jetzt nur widerstrebend auflöste.
George ließ sich bis zu einem Taxi führen, wollte aber nicht einsteigen.
Er sagte: "Vielen Dank, aber ich bin nicht Ihr Gast."
Aber der Grauhaarige lächelte nur und erwiderte: "Bisher noch nicht, aber Sie sind es jetzt. Aber ich muß mich Ihnen noch vorstellen - Ladislaus Ingenescu, Registrierter Historiker."
"Aber..."
"Kommen Sie ruhig mit. Ich wollte Ihnen nur weitere Unannehmlichkeiten auf der Polizei ersparen."
"Aber weshalb?"
"Brauchen Sie unbedingt einen Grund? Schön, sagen wir also, daß ich ehrenhalber Mitbürger Ihrer Heimatstadt bin, weil wir für den gleichen Mann geklatscht haben. Und die Bürger der gleichen Stadt müssen zusammenhalten, selbst wenn die Verbindung nur ehrenhalber besteht. Habe ich nicht recht?"
George nickte unsicher und fand sich plötzlich in dem Taxi wieder. Bevor er sich überlegt hatte, daß er lieber wieder aussteigen sollte, hatte das Fahrzeug sich bereits in Bewegung gesetzt.
Während der Fahrt bestritt Ingenescu den größten Teil der Unterhaltung, indem er auf Sehenswürdigkeiten hinwies und Erinnerungen an vergangene Olympische Spiele einflocht. George hörte allerdings kaum zu, sondern beobachtete genau, welche Richtung das Taxi nahm.
Steuerten sie etwa auf eine der Öffnungen in der Abschirmung zu, um die Stadt zu verlassen?
Nein, sie bewegten sich auf die Stadtmitte zu, und George seufzte unhörbar. Inmitten des Häusergewirrs fühlte er sich sicherer.
Das Taxi hielt vor einem Hotel. Als sie ausstiegen, sagte Ingenescu: "Ich hoffe, daß Sie eine Einladung zum Abendessen mit mir nicht ausschlagen werden?"
"Nein", antwortete George und grinste verkrampft. Allmählich spürte er deutlich, daß er heute das Mittagessen ausgelassen hatte.
Ingenescu ließ ein reichhaltiges Abendessen für zwei Personen auf sein Zimmer bringen. Sie aßen schweigend. Weit unter ihnen lag San Francisco in seiner strahlenden Festbeleuchtung.
Ingenescu sprach erst wieder, als der Kaffee serviert wurde. "Sie haben sich benommen, als glaubten Sie, daß ich Ihnen schaden wollte."
George wurde rot, stellte seine Tasse ab und versuchte zu widersprechen, aber der Ältere lachte und schüttelte den Kopf.
"Doch, doch, ich habe recht. Ich habe Sie lange genug beobachtet und glaube, daß ich ziemlich viel über Sie weiß."
George wäre vor Schreck fast aufgesprungen.
"Bleiben Sie ruhig sitzen", meinte Ingenescu freundlich. "Ich möchte Ihnen nur helfen."
George setzte sich wieder und überlegte verwirrt. Wenn der Alte wußte, wen er vor sich hatte, warum hatte er ihn dann nicht dem Polizisten überlassen? Und weshalb sollte er seine Hilfeleistung freiwillig anbieten?
"Sie möchten wissen, warum ich Ihnen geholfen habe?" meinte Ingenescu lächelnd. "Sie brauchen mich nicht so ängstlich anzusehen - ich bin kein Gedankenleser. Ich habe nur eine gute Ausbildung im Umgang mit Menschen gehabt, durch die ich Reaktionen richtig einschätzen kann. Verstehen Sie das?"
George schüttelte den Kopf; Ingenescu sprach weiter. "Denken Sie nur an unser erstes Zusammentreffen. Sie standen in einer Schlange, um einen Wettbewerb zu sehen, aber ihre unbewußten Reaktionen stimmten mit dieser Absicht nicht überein. Ihr Gesichtsausdruck war falsch, ihre Handbewegungen waren falsch. Das bedeutete, daß irgend etwas mit Ihnen nicht ganz stimmte - und interessanterweise mußte es sich dabei um einen nicht alltäglichen Fall handeln. Ich überlegte mir, ob Sie vielleicht selbst gar nichts davon ahnten.
Deshalb folgte ich Ihnen aus reiner Neugier und setzte mich neben Sie. Als der Wettbewerb vorüber war, ging ich Ihnen wieder nach und belauschte Ihre Unterhaltung mit Ihrem Freund. Von diesem Augenblick an waren Sie für mich als Studienobjekt - tut mir leid, wenn das etwas nüchtern klingt - zu wertvoll, als daß ich Sie einfach einem Polizisten hätte überlassen können." Ingenescu lächelte aufmunternd. "Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie bedrückt?"
George konnte sich nicht zu einer klaren Entscheidung durchringen. Wenn es sich um eine Falle handelte, weshalb sollte sie dann so umständlich aufgebaut sein? Und er mußte sich an jemand wenden, der ihm helfen konnte. Er war deswegen nach San Francisco gekommen, und hier wurde ihm Hilfe angeboten. Vielleicht war das überhaupt der Haken an der ganzen Sache. Das Angebot war zu bereitwillig gemacht worden.
Ingenescu schien zu erraten, was George dachte. "Was Sie mir als Sozialwissenschaftler erzählen, unterliegt selbstverständlich meiner Schweigepflicht. Wissen Sie, was das bedeutet?"
"Nein, Sir."
"Das bedeutet, daß ich den Inhalt unseres Gesprächs nicht weitergeben darf - und niemand kann mich dazu zwingen."
George sah ihn mißtrauisch an. "Ich dachte, Sie seien Historiker?"
"Das bin ich auch."
"Aber eben haben Sie sich doch selbst als Sozialwissenschaftler bezeichnet."
Ingenescu lachte laut und entschuldigte sich sofort für seinen Heiterkeitsausbruch. "Tut mir leid, junger Mann, ich hätte nicht lachen sollen, aber ich habe nicht über Sie gelacht. Ich habe mich nur über die Tatsache amüsiert, daß heutzutage fast jeder sämtliche Gebiete der Technik herunterrasseln kann, ohne die geringste Ahnung von anderen Wissensgebieten zu haben."
"Schön, aber was versteht man denn unter dem Begriff Sozialwissenschaft?"
"Die Sozialwissenschaft beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen des menschlichen Zusammenlebens. Natürlich gibt es dabei verschiedene Unterteilungen, wie zum Beispiel auch in der Biologie. Die Kulturisten befassen sich mit der Entwicklung, dem Wachstum und dem Verfall der Kulturen. Das schließt alle Aspekte unseres Lebens ein", fügte er hinzu und kam dadurch einer Frage zuvor. "Dazu gehören unsere Lebensart, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Tabus und so weiter. Verstehen Sie das?"
"Ja, ich glaube es wenigstens."
"Die Wirtschaftswissenschaftler - nicht die Statistiker, sondern die Wissenschaftler - spezialisieren sich auf die Art und Weise, in der eine Kultur die physischen Bedürfnisse ihrer Angehörigen befriedigt. Die Futuristen befassen sich mit der zukünftig zu erwartenden Entwicklung, und die Historiker... Das ist eben mein Fachgebiet."
"Ja, Sir."
"Die Historiker beschäftigen sich mit der Vergangenheit unserer Zivilisation und der anderer Gesellschaftsformen."
George sah interessiert auf. "Waren die Verhältnisse früher anders?"
"Völlig anders. Bis vor etwa tausend Jahren gab es noch keine Erziehung; wenigstens nicht in unserem jetzt gebräuchlichen Sinn."
"Ich weiß", stimmte George zu. "Damals lernten die Menschen noch mühsam aus Büchern."
"Wo haben Sie das gelernt?"
"Oh, ich habe zufällig davon gehört", antwortete George vorsichtig. Dann fragte er weiter. "Hat es eigentlich Sinn, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen? Ich meine, das spielt doch eigentlich gar keine Rolle mehr, nicht wahr?"
"Es spielt immer eine Rolle, mein Junge. Die Vergangenheit erklärt die Gegenwart. Weshalb wurde zum Beispiel unser Erziehungssystem eingeführt?"
George bewegte sich unruhig. Warum fing der Kerl immer wieder davon an? Er sagte kurz: "Weil es das beste denkbare System ist."
"Aha. Aber warum ist es das beste? Wenn Sie mir einen Augenblick lang zuhören, werde ich es Ihnen erklären. Dann können Sie selbst beurteilen, ob Geschichtsforschung sinnvoll ist. Selbst bevor die Menschheit zu den Sternen fliegen konnte..." Ingenescu brach ab, als er den erstaunten Ausdruck auf Georges Gesicht wahrnahm. "Dachten Sie etwa, daß die Menschen schon immer dazu fähig gewesen wären?"
"Ich habe nie darüber nachgedacht, Sir."
"Das glaube ich. Vor fünftausend Jahren war die Menschheit noch auf die Oberfläche der Erde beschränkt. Aber selbst damals war die Kultur hoch technisiert, denn nur durch eine hochentwickelte Technik war die Ernährung der ständig wachsenden Bevölkerung einigermaßen gewährleistet. Allerdings dauerte die Ausbildung der Wissenschaftler um so länger, je weiter die technische Entwicklung fortschritt.
Als schließlich der Raumflug Wirklichkeit wurde, behinderte dieser Engpaß jeden weiteren Fortschritt. Die Besiedlung der Planeten außerhalb unseres Sonnensystems wäre schon fünfzehnhundert Jahre früher möglich gewesen, wenn genügend ausgebildete Männer zur Verfügung gestanden hätten.
Die entscheidende Wendung trat erst ein, als die Vorgänge im Innern des menschlichen Gehirns erforscht worden waren. Von diesem Zeitpunkt an war es möglich, jeden Menschen mit sozusagen vorfabriziertem Wissen zu versorgen. Aber das wissen Sie ja selbst.
Nachdem dieser Schritt einmal getan war, konnten Millionen in kürzester Zeit ausgebildet werden, konnte die Eroberung des Universums beginnen - auf friedlichem Wege. Es gibt jetzt bereits fünfzehnhundert bewohnte Planeten, aber das Ende ist noch nicht in Sicht.
Verstehen Sie, was ich damit sagen will. Die Erde exportiert Erziehungsbänder für weniger spezialisierte Berufe und trägt dadurch dazu bei, daß die Verbindung zwischen den Planeten nicht abreißt. Lesebänder, zum Beispiel, vermitteln uns alle die gleiche Sprache... Sie brauchen mich nicht so erstaunt anzustarren. Andere Sprachen sind durchaus möglich und wurden in der Vergangenheit auch benützt.
Die Erde exportiert aber auch hochspezialisierte Techniker und verringert dadurch die Gefahr einer Überbevölkerung. Außerdem erfolgt die Bezahlung für die Bänder und Menschen in Rohstoffen, die wir dringend benötigen. Verstehen Sie jetzt, weshalb unser Erziehungssystem das beste ist?"
"Ja, Sir."
"Begreifen Sie jetzt auch, daß es eine Vorbedingung für die Besiedlung anderer Planeten war?"
"Ja, Sir."
"Dann müssen Sie auch einsehen, daß die Geschichtsforschung einen bestimmten Zweck erfüllt." Ingenescu lächelte. "Ich frage mich nur, ob Sie erraten, warum ich mich für Sie interessiere?"
George kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Offenbar verfolgte Ingenescu eine bestimmte Absicht und wollte George auf die Probe stellen.
Er zögerte einen Augenblick. "Warum?"
"Die Sozialwissenschaft beschäftigt sich mit Gesellschaftsformen, und jede Gesellschaft besteht aus Menschen."
"Richtig."
"Aber Menschen unterscheiden sich von Maschinen. Techniker arbeiten mit Maschinen. Sie haben es leicht, denn über eine Maschine kann man in verhältnismäßig kurzer Zeit alles wissen. Aber Menschen... Sie sind so voneinander verschieden, daß man sie immer wieder studieren muß, um sein eigenes Fachgebiet zu beherrschen; besonders aber ungewöhnliche Typen."
"Wie mich", sagte George tonlos.
"Ich dürfte Sie eigentlich nicht als Typ bezeichnen, aber Sie sind wirklich außergewöhnlich. Wenn Sie nichts dagegen haben, daß ich mich mit Ihnen beschäftige, werde ich Ihnen nach Möglichkeit behilflich sein, Ihr Problem zu lösen."
"Ich muß einen Augenblick darüber nachdenken", bat George. Ingenescu nickte zustimmend. Dann sprach George weiter: "Wollen Sie etwas für mich tun, Sir?"
"Wenn ich es kann", antwortete der Historiker bereitwillig.
"Unser Gespräch ist aber streng vertraulich. Das haben Sie selbst gesagt."
"Richtig."
"Dann verschaffen Sie mir ein Interview mit einem einflußreichen Mann von einem anderen Planeten, mit einem... Novianer."
Ingenescu starrte ihn verblüfft an. "Nun, ich..."
"Sie können es bestimmt", sagte George. "Sie sind selbst bedeutend genug. Ich habe den Polizisten beobachtet, als Sie ihm Ihren Ausweis zeigten. Wenn Sie sich weigern, lasse ich mich nicht studieren."
George hatte selbst das Gefühl, eine leere Drohung ausgesprochen zu haben. Aber auf Ingenescu wirkte sie verblüffend.
Er sagte: "Das ist eine unmögliche Bedingung. Ein Novianer während der Olympischen Spiele..."
"Gut, dann lassen Sie mich mit einem Novianer telephonieren, damit ich selbst ein Gespräch vereinbaren kann."
"Glauben Sie, daß Sie das schaffen?"
"Ich weiß es ganz sicher. Warten Sie nur ab."
Ingenescu warf George einen nachdenklichen Blick zu und griff dann nach dem Hörer des Visiphons.
George wartete gespannt. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Nichts. Er würde doch noch nach Novia auswandern. Trotz Antonelli und den anderen Trotteln in der Anstalt für Schwachsinnige.
George beobachtete, wie der Bildschirm aufleuchtete. Jetzt mußten gleich einige Novianer darauf zu sehen sein - ein Stück Novia, das auf die Erde verpflanzt worden war. In nur vierundzwanzig Stunden hatte er das alles geschafft.
Zunächst wurde nur lautes Gelächter hörbar, während auf dem Bildschirm undeutliche Gestalten von Männern und Frauen auftauchten und wieder verschwanden. Dann erklang eine laute Stimme. "Ingenescu? Er will mit mir sprechen?"
Nun erschien ein einzelner Mann auf dem Bildschirm. Ein Novianer. Ein echter Novianer. (George zweifelte nicht einen Augenblick daran, denn der Mann wirkte auf unerklärliche Weise fremdartig.)
Er lächelte. "Ladislaus, das geht zu weit. Wir sind darauf vorbereitet, während unseres Aufenthalts auf der Erde überwacht zu werden, aber Gedankenleserei ist doch etwas unverschämt."
"Gedankenleserei, Ehrenwerter?"
"Geben Sie es lieber gleich zu! Sie haben gewußt, daß ich Sie heute abend anrufen wollte. Sie haben gewußt, daß ich nur noch austrinken wollte." Er hob die Hand und zeigte ein Glas, das mit einer hellvioletten Flüssigkeit gefüllt war. "Leider kann ich Ihnen keinen Drink anbieten."
George saß in einem toten Winkel des Hotelzimmers, wo der Novianer ihn nicht sehen konnte. Er war froh darüber, denn seine Nervosität kannte im Augenblick keine Grenzen. Aber er mußte sich konzentrieren, mußte ruhiger werden...
Er hatte recht gehabt. Er hatte sich nicht verschätzt. Ingenescu war ein bedeutender Mann. Der Novianer hatte ihn mit dem Vornamen angesprochen.
Ausgezeichnet! Alles schien zu klappen. Was George durch Antonelli verloren hatte, würde er durch Ingenescu wieder hereinholen. Und eines Tages würde er wieder auf die Erde zurückkommen, sich von jedermann mit "Ehrenwerter" ansprechen lassen und seine Rechnung mit Antonelli begleichen...
Er war so in Gedanken verloren, daß er erst einige Minuten später bemerkte, daß er das Gespräch zwischen Ingenescu und dem Novianer nicht weiter verfolgt hatte.
"Das ist nicht stichhaltig", sagte der Novianer eben. "Unsere Zivilisation ist ebenso fortgeschritten wie eure. Schließlich sind wir nicht Zeston. Deshalb ist es lächerlich, daß wir einzelne Techniker von hier importieren."
"Nur die letzten Modelle", meinte Ingenescu beruhigend. "Sie müssen berücksichtigen, daß der Bedarf an neuem Material sich nie ganz sicher feststellen läßt. Die Erziehungsbänder würden genauso viel wie tausend Techniker kosten - und woher wollen Sie wissen, daß Sie nicht nur dreihundert brauchen?"
Der Novianer leerte sein Glas und lachte. (George war darüber beunruhigt, daß der Mann schon wieder nach einem gefüllten Glas griff. War er etwa bereits betrunken?)
"Das ist doch nur eine fromme Lüge, Ladislaus", sagte der Novianer. "Sie wissen genau, daß wir jede Menge Techniker brauchen können. Allein heute nachmittag habe ich wieder fünf Metallurgen angeworben..."
"Ich weiß", warf Ingenescu ein. "Ich war dort."
"Aha, Sie spionieren mir also nach!" rief der andere aus. "Hören Sie zu, ich will Ihnen die Sache erklären. Diese neuen Metallurgen unterscheiden sich von den alten nur dadurch, daß sie den Beeman-Spektrographen bedienen können. Im Grunde genommen sind die Bänder also nicht einmal so viel (er drückte Daumen und Zeigefinger zusammen) von denen verschieden, die letztes Jahr benutzt wurden. Ihr bringt nur immer wieder neue Modelle heraus, um uns dazu zu zwingen, mit dem Hut in der Hand auf die Erde zu kommen und sie zu kaufen."
"Wir zwingen euch nicht dazu."
"Nein, aber ihr verkauft die letzten Modelle an Landonum, und wir müssen darauf achten, daß wir den Anschluß nicht verlieren. Das ist vielleicht ein ganz hübsches Karussell, aber eines Tages finden wir doch noch einen Ausweg." Er lachte kurz.
"Das hoffe ich ebenfalls", antwortete Ingenescu ernsthaft. "Aber ich habe eigentlich angerufen, um Sie..."
"Richtig, Sie haben angerufen. Na schön, ich weiß ohnehin, daß wir nächstes Jahr wieder einen Haufen Geld für neue Metallurgen ausgeben werden, weil ihr wieder etwas an ihnen verändert habt, aber... Also, was wollten Sie von mir, Ladislaus?"
"Ich habe einen jungen Mann hier, der Sie sprechen möchte."
"Oh?" Der Novianer schien nicht übermäßig begeistert zu sein. "In welcher Angelegenheit?"
"Das kann ich nicht sagen. Er hat es mir nicht erzählt. Er hat mir nicht einmal seinen Namen und seinen Beruf verraten."
Der Novianer runzelte die Stirn. "Warum soll ich mir dann von ihm meine Zeit stehlen lassen?"
"Er scheint sich ziemlich sicher zu sein, daß Sie an dem Interesse haben werden, was er zu sagen hat."
"Wirklich?"
"Außerdem würden Sie mir damit einen Gefallen erweisen", fügte Ingenescu hinzu.
Der Novianer zuckte mit den Schultern. "Schön, lassen Sie ihn an den Apparat. Aber er soll keine langen Reden schwingen."
Ingenescu trat zur Seite und flüsterte George zu: "Sprechen Sie ihn als ›Ehrenwerter‹ an."
George schluckte trocken. Der entscheidende Augenblick war gekommen.
George spürte, daß ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Aber trotzdem war er überraschend ruhig und gefaßt, als er seine Gedanken vortrug, die ihm erst in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gekommen waren.
George sagte: "Ehrenwerter, ich kann Ihnen einen Ausweg aus dem ewigen Karussell zeigen." Er benutzte absichtlich das gleiche Bild wie zuvor der Novianer.
Der Novianer sah ihn ernst an. "Welches Karussell meinen Sie?"
"Sie haben selbst davon gesprochen, Ehrenwerter. Das Karussell, von dem Novia nicht mehr herunter kann, so daß Ihr Planet jedes Jahr neue Techniker auf der Erde anwerben muß." (Er spürte, daß seine Zähne aufeinanderschlugen - aber vor Aufregung, nicht aus Angst.)
Der Novianer nickte. "Sie behaupten also, einen Ausweg gefunden zu haben, durch den wir vermeiden könnten, in Zukunft unsere Nachwuchskräfte von der Erde zu beziehen. Habe ich Sie richtig verstanden?"
"Genau, Sir. Sie könnten ein eigenes Erziehungssystem aufbauen."
"Hmm. Ohne Bänder?"
"J-ja, Ehrenwerter."
Der Novianer sah weiterhin George an, als er ausrief: "Ingenescu, lassen Sie sich wieder sehen!"
Der Historiker blieb hinter George stehen und sah ihm über die Schulter.
"Was soll das alles?" erkundigte der Novianer sich. "Anscheinend verstehe ich den jungen Mann nicht ganz."
"Ich versichere Ihnen", beteuerte Ingenescu, "daß er alles aus eigenem Antrieb tut. Ehrenwerter. Ich habe ihn nicht dazu angehalten und habe nichts damit zu schaffen."
"Gut, aber weshalb setzen Sie sich dann für ihn ein? Warum rufen Sie mich seinetwegen an?"
"Er ist ein Studienobjekt, Ehrenwerter", erklärte Ingenescu dem Novianer. "Für mich ist er wertvoll, deshalb versuche ich ihn bei guter Laune zu halten."
"In welcher Beziehung ist er wertvoll?"
"Das ist schwer zu erklären; es hängt mit meinem Beruf zusammen."
Der Novianer lachte kurz. "Schön, jeder auf seine eigene Weise." Er wandte sich an die Personen, die hinter ihm zu stehen schienen, obwohl sie im Augenblick nicht sichtbar waren. "Hier ist Ingenescus Protegé, ein junger Mann, der uns erklären will, wie man ein Erziehungssystem ohne Bänder aufbaut." Er ließ sich ein neues Glas geben und wandte sich wieder an George. "Nun, junger Freund?"
Auf dem Bildschirm waren nun mehrere Männer und Frauen sichtbar. Ihre Gesichter ließen erkennen, daß sie sich von der Unterhaltung mit George einen guten Spaß erhofften.
George versuchte zuversichtlich zu wirken, obwohl er genau wußte, daß er ein schlechter Schauspieler war. Ingenescu saß wieder in seinem Sessel und beobachtete ihn von dort aus.
Dummköpfe, dachte George, alles Dummköpfe. Aber sie würden verstehen, was er zu sagen hatte. Er würde sie dazu zwingen.
Er sagte: "Ich habe heute nachmittag den Wettkampf für Metallurgen gesehen."
"Sie auch?" fragte der Novianer amüsiert. "Offensichtlich war die ganze Erde dort versammelt."
"Nein, Ehrenwerter, aber ich war dort. Ein Freund von mir nahm daran teil und schnitt sehr schlecht ab, weil diesmal Beeman-Geräte verwendet wurden. Seine Erziehung umfaßte nur Henslers, offenbar ein älteres Modell. Sie selbst sagten vorher, daß die Veränderung geringfügig sei." George hielt Daumen und Zeigefinger hoch und ahmte bewußt die Geste des Novianers nach. "Und mein Freund hatte schon einige Zeit vorher erfahren, daß die eingehende Kenntnis der Beeman-Geräte erforderlich sein würde."
"Und was bedeutet das?"
"Mein Freund hatte seit frühester Jugend von einer Auswanderung nach Novia geträumt. Er kannte die Hensler-Geräte. Vermutlich hätte er innerhalb kürzester Zeit auch die heute verwendeten Apparate bedienen können, wenn er zusätzliche Informationen zur Verfügung gehabt hätte. Da sein Ehrgeiz zudem..."
"Und wo hätte er sich ein Band mit den zusätzlichen Informationen beschaffen sollen? Oder kann man sich auf der Erde jetzt schon durch Fernlehrgänge erziehen lassen?"
Die Gestalten im Hintergrund lachten pflichtbewußt.
"Eben aus diesem Grund hat er nichts gelernt, Ehrenwerter", fuhr George unbeirrt fort. "Er bildete sich nämlich ein, er brauche dazu unbedingt ein Band. Ohne dieses mechanische Hilfsmittel wollte er nicht einmal den Versuch dazu unternehmen, obwohl der Preis wirklich verlockend genug war."
"Nicht einmal versuchen wollte er es? Vermutlich gehört er also zu der Sorte Menschen, die nicht ohne Flugzeug fliegen wollen." Als das Gelächter sich wieder gelegt hatte, fuhr der Novianer fort: "Sprechen Sie ruhig weiter, junger Mann. Wir wollen Ihnen gern noch ein paar Minuten lang zuhören."
"Ich meine es bitter ernst", beteuerte George. "Bänder sind wirklich nicht so gut, wie die meisten Menschen annehmen. Auf diese Weise lernt man eigentlich zu viel und zu mühelos. Ein Mann, der sie benützt, weiß gar nicht, daß es auch andere Lernmethoden gibt.
Wenn nun alle selbst lernen müßten, würden sie sich daran gewöhnen und später nie damit aufhören. Ist das nicht nur logisch? Im Lauf der Zeit ist es vielleicht ratsam, das Gelernte durch Bänder zu vertiefen, aber im Prinzip kann man ohne sie auskommen. Auf diese Weise könnten sie Ihre Hensler-Metallurgen auf Beeman-Geräte umschulen, ohne auf der Erde neue anwerben zu müssen."
Der Novianer nickte und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
"Und woher nimmt man diese Kenntnisse ohne Erziehungsbänder? Aus dem interstellaren Vakuum?"
"Aus Büchern. Indem man die Geräte und ihre Funktion studiert. Indem man denkt."
"Bücher? Wie versteht man Bücher, ohne dazu erzogen zu sein?"
"Bücher bestehen aus Wörtern. Die meisten Wörter sind ohne weiteres verständlich. Spezialausdrücke können von den Technikern erläutert werden, die Sie bereits früher angeworben haben."
"Und wie sollen die Leute lesen lernen? Wollen Sie auch den Gebrauch von Lesebändern verbieten?"
"Lesebänder sind nicht schlecht, aber im Grunde genommen ist nicht einzusehen, weshalb man nicht auch hier die alte Methode anwenden sollte. Zumindest teilweise."
Der Novianer sagte: "Damit man sich nicht gleich von Anfang an schlechte Gewohnheiten zulegt?"
"Ja, ganz richtig", bestätigte George hoffnungsvoll. Endlich schien der andere ihn zu verstehen.
"Und wie steht es mit Mathematik?"
"Das ist leichter als alles andere, Sir... Ehrenwerter. Mathematik unterscheidet sich von allen übrigen Wissensgebieten dadurch, daß sie mit einfachsten Grundbegriffen beginnt, auf die sich alles andere logisch aufbaut. Man kann von vorn beginnen und einfach weiterlernen. Wenn man erst einmal genügend Mathematik beherrscht, bieten technische Bücher keine große Schwierigkeit mehr. Schließlich kann man mit einfacheren anfangen."
"Gibt es einfache Bücher?"
"Selbstverständlich. Aber selbst wenn keine vorhanden wären, könnten Ihre Techniker sie ohne weiteres verfassen. Dadurch würden sie ihre Kenntnisse anderen zugänglich machen."
"Großer Gott", sagte der Novianer zu den Umstehenden, "der junge Mann weiß für alles eine Antwort."
"Das stimmt auch", meinte George zuversichtlich. "Fragen Sie ruhig weiter."
"Haben Sie selbst schon aus Büchern zu lernen versucht? Oder ist das nur eine schöne Theorie?"
George warf Ingenescu einen raschen Blick zu, aber der Historiker schien nicht übermäßig interessiert.
"Ja", antwortete George.
"Finden Sie, daß es funktioniert?"
"Ja, Ehrenwerter", antwortete George rasch. "Nehmen Sie mich nach Novia. Ich kann das Erziehungssystem aufbauen und..."
"Warten Sie, ich habe noch einige Fragen. Wie lange würden Sie Ihrer Meinung nach brauchen, um sich selbst zu einem Metallurgen auszubilden, der die Beeman-Geräte beherrscht? Natürlich unter der Voraussetzung, daß Sie keine Vorkenntnisse besitzen und keine Erziehungsbänder verwenden."
George zögerte. "Nun... vielleicht eine Anzahl von Jahren."
"Zwei Jahre? Fünf? Zehn?"
"Das kann ich nicht sagen, Ehrenwerter."
"Endlich eine wichtige Frage, die Sie nicht beantworten können, nicht wahr? Sollen wir fünf Jahre annehmen? Klingt das wahrscheinlich?"
"Ich nehme es an."
"Ausgezeichnet. Stellen Sie sich also einen jungen Mann vor, der nach Ihrer Methode fünf Jahre braucht, bis er fertig ausgebildet ist. Sie müssen doch zugeben, daß er in dieser Zeitspanne für uns nutzlos ist, weil er uns nur auf der Tasche liegt."
"Aber..."
"Lassen Sie mich ausreden. Bis er also endlich ein Beeman-Gerät gebrauchen kann, sind fünf Jahre vergangen. Glauben Sie nicht auch, daß es bis dahin neue Beemans gibt, die er nicht kennt?"
"Aber dann weiß er bereits, wie man richtig lernt, und kann alles Neue in wenigen Tagen dazulernen."
"Das behaupten Sie. Und nehmen wir einmal an, Ihr junger Freund, den Sie vorher erwähnten, hätte alle seine Kenntnisse durch Selbststudium aus Büchern erworben - würde er dann die Beeman-Geräte ebenso gut beherrschen wie seine Konkurrenten, die von Erziehungsbändern gelernt haben?"
"Vielleicht nicht...", meinte George.
"Aha", sagte der Novianer.
"Warten Sie, lassen Sie mich ausreden. Selbst in diesem Fall könnte er immerhin weiterlernen - und nur das ist entscheidend. Er könnte neue Erfindungen machen, an die seine Konkurrenten nicht im Traum denken würden. Sie hätten damit ein unerschöpfliches Reservoir an geschulten Denkern zur Verfügung..."
"Haben Sie im Laufe Ihres Selbststudiums schon eine neuartige Erfindung gemacht?" erkundigte der Novianer sich.
"Nein, aber ich war auch ganz allein und habe mich noch nicht lange genug mit der Materie befaßt..."
"Richtig." Der Novianer drehte sich zu den anderen um. "Nun, meine Damen und Herren, haben Sie sich ausreichend amüsiert?"
"Warten Sie doch!" rief George entsetzt. "Ich muß Ihnen alles persönlich erklären. Die Details lassen sich nicht innerhalb von wenigen Minuten erläutern. Ich..."
Der Novianer sah zu Ingenescu hinüber. "Ladislaus! Sie können nicht sagen, daß ich ungefällig gewesen bin. Aber morgen habe ich wirklich sehr viel zu tun. Leben Sie wohl!"
Der Bildschirm wurde dunkel.
George rüttelte verzweifelt an dem Visiphon, als wolle er es dadurch wieder zum Leuchten bringen. "Er hat kein Wort geglaubt! Er hat kein Wort geglaubt!" rief er zutiefst enttäuscht.
"Nein, George", bestätigte Ingenescu. "Dachten Sie wirklich, daß er auf Ihren Vorschlag eingehen würde?"
George hörte kaum zu. "Aber warum denn nicht? Ich habe doch nicht gelogen! Die Vorteile wären alle auf seiner Seite gewesen. Nicht das geringste Risiko! Ich hätte ihnen alles gezeigt... Die Ausbildung für ein Dutzend Männer hätte weniger gekostet als jetzt ein einziger Techniker... Er muß betrunken gewesen sein. Völlig betrunken! Deshalb hat er mich nicht verstanden."
George sah sich atemlos um. "Wie komme ich zu ihm? Ich muß noch einmal mit ihm sprechen, aber nicht nur am Visiphon, sondern in aller Ruhe. Ich brauche einfach mehr Zeit, um ihn zu überzeugen. Wie..."
"Man wird Sie gar nicht zu ihm vorlassen, George", warf Ingenescu ein. "Außerdem würde er Ihnen doch nicht glauben."
"Doch! Wenn er nicht wieder betrunken ist. Er..." George wandte sich zu dem Historiker um und starrte ihn erstaunt an. "Weshalb nennen Sie mich George?"
"Heißen Sie denn nicht so? George Platen?"
"Sie kennen mich?"
"Ich weiß alles über Sie."
George blieb wie erstarrt in seiner Ecke stehen.
"Ich möchte Ihnen helfen, George", fuhr Ingenescu fort. "Ich habe Sie studiert und möchte Ihnen deshalb helfen."
"Ich brauche keine Hilfe!" schrie George. "Die ganze Welt ist schwachsinnig, aber ich bin es nicht!" Er warf sich herum und stürzte auf die Tür zu.
Als er sie aufriß, tauchten zwei stämmige Polizisten auf und nahmen ihn in ihre Mitte.
Obwohl George sich verzweifelt wehrte, erhielt er eine Beruhigungsspritze, die augenblicklich wirkte. Er nahm nur noch wahr, daß Ingenescu mit einem besorgten Lächeln über ihm stand.
George schlug die Augen auf und starrte die grellweiße Zimmerdecke an. Er erinnerte sich an alles, was geschehen war. Aber in seiner Erinnerung spielte ein anderer die Hauptrolle. Er starrte die Zimmerdecke an, bis ihm die Augen schmerzten; dann schloß er sie und dachte angestrengt nach.
Er konnte nicht beurteilen, wie lange er so seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte.
Dann hörte er eine Stimme. "Bist du wach?"
Und George nahm zum erstenmal wahr, daß er leise stöhnte. Hatte er auch vorher gestöhnt? Er versuchte den Kopf zu bewegen.
Die Stimme sagte: "Hast du Schmerzen, George?"
George konnte nur flüstern. "Seltsam. Ich wollte so gern von der Erde fort. Ich hatte noch nicht verstanden..."
"Weißt du, wo du bist?"
"Wieder in der... der Anstalt." George drehte sich mühsam um. Die Stimme gehörte Omani.
"Seltsam, daß ich das alles nicht vorher verstanden habe", sagte George.
Omani lächelte. "Du mußt jetzt schlafen..."
George schlief.
Und wachte kurze Zeit später wieder auf. Sein Kopf war völlig klar.
Omani saß lesend neben seinem Bett, legte aber das Buch fort, als George die Augen öffnete.
George richtete sich in eine sitzende Stellung auf. "Hallo", sagte er.
"Hast du Hunger?"
"Natürlich." Er starrte Omani neugierig an. "Ich bin ständig unter Bewachung gewesen, nicht wahr?"
Omani nickte. "Dauernd. Wir wollten dich mit Antonelli zusammenbringen, damit du deinen Aggressionstrieb befriedigen konntest. Wir waren der Meinung, daß du dann größere Fortschritte machen würdest."
"Ich habe mich geirrt", gab George verlegen zu.
"Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Als du auf dem Flughafen in San Francisco die Anzeigetafel für den Metallurgenwettbewerb anstarrtest, meldete einer unserer Leute die Namen der Teilnehmer. Wir beide hatten uns oft genug über deine Vergangenheit unterhalten, so daß ich die Bedeutung des Namens Trevelyan sofort erfaßte. Du hast dich nach dem kürzesten Weg zu dem Wettkampfort erkundigt; deshalb bestand die Möglichkeit, daß es dort zu der Krise kommen würde, auf die wir gewartet hatten. Folglich wurde Ladislaus Ingenescu in die Halle geschickt."
"Er spielt eine bedeutende Rolle innerhalb der Regierung, nicht wahr?"
"Ja."
"Und trotzdem gab er sich mit mir ab. Das läßt mich auch ein bißchen wichtig erscheinen."
"Du bist wichtig, George."
Das Essen kam. George stürzte sich hungrig darauf. Omani schwieg, bis George fertig war.
Dann sagte George: "Ich bin vorher schon einmal für kurze Zeit aufgewacht."
"Ja, ich weiß", antwortete Omani. "Ich war hier."
"Richtig, jetzt erinnere ich mich wieder. Weißt du, alles war plötzlich verändert. Ich war viel zu müde und erschöpft, um mich von Gefühlen beeinflussen zu lassen. Ich konnte mich nicht einmal ärgern, sondern nur nachdenken. Als ob ich eine Spritze bekommen hätte, die alle Gefühlsregungen lähmte..."
"Du hast keine bekommen", sagte Omani. "Nur ein leichtes Beruhigungsmittel. Aber du hattest dich ausgeruht."
"Jedenfalls fiel mir zum erstenmal ein, was ich auf Novia hatte tun wollen - ich hatte junge Leute mit Hilfe von Büchern unterrichten wollen. Aber dadurch hätte ich nur eine Anstalt für Schwachsinnige ins Leben gerufen... wie hier... und auf der Erde gibt es schon einige davon... zu viele."
Omanis weiße Zähne blitzten auf, als er lächelte. "Institut für Erwachsenenbildung wäre vielleicht ein besserer Name dafür."
"Jetzt sehe ich alles so deutlich, daß ich mich geradezu über meine bisherige Blindheit wundere", fuhr George fort. "Wer erfindet denn eigentlich die neuartigen Geräte, die nur von neu ausgebildeten Technikern bedient werden können? Wer hat zum Beispiel den Beeman-Spektrographen erfunden? Ein Mann namens Beeman, vermute ich, aber er kann nicht auf die übliche Weise erzogen worden sein, denn wie hätte er dann Verbesserungen erfinden können?"
"Genau."
"Oder wer stellt eigentlich Erziehungsbänder her? Speziell für diese Aufgabe geschulte Techniker? Aber wer ist für die Bänder verantwortlich, mit denen sie ausgebildet werden? Noch besser ausgebildete Techniker? Und wer stellt die Bänder her, mit denen... Du siehst, was ich damit sagen will. Irgendwann muß diese scheinbar endlose Reihe ein Ende haben. Irgendwo muß es Männer und Frauen geben, die selbständig denken können."
"Richtig, George."
George lehnte sich in die Kissen zurück und starrte Omani beunruhigt an.
"Warum hat man mir das nicht von Anfang an erzählt?"
"Wir hätten es gern getan, um uns einige Mühe zu ersparen", gab Omani bereitwillig zurück. "Wir können zwar feststellen, ob jemand sich für den Beruf eines Architekten oder eines Waldarbeiters eignet, aber die menschliche Erfindungsgabe entzieht sich jeder noch so eingehenden Untersuchung. Wir haben nur ungefähre Anhaltspunkte, mit deren Hilfe wir einzelne Menschen aussondern, denen diese Begabung unter Umständen angeboren ist.
Diese Talente werden bereits am Lesetag festgestellt und gemeldet. Deine Karte erhielt damals auch einen besonderen Vermerk. Aber das geschieht selten genug - vielleicht in einem von zehntausend Fällen. Am Erziehungstag wird die erste Meldung nochmals überprüft, wobei sich bei neunzig Prozent der Betroffenen herausstellt, daß ein Irrtum vorlag. Die restlichen zehn Prozent werden in Anstalten wie dieser hier untergebracht."
George schüttelte den Kopf. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß es schaden würde, wenn man den Leuten klarmachen würde, daß einer von hunderttausend ausgesondert werden wird. Weshalb eigentlich nicht? Dann hätten die Ausgesonderten es leichter."
"Und die übrigen? Wir dürfen nicht riskieren, daß die anderen sich alle als Versager betrachten. Sie haben ein bestimmtes Berufsziel, das sie vielleicht sogar erreichen. Das ist auch notwendig, damit jeder Mensch seinen Platz innerhalb unserer Gesellschaftsordnung einnimmt, zu dem er befähigt ist."
"Aber wir?" fragte George. "Der Ausnahmefall unter zehntausend?"
"Wir dürfen nichts davon erfahren. Das ist der endgültige Nachweis. Selbst von zehn jungen Menschen, die nach dem Erziehungstag hierher kommen, sind wieder neun Versager - aber es gibt keine Methode, mit der sich diese Tatsache nachprüfen ließe. Der zehnte muß sich selbst zu erkennen geben; er muß beweisen, daß in ihm ein schöpferisch veranlagtes Genie steckt."
"Wie?"
"Man bringt ihn in eine Anstalt für Schwachsinnige, und der Mann, der nie mit seiner Einlieferung zufrieden ist, entspricht unseren Vorstellungen. Die Methode ist manchmal geradezu grausam, aber sie funktioniert wenigstens zuverlässig. Man kann nicht einfach zu einem Menschen sagen: ›Du bist ein schöpferisches Genie. Erfinde etwas!‹ Es ist viel sicherer, wenn man darauf wartet, bis er selbst sagt: ›Ich werde etwas erfinden, selbst wenn es euch nicht paßt!‹ Zehntausend Männer und Frauen von deiner Sorte, George, sind für den technischen Fortschritt auf fünfzehnhundert Planeten verantwortlich. Wir können es uns einfach nicht leisten, einen von ihnen unentdeckt verkümmern zu lassen, oder unsere Anstrengungen auf einen zu konzentrieren, der das gesteckte Ziel nicht erreicht."
George stellte seinen Teller beiseite und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.
"Was wird aus den Leuten, die dieses Ziel nicht ganz erreichen?"
"Sie erhalten später doch noch eine konventionelle Ausbildung und werden Sozialwissenschaftler. Ingenescu ist einer. Ich bin ein Registrierter Psychologe. Wir gehören sozusagen zur zweiten Garnitur."
George trank seinen Kaffee aus. "Ich beschäftige mich nur noch mit einer Frage...", meinte er nachdenklich.
"Welche Frage ist dir nicht klar?"
George warf schwungvoll die Bettdecke ab und stand entschlossen auf. "Weshalb heißen diese komischen Wettbewerbe eigentlich Olympische Spiele?"