Arthur C. Clarke Die sieben Sonnen

Science Fiction Roman

Aus dem Englischen übertragen von Tony Westermayr

Titel der englischen Originalausgabe: The City and the Stars

© der Originalausgabe 1956 by Arthur C. Clarke

© der deutschsprachigen Ausgabe 1986


Arthur C. Clarke

ARTHUR C(HARLES) CLARKE ist der bekannteste SFSchriftsteller Englands — zusammen mit Asimov und Heiniein wohl der berühmteste Autor dieses Genres auf der Welt. Seinen Weltruf erlangte er als Mitautor von ›2001 — Odyssee im Weltraum‹. Diesem Film von Stanley Kubrick lag eine Geschichte Clarkes zugrunde, die er später zum Roman ausbaute.

Clarke wurde 1917 in Somerset geboren, begann schon vor dem Zweiten Weltkrieg SF Stories zu schreiben, die jedoch erst nach 1945 von einem Verlag angenommen wurden. Im Krieg war er Offizier, danach studierte er in London Mathematik und Physik. Bereits 1945 hatte er die Idee, durch Nachrichtensatelliten ein weltweites Fernsehprogramm zu ermöglichen. 1950 wurde er freiberuflicher Schriftsteller. Ab den 60er Jahren wandte er sich mehr dem wissenschaftlichen Sachbuch als der SF zu. Schließlich zog er sich fast völlig vom Schreiben zurück und betreibt heute ein Tauchunternehmen auf Sri Lanka (Ceylon). A. C. Clarke hat sämtliche auf dem Gebiet der SF möglichen Preise mehrmals erhalten. Außer ›2001‹ sind seine berühmtesten und von der Kritik am meisten geschätzten Romane ›Die sieben Sonnen‹ und ›Die letzte Generation‹, die auch beim großen Publikum Erfolge wurden.

PROLOG

Wie ein glitzerndes Juwel lag die Stadt inmitten der Wüste. Einst hatte sie Veränderung und Wechsel erfahren, jetzt aber ging die Zeit an ihr vorüber. Tag und Nacht flogen über die Wüste dahin, aber in den Straßen Diaspars war es immer Nachmittag, und niemals brach die Dunkelheit herein. Die langen Winternächte mochten die Wüste mit Reif überziehen, wenn die in der dünnen Luft der Erde enthaltene Feuchtigkeit erstarrte — doch die Stadt kannte weder Hitze noch Kälte. Sie hatte keine Berührung mit der Außenwelt; sie war ein abgeschlossenes Universum.

Auch früher hatten die Menschen Städte gebaut, aber nie eine Stadt wie diese. Manche überdauerten Jahrhunderte, einige sogar Jahrtausende, ehe die Zeit auch ihre Namen verschlang. Allein Diaspar hatte die Ewigkeit herausgefordert, sich und alle, denen sie Schutz gewährte, gegen die langsame Abnutzung der Zeit, die Verheerung der Fäulnis und die Verderbnis des Rostes verteidigt.

Seit der Gründung der Stadt waren die Meere ausgetrocknet, und die Wüste hatte sich über den ganzen Erdball ausgebreitet. Die letzten Berge waren vom Wind und Regen zu Staub zermahlen worden, und die Welt fühlte sich zu müde, um neue Berge hervorzubringen. Die Stadt kümmerte sich nicht darum. Und sollte die Erde selbst zerbröckeln, Diaspar würde die Kinder ihrer Schöpfer schützen und sie sicher den Strom der Zeit hinuntertragen.

Sie hatten viel vergessen, aber das wußten sie nicht. Sie waren an ihre Umwelt so vollkommen angepaßt, wie diese an sie — denn man hatte beide gleichzeitig entworfen. Was jenseits der Stadtmauern lag, berührte sie nicht. Diaspar war alles, was existierte, alles, was sie brauchten, alles, was sie sich vorstellen konnten. Es war ihnen gleichgültig, daß der Mensch die Sterne besessen hatte.

Und doch erhoben sich manchmal die alten Mythen und verfolgten sie; sie wurden unruhig, wenn sie sich an die Legenden des Imperiums erinnerten, als Diaspar noch jung war und vom Handel mit vielen Sternen lebte. Sie wollten die alten Tage nicht wiederbringen; sie waren mit dem ewigen Herbst zufrieden. Der Ruhm des Imperiums gehörte der Vergangenheit an, und dort sollte er bleiben — denn sie dachten auch an das Ende des Imperiums. Bei dem Gedanken an die Invasoren kroch die Eiseskälte des Weltraums in ihren Adern hoch.

Dann wandten sie sich wieder dem Leben und der Wärme der Stadt zu, dem langen goldenen Zeitalter, dessen Anfang bereits im Nebel der Vergangenheit verloren und dessen Ende noch entfernter war. Andere Menschen hatten von einem solchen Zeitalter geträumt, aber sie allein hatten es erreicht.

Denn sie hatten in der gleichen Stadt gelebt, waren die gleichen, wunderbar unveränderten Straßen gegangen, während mehr als tausend Millionen Jahre dahingezogen waren.

1

Sie hatten viele Stunden gebraucht, um sich aus der Höhle der weißen Drachen frei zu kämpfen. Selbst jetzt wußten sie nicht genau, ob sie noch von den Ungeheuern verfolgt wurden — und die Leistungskraft ihrer Waffen war beinahe erschöpft. Voraus wies ihnen der schwebende Lichtpfeil, ihr geheimnisvoller Führer im Labyrinth des Kristallberges, den Weg. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, obwohl er sie in noch schrecklichere Gefahren locken konnte.

Alvin sah sich nach seinen Begleitern um. Dicht hinter ihm ging Alystra; sie trug die Kugel aus kaltem, unauslöschlichem Licht, die seit dem Beginn ihres Abenteuers so viele Schrecken und so viele Schönheiten enthüllt hatte. Der blasse, weiße Glanz überflutete den engen Gang und fiel von den glitzernden Wänden zurück; solange die Kugel schimmerte, konnten sie ihren Weg erkennen und jede sichtbare Gefahr sofort entdecken. Aber die größten Gefahren in diesen Höhlen, das wußte Alvin nur allzugut, waren keineswegs die sichtbaren.

Hinter Alystra schleppten sich Narillian und Floranus mit den schweren Projektoren ab. Alvin fragte sich, warum die Projektoren so schwer waren; es wäre so einfach gewesen, sie mit Schwerkraftneutralisatoren zu versehen. Er dachte immer an solche Dinge, selbst mitten in den aufregendsten Abenteuern. Wenn solche Gedanken in ihm auftauchten, schien es, als erzittere für einen Augenblick die Struktur der Wirklichkeit, und er würfe hinter der Welt der Sinne einen Blick auf ein anderes Universum…

Der Gang endete vor einer nackten Felswand. Hatte sie der Pfeil wieder betrogen? Nein — als sie näher kamen, zerbröckelte der Fels zu Staub.

Durch die Mauer drang ein wirbelnder Metallspeer, der sich schnell zu einer riesigen Schraube verbreiterte. Alvin und seine Freunde zogen sich etwas zurück und warteten, bis die Maschine den Fels durchstoßen hatte. Mit ohrenbetäubendem Kreischen brach das Fahrzeug durch die Wand und kam neben ihnen zum Stehen. Eine massive Stahltür öffnete sich, und Callistron rief ihnen zu, sich zu beeilen. Warum Callistron? dachte Alvin. Was macht er hier? Einen Augenblick später waren sie in Sicherheit; die Maschine schwankte, als sie ihre Fahrt durch die Tiefen der Erde antrat.

Das Abenteuer war vorüber. Wie immer würden sie bald zu Hause sein, und das ganze Wunder, der Schrecken und die Aufregung würden hinter ihnen liegen. Sie waren müde und zufrieden. Alvin erkannte an der Neigung des Bodens, daß das unterirdische Fahrzeug in die Erde hinabfuhr.


Vermutlich wußte Callistron, was er tat, und dieser Weg führte tatsächlich nach Hause. Dennoch schien es bedauerlich…

„Callistron“, sagte er plötzlich, „warum gehen wir nicht nach oben?

Niemand weiß, wie der Kristallberg wirklich aussieht. Wie herrlich wäre es, irgendwo an seinen Hängen hinauszukommen, den Himmel und das Land ringsumher zu sehen. Wir waren lange genug unten.“

Schon als er diese Worte sprach, wußte er irgendwie, daß sie unrecht waren. Alystra schrie auf, das Innere des Untergrundfahrzeugs flimmerte wie ein Bild im Wasser, und jenseits der Metallwände, von denen sie umgeben waren, bemerkte Alvin wieder dieses andere Universum. Die zwei Welten schienen miteinander in Widerstreit zu liegen, wobei erst die eine, dann die andere das Übergewicht gewann. Dann war ganz plötzlich alles vorbei. Ein knackendes, reißendes Gefühl — und der Traum war zu Ende. Alvin befand sich wieder in Diaspar, in seinem eigenen, vertrauten Raum, einen halben Meter über dem Boden schwebend, da ihn das Schwerkraftfeld vor der Berührung mit der groben Materie schützte.

Er war wieder er selbst. Dies war die Wirklichkeit — und er wußte genau, was nun geschehen würde.

Alystra erschien als erste. Sie war eher verwirrt als ärgerlich, denn sie liebte Alvin sehr.

„Ach, Alvin!“ jammerte sie, als sie von der Wand auf ihn heruntersah, in der sie sich anscheinend materialisiert hatte. „Das Abenteuer war so aufregend! Warum mußtest du es verderben?“

„Es tut mir leid! Ich wollte eigentlich nicht — ich dachte nur, es wäre eine gute Idee…“

Er wurde vom gleichzeitigen Erscheinen Callistrons und Floranus' unterbrochen.

„Jetzt hör mal zu, Alvin“, begann Callistron. „Das ist nun das dritte Mal, daß du ein Abenteuer unterbrichst. Du hast gestern die Szene durchbrochen, als du aus dem Tal der Regenbogen emporzuklettern versuchtest.

Und am Tag vorher brachtest du alles durcheinander, als du die Zeitspur bis zum Ursprung zurückverfolgen wolltest. Wenn du die Regeln nicht einhältst, mußt du in Zukunft allein gehen.“

Zornig verschwand er mit Florarius. Narillian erschien überhaupt nicht; wahrscheinlich hatte er die ganze Sache satt. Nur das Bild Alystras blieb übrig und schaute traurig auf Alvin herab.

Alvin kippte das Schwerkraftfeld, stellte sich auf die Füße und ging zu dem Tisch, den er materialisiert hatte. Eine Schale mit exotischen Früchten erschien darauf — nicht die Speisen, die er eigentlich wünschte; in der Verwirrung waren seine Gedanken abgeirrt. Er wollte seinen Fehler nicht aufdecken, nahm die am wenigsten gefährlich aussehende Frucht und begann vorsichtig, an ihr zu saugen.

„Nun“, sagte Alystra schließlich, „was willst du tun?“

„Ich kann's nicht ändern“, erwiderte er mürrisch. „Ich halte die Regeln für Unsinn. Außerdem, wie soll ich mich an sie erinnern, wenn ich ein Abenteuer erlebe? Ich benehme mich ganz natürlich. Wolltest du denn den Berg nicht sehen?“

Alystras Augen weiteten sich entsetzt.

„Das hätte doch bedeutet, nach draußen zu gehen!“ stieß sie hervor.

Alvin wußte, daß es zwecklos war, weiterzudiskutieren. Hier lag die Schranke, die ihn von allen Menschen seiner Welt trennte und die ihn zu einem Leben der Enttäuschung zu verurteilen drohte. Er wünschte immer, nach draußen zu gehen, in Wirklichkeit wie im Traum. Und dabei war ›draußen‹ für jeden Menschen in Diaspar ein Alptraum, den keiner ertrug. Wenn es sich vermeiden ließ, sprach man nie darüber; es war etwas Unreines und Böses. Nicht einmal Jeserac, sein Hauslehrer, wollte ihm den Grund verraten…

Alystra beobachtete ihn immer noch besorgt und zärtlich zugleich. „Du bist unglücklich, Alvin“, sagte sie. „In Diaspar sollte niemand unglücklich sein. Laß mich hinüberkommen und mit dir sprechen.“

Alvin schüttelte unhöflich den Kopf. Er wußte, wo das hinführen würde.

Im Augenblick wollte er allein sein. Alystra verschwand enttäuscht.

In einer Stadt von zehn Millionen, dachte Alvin, gab es nicht einen einzigen Menschen, mit dem er wirklich reden konnte. Eriston und Etania hatten ihn auf ihre Weise gern, aber jetzt, da ihre Vormundschaft zu Ende ging, waren sie froh, ihn seinen eigenen Vergnügungen und der Gestaltung seines weiteren Lebens überlassen zu können. Als in den letzten Jahren seine Abweichung von der üblichen Art immer deutlicher zutage getreten war, hatte er oft den Groll seiner Eltern gefühlt. Nicht ihm persönlich gegenüber — das hätte er wahrscheinlich leichter bekämpfen können —, sondern gegen den unglücklichen Zufall, der ausgerechnet sie aus den Millionen Menschen der Stadt ausersehen hatte, ihm zu begegnen, als er vor zwanzig Jahren aus der Halle der Schöpfung getreten war.

Zwanzig Jahre. Er konnte sich an den ersten Augenblick erinnern und an die ersten Worte, die er jemals gehört hatte: „Willkommen, Alvin. Ich bin Eriston, dein ausgewählter Vater. Das ist Etania, deine Mutter.“ Die Worte hatten ihm damals nichts bedeutet, aber sein Verstand zeichnete sie mit fehlerloser Genauigkeit auf. Er erinnerte sich daran, wie er an seinem Körper heruntergesehen hatte; er war jetzt ein paar Zentimeter größer, hatte sich aber seit dem Augenblick seiner Geburt kaum verändert. Er war fast völlig erwachsen auf die Welt gekommen und würde sich wenig geändert haben, wenn es in tausend Jahren Zeit war, sie wieder zu verlassen.

Vor dieser ersten Erinnerung lag nichts. Eines Tages vielleicht würde dieses Nichts wiederkehren, aber diese Vorstellung war zu entlegen, um seine Gefühle in irgendeiner Weise berühren zu können.

Er wandte seine Gedanken wieder dem Geheimnis seiner Geburt zu. Es schien ihm nicht seltsam, daß er in einem einzigen Augenblick von den Mächten und Kräften geschaffen worden war, die alle anderen Dinge seines Alltagslebens erzeugten. Nein, das war nicht das Geheimnis. Das Rätsel, das er nie zu lösen vermochte und das ihm nie jemand erklären würde, war seine Einzigartigkeit.

Einzigartig. Es war ein seltsames, trauriges Wort — seltsamer und trauriger, so zu sein. Wenn es auf ihn angewendet wurde — er hatte es oft gehört, wenn ihn niemand in der Nähe glaubte —, schienen unheimliche Untertöne mitzuschwingen, die mehr als nur seine persönliche Glückseligkeit bedrohten.

Seine Eltern, sein Lehrer — jeder, den er kannte — hatten versucht, ihn vor der Wahrheit zu beschützen, als seien sie ängstlich bemüht, die Unschuld seiner langen Kindheit zu bewahren. Dieser Vorwand mußte bald entfallen; in wenigen Tagen würde er ein vollberechtigter Bürger Diaspars sein, und man würde ihm nichts vorenthalten können, was er zu wissen begehrte.

Warum, zum Beispiel, paßte er nicht in die Abenteuer? Von den vielen tausend Formen der Erholung in dieser Stadt waren sie die populärste.

Wenn man in ein Abenteuer eintrat, war man nicht nur passiver Beobachter wie bei den rohen Vergnügen primitiver Zeiten, die Alvin gelegentlich ausprobiert hatte. Man war aktiv daran beteiligt und besaß — oder es schien jedenfalls so — freien Willen. Die Ereignisse und Szenen der Abenteuer waren zwar von inzwischen vergessenen Künstlern vorbereitet worden, aber sie erlaubten einen beachtlichen Spielraum. Man konnte sich mit seinen Freunden in diese Phantasiewelten begeben, jene Spannung suchen, die es in Diaspar nicht gab — und solange der Traum dauerte, war er nicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden. In der Tat, wer konnte mit Sicherheit behaupten, daß nicht Diaspar selbst der Traum war?

Niemand konnte jemals alle Abenteuer erschöpfen, die seit dem Beginn der Stadt erdacht und aufgezeichnet worden waren. Sie wirkten auf alle Gefühle und waren von einer unendlich mannigfaltigen Spitzfindigkeit.


Einige, vor allem bei den ganz Jungen sehr beliebte, waren unkomplizierte Entdecker- und Abenteuerromane. Andere stellten sich als Erforschungen psychologischer Zustände dar, während wieder andere Übungen in Logik oder Mathematik waren, die fortgeschritteneren Geistern Vergnügen bereiteten.

Aber obwohl die Abenteuer seine Freunde zu befriedigen schienen, ließen sie Alvin stets mit einem Gefühl der Unvollständigkeit zurück. Trotz all ihrer Farbigkeit und Spannung, ihrer ständig wechselnden Örtlichkeiten und Themen — es fehlte etwas.

Es gab keine großen Ausblicke, keine der welligen Landschaften, nach denen sich seine Seele sehnte. Und vor allem, es gab auch nicht die geringste Andeutung der Unermeßlichkeit, in der die Heldentaten der Menschen tatsächlich stattgefunden hatten — der leuchtenden Leere zwischen den Sternen. Die Schöpfer der Abenteuer waren von derselben merkwürdigen Angst befallen gewesen, die alle Bürger Diaspars beherrschte. Selbst ihre Abenteuer mußten sich im tiefen Innern abspielen, in unterirdischen Höhlen oder in hübschen kleinen Tälern, von riesigen Bergen eingerahmt, die alles andere verbargen.

Es gab nur eine einzige Erklärung: Weit zurück in der Zeit, vielleicht vor der Gründung Diaspars, war etwas geschehen, das nicht nur die Neugier und den Ehrgeiz des Menschen vernichtete, sondern ihn auch von den Sternen nach Hause trieb, wo er sich in der winzigen, verschlossenen Welt der letzten Stadt der Erde verbarg. Er hatte dem Universum entsagt und war in den künstlichen Mutterleib Diaspars zurückgekehrt. Der flammende, unbesiegbare Drang, der ihn einst über die Milchstraße hinaus zu den nebligen Inseln jenseits getrieben hatte, war völlig erstorben.

Seit unzähligen Jahrtausenden hatte kein Raumschiff mehr das Sonnensystem angesteuert; dort draußen, mitten unter den Sternen, mochten die Nachfahren des Menschen immer noch Imperien errichten und Sonnen zerstören — die Erde wußte es weder, noch wollte sie es wissen.

Die Erde nicht. Aber Alvin.

2

Der Raum war dunkel, bis auf eine leuchtende Wand, auf der die Farben fluteten und verebbten, während Alvin mit seinen Träumen rang. Ein Teil des Musters befriedigte ihn; er hatte sich in die gewaltigen Linien der Berge verliebt, die aus dem Meer emporragten. Diese hochsteigenden Kurven verrieten Kraft und Stolz; er hatte sie lange Zeit studiert und dann in der Gedächtnisanlage des Visiogerätes aufbewahrt, während er mit den anderen Teilen des Bildes experimentierte. Irgend etwas entzog sich ihm, obwohl er es nicht zu bestimmen vermochte. Immer wieder versuchte er die leeren Stellen auszufüllen, während das Instrument die wechselnden Muster in seinen Gedanken las und sie auf der Wand materialisierte. Es taugte nichts. Die Linien waren verschwommen und unsicher, die Farben schmutzig und trübe. Wenn der Künstler sein Ziel nicht kannte, würde es auch die wunderbarste Maschine nicht für ihn finden.

Alvin löschte seine unbefriedigenden Kritzeleien und starrte mürrisch auf das zu drei Vierteln leere Rechteck, das er mit Schönheit auszufüllen versucht hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, verdoppelte er die Größe des bestehenden Entwurfs und schob ihn in die Mitte des Rahmens. Nein — das war ein fauler Ausweg; die Ausgewogenheit fehlte.

Schlimmer noch, die Veränderung des Maßstabs hatte die Mängel seiner Konstruktion enthüllt, das Fehlen der Sicherheit in diesen, nur auf den ersten Blick vollkommen wirkenden Linien. Er würde noch einmal ganz von vorne beginnen müssen.

„Totallöschung“, befahl er der Maschine. Das Blau des Meeres verschwand; die Berge lösten sich wie Nebel auf, bis nur die blanke Wand blieb. Verschwunden, als seien sie nie gewesen — als seien sie in dem Nichts versunken, das alle Meere und Berge der Erde dahingerafft hatte, vor Alvins Geburt.

Licht erfüllte wieder den Raum, und das schimmernde Rechteck, auf das Alvin seine Träume aufgezeichnet hatte, verschmolz mit seiner Umgebung, wurde zu einer Wand wie die anderen Wände. Aber waren es Wände? Einem Wesen, das einen solchen Raum noch nicht gesehen hatte, mußte er sehr seltsam vorkommen. Er war völlig ohne besondere Merkmale und ohne jedes Mobiliar, so daß es schien, als stünde Alvin im Mittelpunkt einer Kugel. Keine sichtbaren Trennlinien schieden die Wände von Boden oder Decke. Es gab nichts, worauf sich das Auge einstellen konnte; der Raum, der Alvin einschloß, mochte einen Durchmesser von drei Metern oder drei Kilometern haben, so wenig konnte das Auge des Betrachters hier unterscheiden. Es wäre schwer der Versuchung zu widerstehen gewesen, mit ausgebreiteten Armen vorwärtszugehen, um die körperlichen Begrenzungen dieses außerordentlichen Raumes zu entdecken.

Aber solche Räume waren für die meisten Mitglieder der menschlichen Rasse seit langer Zeit das Zuhause. Alvin brauchte nur den entsprechenden Gedanken zu formulieren, und die Wände wurden zu Fenstern, die sich nach jedem Teil der Stadt hin öffneten, den er zu sehen wünschte. Ein anderer Wunsch, und niegesehene Maschinen füllten das Zimmer mit den projizierten Abbildern jeder Art von Mobiliar, das er brauchte. Ob sie wirklich waren oder nicht, dieses Problem hatte in der letzten Jahrmilliarde nur sehr wenige Menschen bekümmert. Gewiß waren sie nicht weniger wirklich als diese andere Betrügerin, die feste Materie, und wenn man sie nicht mehr benötigte, wurden sie in die Phantomwelt der Gedächtnisanlagen der Stadt zurückgeschickt. Wie alles andere in Diaspar nützten sie sich niemals ab — und sie würden sich nie verändern, wenn ihre gespeicherten Muster nicht durch einen überlegten Willensakt gelöscht wurden.

Alvin hatte seinen Raum teilweise rekonstruiert, als an seinem Ohr ein beharrliches, glockenähnliches Läuten ertönte. Er gab gedanklich das Eintrittssignal, und die Wand, auf der er eben noch gemalt hatte, löste sich wieder auf. Wie erwartet, standen dort seine Eltern und hinter ihnen Jeserac. Die Anwesenheit seines Lehrers bedeutete, daß es sich um keinen üblichen Familienbesuch handelte — aber das wußte er ja schon.

Die Illusion war vollkommen, und sie verflog auch nicht, als Eriston zu sprechen begann. In Wirklichkeit waren Eriston, Etania und Jeserac, wie Alvin wohl wußte, Kilometer voneinander entfernt, denn die Erbauer der Stadt hatten ebenso den Raum besiegt wie die Zeit unterworfen. Alvin wußte nicht einmal genau, wo seine Eltern unter den unzähligen Türmen und verworrenen Labyrinthen Diaspars wohnten, denn sie waren umgezogen, seit er zum letztenmal wirklich bei ihnen gewesen war.

„Alvin“, begann Eriston, „es sind jetzt genau zwanzig Jahre her, seit deine Mutter und ich dich zum erstenmal trafen. Du weißt, was das bedeutet. Unsere Vormundschaft ist beendet, und es steht dir frei, zu tun, was dir behagt.“

In Eristons Stimme schwang eine Spur — nur eine Spur — Traurigkeit mit.

Zum größten Teil war es Erleichterung, als sei Eriston froh, daß eine seit längerer Zeit feststehende Tatsache endlich gesetzliche Anerkennung gefunden habe. Alvin hatte seine Freiheit schon seit Jahren vorweggenommen.

„Ich verstehe“, antwortete er. „Ich danke euch für eure Mühe, und ich werde in all meinen Leben an euch denken.“


Das war die formelle Erwiderung; er hatte sie so oft gehört, daß den Worten jegliche Bedeutung fehlte — sie bestand lediglich aus einer Reihe von Lauten, ohne besonderen Sinn. Dabei war der Ausdruck ›all mein Leben‹ sehr merkwürdig, wenn man es sich genau überlegte. Er wußte ungefähr, was er bedeutete; jetzt war endlich die Zeit gekommen, da er alles genau erfahren würde. Es gab in Diaspar viele Dinge, die er nicht verstand und die er in den vor ihm liegenden Jahrhunderten begreifen lernen mußte.

Einen Augenblick hatte er den Eindruck, als wollte Etania etwas sagen.

Sie hob eine Hand, wobei sich der schillernde Stoff ihres Gewandes verschob, ließ sie wieder sinken. Dann wandte sie sich hilflos an Jeserac, und Alvin begriff zum erstenmal, daß seine Eltern beunruhigt waren.

Schnell überdachte er die Vorkommnisse der letzten Wochen. Nein, es hatte sich nichts ereignet, das diese leichte Unsicherheit, diese milde Besorgnis hätte verursachen können.

Jeserac schien jedoch die Situation zu beherrschen. Er sah Eriston und Etania fragend an, vergewisserte sich, daß sie nichts mehr zu sagen hatten, und begann mit der Erklärung, die er schon seit Jahren vorbereitet hatte.

„Alvin“, sagte er, „du bist zwanzig Jahre mein Schüler gewesen, und ich habe mein Bestes getan, dich zu dem Vermächtnis zu geleiten, das auf dich wartet. Du hast mir viele Fragen gestellt, nicht alle konnte ich beantworten. Für manche Dinge warst du noch nicht reif genug, andere wieder kannte ich selbst nicht. Jetzt ist deine Unmündigkeit zu Ende, obgleich deine Kindheit kaum begonnen hat. Es ist immer noch meine Pflicht, dich zu leiten, wenn du meine Hilfe brauchst. In zweihundert Jahren, Alvin, wirst du angefangen haben, von dieser Stadt und ihrer Geschichte ein wenig zu verstehen. Selbst ich, der ich mich dem Ende dieses Lebens nähere, habe weniger als ein Viertel Diaspars gesehen und nicht einmal ein Tausendstel seiner Schätze.“

Bisher war nichts gesagt, was Alvin nicht schon wußte, aber man konnte Jeserac nicht drängen, sich zu beeilen. Der alte Mann blickte ihn über den Abgrund der Jahrhunderte hinweg unverwandt an; seine Worte erhielten Gewicht durch die unschätzbare, im lebenslangen Umgang mit Menschen und Maschinen erworbene Weisheit.

„Sag mir, Alvin“, fuhr er fort, „hast du dich jemals gefragt, wo du gewesen bist, ehe du auf die Welt kamst, ehe du in der Halle der Schöpfung Etania und Eriston gegenüberstandest?“

„Ich nahm an, daß ich nirgends war, daß ich nichts als eine Struktur im Geist der Stadt war, auf den Augenblick der Erschaffung wartend — wie dies hier.“


Neben Alvin materialisierte sich eine niedrige Couch. Er setzte sich darauf und wartete, bis Jeserac fortfuhr.

„Du hast natürlich recht“, kam die Erwiderung. „Aber das ist nur ein Teil der Antwort — ein sehr kleiner Teil. Bis jetzt bist du nur mit Kindern deines Alters in Berührung gekommen, und sie wissen die Wahrheit nicht.

Sie werden sich bald daran erinnern, aber nicht du, so daß wir dich auf die Tatsachen vorbereiten müssen.

Seit über tausend Millionen Jahren, Alvin, lebt die Menschheit in dieser Stadt. Seit das Galaktische Imperium zusammenbrach und die Invasoren zu den Sternen zurückkehrten, ist das hier unsere Welt. Außerhalb der Mauern Diaspars gibt es nichts als die Wüste.

Wir wissen wenig über unsere primitiven Vorfahren, abgesehen von der Tatsache, daß sie sehr kurzlebige Wesen waren und sich, so merkwürdig es auch klingen mag, ohne die Hilfe von Gedächtnisanlagen und Materiebildnern fortpflanzen konnten. In einem komplizierten und anscheinend unkontrollierbaren Prozeß wurden die Grundstrukturen jedes menschlichen Wesens in mikroskopisch kleinen Zellen bewahrt, die tatsächlich im Körper selbst entstanden. Wenn du dich dafür interessierst, können dir die Biologen mehr dafür sagen, aber das Verfahren ist nicht von großer Bedeutung.

Ein menschliches Wesen wird durch seine Persönlichkeitsstruktur, seinen Charakter bestimmt. Die Struktur eines Menschen, und noch viel mehr die Struktur eines menschlichen Geistes, ist unglaublich kompliziert. Und doch brachte die Natur diese Struktur in einer winzigen Zelle unter, die so klein war, daß man sie nicht mit bloßem Auge sehen konnte.

Was der Natur gelingt, kann der Mensch auf seine Art nachmachen. Wir wissen nicht, wie lange es dauerte — eine Million Jahre vielleicht —, aber was ist das schon! Schließlich lernten unsere Vorfahren, wie man die Einzelheiten, die jedes bestimmte menschliche Wesen definieren, ermitteln und aufbewahren konnte — und wie diese Kenntnis dazu zu verwenden war, das Original wiederzubeschaffen, so, wie du eben diese Couch geschaffen hast.

Ich weiß, daß dich solche Dinge interessieren, Alvin, aber ich kann dir nicht genau sagen, wie man es machte. Die Art, in der diese Einzelheiten aufbewahrt werden, ist völlig unwichtig; nur die Struktur selbst spielt eine Rolle. Sie mag in Form von Schriftzeichen auf Papier, in Form von Magnetfeldern oder in Form von elektrischen Impulsen gespeichert werden.

Die Menschen haben diese Methoden der Speicherung angewendet und noch viele andere. Es möge die Feststellung genügen, daß es ihnen vor langer Zeit gelang, sich selbst zu speichern oder, genauer ausgedrückt, die entkörperlichten Strukturen, mit denen sie in das Dasein zurückgerufen werden konnten.

So viel ist dir schon bekannt. Durch diesen Weg haben uns unsere Vorfahren praktisch die Unsterblichkeit gegeben und gleichzeitig die Probleme vermieden, die mit der Beseitigung des Todes verbunden sind.

Tausend Jahre in einem Körper sind genug für jeden Menschen; am Ende dieser Zeit ist sein Gehirn mit Erinnerungen überlastet, und er fragt nur noch nach Ruhe — oder einem neuen Anfang.

In nicht ferner Zeit, Alvin, werde ich mich darauf vorbereiten, dieses Leben zu verlassen. Ich werde meine Erinnerungen durchgehen, sie überprüfen und diejenigen löschen, die ich nicht behalten will. Dann werde ich die Halle der Schöpfung betreten, aber durch eine Tür, die du nie gesehen hast. Dieser alte Körper wird zu existieren aufhören und mit ihm das Bewußtsein. Von Jeserac wird nichts bleiben als eine Milchstraße von Elektronen, erstarrt im Innern eines Kristalls.

Ich werde schlafen, Alvin, ohne Träume. Dann, eines Tages, vielleicht hunderttausend Jahre später, werde ich mich in einem neuen Körper wiederfinden und diejenigen treffen, die als meine Vormünder bestellt sind. Sie werden sich um mich kümmern, wie Eriston und Etania dich geleitet haben, denn am Anfang werde ich nichts von Diaspar wissen und keine Erinnerung an mein früheres Dasein besitzen. Diese Erinnerungen werden langsam wiederkehren, am Ende meiner Kindheit, und ich werde auf ihnen aufbauen.

Das ist die Struktur unseres Lebens, Alvin. Wir alle sind schon viele, viele Male hier gewesen, obgleich sich, da die Zwischenzeiten der Nicht-Existenz nach gewissen Gesetzen unterschiedlich lange sind, die gegenwärtige Bevölkerung in dieser Zusammensetzung nicht wiederholen wird. Der neue Jeserac wird neue und andere Freunde und Interessen haben, aber der alte Jeserac — soviel ich von ihm zu bewahren wünsche — wird noch existieren.

Das ist nicht alles. In jedem Augenblick, Alvin, lebt nur ein Hundertstel der Bürger Diaspars in seinen Straßen. Die gewaltige Mehrheit schläft in den Gedächtnisanlagen und wartet auf das Signal, das sie wieder auf die Bühne des Daseins ruft. So besitzen wir also Stetigkeit, aber doch Veränderung — Unsterblichkeit, aber keine Stagnation.

Ich weiß, was du dich fragst, Alvin. Du möchtest wissen, wann du die Erinnerung an deine früheren Lebensperioden wiedergewinnst, wie es deine Kameraden bereits an sich erfahren.

Es gibt keine solchen Erinnerungen, denn du bist einzigartig. Wir haben versucht, dir diese Tatsache so lange wie möglich vorzuenthalten, damit kein Schatten über deine Kindheit fiele — obwohl ich glaube, daß du einen Teil der Wahrheit schon erraten hast.

Du, Alvin, bist etwas, das in Diaspar seit der Gründung der Stadt erst wenige Male aufgetreten ist. Vielleicht lagst du während der ganzen Zeiten schlafend in den Gedächtnisanlagen — vielleicht bist du aber auch erst vor zwanzig Jahren durch eine zufällige Permutation geschaffen worden. Du magst am Anfang von den Gründern der Stadt vorgesehen worden oder ein absichtsloses Produkt unserer eigenen Zeit sein.

Wir wissen es nicht. Alles, was wir wissen, ist dies: Du allein, von allen Menschen, Alvin, hast noch nie gelebt. Wörtlich genommen, bist du das erste Kind, das seit mindestens zehn Millionen Jahren auf der Erde geboren wurde.“

3

Als Jeserac und seine Eltern verschwunden waren, lag Alvin lange Zeit auf der Couch und versuchte, seinen Geist von Gedanken frei zu halten.

Er schloß seinen Raum um sich, damit ihn niemand stören konnte.

Er schlief nicht; Schlaf gehörte zu einer Welt aus Tag und Nacht, und hier gab es nur den Tag.

Er hatte wenig Neues erfahren; fast alles, was ihm Jeserac erklärte, hatte er bereits geahnt. Aber das war etwas anderes, als diese Ahnung ohne jede Möglichkeit des Zweifels bestätigt zu finden.

Wie würde das sein Leben beeinflussen, — wenn überhaupt? Er wußte es nicht, und Unsicherheit war für Alvin ein völlig neuartiges Gefühl. Vielleicht machte es überhaupt keinen Unterschied; wenn er sich in diesem Leben nicht vollkommen an Diaspar anpaßte, dann im nächsten oder im übernächsten…

Schon als er diesen Gedanken hegte, verwarf er ihn. Diaspar mochte dem Rest der Menschheit genügen, aber nicht ihm. Er bezweifelte nicht, daß man tausend Leben hier verbringen konnte, ohne alle Wunder zu erschöpfen oder Erfahrungen zu sammeln, die sie zu bieten hatte. All diese Dinge konnte er tun — aber wenn nichts mehr zu tun war, würde er niemals zufrieden sein.

Dabei stand er allerdings einem Problem gegenüber. Was gab es darüber hinaus noch zu tun?

Die unbeantwortete Frage riß ihn aus seiner Versunkenheit. Er konnte nicht hierbleiben, solange er in dieser ruhelosen Stimmung war, und es gab nur einen einzigen Platz in der Stadt, wo er seine Gemütsruhe wiederfinden konnte.

Die Wand löste sich teilweise auf, als er durch sie hindurch auf den Korridor trat; ihre polarisierten Moleküle stemmten sich ihm wie schwacher Wind entgegen. Es gab viele Möglichkeiten, mühelos zu seinem Ziel zu gelangen, aber er zog es vor zu gehen. Ein kurzer Durchgang brachte ihn auf eine spiralenförmige Rampe hinaus, die zur Straße führte. Er ließ die fließende Straße unbeachtet und blieb auf dem schmalen Gehsteig — ein exzentrisches Verhalten, da er mehrere Kilometer Weg vor sich hatte. Aber Alvin zog die körperliche Bewegung vor; sie beruhigte ihn. Außerdem gab es so viel zu sehen, daß es schade gewesen wäre, an den neuesten Wundern Diaspars vorüberzueilen, wenn man die Ewigkeit vor sich hatte.


Es war Brauch unter den Künstlern — und zu irgendeiner Zeit einmal war jeder Bewohner Diaspars Künstler —, ihre neuesten Schöpfungen am Rande der fließenden Straße auszustellen, damit die Passanten sie bewundern konnten. Auf diese Weise dauerte es gewöhnlich nur ein paar Tage, bis die gesamte Bevölkerung jedes beachtenswerte Erzeugnis kritisch geprüft und auch ihrer Meinung entsprechenden Ausdruck verliehen hatte. Das sich daraus insgesamt ergebende Urteil, automatisch von Meinungsforschungsgeräten aufgezeichnet, die bisher noch niemand übertölpeln konnte — an Versuchen dazu hatte es nicht gefehlt —, entschied das Schicksal des Meisterwerks. Wenn die positiven Stimmen in der Mehrzahl waren, ging das Modell in das Gedächtnis der Stadt über, so daß jedermann in Zukunft eine vom Original nicht zu unterscheidende Reproduktion besitzen konnte, wenn sein Sinn danach stand.

Die weniger erfolgreichen Werke gingen den üblichen Weg solcher Erzeugnisse. Sie wurden entweder in ihre ursprünglichen Bestandteile aufgelöst oder wanderten in die Häuser der Freunde des Künstlers.

Alvin sah auf dem Weg nur ein Kunstwerk, das ihn ansprach. Es war eine Schöpfung aus reinem Licht, die verschwommen an eine aufblühende Blume erinnerte. Langsam aus einem winzigen Farbenkern wachsend, weitete sie sich zu komplizierten Spiralen und Schleiern, sank plötzlich in sich zusammen und begann von neuem. Aber kein Muster glich dem vorhergegangenen. Obwohl Alvin längere Zeit zusah, waren jedesmal feine, undefinierbare Unterschiede zu sehen, blieb auch das Grundmuster immer das gleiche.

Er wußte, warum ihm dieses Werk unberührbarer Skulptur gefiel. Sein pulsierender Rhythmus vermittelte einen Ausdruck von Weite — sogar von Flucht. Aus diesem Grund gerade würde es vielen Mitbürgern Alvins mißfallen. Er notierte sich den Namen des Künstlers und beschloß, ihn bei nächster Gelegenheit aufzusuchen.

Alle Straßen, die fließenden wie die unbeweglichen, endeten, wenn sie den Park, das grüne Herz der Stadt, erreichten. Hier, in einem kreisrunden Platz von fünf Kilometern Durchmesser, befand sich die einzige Erinnerung an das Bild der Erde, ehe die Wüste mit Ausnahme Diaspars alles verschluckt hatte. Ein weiter Rasengürtel, dann niedrige Bäume, die immer dichter wurden, wenn man unter ihrem Schatten vorwärtsschritt.

Dabei neigte sich der Boden sanft nach unten, so daß nach dem Verlassen des schmalen Waldes von der Stadt nichts mehr zu sehen war.

Der breite Strom, der vor Alvin dahinglitt, hieß einfach Der Fluß. Er besaß und brauchte keinen anderen Namen. In regelmäßigen Abständen schwangen sich Brücken über ihn, und er floß in einem vollständigen, in sich geschlossenen Kreis um den Park, nur von gelegentlichen Lagunen unterbrochen. Daß ein schnell strömender Fluß nach einem Weg von zehn Kilometern in sich selbst zurückkehren konnte, war Alvin nie als ungewöhnlich erschienen; in der Tat hätte er sich nicht einmal gewundert, wenn der Fluß an irgendeiner Stelle seines Kreislaufs bergauf geströmt wäre. In Diaspar gab es viel seltsamere Dinge.

In einer der kleinen Lagunen schwamm eine Gruppe junger Leute, und Alvin blieb stehen, um ihnen zuzuschauen. Er kannte die meisten vom Sehen, wenn nicht sogar beim Namen, und fühlte sich einen Augenblick versucht, mit ihnen zu spielen. Dann aber dachte er an sein Geheimnis; er entschied sich dagegen und für die Rolle des Zuschauers.

Körperlich gesehen, gab es keine Möglichkeit zu entscheiden, welcher dieser jungen Bürger in diesem Jahr aus der Halle der Schöpfung getreten war und welcher schon so lange in Diaspar lebte wie Alvin. Obwohl beträchtliche Unterschiede in Größe und Gewicht bestanden, hatten sie mit dem Alter nichts zu tun. Die Menschen wurden einfach so geboren und, obwohl in der Regel die Größe eines Menschen seinem Alter entsprach, konnte man diese Richtschnur doch nur dann anwenden, wenn man in Jahrhunderten rechnete.

Das Gesicht war ein besserer Hinweis. Einige der Neugeborenen überragten zwar Alvin, aber sie hatten einen Ausdruck der Unreife, ein verwundertes Staunen über die Welt, in die sie sich plötzlich gestellt sahen, an dem man sie sofort erkannte. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß in ihren Gehirnen, noch unberührt, unendlich viele Erinnerungen schlummerten und bald in ihr Bewußtsein treten würden. Alvin wußte nicht, ob er sie beneiden sollte. Die erste Erfahrung war ein köstliches, unwiederholbares Geschenk. Es war wunderbar, das Leben zum erstenmal zu betrachten wie in der frischen Morgendämmerung. Wenn es nur noch andere wie ihn gäbe, mit denen er seine Gedanken und Gefühle teilen könnte…

Aber physisch bestand ein Unterschied zwischen ihm und den spielenden Kindern. Der menschliche Körper hatte sich in der Milliarde von Jahren seit der Gründung der Stadt nicht verändert. Ein beträchtlicher Unterschied bestand jedoch gegenüber der ursprünglichen, primitiven Form, obwohl die meisten Veränderungen dem Auge nicht sichtbar waren. Der Mensch hatte sich in seiner langen Geschichte viele Male angepaßt, um die Krankheiten zu überwinden, die einst des Fleisches Erbteil gewesen waren.

So unnötiges Zubehör wie Nägel und Zähne war verschwunden. Das Haar beschränkte sich auf den Kopf; auf dem Körper war keine Spur davon verblieben. Das Merkmal aber, das einen Menschen der frühen Zeitalter am meisten überrascht hätte, war vielleicht das Verschwinden des Nabels. Seine unerklärliche Abwesenheit hätte ihm reichlich Nahrung zum Nachdenken gegeben.

Alvin verließ seine verspielten Genossen und setzte seinen Weg zum Mittelpunkt des Parks fort. Hier gab es wenig betretene Pfade, die sich zwischen niedrigem Gebüsch kreuzten und gelegentlich in schmale Hohlwege zwischen moosbedeckten Felsblöcken hinabtauchten. Einmal kam er an einer kleinen, vielflächigen Maschine vorbei, die nicht größer als der Kopf eines Mannes war und zwischen den Zweigen eines Baumes schwebte. Niemand wußte, wie viele verschiedene Arten von Robotern es in Diaspar gab; sie hielten sich abseits und kümmerten sich so ausschließlich um ihre Arbeit, daß es als äußerst ungewöhnlich gelten konnte, einem von ihnen zu begegnen.

Kurz darauf begann der Boden wieder anzusteigen; Alvin näherte sich dem kleinen Hügel, der sich genau im Mittelpunkt des Parks und damit auch der Stadt erhob. Hier gab es weniger Hindernisse und Umwege, und er hatte klare Sicht auf den Gipfel des Hügels und das schlichte Gebäude darauf. Als er sein Ziel erreicht, hatte, war er etwas außer Atem; er lehnte sich an eine der rosig getönten Säulen und blickte auf den Weg zurück, den er gekommen war.

Es gibt gewisse Formen der Architektur, die sich niemals verändern können, weil sie Vollkommenheit erreicht haben. Das Grabmal Yarlan Zeys hätte von den Tempelbauern der ersten menschlichen Kulturen entworfen sein können, obwohl sie wohl kaum begriffen hätten, aus welchem Material es hergestellt war. Zum Himmel hin öffnete sich das Bauwerk; der Innenraum war mit großen Blöcken gepflastert, die nur auf den ersten Blick wie Naturstein aussahen. Seit geologischen Zeitaltern hatten menschliche Füße diesen Boden betreten, immer wieder betreten, ohne die geringste Spur der Abnützung zu hinterlassen.

Der Schöpfer des großen Parks — manche meinten sogar, es sei der Gründer Diaspars — saß mit halb niedergeschlagenen Augen da, als prüfe er die auf seinen Knien ausgebreiteten Pläne. Sein Gesicht zeigte diesen eigenartigen, schwer zu fassenden Ausdruck, der die Welt seit so vielen Generationen verwirrte. Einige hatten ihn als bloße Laune des Künstlers abgetan, aber anderen schien es, als lächle Yarlan Zey über einen verborgenen Scherz.

Das ganze Gebäude war ein Rätsel, denn in den geschichtlichen Aufzeichnungen der Stadt fand sich darauf nicht der geringste Hinweis. Alvin wußte nicht einmal genau, was das Wort Grabmal bedeutete; wahrscheinlich konnte es ihm Jeserac sagen, der gerne veraltete Wörter sammelte und damit zur Verwirrung der Zuhörer seine Gespräche würzte.


Von seinem Platz aus konnte Alvin weit über den Park, über die Bäume hinaus, bis zur Stadt sehen. Die nächstgelegenen Gebäude, fast drei Kilometer entfernt, bildeten einen niedrigen Gürtel, der den Park völlig umschloß. Jenseits der Häuser erhoben sich, stufenweise übereinandergereiht, die Türme und Terrassen der Stadt. Sie erstreckten sich Kilometer um Kilometer dahin, kletterten langsam zum Himmel empor, wurden immer komplizierter und eindrucksvoller. Diaspar war als Einheit geplant, als eine einzige, mächtige Maschine. Und obwohl ihre äußere Erscheinung in ihrer Vielfalt beinahe überwältigte, deutete sie die verborgenen Wunder der Technik nur an, ohne die diese großen Gebäude leblose Grabstätten gewesen wären.

Alvin starrte hinaus, bis zur Begrenzung seiner Welt. Fünfzehn, zwanzig Kilometer entfernt, alle Einzelheiten durch die Entfernung ausgelöscht, lagen die Außenwälle der Stadt, auf denen das Dach des Himmels zu ruhen schien. Jenseits von ihnen lag nichts — nichts als die schmerzende Leere der Wüste, in der ein Mensch dem Irrsinn verfallen würde.

Warum also rief ihn diese Leere, wie sie keinen anderen rief, den er kannte? Alvin wußte es nicht. Er starrte hinaus, über die farbigen Türme und Befestigungen, die jetzt den ganzen Besitz der Menschheit eingeschlossen, als suche er eine Antwort auf seine Frage.

Er fand sie nicht. Aber in diesem Augenblick, als sich sein Herz nach dem Unerreichbaren sehnte, traf er seine Entscheidung. Er wußte jetzt, was er mit seinem Leben anfangen würde.

4

Jeserac war nicht sehr hilfsbereit, wenn er sich auch nicht so ablehnend verhielt, wie es Alvin erwartet hatte. In seiner langen Laufbahn als Berater waren ihm oft solche Fragen gestellt worden, und er glaubte nicht, daß ihm selbst ein Einzigartiger wie Alvin große Überraschungen bereiten oder unlösbare Probleme vorsetzen konnte.

Es war richtig, daß Alvins Benehmen gewisse merkwürdige Züge aufzuweisen begann, die vielleicht eines Tages der Korrektur bedurften. Er nahm nicht in vollem Umfang an dem vielfältigen Gesellschaftsleben der Stadt oder an den Phantasiewelten seiner Kameraden teil. Er zeigte kein Interesse für die höheren Gebiete des Denkens, obwohl das bei seinem Alter kaum überraschen durfte. Auch in Herzensdingen schien es, daß Alvin, wie überall, nach einem Ziele suchte, das ihm Diaspar nicht geben konnte.

Keine dieser Tatsachen beunruhigte Jeserac. Bei einem Einzigartigen mußte man sich auf ein derartiges Benehmen gefaßt machen, und Alvin würde sich zur rechten Zeit an das normale Leben der Stadt anpassen.

Keine Einzelpersönlichkeit, gleichgültig wie exzentrisch und brillant sie sein mochte, konnte die gewaltige Trägheit einer Gesellschaft, die sich praktisch über eine Milliarde Jahre unverändert erhalten hatte, wesentlich beeinflussen. Jeserac glaubte nicht nur an die Stabilität, er konnte sich nichts anderes vorstellen.

„Das Problem, mit dem du dich herumschlägst, ist schon sehr alt“, sagte er zu Alvin, „aber du wirst staunen, wie viele Menschen die Welt als so selbstverständlich ansehen, daß sie sich nie darüber Gedanken machen.

Es stimmt, daß die Menschheit einst einen unendlich größeren Raum als diese Stadt hier bewohnte. Du hast gesehen, wie die Erde aussah, bevor die Wüste kam und die Meere verschwanden. Die Aufzeichnungen, in die du dich so gerne versenkst, sind die ältesten, die wir überhaupt besitzen; sie sind die einzigen, auf denen die Erde so zu sehen ist, wie sie vor dem Auftreten der Invasoren war. Ich glaube nicht, daß das schon viele Bewohner der Stadt gesehen haben; wir ertragen solche grenzenlosen, offenen Landschaften nicht.

Und selbst die Erde war natürlich im Galaktischen Imperium nur ein Sandkorn. Wie die Abgründe zwischen den Sternen ausgesehen haben mögen, das ist ein Alptraum, den sich kein geistig normaler Mensch auch nur vorzustellen wagt. Unsere Vorfahren überquerten sie in der Morgendämmerung der Geschichte, als sie hinausflogen, um das Imperium aufzubauen. Sie überquerten sie wieder, zum letztenmal, als die Invasoren sie auf die Erde zurücktrieben.

Die Legende sagt — und es ist nur eine Legende —, daß wir mit den Invasoren einen Pakt schlossen. Sie sollten das Universum haben, wenn sie es so dringend brauchten, und wir würden uns mit der Welt zufriedengeben, auf der wir geboren waren.

Wir haben uns an diesen Pakt gehalten und die eitlen Träume unserer Kindheit vergessen, wie auch du sie vergessen wirst, Alvin. Die Menschen, die diese Stadt erbauten und die dazu passende Gesellschaft entwarfen, beherrschten den Geist ebenso wie die Materie. Sie legten alles, was die Menschheit jemals brauchen würde, in, diese Mauern und sorgten dafür, daß wir sie niemals verlassen würden.

Oh, die körperlichen Hindernisse spielen die unbedeutendste Rolle. Vielleicht gibt es Wege, die aus der Stadt herausführen, aber ich glaube nicht, daß du weit gehen würdest, selbst wenn du sie fändest. Und wenn es dir tatsächlich gelänge: Was hättest du davon? Dein Körper würde es in der Wüste nicht lange aushalten, wenn ihn die Stadt nicht mehr schützen und ernähren könnte.“

„Wenn es tatsächlich einen Weg aus der Stadt gibt“, sagte Alvin langsam, „was kann mich daran hindern, sie zu verlassen?“

„Das ist eine unsinnige Frage“, erwiderte Jeserac. „Ich glaube, du kennst die Antwort schon.“

Jeserac hatte recht, aber nicht so, wie er sich vorstellte. Alvin wußte es oder vielmehr, er hatte es erraten. Seine Kameraden hatten ihm die Antwort gegeben, sowohl in ihrem Wachleben als auch in den Traumabenteuern. Sie würden nie in der Lage sein, Diaspar zu verlassen; was Jeserac nicht wußte, war jedoch dies: Der Zwang, der ihr Leben regierte, besaß keine Macht über Alvin. Ob seine Einzigartigkeit auf Zufall oder auf einem uralten Plan beruhte, wußte er nicht, aber an diesem Ergebnis war nicht zu rütteln.

Niemand in Diaspar hatte es eilig, und Alvin brach diese Regel selten. Er überdachte das Problem mehrere Wochen von allen Seiten und verbrachte viel Zeit damit, die ältesten Geschichtserinnerungen der Stadt zu studieren. Stundenlang lag er in den unsichtbaren Armen eines Anti-Schwerkraft-Feldes und ließ sich vom Hypnon-Projektor die Vergangenheit zeigen. Wenn die Aufzeichnung abgelaufen war, verschwand die Maschine — aber Alvin starrte noch lange Zeit ins Leere, ehe er durch die Zeiten hindurch zur Wirklichkeit zurückkehrte. Vor sich sah er die endlosen Meilen blauen Wassers, das seine Wellen gegen den goldenen Strand auflaufen ließ. In seinen Ohren dröhnte das Rauschen der Brecher, die seit tausend Millionen Jahren verstummt waren. Er dachte an die Wälder und Prärien und an die seltsamen Tiere, die einst die Welt mit dem Menschen geteilt hatten.

Von diesen alten Aufzeichnungen gab es nur noch sehr wenige; man nahm allgemein an, obwohl niemand wußte, warum, daß irgendwann zwischen dem Auftreten der Invasoren und der Gründung Diaspars alle Erinnerungen an die primitiven Zeiten verlorengegangen waren. Diese Auslöschung war so vollkommen, daß man kaum an das blinde Walten des Zufalls glauben konnte. Die Menschheit hatte ihre Vergangenheit verloren, abgesehen von ein paar Chroniken, die ebensogut völlig erdichtet sein konnten. Vor Diaspar gab es einfach nur das Zeitalter der Morgendämmerung. In dieser Leere waren unentwirrbar die ersten Menschen, die das Feuer bezwungen hatten, mit den ersten Menschen vermischt, die Atomenergie freisetzten — die ersten Menschen, die ein Baumkanu schnitzten, und die ersten Menschen, die den Weltraum erschlossen. Auf der anderen Seite dieser Zeitwüste waren sie alle Nachbarn.

Alvin hatte beabsichtigt, sein Vorhaben allein auszuführen, aber Einsamkeit war in Diaspar nicht immer leicht zu erreichen. Er hatte kaum sein Zimmer verlassen, als er auf Alystra stieß, die gar nicht den Versuch machte, ihre Gegenwart als Zufall hinzustellen.

Es kam Alvin nie zum Bewußtsein, daß Alystra schön war, weil er nie menschliche Häßlichkeit gesehen hatte. Wenn die Schönheit allgemein ist, verliert sie ihre Macht, die Herzen zu rühren, und nur ihre Abwesenheit kann eine gefühlsmäßige Wirkung auslösen.

Einen Augenblick war Alvin von dem Zusammentreffen unangenehm berührt. Er war noch zu jung und besaß zuviel Selbstvertrauen, um einer dauernden Verbindung zu bedürfen. Trotz seines voll ausgeformten Körpers war er noch ein Kind und würde es für Jahrzehnte bleiben, während seine Kameraden nach und nach die Erinnerung an ihre früheren Lebensperioden wiedergewinnen und ihn weit hinter sich lassen würden. Er hatte gesehen, wie das zuging, und es hielt ihn davon ab, sich uneingeschränkt an einen anderen Menschen anzuschließen. Selbst Alystra, die jetzt so naiv und ungekünstelt schien, würde bald ein Komplex aus Erinnerungen und Talenten jenseits seiner Vorstellungskraft sein.

Sein Ärger verrauchte sofort. Warum sollte ihn Alystra nicht begleiten, wenn sie es wünschte? Er war nicht selbstsüchtig und wollte seine neue Erfahrung nicht wie ein Geizhals für sich behalten. Vielleicht konnte er sogar von ihr lernen.

Als sie der Expreßkanal aus der überfüllten Stadtmitte trug, stellte sie erstaunlicherweise keine Fragen. Gemeinsam arbeiteten sie sich zur Schnellstraße durch, ohne dem Wunder zu ihren Füßen einen Blick zu schenken. Ein Techniker der alten Welt wäre bei dem Versuch zu begreifen, wie eine anscheinend feste Straße an den Seiten starr bleiben konnte, während sie sich in der Mitte mit ständig steigender Geschwindigkeit dahinbewegte, an den Rand des Wahnsinns geraten. Aber Alvin und Alystra schien es ganz natürlich, daß es Materienarten gab, die in der einen Richtung die Eigenschaften fester, in der anderen dagegen die flüssiger Stoffe aufwiesen.

Ringsherum stiegen die Gebäude höher und höher, als verstärke die Stadt ihre Befestigungen gegen die Außenwelt. Wie merkwürdig wäre es, dachte Alvin, wenn diese hochragenden Mauern durchsichtig wie Glas würden und man das Leben hinter ihnen beobachten könnte. Überall um ihn herum lebten Freunde, die er kannte, Freunde, die er eines Tages kennen, und Freunde, die er niemals treffen würde — obwohl sie nur sehr wenige sein würden, weil er im Laufe seines Lebens nahezu alle Menschen in Diaspar kennenlernen konnte. Die meisten würden jetzt in ihren einzelnen Räumen sitzen, aber sie würden nicht allein sein. Sie langweilten sich nicht, weil sie zu all dem Zugang hatten, das in den Bereichen der Phantasie und Wirklichkeit seit der Gründung der Stadt geschehen war. Für Menschen mit dieser geistigen Einstellung war das ein völlig befriedigendes Dasein. Daß es auch ein völlig nutzloses war, begriff noch nicht einmal Alvin.

Während sich Alvin und Alystra von der Stadtmitte entfernten, nahm die Anzahl der Leute in den Straßen langsam ab, und als sie vor einer glatten Plattform grellfarbigen Marmors zum Stehen kamen, war niemand mehr zu sehen. Sie traten über den erstarrten Materiestrudel, von dem aus die Substanz der fließenden Straße zu ihrem Ursprung zurückkehrte, und standen vor einer mit hellerleuchteten Tunnels durchlöcherten Mauer. Alvin betrat ohne Zögern eine der Öffnungen, Alystra dicht hinter ihm.

Das Kraftfeld umschloß sie sofort und transportierte sie vorwärts, während sie sich bequem zurücklegten und ihre Umgebung betrachteten. Es schien kaum möglich, daß sie sich in einem Tunnel tief unter dem Boden befanden. Über ihnen schien der Himmel den Winden offen. Ringsumher schimmerten die Türme der Stadt im Sonnenlicht. Das war nicht die Stadt, die Alvin kannte, sondern das Diaspar eines viel früheren Zeitalters. Obwohl ihm die meisten großen Gebäude vertraut waren, gab es feine Unterschiede. Alvin hätte sich gerne länger aufgehalten, aber er konnte die Fortbewegung durch den Tunnel nicht stoppen.

Viel zu früh landeten sie sanft in einem großen, ellipsenförmigen Raum, der auf allen Seiten Fenster aufwies, durch die man verlockende Gärten mit leuchtenden Blumen sehen konnte. Es gab in Diaspar noch Gärten, aber diese hier hatten nur im Geist des Künstlers gelebt, der sie geschaffen hatte. Heute blühten keine solchen Blumen mehr auf der Welt.


Alystra war von ihrer Schönheit entzückt; sie stand offensichtlich unter dem Eindruck, daß Alvin sie nur dieses Anblicks wegen hergebracht hatte. Er beobachtete sie eine Weile, während sie fröhlich von Bild zu Bild lief. Es gab Hunderte solcher Orte in den halbverlassenen Gebäuden am Stadtrand, die von verborgenen Kräften überwacht und bewahrt wurden.

Eines Tages vielleicht würde der Lebensstrom sich wieder hierherwenden, aber bis dahin war dieser alte Garten ein Geheimnis, das sie allein besaßen.

„Wir müssen noch weiter“, sagte Alvin schließlich. „Das ist nur der Anfang.“ Er schritt durch eines der Fenster, und die Illusion zerbrach. Hinter dem Glas lag kein Garten, nur ein runder Gang, der steil nach oben führte. Einige Meter entfernt sah er Alystra stehen, obgleich er wußte, daß sie ihn nicht sehen konnte. Aber sie zögerte nicht; einen Augenblick später stand sie neben ihm im Korridor.

Unter ihren Füßen begann der Boden langsam vorwärtszugleiten, als sei er begierig, sie zu ihrem Ziel zu bringen. Sie gingen noch einige Schritte, bis ihre Geschwindigkeit so groß war, daß sie keiner weiteren Anstrengung bedurfte.

Der Korridor führte in einem Bogen ständig nach oben und hatte nach dreißig Metern einen rechten Winkel durchmessen. Aber das wußte nur die Logik; allen Sinnen schien es, als würde man in einem völlig ebenen, geraden Korridor vorwärtsgetragen. Die Tatsache, daß sie in Wirklichkeit in einem Schacht senkrecht emporstiegen, der Tausende von Metern tief war, verlieh ihnen kein Gefühl der Unsicherheit, denn ein Versagen des Polarisationsfeldes war undenkbar.

Bald darauf neigte sich der Korridor wieder hinab, bis er wieder einen rechten Winkel beschrieben hatte. Die Bewegung des Fußbodens verlangsamte sich unmerklich, bis sie am Ende eines langen Spiegelsaales zum Stillstand kam. Alvin wußte, daß er Alystra hier nicht drängen durfte.

Das lag nicht nur daran, daß seit Eva einige weibliche Eigenschaften unverändert geblieben waren: Diesem Ort hätte so leicht niemand widerstehen können. In ganz Diaspar gab es nichts Ähnliches. Durch eine Laune des Künstlers reflektierten nur ein paar Spiegel die Szene in ihrer Wirklichkeit. Die anderen spiegelten sicherlich auch etwas wider, aber man geriet doch etwas aus der Fassung, sich in ständig wechselnder und völlig phantastischer Umgebung zu finden.

Manchmal schritten in der Welt hinter dem Spiegel Leute hin und her, und mehr als einmal hatte Alvin Gesichter gesehen, die er kannte. Durch den Geist des unbekannten Künstlers hatte er in die Vergangenheit geschaut und die früheren Inkarnationen von Menschen erblickt, die heute auf der Welt lebten. Es machte ihn traurig, daran zu denken, daß er nie einem alten Echo seiner selbst begegnen würde, solange er auch vor diesen wechselnden Bildern verharren mochte.

„Weißt du, wo wir sind?“ fragte Alvin, als sie alle Spiegel abgeschritten hatten. Alystra schüttelte den Kopf. „Irgendwo am Rand der Stadt, nehme ich an“, erwiderte sie unbekümmert. „Anscheinend sind wir weit gegangen. Wo sind wir jetzt?“

„Wir sind im Turm von Loranne“, antwortete Alvin. „Das ist einer der höchsten Punkte in ganz Diaspar. Komm, ich will es dir zeigen.“ Er nahm Alystra bei der Hand und führte sie aus dem Saal. Es gab keine sichtbaren Ausgänge, aber an verschiedenen Stellen wies das Muster im Boden auf Seitengänge hin. Wenn man sich an diesen Stellen den Spiegeln näherte, schienen die Spiegelungen in einen Lichtbogen zu verschmelzen, und man konnte durch sie einen anderen Korridor betreten.

Alystra verlor jede bewußte Spur ihres unaufhörlichen Drehens und Wendens, und schließlich kamen sie in einen langen, völlig geraden Tunnel, durch den ein kalter Wind fegte. Der Tunnel erstreckte sich vor und hinter ihnen Hunderte von Metern entlang, und an seinen fernen Enden schimmerten kleine Lichtpunkte.

„Hier gefällt es mir nicht“, klagte Alystra. „Es ist kalt.“ Sie hatte wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie Kälte gespürt; Alvin war etwas verlegen. Er hätte sie bitten sollen, einen Mantel mitzunehmen — einen dicken Mantel, denn die Kleidung in Diaspar diente in erster Linie als Schmuck und war als Schutz ziemlich ungeeignet.

Da ihr Mißbehagen ausschließlich seine Schuld war, gab er ihr wortlos seinen Mantel. Das hatte nichts mit Ritterlichkeit zu tun; die Gleichberechtigung der Geschlechter war von alters her so vollkommen, daß für derartige Konventionen kein Platz blieb. Im umgekehrten Fall hätte Alystra ihren Mantel Alvin gegeben, und er hätte ihn ebenso automatisch angenommen.

Es war nicht unangenehm, mit dem Wind im Rücken zu gehen, und bald hatten sie das Ende des Tunnels erreicht. Eine weitmaschige Filigranarbeit aus Stein hinderte sie daran, weiterzugehen, aber es war gut so, denn sie standen am Rand des Nichts. Der große Luftkanal öffnete sich auf die steilabfallende Turmseite, und unter ihnen ging es mindestens dreihundert Meter senkrecht hinunter. Sie standen hoch oben auf dem äußersten Wall der Stadt, und Diaspar lag unter ihnen ausgebreitet, wie es bisher wohl wenige gesehen hatten.

Die Aussicht war das Gegenteil jenes Blickes, den Alvin vom Hügel im Park gehabt hatte. Er konnte nun auf die konzentrischen Wellen aus Stein und Metall hinabschauen, die in kilometerlangen Kurven in das Herz der Stadt hinabschwangen. Weit in der Ferne, zum Teil durch Türme verdeckt, sah er die Rasenflächen und Bäume und den ewig kreisenden Fluß. Noch weiter hinaus stiegen die entfernten Bastionen Diaspars wieder zum Himmel empor.

Neben ihm betrachtete Alystra mit Vergnügen, aber ohne Überraschung das großartige Bild. Sie hatte die Stadt unzählige Male von anderen, ebenso gut gewählten Stellen aus gesehen — und mit wesentlich mehr Bequemlichkeit.

„Das ist unsere Welt — die ganze Welt“, sagte Alvin. „Jetzt möchte ich dir noch etwas anderes zeigen.“ Er wandte sich von dem Steingitter ab und ging auf das ferne Licht am anderen Ende des Tunnels zu. Der Wind blies kalt gegen seinen leichtbekleideten Körper, aber er bemerkte es kaum, als er im Luftstrom vorwärtsschritt.

Er war erst einige Schritte gegangen, als er merkte, daß ihm Alystra nicht folgte. Sie stand noch immer am selben Platz, mit flatterndem Mantel, eine Hand halb erhoben. Alvin sah, daß sie die Lippen bewegte, aber ihre Worte erreichten ihn nicht. Zuerst sah er sie erstaunt an, dann mit Ungeduld, die nicht völlig frei von Mitleid war. Es stimmte, was Jeserac gesagt hatte. Sie konnte ihm nicht folgen. Sie hatte die Bedeutung dieses fernen Lichtpünktchens erkannt, durch das der Wind unaufhörlich nach Diaspar hineinwehte. Hinter Alystra stand die bekannte Welt, voll von Wundern, aber bar jeder Überraschung, die wie eine schimmernde, aber festgeschlossene Luftblase auf dem Strom der Zeit hinabtrieb. Vor ihr, nur durch eine Anzahl Schritte von ihr getrennt, lag die leere Wildnis, die Welt der Wüste, die Welt der Invasoren.

Alvin ging zurück zu ihr und stellte erstaunt fest, daß sie zitterte. „Warum fürchtest du dich?“ fragte er. „Wir sind immer noch sicher in Diaspar. Du hast durch das Fenster hier hinter uns geblickt — gewiß kannst du auch durch das andere hinaussehen!“

Alystra starrte ihn an, als sei er ein fremdartiges Ungeheuer. Nach ihren Maßstäben war er das ja auch.

„Ich brächte es nicht fertig“, sagte sie schließlich. „Wenn ich nur daran denke, wird mir eiskalt. Geh nicht weiter, Alvin!“

„Aber das läßt sich doch nicht mit logischem Denken vereinbaren!“

wandte Alvin gefühllos ein. „Was kann dir schon passieren, wenn du diesen Korridor entlanggehst und hinaussiehst? Es ist fremdartig und einsam draußen, aber nicht entsetzlich. Ja, je länger ich hinaussehe, desto schöner finde ich…“

Alystra hörte ihn nicht zu Ende an. Sie drehte sich um und lief die lange Rampe hinunter, die sie durch den Boden dieses Tunnels heraufgebracht hatte. Alvin machte nicht den Versuch, sie aufzuhalten; es galt als schlechtes Benehmen, einer anderen Person seinen Willen aufzuzwingen. Und ein Überredungsversuch wäre vollkommen zwecklos gewesen, soviel konnte er sehen. Er wußte, daß Alystra nicht rasten würde, bis sie zu ihren Kameraden zurückgekehrt war. Es bestand keine Gefahr, daß sie sich in den Labyrinthen der Stadt verirren würde, weil sie mit Leichtigkeit ihre Spur zurückverfolgen konnte. Die instinktive Fähigkeit, selbst aus dem kompliziertesten Irrgarten herauszufinden, war nur eine der Errungenschaften, die der Mensch durch das Leben in der Stadt erworben hatte.

Alvin wartete einen Augenblick, als erwartete er halb die Rückkehr Alystras. Ihre Reaktion überraschte ihn nicht, nur ihre Wildheit und Unvernunft. Obwohl er es wirklich bedauerte, daß sie davongerannt war, wünschte er, daß sie ihm wenigstens den Mantel zurückgegeben hätte.

Es war nicht nur kalt, sondern auch mühsam, sich gegen den Wind vorwärtszukämpfen, der durch die Lungen der Stadt seufzte. Alvin stemmte sich sowohl gegen den Wind als auch gegen die Kraft, die ihn in Bewegung hielt. Erst als er das Steingitter erreicht und umklammert hatte, konnte er sich entspannen. Er hatte gerade genug Platz, um seinen Kopf durch die Öffnung stecken zu können, und selbst auf diese Weise war sein Blickfeld etwas eingeschränkt, da der Einlaß zum Luftkanal als Nische in die Stadtmauer eingebaut war.

Aber er konnte genug sehen. Hunderte von Metern unter ihm nahm das Sonnenlicht Abschied von der Wüste. Die nahezu horizontalen Strahlen fielen durch das Steingitter und warfen ein seltsames Muster aus Gold und Schatten in den Tunnel. Alvin beschattete seine Augen und starrte auf das Land hinunter, das seit unzähligen Jahrtausenden kein Mensch mehr betreten hatte.

Es sah aus wie ein für alle Ewigkeit erstarrtes Meer. Kilometer um Kilometer erstreckten sich die Sanddünen nach Westen, ihre Umrisse durch das schräg einfallende Licht grotesk übertrieben. Hier und da hatte ein launischer Wind seltsame Strudel und Wirbel im Sand geformt, so daß es manchmal schwerfiel, sie nicht als künstlich geschaffene Dinge zu betrachten. In weiter Entfernung lag eine Kette sanftgerundeter Hügel. Sie enttäuschten Alvin; er hätte viel dafür gegeben, die hochstrebenden Berge der alten Aufzeichnungen und seiner eigenen Träume in Wirklichkeit zu sehen.

Die Sonne lag auf dem Rand der Hügel, ihr Licht gezähmt und gerötet von den Hunderten von Kilometern, die es durchdringen mußte. Auf ihrer Scheibe befanden sich zwei große schwarze Flecken; Alvin hatte bei seinen Studien gelernt, daß es solche Dinge gab, aber er staunte, daß er sie so leicht sehen konnte. Sie schienen fast wie zwei Augen, die ihn anstarrten, als er in seiner einsamen Nische kauerte.

Es gab kein Zwielicht. Mit dem Verschwinden der Sonne schmolzen die Schatten zwischen den Sanddünen schnell in einen einzigen dunklen See zusammen. Die Farbe schwand vom Himmel; das warme Rot und Gold verblaßte und machte einem arktischen Blau Platz, das sich immer mehr zur Nacht verdunkelte. Alvin wartete auf jenen atemlosen Augenblick, den er allein von der ganzen Menschheit kannte — den Augenblick, in dem der erste Stern am Himmel schimmert.

Er war viele Wochen nicht mehr hier gewesen, und er wußte, daß sich das Bild des Sternhimmels inzwischen gewandelt haben mußte. Aber trotzdem war er nicht auf den ersten Anblick der Sieben Sonnen vorbereitet.

Sie konnten keinen anderen Namen tragen; die Worte kamen ihm wie von selbst auf die Lippen. Sie bildeten eine winzige, sehr enge und erstaunlich symmetrische Gruppe gegen das Abendrot. Sechs Sonnen waren in einer leicht abgeflachten Ellipse angeordnet, in Wirklichkeit, das wußte Alvin, ein perfekter Kreis. Jeder Stern besaß eine andere Farbe; er konnte Rot, Blau, Grün und Gold benennen, aber die anderen Färbungen entzogen sich seinem Auge. Genau im Mittelpunkt der Gruppe schwebte ein einzelner weißer Riese — der hellste Stern am ganzen Himmel. Die Gruppe sah wie ein Schmuckstück aus; es schien unglaublich und außerhalb aller Gesetze des Zufalls, daß der Natur jemals ein so vollkommenes Modell geglückt sein sollte.

Als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, konnte Alvin den großen, nebligen Schleier erkennen, den man einst Milchstraße genannt hatte. Er reichte vom Zenit bis zum Horizont und beherbergte auch die Sieben Sonnen. Die anderen Sterne waren jetzt hervorgetreten, um sie herauszufordern, und ihre zufällige Gruppierung unterstrich nur das Rätselhafte dieser vollkommenen Symmetrie. Es schien, als habe sich eine Macht gegen die Unordnung des natürlichen Universums erklärt, indem sie ihr Zeichen an den Himmel setzte.

Zehnmal, nicht öfter, hatte sich die Milchstraße um ihre Achse gedreht, seit der Mensch auf der Erde zum erstenmal aufrecht gegangen war.

Nach ihren eigenen Maßstäben nur ein Augenblick.

Und doch hatte sie sich in dieser kurzen Periode völlig verändert — weit mehr verändert, als ihr im normalen Ablauf der Dinge zugestanden wäre.

Die riesigen Sonnen, die in der Pracht ihrer Jugend einst so ungestüm geblendet hatten, flackerten jetzt ihrem Untergang entgegen. Aber Alvin hatte den Himmel in seiner alten Pracht nie gesehen und spürte daher nichts von diesem Verlust.


Die Kälte drang ihm bis in die Knochen und trieb ihn zur Stadt zurück. Er ließ das Gitter los und rieb sich die Hände und Arme warm. Vor ihm, unten im Tunnel, leuchtete das Licht Diaspars so strahlend, daß er für eine Sekunde die Augen abwenden mußte. Außerhalb der Stadt gab es so etwas wie Tag und Nacht, aber in ihrem Innern existierte nur der ewige Tag. Wenn die Sonne am Himmel niedersank, füllte sich Diaspar mit Licht, und keiner bemerkte das Verschwinden der natürlichen Beleuchtung. Schon bevor die Menschen den Schlaf nicht mehr brauchten, hatten sie die Dunkelheit aus ihren Städten vertrieben. Die einzige Nacht, die je über Diaspar kam, war eine äußerst seltene und unvorhersehbare Verdunklung, die manchmal den Park heimsuchte.

Alvin ging langsam durch den Spiegelsaal zurück, seine Gedanken noch voll von Nacht und Sternen. Er fühlte sich erhoben und doch bedrückt.

Es schien keinen Weg zu geben, auf dem er jemals in diese gewaltige Leere entkommen konnte — und keinen vernünftigen Sinn für dieses Vorhaben. Jeserac hatte gesagt, daß ein Mensch in der Wüste bald sterben würde, und Alvin glaubte ihm das. Vielleicht würde er eines Tages einen Weg entdecken, auf dem er Diaspar verlassen konnte, aber selbst wenn es ihm gelang, würde er bald zurückkehren müssen, das wußte er. Die Wüste zu erreichen, war ein vergnügliches Spiel, mehr nicht. Es war ein Spiel, das er mit niemandem teilen konnte und das ihn eigentlich nirgends hinführen würde. Aber es war sinnvoll, wenn es seine Sehnsucht beschwichtigen half.

Alvin zögerte vor den Spiegelungen der Vergangenheit, als kehre er nur ungern in die vertraute Welt zurück. Er stand vor einem der großen Spiegel und beobachtete die Szenen, die in seinen Tiefen auftauchten und wieder verschwanden. Der Mechanismus, der diese Bilder erzeugte, wurde durch seine Gegenwart und bis zu einem gewissen Grade durch seine Gedanken gesteuert. Wenn er in den Saal trat, waren die Spiegel leer; sie füllten sich erst mit Bewegung, wenn er vor ihnen stand.

Jetzt schien er sich in einem großen, offenen Hof zu befinden, den er in Wirklichkeit nie gesehen hatte, den es aber wahrscheinlich irgendwo in Diaspar gab. Der Hof war ungewöhnlich überfüllt; irgendeine öffentliche Versammlung schien im Gang zu sein. Zwei Männer diskutierten miteinander höflich auf einer erhöhten Plattform, umringt von ihren Anhängern, die sich gelegentlich einmischten. Die völlige Stille trug zum Zauber der Szene bei, denn die Phantasie versuchte sofort, die fehlenden Geräusche beizusteuern. Worüber diskutierten sie? dachte Alvin. Vielleicht war es nicht eine wirkliche Szene aus der Vergangenheit, sondern reine Erfindung. Die sorgfältig ausgewogene Balance der Figuren, die förmlichen Bewegungen, all das wirkte zu sehr geputzt für wirkliches Leben.

Er beobachtete die Menge und suchte nach Bekannten. Er erkannte keinen Menschen, aber er mochte Freunde ansehen, denen er erst Jahrhunderte später begegnen würde. Wie viele mögliche Abwandlungen des menschlichen Angesichts gab es? Die Zahl war gewaltig, aber trotzdem endlich, besonders, da die unästhetischen Möglichkeiten beseitigt worden waren.

Die Menschen in der Spiegelwelt setzten ihre Diskussion fort und ignorierten das Bild Alvins, das bewegungslos unter ihnen stand. Manchmal fiel es schwer zu glauben, daß er nicht selbst Teil der Szene war, so vollkommen wirkte die Illusion. Wenn eines der Scheingebilde im Spiegel hinter Alvin zu treten schien, verschwand es, wie in der Wirklichkeit; wenn sich jemand vor ihn stellte, wurde er selbst verdeckt.

Er wollte eben gehen, als er einen seltsam gekleideten Mann bemerkte, der etwas abseits von der Hauptgruppe stand. Seine Bewegungen, seine Kleidung — alles an ihm schien irgendwie nicht in diese Versammlung zu passen. Er störte das Bild; wie Alvin war er ein Anachronismus.

Er war wesentlich mehr als das. Er war wirklich, und er sah Alvin mit einem spöttischen Lächeln an.

5

In seinen zwanzig Lebensjahren hatte Alvin nicht einmal ein Tausendstel der Einwohner Diaspars kennengelernt. Es überraschte ihn daher nicht, daß der Mann vor ihm ein Fremder war. Was ihn erstaunte, war die Tatsache, hier in diesem verlassenen Turm an der Grenze zum Unbekannten überhaupt einen Menschen zu treffen.

Er wandte der Spiegelwelt den Rücken zu und starrte den Eindringling an. Ehe er den Mund auftun konnte, sprach ihn der andere an.

„Du bist Alvin. Als ich entdeckte, daß jemand diesen Turm besucht, hätte ich mir denken können, daß du es bist.“

Die Bemerkung sollte offensichtlich nicht beleidigend wirken; es war eine einfache Feststellung, und Alvin akzeptierte sie als solche. Es überraschte ihn nicht, daß man ihn erkannte; durch seine Einzigartigkeit und ihre verborgenen Möglichkeiten war er jedem Einwohner Diaspars bekannt geworden, ob ihm das nun gefiel oder nicht.

„Ich bin Khedron“, fuhr der Fremde fort, als erkläre das alles. „Man nennt mich den Spaßmacher.“

Alvin sah ihn verständnislos an, und Khedron zuckte spöttisch resigniert die Achseln.

„Ach, so geht es mit dem Ruhm. Immerhin, du bist noch jung, und in deinem Leben hat es noch keine Späße gegeben. Deine Unwissenheit ist entschuldigt.“

Khedron hatte etwas erfrischend Ungewöhnliches an sich. Alvin forschte in Gedanken nach der Bedeutung des seltsamen Wortes Spaßmacher; es rief irgendeine verschwommene Erinnerung in ihm wach, aber er konnte sie nicht definieren. In der komplizierten Gesellschaftsstruktur der Stadt gab es viele derartige Titel, und man brauchte meistens sein ganzes Leben, um sie alle behalten zu können.

„Kommen Sie oft hierher?“ fragte Alvin ein wenig eifersüchtig. Er betrachtete den Turm von Loranne als sein persönliches Eigentum und ärgerte sich darüber, daß er auch anderen bekannt war. Aber hatte Khedron auf die Wüste hinausgeblickt oder die Sterne im Westen versinken sehen?

„Nein“, sagte Khedron, als beantworte er Alvins unausgesprochene Fragen. „Ich bin noch nie hiergewesen. Aber ich habe das Vergnügen, über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse in der Stadt unterrichtet zu sein, und es ist sehr, sehr lange her, seit jemand den Turm von Loranne aufsuchte.“

Alvin fragte sich flüchtig, wie Khedron von seinen früheren Besuchen wissen konnte. Diaspar war voll von Augen und Ohren und anderen scharfsinnigen Sinnesorganen, die alle Vorgänge registrierten. Eine Person, die sich entsprechend dafür interessierte, konnte zweifellos eine Möglichkeit finden, diese Kanäle anzuzapfen.

„Selbst wenn es ungewöhnlich sein sollte, daß jemand hierherkommt“, sagte Alvin, „warum interessieren Sie sich dafür?“

„Weil das Ungewöhnlichste in Diaspar meine Domäne ist“, erwiderte Khedron. „Ich habe dich seit langer Zeit vorgemerkt; ich wußte, daß wir eines Tages zusammentreffen würden. In meiner Art bin ich auch einzigartig. O nein, nicht so, wie du: Das ist nicht mein erstes Leben. Ich bin tausendmal aus der Halle der Schöpfung getreten. Aber irgendwann am Anfang wurde ich als Spaßmacher bestimmt, und in Diaspar gibt es jeweils immer nur einen Spaßmacher. Die meisten Leute sind der Auffassung, das sei schon einer zuviel.“

Khedron sprach mit einer Ironie, die Alvin verwirrte. Es galt nicht als hervorragendes Benehmen, direkte persönliche Fragen zu stellen, aber schließlich hatte Khedron mit diesem Thema angefangen.

„Ich bitte, meine Unwissenheit zu entschuldigen“, sagte Alvin. „Aber was ist ein Spaßmacher und was macht er?“

„Du fragst, was er ist und was er macht“, erwiderte Khedron. „Ich werde damit beginnen, dir das Warum zu erklären. Es ist eine lange Geschichte, aber ich glaube, sie wird dich interessieren.“

„Ich bin an allem interessiert“, sagte Alvin.

„Nun gut. Die Menschen — wenn es Menschen waren, was ich manchmal bezweifle —, die Diaspar entwarfen, standen vor einem unglaublich komplizierten Problem. Diaspar ist nicht nur eine Maschine, verstehst du — es ist ein lebender Organismus, und zwar ein unsterblicher. Wir haben uns so sehr an unsere Gesellschaftsart gewöhnt, daß wir uns nicht mehr vorstellen können, wie seltsam sie unseren Vorfahren erschienen wäre.

Wir haben hier eine winzige, abgeschlossene Welt, die sich, abgesehen von unbedeutenden Einzelheiten, niemals verändert, die aber trotzdem, Zeitalter um Zeitalter, stabil bleibt. Sie hat wahrscheinlich längere Zeit überdauert als die übrige menschliche Geschichte — und doch gab es in dieser Geschichte, so sagt man, unzählige Tausende verschiedener Zivilisationen, die sich eine Weile hielten und dann untergingen. Wie erreichte Diaspar diese außergewöhnliche Beständigkeit?“

Alvin war überrascht, daß jemand eine so einfache Frage stellte. Seine Hoffnungen, etwas Neues zu lernen, trübten sich.


„Durch die Gedächtnisanlagen, natürlich“, erwiderte er. „Diaspar besteht immer aus den gleichen Menschen, obwohl die tatsächliche Gruppierung jeweils verschieden ist.“

Khedron schüttelte den Kopf.

„Das ist nur ein sehr kleiner Teil der Antwort. Mit genau denselben Leuten könnte man sehr verschiedene Gesellschaftssysteme bilden. Das kann ich nicht beweisen, aber ich halte es für richtig. Die Planer dieser Stadt legten nicht nur ihre Bevölkerung fest, sie bestimmten auch die Gesetze, die ihr Verhalten regelten. Wir haben kaum eine Ahnung von der Existenz dieser Gesetze, aber wir gehorchten ihnen. Diaspar ist eine erstarrte Kultur, die sich außerhalb engster Grenzen nicht verändern kann. Die Gedächtnisanlagen speichern außer den Strukturen unserer Körper und Persönlichkeiten noch sehr viele andere Dinge. Sie speichern das Bild der Stadt selbst und bewahren jedes Atom davon gegen alle Veränderungen der Zeit. Sieh dir dieses Pflaster an — es wurde vor Millionen Jahren gelegt, und zahllose Füße sind darübergeschritten.

Siehst du das geringste Zeichen der Abnützung? Ungeschützte Materie, gleichgültig, wie diamanthart sie sein mag, wäre schon vor langer Zeit zu Staub zermahlen worden. Aber solange Energie zur Betreibung der Gedächtnisanlagen vorhanden ist und solange die Modelle, die sie beherbergen, die Stadt kontrollieren, wird sich die physikalische Struktur Diaspars niemals ändern.“

„Aber es hat doch Veränderungen gegeben“, wandte Alvin ein. „Seit der Gründung der Stadt wurden viele Gebäude niedergerissen und neue Häuser errichtet.“

„Natürlich — aber nur durch Löschung der in den Gedächtnisanlagen enthaltenen Muster und anschließender Speicherung neuer Strukturen.

Jedenfalls habe ich darauf nur als auf ein Beispiel hingewiesen, wie sich die Stadt physisch erhält. Worauf ich aber hinauswill, ist die Tatsache, daß es ebensolche Maschinen in Diaspar gibt, die unsere gesellschaftliche Struktur bewahren. Sie beobachten alle Veränderungen und korrigieren sie, ehe sie zu mächtig werden. Wie machen sie das? Ich weiß es nicht — vielleicht durch die gesteuerte Auswahl derjenigen, die aus der Halle der Schöpfung treten. Vielleicht auch, indem sie unsere Persönlichkeitsstrukturen verändern; wir mögen glauben, daß wir freien Willen besitzen, aber können wir dessen sicher sein?

Auf jeden Fall wurde das Problem gelöst. Diaspar hat überlebt und alle Jahrtausende durchzogen, wie ein großes Schiff, das als Fracht das trägt, was von der Menschheit übrigblieb. Das ist eine gewaltige Tat der Sozialtechnik; ob es sich gelohnt hat, ist eine andere Frage.

Beständigkeit allein genügt jedoch noch nicht. Sie führt zu leicht zum Stillstand und von da zum Verfall. Die Planer dieser Stadt sahen ausgeklügelte Maßnahmen vor, um das zu verhindern, obgleich diese verlassenen Gebäude darauf schließen lassen, daß es ihnen nicht uneingeschränkt gelungen ist. Ich, Khedron der Spaßmacher, bin ebenfalls ein Teil dieses Plans. Ein sehr kleiner Teil vielleicht. Ich bin gern anderer Ansicht, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.“

„Und worin besteht nun dieser Teil?“ fragte Alvin, immer noch im dunkeln tappend und des ganzen Gespräches etwas überdrüssig.

„Wir wollen sagen, daß ich kalkulierte Unordnung in die Stadt bringe. Eine Erklärung meiner Tätigkeit würde ihre Wirksamkeit zerstören. Beurteile mich nach meinen wenigen Taten, statt nach meinen vielen Worten.“

Alvin hatte noch nie einen solchen Menschen getroffen. Der Spaßmacher war eine wirkliche Persönlichkeit — ein Charakter, der weit über das allgemeine, für Diaspar typische Niveau der Gleichmäßigkeit hinausragte. Obwohl er kaum herausfinden würde, worin seine Pflichten nun eigentlich bestanden und wie er sie ausführte, schien das nicht von großer Wichtigkeit. Es kam nur darauf an, daß er jemanden gefunden hatte, zu dem er sprechen konnte — wenn sich in dem langen Monolog eine Lücke erspähen ließ — und der ihm Antworten auf die vielen Fragen zu geben vermochte, die ihn beschäftigten.

Sie gingen miteinander durch die Korridore des Turms von Loranne zurück und traten unmittelbar neben der fließenden Straße ins Freie. Erst als sie wieder durch die Stadt schritten, fiel Alvin ein, daß ihn Khedron überhaupt nicht danach gefragt hatte, was er hier auf der Grenze zum Unbekannten suchte. Er argwöhnte, daß Khedron Bescheid wußte und interessiert, aber nicht überrascht war. Irgend etwas verriet ihm, daß es sehr schwer sein würde, Khedron zu überraschen.

Sie tauschten ihre Registernummern aus, so daß sie sich gegenseitig rufen konnten, wenn sie dazu Lust hatten. Alvin wollte unbedingt mehr von dem Spaßmacher erfahren, obwohl er sich vorstellen konnte, daß seine Gesellschaft auf die Dauer sehr anstrengend sein würde. Ehe sie sich jedoch wieder trafen, wollte er herausfinden, was seine Freunde über Khedron wußten.

„Bis zum nächstenmal“, sagte Khedron und verschwand. Alvin ärgerte sich. Wenn man jemanden traf, solange man nur sein Bild projizierte, verlangte das gute Benehmen, daß man das von Anfang an klarstellte.

Wahrscheinlich war Khedron die ganze Zeit über gemütlich zu Hause gesessen — wo immer sich sein Zuhause befand. Die Nummer, die er Alvin gegeben hatte, stellte sicher, daß ihn alle Mitteilungen erreichten, aber sie offenbarten nicht seine Adresse. Das zumindest entsprach dem Brauch. Man konnte sehr freigebig mit Registernummern sein, aber die genaue Anschrift teilte man nur seinen engsten Freunden mit.

Während er in die Stadt zurückging, dachte er über das nach, was ihm Khedron über Diaspar und die gesellschaftliche Organisation erzählt hatte. Seltsam, daß er vorher noch nie mit einem Menschen zusammengetroffen war, den diese Lebensweise unbefriedigt ließ. Diaspar mit seinen Einwohnern war als Teil eines Großplanes erdacht. Die Bürger der Stadt langweilten sich während ihres ganzen Lebens nicht. Obwohl ihre Welt, am Maßstab früherer Zeitalter gemessen, winzig klein scheinen mochte, war ihre Vielfältigkeit überwältigend, ihr Reichtum an Wundern und Schätzen jenseits aller Vorstellung. Hier hatte der Mensch alle Früchte seines Genies gesammelt. Alle Städte, die jemals existierten, so sagte man, hatten zu Diaspar etwas beigetragen; vor dem Auftreten der Invasoren war sein Name in allen Welten, die der Mensch inzwischen verloren hatte, bekannt gewesen. In den Bau Diaspars war die ganze Fertigkeit, die ganze Kunst des Imperiums eingegangen. Als die großen Tage zu Ende gingen, hatten geniale Männer die Stadt umgeformt und ihr Maschinen gegeben, die sie unsterblich machten. Was auch immer vergessen sein mochte, Diaspar würde leben und die Nachkommen des Menschen sicher den Strom der Zeit hinabtragen.

Sie hatten nichts erreicht als zu überleben, und damit waren sie zufrieden. Es gab Millionen Dinge, mit denen sie sich beschäftigen konnten. In einer Welt, wo alle Männer und Frauen Intelligenz in einem Grade besaßen, den man früher nur dem Genie zuerkannt hätte, gab es die Gefahr der Langeweile nicht. Die Freuden des Gespräches und der Diskussion, die komplizierten Formeln des gesellschaftlichen Verkehrs — sie allein reichten aus, den beträchtlichen Teil eines Lebens auszufüllen. Darüber hinaus gab es die großen, formellen Debatten, denen die ganze Stadt gebannt lauschte, während ihre größten Geister miteinander rangen, oder jene Gipfel der Philosophie zu ersteigen versuchten, die niemals besiegt werden, deren Herausforderung aber immer wieder lockt.

Niemand war ohne besonderes geistiges Interesse. Eriston zum Beispiel verbrachte viele Stunden im Zwiegespräch mit dem Zentral-Elektronengehirn, das die Stadt praktisch leitete, aber doch Muße für nebenherlaufende Diskussionen mit jedem hatte, der seinen Verstand an ihm messen wollte. Seit dreihundert Jahren bemühte sich Eriston, logische Paradoxe zu konstruieren, die auch die Maschine vor unlösbare Aufgaben stellen sollte. Er erwartete keinen Fortschritt seiner Bemühungen, ehe er nicht noch mehrere Lebensperioden zurückgelegt hatte.

Etanias Interesse war mehr ästhetischer Natur. Sie entwarf und konstruierte mit Hilfe von Materiebildnern dreidimensionale, ineinander verwobene Muster von herrlicher Vielfalt. Ihre Arbeiten waren in ganz Diaspar zu finden, und einige ihrer Muster hatte man in die Fußböden der großen Choreographiehallen eingelassen, wo sie als Grundlage für die Entwicklung neuer Ballettschöpfungen und Tanzmotive dienten.

Leichtathletik und andere Sportarten, die zum größten Teil erst durch die Überwindung der Schwerkraft möglich geworden waren, bildeten das Vergnügen der Jugend in ihren ersten Jahrhunderten. Für Spannung und Übung der Phantasie sorgten die Abenteuer. In den Abenteuern war die Illusion vollkommen, weil die entsprechenden Sinneseindrücke unmittelbar dem Gehirn zugeführt und damit in Widerspruch stehende Gefühle abgelenkt wurden. Der gebannte Zuschauer war für die Dauer des Abenteuers von der Wirklichkeit abgeschnitten; es schien ihm, als lebe er in einem Traum und glaube trotzdem, wach zu sein.

In einer Welt der Ordnung und Beständigkeit, die sich, im ganzen gesehen, seit tausend Millionen Jahren nicht verändert hatte, konnte ein überragendes Interesse an Glücksspielen nicht wundernehmen. Die Menschheit war immer von dem Geheimnis der fallenden Würfel, der umgelegten Spielkarte, dem Drehen des Rades fasziniert gewesen. Auf seiner niedrigsten Stufe beruhte dieses Interesse auf bloßer Habsucht — und eine solche Leidenschaft hatte in einer Welt keinen Platz, in der jeder alles besaß, was er vernünftigerweise jemals brauchen konnte. Selbst bei Beseitigung dieses Motivs jedoch konnte der rein geistige Reiz des Zufalls die scharfsinnigsten Menschen verführen.

Und außerdem blieben für alle die miteinander verbundenen Welten der Liebe und der Kunst.

Der Mensch hatte die Schönheit in vielerlei Form gesucht — in Tonreihen, in Linien auf Papier, in Steinflächen, in den Bewegungen des menschlichen Körpers, in Farben, im Raum verteilt. All diese Mittel existierten in Diaspar noch, und im Laufe der Zeitalter waren andere hinzugekommen.

Niemand wußte genau, ob alle Möglichkeiten der Kunst entdeckt worden waren oder ob sie außerhalb des menschlichen Geistes überhaupt Sinn besaß.

Und das gleiche galt für die Liebe.

6

Jeserac saß regungslos in einem Strudel von Zahlen. Die ersten tausend Primzahlen, in der Skala ausgedrückt, die seit der Erfindung der Elektronengehirne für alle arithmetischen Probleme verwendet wurden, reihten sich vor ihm auf. Endlose Reihen von Einsen und Nullen marschierten vorbei und brachten Jeserac die vollständige Reihe all jener Zahlen vor die Augen, die keine Faktoren als sich selbst und die Einheit besaßen. Um die Primzahlen war ein Geheimnis, das den Menschen stets gefesselt hatte.

Jeserac war kein Mathematiker, obwohl er sich manchmal für einen solchen hielt. Alles, was er tun konnte, war, unter der unendlichen Menge der Primzahlen nach besonderen Beziehungen und Gesetzen zu forschen, die begabtere Männer später in allgemeine Naturgesetze fassen mochten. Er konnte feststellen, wie sich Zahlen verhielten, aber nicht, warum sie das so und nicht anders taten. Es war sein Vergnügen, sich durch den arithmetischen Dschungel zu kämpfen, und manchmal entdeckte er Wunderdinge, die geschickteren Forschern entgangen waren.

Er stellte das Muster aller möglichen ganzen Zahlen auf und ließ in seinem Rechengerät die Primzahlen darübergleiten wie Perlen an den Kreuzungspunkten eines Gitters. Jeserac hatte das schon hunderte Male getan und nie etwas dabei herausgefunden. Aber er war gefesselt von der Art, in der sich die Zahlen, offensichtlich keinem Gesetz folgend, über die Reihe der ganzen Zahlen verteilten. Er kannte die Gesetze der Verteilung, die bereits entdeckt worden waren, aber er hoffte immer, neue Gesetzmäßigkeiten zu finden.

Über die Störung durfte er sich nicht beklagen. Wenn er ungestört hätte bleiben wollen, hätte er seinen Anzeiger entsprechend einstellen müssen. Als der sanfte Glockenton an sein Ohr klang, schwankte die Nummernwand, die Zahlen schmolzen ineinander, und Jeserac kehrte in die Welt der bloßen Wirklichkeit zurück.

Er erkannte Khedron sofort und war nicht sehr erfreut. Jeserac legte keinen Wert darauf, von seinem geordneten Lebensweg abgedrängt zu werden, und Khedron repräsentierte das Unvorhergesehene. Er begrüßte jedoch seinen Besucher überaus höflich und verbarg jede Spur seiner leichten Besorgnis.

Wenn sich in Diaspar zwei Menschen zum erstenmal — oder auch zum hundertstenmal — trafen, war es Gewohnheit, eine gute Stunde mit dem Austausch von Höflichkeiten hinzubringen, ehe man zur Sache kam —

wenn eine solche überhaupt zu besprechen war. Khedron beleidigte Jeserac ein wenig, indem er diese Formalitäten in einer bloßen Viertelstunde durchraste und dann plötzlich sagte: „Ich möchte mit Ihnen über Alvin sprechen. Sie sind doch sein Lehrer, nicht wahr?“

„Das stimmt“, erwiderte Jeserac. „Ich sehe ihn mehrmals in der Woche — so oft er es wünscht.“

„Und würden Sie sagen, daß er ein befähigter Schüler ist?“

Jeserac überdachte diese Frage; sie war schwer zu beantworten. Die Lehrer — Schüler — Beziehung war ungeheuer wichtig und in der Tat eine der Lebensgrundlagen Diaspars. Im Durchschnitt kamen jedes Jahr zehntausend neue Menschen auf die Welt. Ihre früheren Erinnerungen schlummerten noch, und während der ersten zwanzig Jahre ihres Lebens war für sie alles neu und seltsam. Man mußte sie den Gebrauch der unzähligen Maschinen und Vorrichtungen lehren, die den Alltag beherrschten, und sie mußten sich in der kompliziertesten Gesellschaft bewegen lernen, die der Mensch jemals aufgebaut hatte.

Ein Teil dieser Unterrichtung wurde von den Paaren vermittelt, die als Eltern des neuen Bürgers bestimmt waren. Die Wahl erfolgte durch Auslosung, und die Pflichten waren nicht besonders beschwerlich. Eriston und Etania hatten nur ein Drittel ihrer Zeit auf Alvins Erziehung verwendet und damit alles getan, was man von ihnen erwartete.

Jeseracs Pflichten beschränkten sich auf die mehr förmlichen Aspekte der Erziehung Alvins; es war vorgesehen, daß ihm seine Eltern beibrachten, wie man sich in der Gesellschaft zu benehmen hatte, und daß sie ihn in einen ständig sich erweiternden Freundeskreis einführten. Sie waren für Alvins Charakter verantwortlich, Jeserac dagegen für seinen Verstand.

„Die Antwort darauf fällt mir nicht leicht“, erwiderte Jeserac. „Gewiß ist an Alvins Intelligenz nichts auszusetzen, aber viele Dinge, die ihn beschäftigen sollten, scheinen ihm völlig gleichgültig zu sein. Andererseits zeigt er Dingen gegenüber, die wir üblicherweise nicht diskutieren, eine krankhafte Neugierde.“

„Der Welt außerhalb Diaspars, zum Beispiel?“

„Ja — aber woher wissen Sie das?“

Khedron zögerte einen Augenblick; er fragte sich, wieweit er Jeserac ins Vertrauen ziehen sollte. Er wußte, daß Jeserac freundlich war und gute Absichten hegte, aber er wußte ebensogut, daß er von denselben Tabus geknebelt war, denen alle Menschen in Diaspar unterlagen — alle außer Alvin.


„Ich habe es vermutet“, sagte er schließlich.

Jeserac lehnte sich bequemer in den Sessel, den er eben materialisiert hatte. Hier handelte es sich um eine interessante Situation, die er so gründlich wie möglich studieren wollte. Er konnte jedoch nicht viel erfahren, ehe sich Khedron entschloß mitzuspielen.

Er hätte voraussehen müssen, daß Alvin eines Tages Khedron begegnen würde, und zwar mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Khedron war die einzige andere Person in der Stadt, die man als exzentrisch bezeichnen konnte — und selbst diese Eigenart war von den Gründern Diaspars geplant. Vor langer Zeit hatte man erkannt, daß auch Utopia ohne Verbrechen oder Unordnung unerträglich langweilig wird. Bei Verbrechen konnte man jedoch nach Lage der Dinge nicht garantieren, daß sie auf dem Niveau verblieben, das die gesellschaftlichen Gleichungen, verlangten. Wenn sie genehmigt und geregelt wurden, hörten sie auf, Verbrechen zu sein.

Das Amt des Spaßmachers war die Lösung — auf den ersten Blick eine naive Lösung, in Wirklichkeit äußerst scharfsinnig erdacht —, zu der die Stadtplaner gelangten. In der ganzen Geschichte Diaspars gab es nicht einmal zweihundert Personen, deren geistige Haltung sich für diese Rolle eignete. Sie besaßen gewisse Vorrechte, die sie vor den Folgen ihrer Aktionen schützten, obwohl es auch Spaßmacher gegeben hatte, die ihre Grenze überschritten und dafür die einzige Strafe erhalten hatten, die Diaspar verhängen konnte — die Verbannung in die Zukunft, ehe das gegenwärtige Leben beendet war.

Bei seltenen und unvorhersehbaren Gelegenheiten stellt der Spaßmacher die Stadt durch irgendeinen Streich auf den Kopf, bei dem es sich nur um einen ausgedehnten Scherz oder aber auch um einen berechneten Angriff auf einen behüteten Glauben oder Lebensstil der jeweiligen Gegenwart handeln konnte. Bei Berücksichtigung aller Tatsachen war der Name Spaßmacher berechtigt. Es hatte einmal Männer mit ähnlichen Pflichten und mit denselben Vorrechten gegeben, in jenen Tagen, als es noch Höfe und Könige gab.

„Es ist besser“, sagte Jeserac, „wenn wir offen miteinander reden. Wir wissen beide, daß Alvin einzigartig ist — daß er in Diaspar vor diesem Leben noch nie auf der Welt war. Vielleicht können Sie die Folgerungen besser erkennen als ich. Ich bezweifle, daß in dieser Stadt irgend etwas völlig ohne Vorausplanung geschieht, so daß seinem Auftreten ein Zweck zugrunde liegen muß. Ob er diesen Zweck erreichen kann, weiß ich nicht. Ebensowenig weiß ich, ob er gut oder böse ist. Ich kann mir nicht vorstellen, worin er besteht.“

„Angenommen, er bezieht sich auf etwas außerhalb der Stadt Liegendes?“

Jeserac lächelte geduldig; man durfte dem Spaßmacher seinen kleinen Scherz nicht vergällen.

„Ich habe ihm gesagt, was dort liegt. Er weiß, daß außerhalb Diaspars nichts als Wüste existiert. Führen Sie ihn hinaus, wenn Sie das können; vielleicht wissen Sie einen Weg. Vielleicht wird er kuriert, wenn er die Wirklichkeit vor Augen hat.“

„Ich glaube, er hat sie schon gesehen“, sagte Khedron leise. Aber er sagte es zu sich selbst, nicht zu Jeserac.

„Ich bin der Meinung, daß Alvin nicht glücklich ist“, fuhr Jeserac fort. „Er hat sich nirgends angeschlossen, und das ist wohl auch nicht möglich, solange er unter dieser Besessenheit leidet. Aber schließlich ist er noch sehr jung. Vielleicht wächst er aus diesem Stadium heraus und wird ein normaler Bürger dieser Stadt.“

Jeserac versuchte, sich selbst zu beruhigen; Khedron fragte sich, ob er wirklich glaubte, was er sagte.

„Sagen Sie, Jeserac“, fragte Khedron plötzlich, „weiß Alvin, daß er nicht der erste Einzigartige ist?“

Jeserac starrte Khedron an. „Ich hätte mir denken können“, sagte er bedauernd, „daß Sie das wissen. Wie viele Einzigartige hat es in der Geschichte Diaspars gegeben? Waren es zehn?“

„Vierzehn“, erwiderte Khedron ohne zu zögern. „Ohne Alvin.“

„Sie verfügen über genauere Informationen als ich“, meinte Jeserac.

„Vielleicht können Sie mir sagen, was mit diesen Einzigartigen geschehen ist.“

„Sie verschwanden.“

„Vielen Dank, das wußte ich schon. Deswegen habe ich Alvin so wenig wie möglich über seine Vorgänger erzählt; bei seiner gegenwärtigen Stimmung würde ihm das kaum nützlich sein. Kann ich mich auf Ihre Unterstützung verlassen?“

„Im Augenblick — ja. Ich will ihn selbst beobachten. Geheimnisse haben mich immer interessiert, und in Diaspar gibt es zu wenige davon. Außerdem könnte es sein, daß das Schicksal einen Scherz vorbereitet, gegen den meine sämtlichen Bemühungen verblassen werden. Und das möchte ich miterleben.“

„Sie sprechen gerne in Rätseln“, beschwerte sich Jeserac. „Was genau sehen Sie voraus?“

„Ich bezweifle, daß meine Vermutungen besser sind als die Ihrigen.


Aber ich glaube dies — weder Sie noch ich, noch irgend jemand sonst in Diaspar wird Alvin aufhalten können, wenn er sich entschieden hat. Wir haben einige interessante Jahrhunderte vor uns.“

Jeserac saß lange Zeit bewegungslos in seinem Sessel, nachdem Khedrons Bild verschwunden war. Ein Gefühl der Vorahnung, wie er es noch nie empfunden hatte, bedrückte ihn schwer. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er eine Audienz beim Rat beantragen sollte — aber wäre das nicht lächerliche Aufregung um nichts? Vielleicht handelte es sich bei der ganzen Angelegenheit um einen komplizierten und geheimnisvollen Scherz Khedrons, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, warum man ihn als Zielscheibe ausersehen hatte.

Er überdachte die Angelegenheit sorgfältig und prüfte sie von jedem Standpunkt aus. Nach einer Stunde traf er eine charakteristische Entscheidung.

Er wollte abwarten.


Alvin verlor keine Zeit, alles Wichtige über Khedron in Erfahrung zu bringen. Hierbei diente ihm, wie üblich, hauptsächlich Jeserac als Informationsquelle. Der alte Lehrer berichtete ihm über sein Zusammentreffen mit dem Spaßmacher und fügte die wenigen Einzelheiten hinzu, die er über die Lebensweise des anderen wußte. Soweit so etwas in Diaspar möglich sein konnte, war Khedron ein Einsiedler; niemand wußte, wo er wohnte oder wie er seine Zeit verbrachte. Sein letzter Scherz hatte sich als ziemlich kindischer Streich mit einer Totallähmung der fließenden Straße entpuppt. Das war vor fünfzig Jahren gewesen; ein Jahrhundert davor hatte er einen besonders abschreckenden Drachen losgelassen, der durch die Stadt wanderte und alle Werke des im Augenblick populärsten Bildhauers verzehrte. Der Künstler hatte sich versteckt, als der einseitige Geschmack der Bestie deutlich wurde, und war erst wieder zum Vorschein gekommen, als das Ungeheuer verschwand.

Aus diesen Berichten ergab sich eine klare Tatsache. Khedron mußte tiefe Einsicht in die Maschinen und Kräfte besitzen, von denen die Stadt beherrscht wurde; er konnte sie, seinen Absichten entsprechend, einsetzen wie kein anderer in Diaspar. Vermutlich gab es eine Art Überaufsicht, die einen allzu ehrgeizigen Spaßmacher hinderte, der komplizierten Struktur Diaspars dauernden und nicht wiedergutzumachenden Schaden zuzufügen.

Alvin behielt diese Informationen im Gedächtnis, aber er versuchte nicht, mit Khedron Kontakt aufzunehmen. Obwohl er den Spaßmacher vieles zu fragen hatte, veranlaßte ihn seine halsstarrige Unabhängigkeit, alles durch seine eigene Anstrengung herausfinden zu wollen. Er hatte sich auf eine Sache eingelassen, die ihn Jahre beschäftigen würde, aber solange er seinem Ziel näher zu kommen glaubte, fühlte er sich glücklich.

Wie ein Reisender alten Stils in einem fremden Land begann er die systematische Erforschung Diaspars. Er verbrachte seine Tage und Wochen damit, die einsamen Türme am Stadtrand zu durchstreifen, in der Hoffnung, irgendeinen Weg in die Welt außerhalb der Stadt zu entdekken. Im Verlauf seiner Suche fand er ein Dutzend der großen Luftschächte, die sich hoch oben über der Wüste öffneten, aber sie waren vergittert — und auch ohne die Gitter waren die senkrecht abfallenden eineinhalb Kilometer Hindernis genug.

Er fand keine anderen Ausgänge, obwohl er tausend Korridore und zehntausend leere Kammern durchforschte. Alle Gebäude befanden sich in dem vollkommenen und fleckenlosen Zustand, den die Bewohner Diaspars als Teil der normalen Ordnung aller Dinge betrachteten. Manchmal begegnete Alvin einem Roboter auf Inspektionstour, und er sprach jede Maschine an. Er erfuhr nichts, weil die Roboter, mit denen er zusammentraf, nicht auf menschliche Sprache oder Gedanken eingestellt waren. Obwohl sie seine Gegenwart bemerkten — sie schwebten höflich beiseite, um ihn vorbeizulassen —, ließen sie sich auf keine Gespräche ein.

Alvin sah oft tagelang kein anderes menschliches Wesen. Wenn er Hunger spürte, ging er in eine der leerstehenden Wohnungen und bestellte eine Mahlzeit. Wunderbare Maschinen, an deren Existenz er nur selten einen Gedanken verschwendete, erwachten aus äonenlangem Schlummer. Die Strukturen in ihrem Gedächtnis flackerten am Rand zur Wirklichkeit. Und so wurde eine vor hundert Millionen Jahren von einem Meisterkoch vorbereitete Mahlzeit wieder ins Dasein gerufen, um den Gaumen zu entzücken oder auch nur den Appetit zu befriedigen.

Die Einsamkeit dieser verlassenen Welt — der leeren Schale um das schlagende Herz der Stadt — bedrückte Alvin nicht. Er war an Einsamkeit gewöhnt, sogar wenn er unter seinen Freunden weilte. Diese eifrige Suche, die sein ganzes Interesse in Anspruch nahm, ließ ihn für eine Weile das Geheimnis seiner Herkunft und die Abartigkeit, die ihn von seinen Mitmenschen trennte, vergessen.

Er hatte noch nicht einmal ein Hundertstel des Stadtrandes erforscht, als er entschied, daß er seine Zeit verschwendete. Seine Entscheidung kam nicht als Ergebnis der Ungeduld, sondern aus klarer Erkenntnis. Wenn nötig, konnte er später wiederkommen und seine Aufgabe zu Ende führen, auch wenn sie den Rest seines Lebens in Anspruch nehmen würde.

Er hatte jedoch genug gesehen, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß der Weg aus Diaspar heraus, wenn es einen solchen überhaupt gab, nicht so leicht zu finden war. Er konnte Jahrhunderte mit fruchtlosem Suchen hinbringen, wenn er sich nicht um die Hilfe weiserer Männer bemühte.

Jeserac hatte ihm kühl erklärt, er kenne keinen Weg aus Diaspar heraus und bezweifle, daß es überhaupt einen solchen gebe. Die Auskunftsmaschinen hatten bei der Befragung durch Alvin ihr nahezu unendliches Gedächtnis umsonst durchforscht. Sie konnten ihm jede Einzelheit aus der Geschichte der Stadt bis zum Beginn der aufgezeichneten Zeiten berichten — zurück bis zu jener Grenze, hinter der die frühen Zeitalter für immer verborgen lagen. Aber sie konnten Alvins einfache Frage nicht beantworten, oder es war ihnen von einer höherstehenden Kraft untersagt.

Er würde Khedron wieder treffen müssen.

7

„Du hast dir Zeit gelassen“, sagte Khedron, „aber ich wußte, daß du früher oder später kommen würdest.“

Dieses Selbstvertrauen ärgerte Alvin; er wollte nicht glauben, daß man sein Verhalten so genau vorhersagen konnte. Er fragte sich, ob der Spaßmacher seine ergebnislose Suche beobachtet hatte.

„Ich versuche, einen Weg aus der Stadt zu finden“, sagte er grob. „Es muß einen geben, und ich glaube, Sie könnten mir helfen, ihn zu finden.“

Khedron schwieg eine Weile; es war noch Zeit, sich von der Straße abzuwenden, die sich vor ihm erstreckte und ihn in eine Zukunft jenseits aller Möglichkeiten der Voraussage führte. Niemand außer ihm hätte gezögert; kein anderer Mensch in der Stadt, auch wenn er die Macht dazu besessen hätte, würde es gewagt haben, die Geister einer Vergangenheit zu stören, die seit Millionen Jahrhunderten tot waren. Vielleicht bestand keine Gefahr, vielleicht konnte nichts die ewige Stabilität Diaspars beeinflussen. Aber wenn das Risiko des Auftritts einer neuen und fremdartigen Gefahr existierte, bot sich jetzt die letzte Chance, sie abzuwenden.

Khedron war mit der Ordnung der Dinge zufrieden. Sicher, er durchbrach diese Ordnung von Zeit zu Zeit — aber nur ein wenig. Er war Kritiker, nicht Revolutionär. Auf dem friedlich dahingleitenden Strom der Zeit wollte er nur ein paar kleine Wellen machen; vor einer Veränderung seines Kurses schreckte er zurück. Der Wunsch nach Abenteuern, außer denen im Geiste, war ihm ebenso sorgfältig und gründlich beseitigt wie bei allen Bürgern Diaspars.

Aber trotzdem besaß er einen winzigen Rest jenes Funkens der Neugier, der einst die größte Gabe des Menschen gewesen war. Er war immer noch bereit, ein Risiko einzugehen.

Er sah Alvin an und versuchte, sich an seine eigene Jugend zu erinnern, an seine eigenen Träume vor einem halben Jahrtausend. Jeder Augenblick seiner Vergangenheit stand, wenn er es wollte, klar und scharf in seinem Gedächtnis. Wie Perlen auf einer Schnur erstreckten sich dieses Leben und alle anderen davor durch die Zeiten zurück.

In seiner Jugend hatte er sich von seinen Kameraden nicht unterschieden. Erst als er erwachsen wurde und die Erinnerungen an seine früheren Lebensperioden zurückfluteten, übernahm er die Rolle, für die er längst bestimmt war. Manchmal erfüllte es ihn mit Bitterkeit, daß ihn die Menschen, die Diaspar mit solch gewaltigem Verstand geschaffen hatten, auch nach so langer Zeit noch wie eine Marionette über die Bühne tanzen lassen konnten. Jetzt bot sich ihm vielleicht die Chance einer lang verschobenen Rache. Ein neuer Schauspieler war aufgetreten, der vielleicht zum letztenmal den Vorhang vor einem Schauspiel niedergehen ließ, das schon zu viele Akte hatte.

Sympathie für jemanden, dessen Einsamkeit noch größer sein mußte als seine eigene; Eintönigkeit, durch Zeitalter der Wiederholung hervorgerufen; ein koboldartiger Sinn für Humor — das waren die einander widersprechenden Faktoren, die Khedron zu seinem Entschluß bewegten.

„Vielleicht kann ich dir helfen“, sagte er zu Alvin, „vielleicht auch nicht.

Ich möchte keine falschen Hoffnungen erwecken. Komm in einer halben Stunde zur Kreuzung Radius drei — Ring zwei. Ich kann dir wenigstens eine interessante Fahrt versprechen.“

Alvin war zehn Minuten zu früh am Treffpunkt, obwohl er auf der unteren Seite der Stadt lag. Er wartete ungeduldig, während die fließenden Straßen unaufhörlich an ihm vorbeizogen und die zufriedenen Menschen der Stadt zu ihren unwichtigen Zielen brachten. Endlich tauchte die große Gestalt Khedrons in der Feme auf, und einen Augenblick später befand er sich zum erstenmal in der leiblichen Gegenwart des Spaßmachers.

Der Spaßmacher setzte sich auf ein Marmorgelände und sah Alvin mit seltener Eindringlichkeit an.

„Ich frage mich“, sagte er, „ob du weißt, was du willst. Und ich frage mich auch, was du tun würdest, wenn du es erreichtest.

Glaubst du wirklich, du könntest die Stadt verlassen, selbst wenn du einen Weg fändest?“

„Ich weiß es“, erwiderte Alvin tapfer, obwohl Khedron die Unsicherheit in seiner Stimme spürte.

„Dann will ich dir etwas sagen, was du noch nicht wissen dürftest. Siehst du diese Türme dort?“ Khedron deutete auf die zwei Spitzen der Energiezentrale und der Ratshalle, die sich über einer Häuserschlucht von eineinhalb Kilometer Tiefe gegenüberstanden. „Angenommen, ich lege ein völlig festes Brett zwischen die beiden Türme — ein Brett, das nur fünfzehn Zentimeter breit wäre. Könntest du darübergehen?“ Alvin zögerte.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Ich möchte es nicht versuchen.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, daß du es niemals schaffen würdest. Du würdest schwindlig werden und herunterfallen, bevor du ein Dutzend Schritte gegangen wärst. Wenn aber das gleiche Brett knapp über dem Boden angebracht wäre, könntest du ohne Schwierigkeiten darübergehen.“

„Und was beweist das?“

„Ganz einfach dies: Bei diesen Versuchen handelt es sich um ein und dasselbe Brett. Einer der beräderten Roboter, die man manchmal trifft, könnte es ebensogut überqueren, wenn es zwischen den beiden Türmen läge, wie wenn es knapp über dem Boden schwebte. Wir könnten es nicht, weil wir Angst vor großen Höhen haben. Das mag unlogisch sein, aber das Gefühl ist zu mächtig, um durch logisches Denken beeinflussen zu können. Es ist uns angeboren.

Gleicherweise haben wir Angst vor dem leeren Raum. Man zeige einem Mann aus Diaspar eine Straße, die aus der Stadt hinausführt — eine Straße, die genauso aussehen könnte, wie diese hier vor uns —, und er wird nicht weit kommen. Er würde umkehren müssen wie du, wenn du versuchen wolltest, das Brett zwischen den beiden Türmen zu überqueren.“

„Aber warum?“ fragte Alvin. „Es muß doch einmal eine Zeit gegeben haben —“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Khedron. „Die Menschen gingen einst über die ganze Welt und sogar zu den Sternen. Irgend etwas hat sie verändert und ihnen diese Furcht eingepflanzt, mit der sie jetzt auf die Welt kommen. Du allein glaubst, sie nicht zu haben. Nun, wir werden sehen. Ich führe dich zur Ratshalle.“

Die Ratshalle war eines der größten Gebäude der Stadt und beherbergte fast ausschließlich die Maschinen, die als wirkliche Verwalter Diaspars fungierten. Unter der Turmspitze lag der Saal, in dem der Rat in unregelmäßigen Abständen zusammentraf, wenn es, was selten vorkam, etwas zu entscheiden galt.

Der weite Eingang verschluckte sie, und Khedron ging in die goldene Düsternis hinein. Alvin hatte die Ratshalle noch nie betreten; es gab keine Vorschrift, die das untersagte — es gab kaum Verbotsvorschriften in Diaspar —, aber wie alle anderen Bürger fühlte er eine eigenartige Scheu vor diesem Ort.

Khedron führte Alvin, ohne auch nur einmal zu zögern, durch Korridore und Rampen hinab, die offensichtlich für beräderte Maschinen und nicht für menschlichen Verkehr gedacht waren. Einige Rampen führten so steil und im Zickzack in die Tiefe, daß man sich nicht hätte halten können, wenn nicht die Schwerkraft zum Ausgleich verändert worden wäre.

Sie erreichten schließlich eine geschlossene Tür, die sich öffnete, als sie herankamen, hinter ihnen aber wieder zuglitt. Vor ihnen befand sich eine andere Tür, die bei ihrer Annäherung geschlossen blieb. Khedron berührte diese Tür nicht, sondern wartete bewegungslos. Nach einer kurzen Pause sagte eine ruhige Stimme: „Bitte nennen Sie Ihren Namen.“

„Ich bin Khedron, genannt der Spaßmacher. Mein Begleiter ist Alvin.“

„Und der Grund Ihres Erscheinens?“

„Reine Neugier.“

Zu Alvins Erstaunen öffnete sich die Tür sofort. Nach seinen Erfahrungen stiftete man nur Verwirrung, wenn man einer Maschine spaßhafte Antworten gab, und man mußte dann meistens wieder von vorne anfangen.

Die Maschine, die Khedron befragt hatte, mußte also sehr klug sein — an einem hohen Platz in der Hierarchie des Zentral-Elektronengehirns.

Sie trafen auf keine Hindernisse, aber Alvin vermutete, daß sie unterwegs zahlreichen Tests unterworfen wurden, von denen er keine Ahnung hatte. Ein kurzer Korridor führte sie plötzlich in einen riesigen runden Saal mit versenktem Boden hinaus, und in diesen Boden war etwas so Erstaunliches eingelassen, daß sich Alvin einen Augenblick wie von einem Wunder überwältigt fühlte. Er sah auf die gesamte Stadt Diaspar hinunter, die vor ihm ausgebreitet lag und deren höchste Gebäude knapp bis an seine Schulter reichten.

Er verbrachte so viel Zeit damit, bekannte Stellen herauszusuchen und unerwartete Ausblicke zu genießen, daß es eine Weile dauerte, ehe er seine Aufmerksamkeit dem übrigen Teil des Saales zuwandte. Die Wände waren mit einem mikroskopisch fein verteilten Muster aus schwarzen und weißen Quadraten bedeckt; das Muster selbst war völlig unregelmäßig ausgebildet, und wenn er die Augen schnell bewegte, gewann er den Eindruck, als flimmere etwas, obwohl es sich nicht veränderte. In regelmäßigen Abständen standen rings an den Wänden Maschinen mit Tastaturen, jede mit eigenem Bildschirm und Sitz für das Bedienungspersonal.

Khedron ließ Alvin sich satt sehen. Dann deutete er auf die verkleinerte Stadt und sagte: „Weißt du, was das ist?“

Alvin war versucht, ›ein Modell, nehme ich an‹, zu erwidern, aber diese Antwort schien ihm so einfach, daß er sie für falsch hielt. Darum schüttelte er den Kopf und wartete, bis Khedron seine eigene Frage beantwortete.

„Du erinnerst dich“, sagte der Spaßmacher, „daß ich dir schon einmal erzählte, wie die Stadt erhalten wird und wie die Gedächtnisanlagen ihre Struktur, für immer fixiert, bewahren. Diese Anlagen mit ihrem unermeßlichen Schatz an Informationen befinden sich hier an den Wänden. Jedes Atom Diaspars wird irgendwie — durch Kräfte, die wir nicht kennen — an die in diesen Mauern verborgenen Strukturen gekettet.“


Er deutet auf das vollkommene, unendlich vielfältige Abbild Diaspars unter ihnen.

„Das ist kein Modell; es existiert nicht wirklich. Das ist nur das Abbild der in den Gedächtnisanlagen aufbewahrten Struktur, und daher mit der Stadt absolut identisch. Diese Beobachtungsmaschinen hier ermöglichen es, jede gewünschte Einzelheit zu vergrößern, sie in Lebensgröße oder noch größer zu betrachten. Man verwendet sie für Veränderungen an der Stadt, obwohl schon lange nichts mehr verändert wurde. Wenn du wissen willst, wie Diaspar aussieht, mußt du hierherkommen. Du kannst hier in wenigen Tagen mehr lernen als in einem ganzen Leben direkter Erforschung der Stadt.“

„Es ist herrlich“, sagte Alvin. „Wie viele Leute wissen, daß es das gibt?“

„Oh, sehr viele, aber es kümmert sie selten. Der Rat kommt von Zeit zu Zeit hierher; an der Stadt kann nichts geändert werden, wenn nicht alle hier versammelt sind. Und nicht einmal dann, wenn das Zentral-Elektronengehirn der vorgeschlagenen Abänderung nicht zustimmt. Ich bezweifle, daß dieser Saal öfter als zwei-, dreimal jährlich aufgesucht wird.“

Alvin hätte gern gewußt, warum Khedron Zugang dazu hatte, erinnerte sich aber daran, daß es zu den Vorrechten des Spaßmachers gehören würde, alles in Erfahrung zu bringen; einen besseren Führer zu den Geheimnissen Diaspars konnte er sich nicht wünschen.

„Vielleicht existiert das, was du suchst, nicht“, sagte Khedron, „aber wenn überhaupt, dann kannst du es hier finden. Ich will dir zeigen, wie man die Kontrollgeräte bedient.“

Während der nächsten Stunde saß Alvin vor einem der Bildschirme und lernte, das Gerät zu steuern. Er konnte jeden Punkt in der Stadt auswählen und ihn unter jeder gewünschten Vergrößerung betrachten. Straßen, Türme, Wände und die fließenden Transportverbindungen huschten über den Schirm, wenn er die Koordinaten änderte; es schien, als sei er ein körperlicher Geist, der mühelos über ganz Diaspar dahinschwebte.

Und doch war es nicht in Wirklichkeit Diaspar, was er beobachtete. Er bewegte sich durch die Gedächtniszellen, blickte auf das Traumbild der Stadt — aus jenem Traum, der mächtig genug war, das wirkliche Diaspar seit tausend Millionen Jahren unberührt zu erhalten. Er konnte nur den Teil der Stadt sehen, der ewig war; die Menschen in den Straßen gehörten nicht zu dem erstarrten Abbild. Für seinen Zweck war es auch unwichtig. Sein Interesse lag jetzt nur bei jener Schöpfung aus Stein und Metall, in der er gefangen saß, nicht bei denen, die diese Gefangenschaft teilten.


Er suchte und fand den Turm von Loranne, bewegte sich schnell durch die Korridore und Tunnels, die er schon in Wirklichkeit durchforscht hatte. Als sich das Abbild des Steingitters vor seinen Augen ausbreitete, konnte er beinahe den kalten Wind spüren. Er kam auf das Gitter zu, blickte hinaus — und sah nichts. Einen Augenblick war der Schock so überwältigend, daß er beinahe seine eigene Erinnerung in Zweifel zog; war der Anblick der Wüste nicht mehr als ein Traum gewesen?

Dann begriff er. Die Wüste war nicht ein Teil Diaspars, so daß auch ihr Abbild nicht in der Scheinwelt, die er durchstreifte, vorhanden sein konnte. Jenseits dieses Gitters mochte alles mögliche liegen — auf dem Bildschirm konnte es nie erscheinen.

Aber der Bildschirm zeigte ihm dafür etwas anderes, was noch kein lebender Mensch gesehen hatte. Alvin schob seinen Blickpunkt durch das Gitter hinaus in das Nichts jenseits der Stadt. Er drehte den Regler, der die Blickrichtung veränderte, so daß er genau auf den Weg zurücksah, den er eben hinter sich gebracht hatte. Und dort hinter ihm lag Diaspar — von außen gesehen.

Für die Elektronengehirne, die Gedächtnisstromkreise und all die zahllosen Mechanismen, die das Bild erzeugten, das Alvin beobachtete, war es nur ein einfaches Problem der Perspektive. Sie kannten die Form der Stadt; deshalb konnten sie auch ihr Bild von außen zeigen. Aber Alvin war trotzdem überwältigt. Er war, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch im Geist der Stadt entflohen. Er schien im Raum zu schweben, wenige Meter von der steil abfallenden Außenwand des Turms von Loranne entfernt. Einen Augenblick starrte er auf die glatte graue Fläche vor seinen Augen; dann berührte er den Regler und richtete den Blick nach unten, auf den Boden.

Jetzt, da er die Möglichkeiten dieses wunderbaren Instrumentes kannte, war ihm sein weiteres Vorgehen klar. Er brauchte nicht mehr Monate und Jahre damit zuzubringen, Diaspar vom Innern aus zu erforschen, Raum um Raum, Korridor um Korridor. Von einem neuen Aussichtspunkt konnte er an der Außenseite der Stadt entlangschweben und sofort jede Öffnung erkennen, die zur Wüste und der Welt jenseits hinausführen mochte.

Er drehte sich zu Khedron um und wollte ihm danken. Aber der Spaßmacher war verschwunden.

Alvin war der einzige Mensch Diaspars, der unerschrocken auf diese Bilder blicken konnte, die jetzt auf dem Bildschirm vorbeiglitten. Khedron wollte ihm zwar behilflich sein, aber auch er teilte jenes seltsame Entsetzen vor dem Raum, das die Menschheit in ihrer kleinen Welt festhielt.


Die Einsamkeit, von der sich Alvin befreit geglaubt hatte, überfiel ihn um so stärker. Aber jetzt war keine Zeit für Melancholie; es gab zuviel zu tun.

Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu, holte das Bild der Stadtmauer und begann seine Suche.

Diaspar sah in den folgenden Wochen sehr wenig von Alvin, wenn auch seine Abwesenheit nur wenigen Menschen auffiel. Jeserac fühlte sich etwas erleichtert, als er erfuhr, daß sein früherer Schüler eine ganze Zeit in der Ratshalle verbrachte, statt an der Stadtgrenze herumzustreifen, weil er glaubte, daß Alvin dort in keine Unannehmlichkeiten kommen konnte. Eriston und Etania riefen ein- oder zweimal in sein Zimmer, stellten fest, daß er ausgegangen war und zerbrachen sich nicht weiter den Kopf darüber. Alystra dagegen war etwas beharrlicher.

Ihrer eigenen Gemütsruhe wegen war es bedauerlich, daß sie ausgerechnet Alvin hebte. Alystra hatte nie Schwierigkeiten gehabt, einen Partner zu finden, aber verglichen mit Alvin schienen alle anderen Männer, die sie kannte, völlig unbedeutend, aus dem gleichen ausdruckslosen Stoff geprägt. Sie wollte ihn nicht kampflos aufgeben; seine Gleichgültigkeit wirkte als unwiderstehliche Herausforderung.

Und doch waren ihre Motive vielleicht nicht so ganz selbstsüchtig, sondern eher mütterlicher Natur. Alvin mochte eigensinnig und selbstsicher scheinen, aber Alystra fühlte seine innere Einsamkeit.

Als sie festgestellt hatte, daß Alvin verschwunden war, fragte sie sofort Jeserac, was mit ihm geschehen sei. Jeserac erzählte es ihr nach kurzem Zögern. Wenn Alvin keine Gesellschaft wünschte, sollte er es selbst sagen. Jeserac konnte Alystra gut leiden; er hoffte, ihr Einfluß würde Alvin auf den richtigen Weg bringen.

Die Tatsache, daß sich Alvin in der Ratshalle aufhielt, konnte nur bedeuten, daß er sich mit einer Forschungsaufgabe beschäftigte, und dieses Wissen zerstreute zumindest Alystras Verdacht auf mögliche Rivalinnen.

An die Stelle der Eifersucht trat Neugier. Sie machte sich manchmal Vorwürfe, Alvin im Turm von Loranne davongelaufen zu sein, obwohl sie wußte, daß sie unter den gleichen Umständen wieder so handeln würde.

Man konnte Alvins Gedanken nicht verstehen, sagte sie sich, solange man nicht herausbrachte, womit er sich abmühte.

Sie ging zielbewußt in den Hauptsaal, beeindruckt von der Stille, die sie nach ihrem Eintritt empfing. Die Auskunftsmaschinen standen nebeneinander an der Wand; sie ging auf eine von ihnen zu und blieb davor stehen.

Als die Lampe blinkte, sagte sie: „Ich suche Alvin; er hält sich irgendwo in diesem Gebäude auf. Wo kann ich ihn finden?“


Selbst nach Ablauf eines ganzen Lebens gewöhnte man sich nie ganz an das völlige Fehlen einer zeitlichen Verzögerung, wenn eine Auskunftsmaschine eine gewöhnliche Frage beantwortete. Es gab Leute, die wußten oder zu wissen vorgaben, wie das kam, und gelehrt von Anstiegszeit und Speicherungsraum sprachen, aber das machte das Ergebnis nicht weniger erstaunlich. Jede Frage rein praktischer Art konnte sofort beantwortet werden. Nur bei komplizierten Berechnungen ergab sich eine merkbare Verzögerung.

„Er ist bei den Monitoren“, kam die Antwort. Das nützte nicht sehr viel, weil sich Alystra darunter nichts vorstellen konnte. Keine Maschine gab jemals mehr Auskünfte, als von ihr verlangt wurden. Die richtige Formulierung von Fragen war daher eine Kunst, zu deren Erlernung man oft viele Jahre brauchte.

„Wie erreiche ich ihn?“ fragte Alystra.

„Das kann ich Ihnen nur sagen, wenn Sie die Genehmigung des Rates besitzen.“

Das hatte sie nicht vorausgesehen. Es gab wenig Orte in Diaspar, die nicht jeder aufsuchen konnte, den es danach verlangte. Alystra war ziemlich sicher, daß Alvin nicht die Genehmigung des Rates eingeholt hatte; das konnte also nur bedeuten, daß ihn eine höhere Autorität unterstützte.

Der Rat regierte Diaspar, aber seine Entscheidungen konnten von einer übergeordneten Macht aufgehoben werden — durch den nahezu unermeßlichen Intellekt des Zentral-Elektronengehirns. Es fiel schwer, das Zentral-Elektronengehirn nicht als lebendes Wesen anzusehen, obgleich es praktisch die Summe aller Maschinen in Diaspar war. Auch wenn es im biologischen Sinn nicht lebte, besaß es mindestens ebensoviel Bewußtheit und Erkenntnisvermögen, wie ein menschliches Wesen.

Was Alvin tat, mußte ihm bekannt sein — also mußte es zustimmen, sonst hätte es ihn daran gehindert oder an den Rat verwiesen, wie die Auskunftsmaschine bei Alystra.

Es hatte keinen Sinn hierzubleiben. Alystra wußte, daß jeder Versuch, Alvin zu finden — selbst wenn sie genau wußte, wo er sich in diesem Gebäude befand —, zum Scheitern verurteilt war. Türen würden sich nicht öffnen; Gleitwege würden sich rückläufig bewegen, wenn sie darauf stand; Liftfelder würden den Dienst versagen. Wenn sie weiter auf ihrem Vorhaben bestünde, würde sie ein höflicher, aber bestimmter Roboter auf die Straße bringen, oder man würde sie immer wieder rund um die Ratshalle transportieren, bis sie genug hätte und aus eigenem Antrieb ginge.


Sie war schlechter Stimmung, als sie auf die Straße hinaustrat. Außerdem war sie nachdenklich, denn sie spürte zum erstenmal, daß hier etwas vor sich ging, das ihre Wünsche und Interessen als unwichtig erscheinen ließ. Das hieß nicht, daß sie ihr deswegen weniger wichtig geworden wären. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte, aber eines wußte sie genau: Alvin war nicht der einzige Mensch in Diaspar, der hartnäckig und beharrlich sein konnte.

8

Das Bild auf dem Leuchtschirm blendete aus, als Alvin seine Hände vom Bedienungspult nahm. Eine Weile saß er völlig regungslos da und starrte in das dunkle Rechteck, das ihn so viele Wochen hindurch beschäftigt hatte. Er hatte seine Welt umrundet; über diesen Bildschirm war jeder Quadratmeter der Außenwände Diaspars gewandert. Er kannte die Stadt besser als jeder andere lebende Mensch, Khedron vielleicht ausgenommen; und er wußte jetzt, daß es keinen Weg durch die Wand gab.

Das Gefühl, das ihn bewegte, war nicht Mutlosigkeit; er hatte nie erwartet, daß es so leicht sein würde, daß er schon beim ersten Versuch Erfolg haben würde. Wichtig war, daß er eine Möglichkeit ausgeschieden hatte. Nun mußte er sich mit den anderen beschäftigen.

Er stand auf und ging zum Bild der Stadt, das fast den ganzen Saal ausfüllte. Es fiel nicht schwer, darin tatsächlich ein Modell zu sehen, obwohl er genau wußte, daß es in Wirklichkeit nur die optische Projektion einer Struktur in den eben durchforschten Gedächtniszellen war. Wenn er die Tasten bediente und seinen Blickpunkt über Diaspar bewegte, schwebte ein Lichtpunkt über die Oberfläche dieses Ebenbildes, so daß er genau erkennen konnte, wo er sich jeweils befand. In den ersten Tagen hatte sich das als nützliches Hilfsmittel erwiesen, aber bald beherrschte er das Gerät so sicher, daß er es nicht mehr brauchte.

Die Stadt lag unter ihm ausgebreitet; er starrte auf sie herunter. Aber er sah sie kaum, als er sich überlegte, wie er jetzt weiter vorgehen sollte.

Wenn alles schiefging, gab es immer noch eine Lösung. Diaspar mochte ewig unveränderlich erhalten werden, für immer entsprechend der Struktur in den Gedächtniszellen erstarrt. Aber diese Struktur selbst konnte verändert werden, und mit ihr änderte sich die Stadt. Es mußte möglich sein, einen Teil der Außenwand so umzugestalten, daß sie eine Tür ins Freie enthielt, diese Struktur in die Monitoren einzulegen und die Stadt sich an diese neue Konzeption anpassen zu lassen.

Alvin vermutete, daß die Teile des Bedienungspultes, deren Zweck Khedron nicht erklärt hatte, mit solchen Veränderungen zusammenhingen.

Es hatte keinen Zweck, mit diesen Tasten zu experimentieren. Die Regler zur Veränderung der Stadtstruktur waren fest verschlossen, und sie konnten nur im Auftrag des Rates und mit Genehmigung des Zentral-Elektronengehirns bedient werden. Es bestand kaum eine Chance, daß ihm der Rat die Erlaubnis dazu erteilen würde.


Er wandte seine Gedanken dem Himmel zu. Manchmal hatte er sich vorgestellt, er habe die Freiheit der Lüfte wiedergewonnen, auf die der Mensch vor so langer Zeit verzichtet hatte. Einst war der Himmel über der Erde mit seltsamen Objekten erfüllt gewesen. Aus dem Weltraum waren die großen Schiffe gekommen, unbekannte Reichtümer mit sich führend, um im legendären Hafen von Diaspar zu landen. Aber der Hafen hatte außerhalb der Stadtgrenzen gelegen; Äonen zuvor war er vom Treibsand begraben worden. Er konnte träumen, daß irgendwo in den Labyrinthen Diaspars noch eine Flugmaschine versteckt sein mochte, aber er glaubte nicht ernstlich daran.

Selbst in den Tagen, als kleine Privatflugzeuge allgemein in Gebrauch gewesen waren, hatte man sie wohl kaum innerhalb der Stadt geduldet.

Einen Augenblick verlor er sich in den alten, vertrauten Raum. Er stellte sich vor, daß er Herr des Himmels sei, daß die Welt unter ihm ausgebreitet läge und ihn aufforderte zu reisen, wohin es ihm beliebte. Das war nicht die Welt seiner eigenen Zeit, die er sah, sondern die verlorene Welt der Frühzeit — ein fruchtbares, lebendes Panorama aus Hügeln, Seen und Wäldern. Er fühlte bitteren Neid auf seine unbekannten Vorfahren, die über die Erde fliegen konnten und ihre Schönheit sterben ließen.

Diese betäubende Träumerei war nutzlos; er zwang sich in die Gegenwart zurück und zu seinem Problem. Wenn der Himmel unerreichbar und der Landweg versperrt war, was blieb dann?

Wieder war er an einem Punkt angelangt, da er Hilfe brauchte, da er durch eigene Bemühung keinen weiteren Fortschritt erzielen konnte. Er gab es nicht gerne zu, war aber auf der anderen Seite ehrlich genug, es nicht zu leugnen. Unvermeidlich richteten sich seine Gedanken wieder auf Khedron.

Alvin war sich noch nicht klar darüber, ob er den Spaßmacher mochte.

Es gab in Diaspar niemanden, mit dem er so viel gemeinsam hatte, aber trotzdem lag in der Persönlichkeit des anderen ein Element, das ihn abstieß. Vielleicht war es Khedrons ironische Überlegenheit, die Alvin manchmal glauben ließ, er lache heimlich über seine Anstrengungen.

Aus diesem Grund und wegen seiner angeborenen Hartnäckigkeit und Unabhängigkeit zögerte Alvin, den Spaßmacher um Hilfe zu bitten; aber es blieb ihm nichts anderes übrig.

Sie verabredeten eine Zusammenkunft in einem kleinen, runden Hof, nicht weit von der Ratshalle. Es gab in der Stadt viele einsame abgelegene Plätze, oft nur wenige Meter von einer Hauptverkehrsstraße, aber doch völlig von ihr abgeschlossen. Gewöhnlich konnte man sie nur zu Fuß und über allerlei Umwege erreichen;


manchmal lagen sie sogar im Mittelpunkt geschickt entworfener Irrgärten. Es war eigentlich typisch für Khedron, daß er einen derartigen Platz als Treffpunkt ausgewählt hatte.

Der Hof maß nicht mehr als fünfzig Schritte und lag in Wirklichkeit tief im Innern eines großen Gebäudes. Dabei schien er keine bestimmten physischen Begrenzungen zu besitzen; er war von einem durchscheinenden blaugrünen Material umgeben, das in einem schwachen inneren Licht schimmerte. Obwohl ohne sichtbare Begrenzung, hatte man den Hof so angelegt, daß keine Gefahr bestand, sich im unendlichen Raum verloren zu fühlen. Niedrige Mauern, nicht einmal hüfthoch und in Abständen durchbrochen, damit man sie passieren konnte, vermochten den Eindruck sicherer Behausung zu erwecken, ohne den sich niemand in Diaspar jemals richtig wohlfühlte.

Khedron betrachtete eine dieser Mauern, als Alvin ankam. Sie war mit einem komplizierten Mosaik aus farbigen Kacheln bedeckt.

„Sieh dir dieses Mosaik an, Alvin“, sagte der Spaßmacher. „Fällt dir daran irgend etwas Besonderes auf?“

„Nein“, gestand Alvin nach kurzer Betrachtung. „Ich habe nichts dafür übrig — aber ich finde auch nichts Besonderes daran.“

Khedron fuhr mit den Fingern über die farbigen Kacheln. „Du bist nicht sehr aufmerksam“, sagte er. „Schau diese Ränder an — siehst du, wie rund und abgeschliffen sie sind? Das sieht man in Diaspar sehr selten.

Es ist Abnützung — der Zerfall der Materie unter dem Ansturm der Zeit.

Ich kann mich an die Zeit erinnern, als dieses Muster neu war, vor achtzigtausend Jahren, in meiner letzten Lebensperiode. Wenn ich nach einem Dutzend weiterer Lebenszeiten an diese Stelle zurückkomme, werden diese Kacheln vollkommen verschwunden sein.“

„Was ist daran so überraschend?“ meinte Alvin. „Es gibt andere Kunstwerke in der Stadt, die nicht gut genug sind, um in den Gedächtnisanlagen aufbewahrt zu werden, aber auch nicht so schlecht, daß man sie sofort zerstören will. Eines Tages wird ein anderer Künstler kommen und es besser machen, nehme ich an. Und bei seiner Arbeit wird man nicht zulassen, daß sie sich abnützt.“

„Ich habe den Mann gekannt, der diese Mauer entwarf“, sagte Khedron.

„Seltsam, daß ich mich daran erinnere, aber nicht an den Mann selbst. Ich habe ihn sicher nicht leiden können und deswegen aus meiner Erinnerung gelöscht.“ Er lachte kurz auf. „Vielleicht habe ich sie selbst entworfen, während einer meiner Künstlerperioden, und mich über die negative Entscheidung der Stadt so geärgert, daß ich mich entschied, die ganze Sache zu vergessen. Da — ich wußte, dieses Stück würde sich ablösen!“

Es war ihm gelungen, einen kleinen Splitter aus einer goldenen Kachel herauszuziehen. Er warf das Bruchstück auf den Boden und meinte:

„Jetzt werden sich die Ordnungsroboter darum kümmern müssen!“

Es hatte für ihn etwas zu bedeuten, das wußte Alvin. Er blickte auf den goldenen Splitter zu seinen Füßen und versuchte, ihn irgendwie mit seinem Problem in Verbindung zu bringen.

Die Antwort war gar nicht so schwer zu finden, als er begriffen hatte, daß es eine gab.

„Ich verstehe, was Sie sagen wollen“, erklärte er Khedron. „Es gibt Dinge in Diaspar, die nicht in den Gedächtnisanlagen aufbewahrt werden, so daß ich sie also auch nicht durch die Monitoren in der Ratshalle finden könnte. Wenn ich jetzt dort hinginge und den Bliek auf diesen Hof richten würde, wäre von dieser Mauer, auf der wir sitzen, nichts zu sehen.“

„Doch, du würdest die Mauer finden. Nur das Mosaik nicht.“

„Ja, das sehe ich ein“, sagte Alvin, zu ungeduldig, um sich mit solchen Haarspaltereien zu befassen. „Und ebenso könnten Teile der Stadt niemals von den Gedächtnisanlagen erfaßt worden sein. Trotzdem, ich sehe nicht recht, wie mir das weiterhelfen soll. Ich weiß, daß die Außenwand existiert und daß sie keine Öffnungen auf zuweisen hat.“

„Vielleicht gibt es keinen Weg nach draußen“, erwiderte Khedron. „Ich kann dir nichts versprechen. Aber ich glaube, daß uns die Monitoren noch eine ganze Menge beibringen können — wenn es das Zentral-Elektronengehirn zuläßt. Und es scheint eine erstaunliche Zuneigung zu dir gefaßt zu haben.“

Alvin dachte auf dem Weg zur Ratshalle über diese Bemerkung nach.

Bisher hatte er angenommen, daß ihm nur der Einfluß Khedrons Zutritt zu den Monitoren verschafft hatte. Er war nicht auf den Gedanken gekommen, der Schlüssel könne in ihm selbst liegen.

Das unveränderliche Abbild der Stadt beherrschte nach wie vor den Saal, in dem Alvin so viele Stunden verbracht hatte. Alles, was er sah, existierte — aber vielleicht spiegelte sich hier nicht ganz Diaspar. Die Unterschiede konnten jedoch nur winzig sein — und praktisch unentdeckbar.

„Ich habe das schon vor vielen Jahren einmal versucht“, sagte Khedron, als er sich am Bedienungspult des Monitors niederließ, „aber die Schalter waren für mich gesperrt. Vielleicht gehorchen sie mir jetzt.“

Langsam, dann mit wachsender Sicherheit, als er seine frühere Geschicklichkeit wiedergewann, glitten Khedrons Fingerspitzen über die Tasten.

„Ich glaube, so stimmt es“, sagte er schließlich. „Außerdem werden wir gleich sehen.“

Der Bildschirm leuchtete auf, aber statt des Bildes, das Alvin erwartet hatte, erschien eine etwas verwirrende Mitteilung: ›Rücklaufbeginn sofort nach Einstellung der Rücklaufrate.‹

„Dumm von mir“, murmelte Khedron. „Alles richtig eingestellt und das Wichtigste vergessen.“ Seine Finger bewegten sich zuversichtlich über die Tasten, und als die Schrift vom Bildschirm verschwand, drehte er sich mit seinem Stuhl, um das Abbild der Stadt betrachten zu können.

„Paß auf, Alvin“, sagte er. „Ich glaube, wir werden Neues über Diaspar erfahren.“

Alvin wartete geduldig, aber nichts rührte sich. Das Bild der Stadt schwebte dort in vertrauter Schönheit — obwohl er daran jetzt nicht dachte. Er wollte eben Khedron fragen, worauf er achten sollte, als er eine plötzliche Bewegung bemerkte. Es war nicht mehr als ein blitzschnelles Flackern gewesen, und er kam zu spät. Nichts hatte sich verändert; Diaspar war genauso, wie er es kannte. Dann bemerkte er, daß ihn Khedron mit einem ironischen Lächeln beobachtete; er sah wieder auf die Stadt. Diesmal geschah es vor seinen Augen.

Eines der Gebäude am Parkrand verschwand plötzlich und wurde augenblicklich durch ein neues, völlig anderes Bauwerk ersetzt. Die Umwandlung ging so schnell vor sich, daß sie Alvin entgangen wäre, hätte er auch nur geblinzelt. Er starrte gebannt auf die veränderte Stadt, aber schon während des ersten Überraschungsschocks suchte sein Verstand nach einer Antwort. Er erinnerte sich an das Wort auf dem Monitorschirm ›Rücklaufbeginn‹ und begriff sofort.

„Das ist die Stadt, wie sie vor Tausenden von Jahren aussah“, sagte er zu Khedron. „Wir gehen in der Zeit zurück.“

„Eine malerische, aber nicht ganz zutreffende Bezeichnung“, erwiderte der Spaßmacher. „In Wirklichkeit erinnert sich der Monitor an die früheren Versionen der Stadt. Wenn Änderungen vorgenommen wurden, löschte man nicht einfach die Gedächtnisanlagen; die in ihnen enthaltenen Informationen wurden an Hilfsspeichereinheiten weitergegeben, so daß man sie jederzeit wieder hervorholen konnte. Ich habe den Monitor so eingestellt, daß er diese Einheiten mit einer Geschwindigkeit von tausend Jahren pro Sekunde durchläuft. Wir haben jetzt bereits das Diaspar vor uns, wie es vor einer halben Million Jahre aussah. Wir werden noch erheblich weiter zurückgehen müssen, um wesentliche Veränderungen festzustellen — ich werde die Geschwindigkeit erhöhen.“


Er wandte sich wieder dem Bedienungspult zu, und im gleichen Augenblick verschwand nicht bloß ein Gebäude, sondern ein ganzes Viertel und machte einem großen ovalen Amphitheater Platz.

„Ah, die Arena!“ sagte Khedron. „Ich kann mich noch an die Aufregung erinnern, als wir beschlossen, sie abzureißen. Sie wurde kaum verwendet, aber viele Leute hingen irgendwie an ihr.“

Der Monitor durchlief seine Erinnerungszellen jetzt in wesentlich schnellerem Tempo; das Bild Diaspars wich pro Minute Millionen Jahre in die Vergangenheit zurück; die Veränderungen liefen so schnell ab, daß man ihnen kaum folgen konnte. Alvin fiel auf, daß die Veränderungen periodisch auftraten. Diaspar glich einem lebenden Organismus, der nach jeder Wachstumsperiode wieder Kräfte sammeln mußte.

Trotz der vielen Veränderungen hatte sich jedoch die Grundstruktur der Stadt nicht gewandelt. Gebäude tauchten auf und verschwanden, aber das Netz der Straßen schien ewig, und auch der Park blieb das grüne Herz der Stadt. Alvin fragte sich, wie weit der Monitor zurückgehen konnte. Würde er zur Gründung der Stadt zurückkehren und jenen Schleier durchdringen können, der die bekannte Geschichte von den Mythen und Legenden der Frühzeit schied?

Schon waren sie fünfhundert Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückgegangen. Außerhalb der Mauern Diaspars, jenseits des Bereiches der Monitoren, würde eine andere Erde liegen. Vielleicht gab es noch Meere und Wälder, vielleicht sogar noch andere Städte, die der Mensch auf dem langen Rückzug zu seiner letzten Heimat noch nicht verlassen hatte.

Die Minuten vergingen, jede ein Zeitalter im kleinen All der Monitoren.

Bald mußte die früheste dieser gespeicherten Erinnerungen erreicht und der Rücklauf zu Ende sein. Aber so faszinierend dieser Vorgang auch war, Alvin sah keinen Weg, wie er ihm die Flucht aus der Stadt erleichtern könnte.

Mit einer plötzlichen, geräuschlosen Implosion schrumpfte Diaspar zu einem Bruchteil der früheren Größe zusammen. Der Park verschwand; die Grenzwälle miteinander verbundener, titanischer Türme lösten sich auf.

Diese Stadt war zur Welt hin offen, denn die strahlenförmig verlaufenden Straßen erstreckten sich ohne Hindernisse bis zu den Grenzen des Monitorsehbereiches. Hier lag Diaspar, wie es ausgesehen hatte, ehe die große Veränderung über die Menschheit kam.

„Wir können nicht weiter zurück“, sagte Khedron und deutete auf den Monitorschirm, auf dem die Worte: ›Rücklauf beendet‹ leuchteten. „Das muß die früheste Version der Stadt sein, die in den Gedächtniseinheiten aufbewahrt wird. Ich bezweifle, daß man in der Zeit vorher die Ewigkeitsanlagen verwendet hat; wahrscheinlich ließ man die Gebäude sich auf natürliche Weise abnützen.“

Lange Zeit starrte Alvin auf dieses Modell der alten Stadt. Er dachte an den Verkehr, den diese Straßen bewältigt hatten, als die Menschen alle Ecken der Welt aufsuchten — und andere Welten. Diese Menschen waren seine Vorfahren; er fühlte sich mit ihnen enger verbunden als mit den Leuten in diesem Leben. Er wünschte, sie sehen und ihre Gedanken teilen zu können. Aber diese Gedanken konnten nicht glücklich gewesen sein, denn sie mußten unter dem Schatten der Invasoren leben. Wenige Jahrhunderte später schon würden sie sich von ihrem Raum abwenden und eine Mauer gegen das Universum errichten.

Khedron ließ den Monitor ein dutzendmal vorwärts und rückwärts durch diese kurze Geschichtsperiode vor der großen Verwandlung laufen. Der Wechsel von der kleinen, offenen Stadt zu einem viel größeren, abgeschlossenen Gebilde hatte wenig mehr als tausend Jahre in Anspruch genommen.

Innerhalb dieser Zeit mußten die Maschinen, die Diaspar treu gedient hatten, entworfen und gebaut und das Wissen, das ihnen erst die Durchführung ihrer Aufgabe ermöglichte, in ihre Gedächtnisanlagen gelegt worden sein. Die Gedächtniseinheiten mußten auch die grundlegenden Strukturen aller jetzt lebenden Menschen empfangen haben.

Alvin begriff, daß auch er in irgendeiner Hinsicht in der alten Welt existiert haben mußte.

Als die neue Stadt geschaffen wurde, war vom alten Diaspar sehr wenig übriggeblieben; der Park hatte es fast völlig beseitigt. Schon vor der Umwandlung hatte es eine kleine, grasbedeckte Lichtung in der Mitte Diaspars gegeben, die den Treffpunkt aller Straßen umgab. Später vergrößerte sie sich um das Zehnfache, verdrängte Häuser und Straßen. Zu dieser Zeit war das Grabmal Yarlan Zeys entstanden; es nahm den Platz eines niedrigen, runden Gebäudes ein, das früher am Treffpunkt aller Straßen gestanden hatte. Alvin hatte nie so recht an die Geschichten von der Ehrwürdigkeit des Grabmals glauben wollen, aber sie schienen sich zu bestätigen.

„Ich nehme an“, sagte Alvin plötzlich, „daß wir dieses Abbild ebenso durchforschen können wie vorher das heutige Diaspar.“

Khedrons Finger flogen über die Tasten des Monitors, und der Bildschirm beantwortete Alvins Frage. Die längst vergangene Stadt weitete sich vor seinen Augen, als der Blick über die seltsam engen Straßen glitt.

Diese Erinnerung an ein vergessenes Diaspar war ebenso scharf und klar wie das Bild der Stadt, in der er heute lebte. Seit tausend Millionen Jahren hatten sie die Maschinen in geisterhafter Bereitschaft gehalten, auf den Augenblick wartend, an dem sie wieder jemand zu sehen wünschte. Und es war nicht nur eine Erinnerung, dachte Alvin, was er jetzt sah. Es war viel komplizierter — es war die Erinnerung einer Erinnerung…

Er wußte nicht, was er daraus lernen konnte und ob ihm das bei seinen Nachforschungen nützte. Gleichgültig; es war faszinierend, in die Vergangenheit zu schauen und eine Welt zu sehen, die in den Tagen existiert hatte, als die Menschen noch zwischen den Sternen flogen. Er deutete auf das niedrige, runde Gebäude im Mittelpunkt der Stadt. „Wir wollen hier anfangen“, sagte er zu Khedron. „Diese Stelle scheint mir ebensogut wie irgendeine andere.“

Vielleicht war es reines Glück, vielleicht eine alte Erinnerung, vielleicht elementare Logik. Eigentlich war es unwesentlich, denn er hatte früher oder später diese Stelle erreicht, an der sich alle Straßen der Stadt trafen.

Er brauchte zehn Minuten zu der Entdeckung, daß sie sich hier nicht aus Gründen der Symmetrie trafen — zehn Minuten, um zu wissen, daß seine lange Suche nicht umsonst gewesen war.

9

Es fiel Alystra nicht schwer, Alvin und Khedron unerkannt zu folgen. Sie schienen es sehr eilig zu haben — was an sich schon sehr ungewöhnlich war — und sahen sich nie um. Es war ein vergnügliches Spiel gewesen, sie die fließenden Straßen entlang zu verfolgen, sich in der Menge zu verbergen, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Gegen das Ende der Fahrt zu war ihr Ziel deutlich geworden; als sie das Straßennetz verließen und den Park aufsuchten, konnten sie nur zum Grabmal Yarlan Zeys gehen. Im Park befanden sich keine anderen Gebäude, und Personen, die so eilig dahinschritten wie Alvin und Khedron, waren nicht am Anblick der Landschaft interessiert.

Da sie sich auf den letzten paar hundert Metern nirgends verbergen konnte, wartete Alystra, bis Khedron und Alvin in der düsteren Marmorhalle verschwunden waren. Dann eilte sie ihnen über die grasbedeckte Anhöhe nach. Sie war ziemlich sicher, daß sie sich hinter einer der großen Säulen lange genug verstecken konnte, um herauszubringen, was die beiden vorhatten; es spielte keine Rolle, wenn sie nachher entdeckt wurde.

Das Grabmal bestand aus zwei konzentrischen Säulenringen, die einen runden Hof einschlossen. Von einem Teilstück abgesehen, deckten die Säulen das Innere völlig ab, und Alystra vermied es, durch diese Lücke einzutreten; sie kam statt dessen an der Seite herein. Vorsichtig umging sie den ersten Säulenring, sah, daß sich hier niemand aufhielt, und ging auf Zehenspitzen zum zweiten Ring. Durch die Lücken konnte sie Yarlan Zey durch den Eingang und über den Park, den er geschaffen hatte, auf die Stadt blicken sehen, die er so lange Zeit bewacht hatte.

Sonst befand sich niemand in dieser marmornen Einsamkeit. Das Grabmal war leer.


In diesem Augenblick befanden sich Alvin und Khedron dreißig Meter unter dem Boden, in einem kleinen, schachtelartigen Raum, dessen Wände ständig nach oben zu gleiten schienen. Das war das einzige Zeichen der Bewegung; es gab nicht die geringste Spur eines Vibrierens, um ihnen anzuzeigen, daß sie schnell in die Erde hinabsanken, einem Ziel zu, das selbst jetzt noch keiner von beiden ganz begriff.

Es war absurd leicht gewesen, denn der Weg war für sie vorbereitet. Von wem? dachte Alvin. Vom Zentral-Elektronengehirn? Oder von Yarlan Zey selbst, als er die Stadt verwandelte? Der Monitorschirm hatte ihnen den langen, senkrechten Schacht in die Tiefe gezeigt, aber sie waren ihm nur eine kurze Strecke gefolgt, als das Bild ausblendete. Das bedeutete, daß sie um Informationen nachsuchten, die der Monitor nicht besaß und vielleicht nie besessen hatte.

Alvin hatte diesen Gedanken kaum formuliert, als der Bildschirm wieder aufleuchtete. Eine kurze Mitteilung erschien, gedruckt in der vereinfachten Schrift, wie sie von den Maschinen zur Verständigung mit den Menschen verwendet wurde. ›Steh dort, wohin der Blick der Statue fällt — und denk daran: Diaspar war nicht immer so.‹

Die letzten fünf Worte erschienen in größerer Schrift, und die Bedeutung dieser Mitteilung wurde Alvin sofort klar. Gedanklich formulierte Worte oder Sätze waren seit uralter Zeit dazu benützt worden, Türen zu öffnen oder Maschinen in Tätigkeit zu setzen. Und ›Steh dort, wohin der Blick der Statue fällt‹ — nun, das war wirklich zu einfach.

„Ich möchte wissen, wie viele Menschen diese Mitteilung gelesen haben?“ sagte Alvin gedankenvoll.

„Vierzehn, meines Wissens“, erwiderte Khedron. „Und es mögen noch mehr gewesen sein.“ Er erklärte diese rätselhafte Bemerkung nicht weiter, und Alvin hatte es zu eilig, den Park zu erreichen, um ihn zu fragen, was er damit meinte.

Sie wußten nicht, ob die Maschinen noch auf den auslösenden Impuls ansprachen. Als sie das Grabmal erreicht hatten, brauchten sie nur einen Augenblick, um den betreffenden Steinblock im Boden herauszufinden, auf den Yarlan Zeys Blick gerichtet war. Die Statue schien nur auf den ersten Blick über die Stadt hinauszublicken; wenn man unmittelbar vor ihr stand, konnte man erkennen, daß ihre Augen nach unten gerichtet waren, und ihr Blick auf einen Punkt innerhalb des Grabmals fiel. Alvin ging zum nächsten Steinblock und stellte fest, daß ihn Yarlan Zey dort nicht mehr ansah.

Er ging wieder zu Khedron zurück und dachte jene Worte, die der Spaßmacher laut aussprach: ›Diaspar war nicht immer so. ‹ Augenblicklich, als hätten die Millionen Jahre seit dem letzten Mal nicht existiert, reagierten die wartenden Maschinen. Der große Steinblock, auf dem sie standen, trug sie sanft in die Tiefe.

Über ihnen verschwand plötzlich der blaue Fleck des Himmels. Der Schacht war wieder verschlossen; es bestand keine Gefahr, daß jemand versehentlich hineinfiel. Alvin fragte sich, ob irgendwie ein anderer Steinblock materialisiert war, um jenen zu ersetzen, der ihn und Khedron trug, entschied sich dann aber dagegen. Der ursprüngliche Block lag wahrscheinlich immer noch oben; derjenige, auf dem sie standen, existierte vielleicht jeweils nur für unendlich kleine Bruchteile einer Sekunde, wurde immer wieder in größerer Tiefe neu geschaffen und vermittelte die Illusion ständig hinabgleitender Bewegung.

Keiner von beiden sprach, als die Wände stumm an ihnen vorbei in die Höhe glitten. Khedron rang wieder einmal mit seinem Gewissen; er fragte sich, ob er diesmal nicht zu weit gegangen war. Er konnte sich nicht vorstellen, wo dieser Weg hinführte, wenn er überhaupt ein Ziel hatte.

Zum erstenmal in seinem Leben begann er zu begreifen, was Furcht war.

Alvin hatte keine Angst; dazu war er zu aufgeregt. Er empfand dasselbe Gefühl, wie im Turm von Loranne, wenn er über die Wüste hinausgesehen und die Sterne am Himmel angestarrt hatte. Damals blickte er nur auf das Unbekannte; jetzt wurde er ihm entgegengetragen.

Die Wände standen still. An einer Seite ihrer geheimnisvollen Kammer erschien ein Licht, wurde heller und dann zu einer Tür. Sie traten hindurch, gingen ein paar Schritte einen Korridor entlang und standen in einer großen, runden Höhle, deren Wände sich in schwingendem Bogen hoch über ihren Köpfen trafen.

Die Säule, in deren Innern sie heruntergekommen waren, schien viel zu schwach, um die Millionen Tonnen Gestein darüber tragen zu können; sie schien überhaupt nicht ursprünglicher Bestandteil der Höhle, sondern erst später hinzugekommen zu sein. Khedron, der Alvins Blick folgte, gelangte zur gleichen Schlußfolgerung.

„Diese Säule“, sagte er, etwas verkrampft, als sei er froh, irgend etwas zu reden, „wurde nur gebaut, um den Schacht aufzunehmen, in dem wir heruntergekommen sind. Er konnte nie den Verkehr bewältigt haben, der sich hierher ergossen haben muß, als Diaspar der Welt noch offenstand.

Dieser Verkehr kam durch die Tunnels da drüben; ich nehme an, du erkennst ihren Sinn?“

Alvin sah zu der mehr als hundert Meter entfernten Wand hinüber. In regelmäßigen Abständen wurde sie von Tunnels durchbrochen — zwölf Öffnungen, die sich in alle Richtungen erstreckten, wie die fließenden Straßen der Jetztzeit. Er sah, daß sie leicht anstiegen, und jetzt erkannte er auch die vertrauten grauen Flächen der fließenden Straßen. Das waren nur die abgetrennten Stümpfe der großen Wegverbindungen; das seltsame Material, das ihnen Leben gab, war jetzt unbeweglich erstarrt.

Beim Bau des Parks hatte man den Angelpunkt des Fließstraßensystems begraben. Aber man hatte ihn nicht zerstört.

Alvin ging auf einen der in die Wände gebohrten Stollen zu. Nach wenigen Schritten bemerkte er, daß sich der Boden unter seinen Füßen veränderte. Er wurde durchsichtig. Einige Schritte weiter schien er ohne sichtbaren Halt mitten in der Luft zu schweben. Er blieb stehen und starrte in die Leere hinunter.

„Khedron!“ rief er. „Kommen Sie und sehen Sie sich das an!“

Der Spaßmacher gesellte sich zu ihm; gemeinsam schauten sie auf das Wunder zu ihren Füßen. Verschwommen sichtbar, in unbestimmbarer Tiefe, lag eine riesige Landkarte — ein großes Netz aus Linien, die in einem Punkt unter dem Schacht zusammenliefen. Sie starrten es eine Weile schweigend an; dann sagte Khedron ruhig: „Ist dir klar, was das bedeutet?“

„Ich glaube schon“, erwiderte Alvin. „Das ist eine Karte des gesamten Transportsystems, und diese kleinen Kreise bezeichneten die anderen Städte der Erde. Neben den Kreisen stehen Namen, aber sie sind zu weit entfernt, als daß ich sie lesen könnte.“

„Es muß irgendeine Innenbeleuchtung gegeben haben“, sagte Khedron abwesend. Er verfolgte die Linien der Karte mit seinen Augen bis zu den Höhlenwänden.

„Ich hab' es mir gedacht!“ rief er plötzlich. „Siehst du, wie diese strahlenförmigen Linien zu den kleinen Stollen führen?“

Alvin war aufgefallen, daß neben den großen Bögen der Fließstraßen unzählige kleinere Tunnels aus der Höhle hinausführten Tunnels, die nach unten führten.

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Khedron fort: „Man kann sich kaum etwas Einfacheres vorstellen. Die Leute, die von den fließenden Straßen herunterkamen, wählten den Ort aus, den sie besuchen wollten, indem sie einfach der entsprechenden Linie auf dieser Karte folgten.“

„Und was geschah dann?“ fragte Alvin.

Khedron schwieg; er starrte auf die geheimnisvollen Tunnels, dreißig oder vierzig Öffnungen, die einander völlig glichen. Nur die Namen auf der Karte hätten es ermöglicht, zwischen ihnen zu unterscheiden; aber diese Namen waren nicht mehr zu entziffern.

Alvin hatte sich entfernt und war hinter die Mittelsäule getreten. Dann ertönte seine Stimme; etwas gedämpft und von den Wänden der Untergrundkammer widerhallend.

„Was ist?“ rief Khedron, der seinen Platz nicht verlassen wollte, weil es ihm beinahe gelungen war, eine der schwach erleuchteten Buchstabengruppen zu entziffern. Aber Alvins Stimme klang dringend; er ging hinüber.

Tief unter ihnen lag die andere Hälfte der großen Landkarte. Hier jedoch war nicht alles unleserlich; eine der Linien — eine einzige — war strahlend hell erleuchtet. Sie schien mit dem übrigen System keine Verbindung zu haben und führte wie ein schimmernder Pfeil zu einem der nach unten führenden Tunnels. Kurz vor dem Tunneleingang umschloß die Linie einen goldenen Lichtkreis, und neben diesem Kreis stand das einzige Wort ›Lys‹; das war alles.

Lange starrten Alvin und Khedron auf dieses stumme Zeichen. Für Khedron war es eine Herausforderung, die er, wie er wohl wußte, niemals annehmen konnte — und deren Existenz er am liebsten überhaupt nicht zugegeben hätte. Aber für Alvin deutete sie die Erfüllung seiner Träume an. Das Blut pochte in seinen Adern, und seine Wangen waren wie vom Fieber gerötet. Er sah sich in der großen Höhle um, versuchte sich vorzustellen, wie sie in den alten Tagen ausgesehen haben mochte, als zwar die Luftfahrt zu Ende gegangen war, die Städte der Erde aber noch miteinander in Verbindung standen. Er dachte an die unzähligen Millionen Jahre, in denen der Verkehr immer mehr abnahm und die Lichter auf der Karte nacheinander starben, bis schließlich nur noch diese einzige Linie übrigblieb. Wie lange hatte sie wohl unter ihren verdunkelten Genossen geleuchtet, wie lange darauf gewartet, die Schritte zu lenken, die niemals kamen, bis Yarlan Zey die Fließstraßen versiegelte und Diaspar gegen die Welt abschloß.

Und das war vor tausend Millionen Jahren gewesen. Schon zu dieser Zeit mußte Lys die Verbindung mit Diaspar verloren haben. Es schien unmöglich, daß es überlebt haben konnte; vielleicht bedeutete die Karte doch nichts.

Khedron unterbrach endlich Alvins Träumereien. Er schien nervös und verkrampft, ganz und gar nicht die sichere und selbstbewußte Persönlichkeit, die er in Diaspar stets gewesen war.

„Ich glaube, wir sollten jetzt nicht weitergehen“, sagte er. „Vielleicht ist es gefährlich, wenn — wenn wir uns nicht besser vorbereiten.“

Darin lag etwas Wahres, aber Alvin spürte auch die Angst in Khedrons Stimme. Ohne diese Feststellung wäre er vielleicht vernünftig gewesen, aber ein zu deutliches Bewußtsein seines eigenen Mutes, verbunden mit der Verachtung für Khedrons Furchtsamkeit, trieb Alvin weiter. Es schien unsinnig, so kurz vor dem Ziel umzukehren.

„Ich gehe diesen Tunnel hinunter“, sagte er eigensinnig. „Ich möchte sehen, wo er hinführt.“ Er marschierte los, und nach kurzem Zögern folgte ihm der Spaßmacher den Lichtpfeil entlang, der unter ihren Füßen leuchtete.

Als sie in den Tunnel traten, fühlten sie den vertrauten Zug des Kraftfeldes; einen Augenblick darauf wurden sie mühelos in die Tiefen getragen.

Die Fahrt dauerte kaum eine Minute. Das Feld setzte sie an dem einen Ende einer langen, schmalen Kammer in Form eines Halbzylinders ab.

An ihrem fernen Ende erstreckten sich zwei schwach erleuchtete Stollen in die Unendlichkeit.

Menschen beinahe jeder Zivilisation seit der Frühzeit wäre diese Umgebung völlig vertraut erschienen, aber für Alvin und Khedron war es ein Blick in eine andere Welt. Der Zweck der langen, stromlinienförmigen Maschine, die wie ein auf den fernen Stollen gezieltes Geschoß bereitlag, war offensichtlich, aber an ihrer Neuheit änderte sich dadurch nichts.

Der obere Teil der Maschine war durchsichtig, und Alvin konnte in ihrem Inneren Reihen von dick gepolsterten Sesseln sehen. Eine Tür war nicht zu sehen; die ganze Maschine schwebte etwa dreißig Zentimeter über einer einzelnen Metallstange, die sich in die Ferne erstreckte und in einem der Stollen verschwand. Ein paar Meter entfernt führte eine zweite Stange zu dem anderen Stollen, aber über ihr schwebte keine Maschine.

Alvin wußte so genau, als hätte man es ihm bewiesen, daß irgendwo unter dem unbekannten, fernen Lys diese zweite Maschine in einer ähnlichen Kammer wartete.

Khedron begann zu sprechen, ein wenig zu schnell.

„Ein eigenartiges Transportsystem! Damit konnte man höchstens hundert Leute auf einmal befördern, also dürfte der Verkehr nicht sehr groß gewesen sein. Und warum hat man sich soviel Mühe gemacht, in die Erde zu kriechen, solange der Himmel noch offenstand? Vielleicht erlaubten ihnen die Invasoren nicht einmal das Fliegen, obwohl das kaum glaubhaft schien. Oder wurde das hier während der Übergangszeit gebaut, als die Menschen zwar noch Reisen unternahmen, aber nicht mehr an den Weltraum erinnert werden wollten? Sie konnten sich von Stadt zu Stadt bewegen, ohne jemals den Himmel und die Sterne sehen zu müssen.“ Er lachte nervös. „Eines scheint mir sicher, Alvin. Als Lys noch existierte, war es Diaspar sehr ähnlich. Kein Wunder, daß man schließlich alle anderen Städte aufgab und sich nach Diaspar zurückzog. Welchen Sinn hätte es gehabt, mehr als eine Stadt zu erhalten?“

Alvin hörte ihn kaum. Er untersuchte das lange Projektil und versuchte den Eingang zu finden. Wenn die Maschine durch irgendein gedankliches oder gesprochenes Signal betätigt wurde, würde es ihm nie gelingen, sich ihrer zu bedienen; sie würde für den Rest seines Lebens ein unlösbares Rätsel bleiben.

Die sich stumm öffnende Tür traf ihn völlig unversehens. Er hörte keinen Ton, kein Signal, als ein Teil der Wand einfach verschwand und der herrlich gestaltete Innenraum frei vor seinen Blicken lag.


Dies war der Augenblick der Entscheidung. Bis zu diesem Punkt hatte er umkehren können. Wenn er jetzt jedoch durch diese Tür trat, wußte er, was geschehen würde, wenn auch nicht, wohin es führte. Er würde sein eigenes Schicksal nicht mehr in der Hand haben, sondern sich unbekannten Mächten anvertrauen.

Er zögerte kaum. Er wagte nicht zu warten, weil er fürchtete, dieser Augenblick werde nicht mehr wiederkehren — oder sein Mut später nicht mehr seinem Wissensdurst entsprechen. Khedron öffnete den Mund zu ängstlichem Protest, aber ehe er sprechen konnte, hatte Alvin den Eingang durchschritten. Er wandte sich um und sah Khedron an, den das schwach sichtbare Rechteck der Tür einrahmte; einen Augenblick herrschte gespanntes Schweigen, während jeder darauf wartete, daß der andere sprach.

Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Es flackerte schwach auf, und die Wand der Maschine hatte sich wieder geschlossen.

Schon als Alvin die Hand zum Abschied grüßend erhob, setzte sich der lange Zylinder in Bewegung. Ehe er in den Stollen glitt, bewegte er sich bereits schneller, als ein Mensch laufen konnte.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der jeden Tag Millionen Menschen in ähnlichen Maschinen solche Fahrten unternahmen, wenn sie zwischen Wohnung und Beruf hin und her wechselten. Seit jenen fernen Tagen hatte der Mensch das Universum durchforscht und war wieder zur Erde zurückgekehrt — hatte ein Imperium gewonnen und wieder verloren.


Alystra hatte das Grabmal immer wieder durchsucht, obwohl einmal genügt hätte, weil es keine Verstecke aufwies. Nach dem ersten Schock hatte sie sich gefragt, ob sie nicht nur den Bildern Alvins und Khedrons durch den Park gefolgt war. Aber das wäre sinnlos gewesen; kein vernünftiger Mensch würde sein Bild kilometerweit gehen lassen, wenn er sein Ziel sofort erreichen konnte, indem er sein Bild augenblicklich an jedem beliebigen Ort materialisierte. Nein; es waren der wirkliche Alvin und der wirkliche Khedron gewesen, denen sie in das Grabmal gefolgt war.

Also mußte es irgendwo einen geheimen Eingang geben. Während sie auf die beiden wartete, suchte sie danach.

Wie es der Zufall wollte, verfehlte sie Khedrons Wiederauftauchen, weil sie eben eine Säule hinter der Statue untersuchte, als er auf der anderen Seite heraufkam. Sie hörte seine Schritte, wandte sich um und sah, daß er allein war.

„Wo ist Alvin?“ schrie sie ihn an.


Es dauerte eine Weile, bis der Spaßmacher antwortete. Er sah verwirrt und unschlüssig aus, und Alystra mußte ihre Frage wiederholen, ehe er von ihr Notiz nahm. Ihre Anwesenheit schien ihn nicht im mindesten zu überraschen.

„Ich weiß nicht, wo er ist“, erwiderte er schließlich. „Ich kann dir nur sagen, daß er sich auf dem Weg nach Lys befindet. Jetzt weißt du soviel wie ich.“

Man tat meistens gut daran, Khedrons Aussprüche nicht allzu wörtlich zu nehmen. Aber Alystra brauchte keine weitere Bestätigung dafür, daß der Spaßmacher heute seine Rolle nicht spielte. Er sagte die Wahrheit — was immer sie auch bedeuten mochte.

10

Als die Wand hinter ihm abschloß, ließ sich Alvin in den nächsten Sessel fallen. Die Kraft war plötzlich aus seinen Beinen gewichen; jetzt endlich spürte er, wie nie zuvor, die Angst vor dem Unbekannten, die seine Mitbürger ständig gepackt hielt. Er zitterte am ganzen Körper, und sein Blick trübte sich. Wäre die Flucht aus dieser rasenden Maschine möglich gewesen, er hätte sie unternommen, selbst um den Preis der Aufgabe all seiner Träume.

Es war nicht allem Angst, sondern auch ein Gefühl unausdrückbarer Einsamkeit. Alles, was er kannte und liebte, war in Diaspar; selbst wenn er keiner Gefahr entgegenging, konnte es sein, daß er seine Welt niemals wiedersah. Er allein von allen Lebenden wußte, was es bedeutete, seine Heimat für immer zu verlassen. In diesem Augenblick schien es völlig unwichtig, ob der Pfad, den er verfolgte, in Gefahr oder Sicherheit führte; jetzt kam es nur darauf an, daß er vom Zuhause wegführte.

Die Stimmung verflog langsam; die dunklen Schatten hoben sich von seiner Seele. Er begann seiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken. Es schien Alvin nicht besonders seltsam oder wunderbar, daß dieses UntergrundTransportsystem immer noch funktionierte. Es befand sich nicht in den Ewigkeitsanlagen der Stadtmonitoren, aber es mußte an anderer Stelle ähnliche Maschinen geben, die es vor Veränderung oder Verfall bewahrten.

Zum erstenmal bemerkte er den Zähler an der Vorderwand. Er trug eine kurze, aber beruhigende Mitteilung: ›Lys, 35 Minuten. ‹ Während er noch auf den Zähler starrte, veränderte sich die Zahl zu ›34‹. Das zumindest war nützliche Information, wenn es ihm auch über die Länge der Reisestrecke nichts verriet, weil ihm die Geschwindigkeit der Maschine nicht bekannt war. Nur ein leichtes Vibrieren zeigte die Bewegung an.

Diaspar mußte jetzt schon viele Kilometer entfernt sein, und über ihm lag die Wüste mit ihren wandernden Sanddünen. Vielleicht raste er gerade in diesem Augenblick unter den Hügeln dahin, die er so oft vom Turm von Loranne aus beobachtet hatte.

Seine Phantasie eilte nach Lys voraus. Welche Art von Schacht würde er finden? Soviel er es auch versuchte, er konnte sich nur eine andere und kleinere Version Diaspars vorstellen. Er fragte sich, ob sie überhaupt noch existierte, und beruhigte sich bei dem Gedanken, daß ihn in diesem Fall die Maschine doch wohl kaum durch die Erde tragen würde.


Plötzlich trat in der Vibration unter seinen Füßen eine spürbare Änderung ein. Das Fahrzeug fuhr langsam — ohne Frage. Die Zeit mußte schneller vergangen sein, als er gedacht hatte; etwas überrascht sah Alvin auf den Zähler: ›Lys, 23 Minuten. ‹

Verwirrt und etwas besorgt preßte er sein Gesicht an die Seitenwand.

Die Geschwindigkeit ließ die Stollenwand immer noch in undeutliches Grau verschwimmen, aber jetzt konnte er ab und zu Zeichen erkennen, die ebenso schnell verschwanden, wie sie auftauchten. Und jedesmal schienen sie etwas länger zu verweilen.

Unerwartet wurden die Wände des Stollens an beiden Seiten weggerissen. Die Maschine glitt immer noch mit hoher Geschwindigkeit durch eine riesige, leere Halle.

Gebannt durch die durchsichtige Wand starrend, konnte Alvin unter dem dahinrasenden Fahrzeug ein kompliziertes Netz von Leitstangen sehen, die sich kreuzten und vielfach überschnitten, um dann in einem Labyrinth von Tunneln zu verschwinden. Bläuliches Licht flutete von einer gewölbten Kuppel herab und ließ die Umrisse riesiger Maschinen hervortreten.

Das Licht blendete so stark, daß seine Augen schmerzten; Alvin begriff, daß dieser Platz nicht für Menschen gedacht war. Einen Augenblick später flitzte sein Fahrzeug an vielen Reihen von Zylindern vorbei, die regungslos über ihren Führungsschienen schwebten. Sie waren wesentlich größer als seine Maschine, und Alvin vermutete, daß sie für den Frachttransport bestimmt waren. Um sie herum gruppierten sich unbegreifliche, vielgelenkige Mechanismen, stumm und unbeweglich.

Fast so schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand die riesige und einsame Halle hinter ihm. Alvin schaute wieder auf den Anzeiger. Er war unverändert; die Fahrt durch die Riesenhöhle hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Die Maschine beschleunigte wieder ihre Fahrt; obwohl die Bewegung kaum zu spüren war, rasten die Stollenwände an beiden Seiten mit einer Geschwindigkeit vorbei, die er nicht einmal zu schätzen wagte.

Eine Ewigkeit schien vergangen, als sich die Vibration wieder änderte.

Auf dem Zähler stand: ›Lys, 1 Minute. ‹ Und diese Minute war die längste, die Alvin je erlebt hatte. Immer stärker bremste die Maschine.

Sanft und geräuschlos glitt der lange Zylinder aus dem Tunnel in eine Höhle, die derjenigen in Diaspar wie ein Ei dem anderen glich. Einen Augenblick lang war Alvin zu aufgeregt, um irgend etwas genau erkennen zu können; die Tür stand schon geraume Zeit offen, ehe er begriff, daß er das Fahrzeug verlassen konnte. Als er aus der Maschine hastete, warf er noch einen letzten Blick auf den Zähler. Die Worte hatten sich geändert, und ihre Botschaft klang unendlich beruhigend: ›Diaspar, Minuten.‹

Als er nach einem Weg aus der Höhle zu suchen begann, fand Alvin den ersten Hinweis darauf, daß er sich in einer völlig anderen Zivilisation befand. Der Weg zur Oberfläche führte deutlich durch einen langen, breiten Tunnel an einem Ende der Höhle — und durch den Tunnel führte eine Treppe hinauf. Derartiges war in Diaspar außergewöhnlich selten; die Architekten der Stadt hatten Rampen und abschüssige Gänge gebaut, wenn ein Terrainunterschied zu bewältigen war: ein Überbleibsel aus der Zeit, als sich die meisten Roboter noch auf Rädern bewegten und daher Treppen nicht überwinden konnten.

Die Treppe war sehr kurz und endete vor einem Tor, das sich bei Alvins Annäherung automatisch öffnete. Er trat in einen kleinen Raum, ähnlich jenem, der ihn in den Schacht unter dem Grabmal Yarlan Zeys hinuntergetragen hatte, und war nicht überrascht, als sich wenige Minuten später die Türen wieder öffneten und den Blick auf einen Korridor freigaben, an dessen Ende das Tageslicht schimmerte. Alvin hatte keine Bewegung gespürt, aber er wußte, daß er einige hundert Meter emporgestiegen sein mußte. Er eilte den Gang hinauf zu der sonnenbeschienenen Öffnung, seine Angst vergessend.

Er stand auf der Anhöhe eines kleinen Hügels, und einen Augenblick schien es, als befände er sich wieder im Park von Diaspar. Aber dieser Park war so riesig, daß er ihn geistig nicht erfassen konnte. Die Stadt, die er erwartet hatte, war nirgends zu sehen. Soweit der Blick reichte, nichts als Waldflächen und grasbedeckte Ebenen.

Dann hob Alvin die Augen zum Horizont, und dort, über den Bäumen, in großem Bogen von rechts nach links ziehend, ragte eine Steinfront empor, gegen die sogar die mächtigsten Türme Diaspars zwergenhaft schienen. Sie war so weit entfernt, daß ihre Einzelheiten verschwammen, aber ihre Umrisse verwirrten Alvin. Dann gewöhnten sich seine Augen an den Maßstab dieser kolossalen Landschaft, und er begriff, daß diese fernen Wände nicht von Menschenhand erbaut waren.

Die Zeit hatte nicht alles besiegt; die Erde besaß noch Gebirge, auf die sie stolz sein konnte.

Lange Zeit stand Alvin am Tunneleingang, gewöhnte sich allmählich an diese seltsame Welt. Die Wucht der reinen Größe und des Raumes betäubten ihn; dieser Ring aus nebeligen Bergen hätte ein Dutzend Städte von der Größe Diaspars einschließen können. Jedoch, so angestrengt er auch suchte, er konnte keine Spur menschlichen Lebens entdecken.

Aber die Straße, die den Hügel hinunterführte, schien gut erhalten zu sein; er konnte nichts Besseres tun, als sich ihr anzuvertrauen.


Am Fuße des Hügels verschwand die Straße zwischen großen Bäumen, die beinahe die Sonne verdeckten. Als Alvin in ihren Schatten trat, begrüßte ihn eine eigenartige Mischung von Gerüchen und Geräuschen.

Das Rauschen des Windes unter den Blättern kannte er schon aus dem Park in Diaspar, aber dazwischen tönten tausend verschiedene Laute, die ihm nichts zu sagen vermochten. Unbekannte Fragen überfielen ihn, Gerüche, die aus der Erinnerung seiner Rasse verschwunden waren. Die Wärme, der Überfluß an Gerüchen und Farben und die unsichtbare Gegenwart von Millionen lebender Wesen traf ihn mit beinahe körperlicher Wucht.

Er stieß ganz plötzlich und unerwartet auf den See. Die Bäume zu seiner Rechten hörten plötzlich auf, und vor ihm lag eine weite Wasserfläche mit winzigen Inseln. Noch nie in seinem Leben hatte Alvin soviel Wasser gesehen; im Vergleich dazu waren selbst die größten Becken in Diaspar nur Pfützen. Er ging langsam zum Seeufer hinunter und schöpfte mit den Händen das warme Wasser, ließ es durch die Finger rinnen.

Der große silberne Fisch, der plötzlich zwischen den Wasserpflanzen am Seegrund dahinglitt, war das erste nichtmenschliche Wesen, das Alvin jemals gesehen hatte. Eigentlich mußte es ihm völlig fremd sein, aber seine Form weckte eine verschwommene Erinnerung in ihm. Wie es in der blaßgrünen Leere schwebte, seine Flossen ein schwacher Nebel der Bewegung, schien es die Verkörperung von Kraft und Geschwindigkeit.

Hier, im lebenden Fleisch, verkörperten sich die graziösen Linien der großen Schiffe, die einst den Himmel der Erde beherrscht hatten. Evolution und Wissenschaft waren zum gleichen Ergebnis gelangt; und das Werk der Natur hatte das des Menschen überdauert.

Schließlich löste sich Alvin aus der Verzauberung des Sees und setzte seinen Weg auf der sich dahinschlängelnden Straße fort. Wieder schloß sich der Wald um ihn, diesmal aber nur für kurze Zeit. Kurz danach endete die Straße in einer großen Lichtung von einem Kilometer Breite und zwei Kilometer Länge — und Alvin verstand, warum er vorher keine Spur von Menschen gesehen hatte.

In der Lichtung standen zahlreiche niedrige, zweistöckige Häuser, in zarten Farben bemalt, die dem Auge sogar im grellen Sonnenschein wohl taten. Die meisten Häuser besaßen klare und unkomplizierte Linien, aber verschiedene Gebäude waren in einem komplizierten Architekturstil erbaut, der kannelierte Säulen und graziöses Steingitterwerk verwendete.

Während er langsam auf die Siedlung zuschritt, bemühte sich Alvin noch immer, seine neue Umgebung geistig in den Griff zu bekommen. Nichts war vertraut; selbst die Luft hatte sich verändert, mit ihren Andeutungen versteckten, pochenden Lebens. Und die großen, blondhaarigen Menschen, die mit unbewußter Grazie zwischen den Gebäuden schritten, waren offensichtlich von anderer Art als die Menschen Diaspars.

Sie nahmen keine Notiz von Alvin, und das war seltsam, denn seine Kleidung unterschied sich beträchtlich von ihren Gewändern. Da die Temperatur in Diaspar keinem Wechsel unterlag, diente die Kleidung ausschließlich Schmuckzwecken. Hier galt sie in erster Linie dem Gebrauch; oft bestand sie nur aus einem einzigen togaartigen Tuch, in das der ganze Körper gehüllt war.

Erst als Alvin den Mittelpunkt der Siedlung erreicht hatte, reagierten die Bewohner von Lys auf seine Gegenwart; ihre Reaktion nahm eine etwas unerwartete Form an. Eine Gruppe von fünf Männern trat aus einem der Häuser und ging auf ihn zu — fast schien es, als hätten sie ihn erwartet.

Alvin fühlte eine plötzliche, berauschende Erregung; das Blut pochte schneller in seinen Adern. Er dachte an all die schicksalhaften Begegnungen, die der Mensch mit anderen Rassen auf fernen Welten gehabt haben mußte. Die Leute, die er hier traf, waren von seiner eigenen Rasse — aber wie groß war der Unterschied?

Die Abordnung blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. Ihr Anführer lächelte und streckte ihm die Hand in der uralten Geste der Freundschaft entgegen.

„Wir hielten es für das beste, Sie hier zu empfangen“, sagte er. „Unsere Heimat unterscheidet sich sehr von Diaspar, und der Spaziergang vom Bahnhof hierher gibt Besuchern die Möglichkeit, sich zu akklimatisieren.“

Alvin nahm die angebotene Hand, konnte aber vor Überraschung kein Wort herausbringen. Jetzt begriff er, warum ihn alle anderen Bewohner der Siedlung ignoriert hatten.

„Ihr wußtet, daß ich komme?“ fragte er nach einer Weile.

„Natürlich. Wir wissen immer, wenn sich die Fahrzeuge in Bewegung setzen. Sagen Sie — wie haben Sie es herausgefunden? Der letzte Besuch ist so lange her, daß wir schon befürchteten, das Geheimnis sei verlorengegangen.“

Der Sprecher wurde von einem seiner Begleiter unterbrochen.

„Ich glaube, wir zügeln unsere Neugier Gerane. Seranis wartet.“

Vor dem Namen ›Seranis‹ hatte der Mann noch ein Wort gebracht, das Alvin nicht kannte; wahrscheinlich war es irgendein Titel. Die Verständigung mit den anderen bereitete ihm keine Schwierigkeiten, und er dachte gar nicht daran, das erstaunlich zu finden. Diaspar und Lys gehörten zum gleichen Sprachstamm, und die alte Erfahrung der Tonaufzeichnung hatte die Sprache schon vor langer Zeit in eine unveränderliche Form geprägt.

Gerane zuckte in gespielter Resignation die Achseln. „Also gut“, sagte er lächelnd, „Seranis hat wenige Vorrechte — ich darf ihr das nicht nehmen.“

Während sie weiter in den Ort hineingingen, beobachtete Alvin die Männer an seiner Seite. Sie schienen freundlich und klug, aber diese Züge waren ihm selbstverständlich, und er suchte nach Merkmalen, in denen sie sich von einer vergleichbaren Gruppe in Diaspar unterschieden. Es gab Unterschiede, aber man konnte sie nur schwer definieren. Alle Männer waren etwas größer als Alvin, und zwei von ihnen wiesen unmißverständliche Anzeichen des Alters auf. Ihre Haut war sehr braun, und in allen Bewegungen schienen sie eine Energie und Lebenslust auszustrahlen, die Alvin gefiel, ihn aber gleichzeitig ein wenig verwirrte. Er lächelte bei der Erinnerung an Khedrons Prophezeiung, daß Lys das genaue Ebenbild Diaspars sein würde.

Die Bewohner des Ortes sahen jetzt mit offener Neugier zu, als Alvin seinen Führern folgte; sie gaben nicht mehr vor, seine Anwesenheit als selbstverständlich hinzunehmen. Unter den Bäumen auf der rechten Seite erhob sich plötzlich lautes Geschrei; eine Schar kleiner, aufgeregter Wesen sauste aus dem Wald und drängte sich um Alvin. Fassungslos vor Überraschung blieb er stehen; er wagte seinen Augen nicht zu trauen. Hier war etwas, das seine Welt schon vor so langer Zeit verloren hatte, daß es zum Bereich der Mythologie gehörte. So hatte das Leben einst begonnen; diese lärmenden, faszinierenden Wesen waren Kinder.

Alvin beobachtete sie mit staunender Ungläubigkeit — und auch ein anderes Gefühl zerrte an seinem Herzen, aber er konnte es noch nicht benennen. Kein anderer Anblick hätte ihm die Ferne Diaspars deutlicher fühlen lassen können. Diaspar hatte für seine Unsterblichkeit bezahlt — und mehr als bezahlt.

Die Gruppe blieb vor dem größten Gebäude stehen, das Alvin bisher gesehen hatte. Es stand im Mittelpunkt der Siedlung, und von einem Fahnenmast auf seinem kleinen Rundturm flatterte ein grüner Wimpel im Wind.

Außer Gerane blieben alle zurück, als Alvin das Haus betrat. Im Innern war es kühl und still; das durch die durchscheinenden Wände dringende Sonnenlicht ließ alles in sanftem, beruhigendem Schimmer erglühen. Der Boden, mit zierlichem Mosaik ausgelegt, war glatt und elastisch. An den Wänden hatte ein großartiger Künstler eine Reihe von Waldszenen geschaffen. Zwischen diesen Gemälden befanden sich andere Wandzeichnungen, die Alvin nicht verstand, die aber trotzdem angenehm wirkten. In eine Wand eingelassen fand sich ein rechteckiger Bildschirm, auf dem sich ein Durcheinander von Farben bewegte.

Sie stiegen gemeinsam eine Treppe hinauf, die sie auf das flache Dach des Hauses führte. Von dort aus konnte man die ganze Siedlung überblicken, und Alvin stellte fest, daß sie aus etwa hundert Gebäuden bestand. In der Ferne lichteten sich die Bäume, um weite Wiesen einzufassen, auf denen verschiedene Arten von Tieren weideten. Alvin kannte sie nicht; die meisten waren Vierfüßler, aber einige besaßen sechs oder sogar acht Füße.

Seranis erwartete ihn im Schatten des Rundturmes . Alvin versuchte, ihr Alter zu schätzen; ihr langes goldenes Haar war mit Grau durchsetzt, was seiner Vermutung nach als Zeichen des Alters galt. Das Vorhandensein von Kindern, mit allen damit verbundenen Folgerungen, hatte ihn völlig verwirrt. Wo es die Geburt gab, mußte es auch den Tod geben, und die Lebensdauer in Lys dürfte sich von der in Diaspar gültigen erheblich unterscheiden. Er konnte nicht sagen, ob Seranis fünfzig, fünfhundert oder fünftausend Jahre alt war, aber beim Blick in ihre Augen spürte er die Weisheit und Reife, die ihm auch an Jeserac aufgefallen war.

Sie deutete auf einen kleinen Sessel, aber obgleich ihre Augen lächelten, sagte sie nichts, bis Alvin es sich bequem gemacht hatte — oder so bequem jedenfalls, wie er sich unter dieser freundlichen Überprüfung fühlen konnte. Dann seufzte sie und begann mit sanfter, tiefer Stimme zu sprechen.

„Diese Gelegenheit ergibt sich so selten, daß Sie mich entschuldigen werden, wenn mir das korrekte Benehmen fremd ist. Aber dem Gast, auch dem unerwarteten, stehen gewisse Rechte zu. Bevor wir miteinander sprechen, möchte ich Sie auf etwas hinweisen. Ich kann Ihre Gedanken lesen.“

Sie lächelte über Alvins Betroffenheit und fügte schnell hinzu: „Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen. Kein Recht wird mehr respektiert als das der geistigen Privatsphäre. Ich werde nur in Ihre Gedanken eindringen, wenn Sie es mir gestatten. Aber es wäre nicht fair gewesen, Ihnen diese Tatsache vorzuenthalten, und sie dürfte auch erklären, warum wir die Sprache als etwas Langsames und Schweres empfinden. Sie wird hier nicht oft verwendet.“

Diese Eröffnung wirkte zwar etwas beruhigend auf Alvin, aber sie überraschte ihn eigentlich nicht. Einst hatten Menschen und Maschinen die Macht besessen, und die unveränderlichen Maschinen konnten immer noch die geistigen Befehle ihrer Herren aufnehmen. Aber in Diaspar hatte der Mensch diese einst mit seinen Dienern geteilte Gabe verloren.


„Ich weiß nicht, was Sie von Ihrer Welt hierherführt“, fuhr Seranis fort,

„aber wenn Sie nach Leben forschen, ist Ihre Suche zu Ende. Von Diaspar abgesehen, befindet sich jenseits unserer Berge nichts als Wüste.“

Es war seltsam, daß Alvin, der vorher so oft anerkannte Wahrheiten angezweifelt hatte, die Worte ›Seranis‹ akzeptierte. Seine einzige Reaktion war Traurigkeit darüber, daß das, was man ihn gelehrt hatte, fast völlig stimmte.

„Erzählen Sie mir von Lys“, bat er. „Warum seid ihr so lange von Diaspar abgeschnitten, wenn ihr soviel über uns wißt?“

Seranis lächelte über seinen Eifer.

„Gedulden Sie sich ein wenig“, sagte sie. „Zuerst möchte ich über Sie etwas erfahren. Erzählen Sie, wie Sie den Weg hierher fanden und warum Sie kamen.“

Stockend zuerst, dann mit wachsender Sicherheit, berichtete Alvin über seine Erlebnisse. Noch nie vorher hatte er mit solcher Freiheit gesprochen; hier endlich waren Menschen, die seine Träume nicht verlachten, weil sie wußten, daß sie auf Wahrheit beruhten. Ein paarmal unterbrach ihn Seranis mit Fragen, wenn er Dinge berührte, die ihr nicht vertraut waren. Es fiel Alvin schwer, zu begreifen, daß manche Dinge seines Alltagslebens jemandem unverständlich blieben, der nie in der Stadt gelebt und nichts von ihrer komplizierten Kultur und gesellschaftlichen Organisation wußte. Seranis hörte ihm mit so viel Verständnis zu, daß er ihr Begreifen für selbstverständlich hielt; erst viel später wurde ihm klar, daß außer ihr noch viele andere Gehirne seinen Worten lauschten.

Als er zu Ende war, schwiegen sie beide geraume Zeit. Dann sah ihn Seranis an und sagte: „Warum sind Sie nach Lys gekommen?“

Alvin starrte sie überrascht an.

„Ich habe es Ihnen doch gesagt“, meinte er. „Ich wollte die Welt erforschen. Alle sagten mir, daß sich außerhalb der Stadt nur Wüste befindet, aber ich wollte mich selbst davon überzeugen.“

„Und das war der einzige Grund?“

Alvin zögerte. Als er schließlich antwortete, sprach nicht der unbezähmbare Forscher aus ihm, sondern das verlorene, in einer fremdartigen Welt aufgewachsene Kind.

„Nein“, sagte er langsam, „das war nicht der einzige Grund — obgleich ich es bis zu diesem Augenblick nicht wußte. Ich bin einsam gewesen.“

„Einsam? In Diaspar?“ Um Seranis' Mund spielte ein Lächeln, aber in ihren Augen konnte Alvin Mitgefühl lesen, und er wußte, daß ihr diese Antwort genügte.

Nachdem er ihr seine Geschichte erzählt hatte, wartete er darauf, daß sie ihr Versprechen hielt. Seranis erhob sich und ging auf dem Dach hm und her.

„Ich weiß, welche Fragen Sie stellen wollen“, sagte sie. „Einige davon kann ich beantworten, aber es wäre zu anstrengend, das mit Worten zu tun. Wenn Sie mir Ihren Verstand öffnen, will ich Ihnen sagen, was Sie wissen müssen. Sie können mir vertrauen: Ich nehme Ihnen nichts ohne Ihre Erlaubnis.“

„Was soll ich tun?“ fragte Alvin vorsichtig.

„Denken Sie daran, daß Sie meine Hilfe akzeptieren wollen — sehen Sie mir in die Augen — und vergessen Sie alles“, befahl Seranis.

Alvin wußte auch später nie genau, was dann geschah. Seine Sinne verdunkelten sich plötzlich, und, obwohl er sich nicht an den Erwerb entsinnen konnte, fand er dieses Wissen in seinem Verstand.

Er sah in die Vergangenheit, nicht deutlich, sondern eher wie ein Mensch von einem hohen Berg auf eine neblige Ebene hinabsieht. Er begriff, daß der Mensch nicht immer Stadtbewohner war und daß seit der Zeit, da ihn die Maschinen von der Plage der Arbeit befreiten, zwischen zwei verschiedenen Arten von Zivilisation stets Rivalität bestanden hatte. In der Frühzeit hatte es Tausende von Städten gegeben, aber ein großer Teil der Menschheit zog es vor, in verhältnismäßig kleinen Gemeinschaften zu leben. Umfassende Transportmöglichkeiten und perfekte Nachrichtenverbindungen gaben ihnen so viel Berührung mit der Welt, wie sie brauchten, und sie hielten es nicht für wünschenswert, mit Millionen ihrer Mitmenschen zusammengepfercht zu leben.

Lys hatte sich in den frühen Tagen von den übrigen Gemeinschaften nur wenig unterschieden. Aber allmählich, im Lauf der Zeiten, entwickelte es eine unabhängige Kultur, die zu einer der hochstehendsten der gesamten menschlichen Geschichte wurde. Diese Kultur beruhte zum großen Teil auf der mittelbaren Anwendung geistiger Kräfte, und das trennte sie auch von der übrigen menschlichen Gesellschaft, die sich mehr und mehr auf Maschinen verließ.

Im Verlauf der Jahrhunderte erweiterte sich die Kluft zwischen Lys und den anderen Städten. Sie wurde nur in Zeiten schwerer Krisen überbrückt; als der Mond herabstürzte, wurde seine Zerstörung von den Wissenschaftlern aus Lys durchgeführt. Ebenso auch die Verteidigung der Erde gegen den Ansturm der Invasoren, der in der entscheidenden Schlacht von Shalmirane abgeschlagen wurde.

Diese harte Probe ließ die Menschheit erschöpft zurück; eine nach der anderen starben die Städte dahin, und die Wüste übernahm die Herrschaft. Als die Bevölkerung abnahm, begann die Wanderung, die Diaspar zur letzten und größten aller Städte machen sollte.

Die meisten dieser Veränderungen berührten Lys nicht, aber es hatte seinen eigenen Kampf auszutragen — den Kampf gegen die Wüste. Die natürliche Schranke des Gebirges reichte nicht aus, und es dauerte viele Jahrtausende, bis die große Oase gesichert war. Das Bild blieb hier, vielleicht absichtlich, etwas verschwommen. Alvin konnte nicht erkennen, was getan worden war, um Lys praktisch die Unsterblichkeit zu verleihen, die Diaspar erreicht hatte.

Seranis' Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm zu dringen — aber es war nicht ihre Stimme allein, sie verschmolz in einer Symphonie aus Worten.

„Das ist, ganz kurz geschildert, unsere Geschichte. Sie sehen, daß wir selbst in der Frühzeit mit den Städten wenig zu tun hatten, obwohl ihre Menschen oft in unser Land kamen. Wir haben ihnen nie etwas in den Weg gelegt, denn viele unserer größten Männer kamen von draußen, aber als die Städte starben, wollten wir nicht in ihren Untergang verwikkelt werden. Nach dem Ende des Flugverkehrs gab es nur noch einen Weg nach Lys — die Schwebebahn von Diaspar. Sie wurde an einem Ende geschlossen, als man den Park errichtete — und ihr habt uns vergessen, obwohl wir euch nie aus dem Gedächtnis verloren.

Diaspar hat uns überrascht. Wir erwarteten, daß es den Weg aller anderen Städte gehen würde, aber es hat eine stabile Kultur entwickelt, die so lange bestehen dürfte wie die Erde selbst. Es ist nicht eine Kultur, die wir bewundern, aber wir sind froh, daß es denjenigen, die entfliehen wollten, gelungen ist. Mehr Menschen, als Sie glauben, haben diese Fahrt unternommen, und es waren fast immer hervorragende Menschen, die etwas Wertvolles mitbrachten, wenn sie nach Lys kamen.“

Die Stimme verklang; die Lähmung der Sinne Alvins verschwand, und er war wieder er selbst. Er sah mit Erstaunen, daß die Sonne hinter den Bäumen hinabgesunken war und der östliche Himmel schon eine Andeutung der Nacht aufwies. Irgendwo ertönte eine große Glocke mit dröhnendem Brummen, das langsam in der Stille verebbte und die Luft mit Geheimnissen und Vorahnungen zu erfüllen schien. Alvin zitterte, nicht wegen der ersten Abendkühle, sondern aus Staunen über all das, was er erfahren hatte. Es war sehr spät, und er befand sich weit von zu Hause.

Er fühlte plötzlich den Drang, seine Freunde wiederzusehen und zwischen den vertrauten Bildern und Szenen Diaspars zu sein.

„Ich muß zurück“, sagte er. „Khedron — meine Eltern — sie erwarten mich.“


Das entsprach nicht ganz der Wahrheit; sicher würde sich Khedron fragen, was mit ihm geschehen war, aber sonst wußte niemand, daß er Diaspar verlassen hatte. Er wäre nicht in der Lage gewesen, für diese harmlose Lüge einen Grund anzugeben, und er schämte sich ein bißchen, als er sie ausgesprochen hatte.

Seranis sah ihn gedankenvoll an.

„Ich fürchte, daß das nicht so ganz einfach ist“, sagte sie.

„Wie meinen Sie das?“ fragte Alvin. „Kann mich das Fahrzeug, mit dem ich hergekommen bin, nicht wieder zurückbringen?“ Er weigerte sich immer noch, die Tatsache anzuerkennen, daß man ihn gegen seinen Willen in Lys zurückhalten könne, obwohl der Gedanke schon einmal kurz durch sein Gehirn gehuscht war.

Seranis schien sich zum erstenmal etwas unbehaglich zu fühlen.

„Wir haben über Sie gesprochen“, sagte sie — ohne zu erklären, wer ›wir‹ sein könnte, noch wie sie sich verständigt hatten. „Wenn Sie nach Diaspar zurückkehren, wird die ganze Stadt von uns erfahren. Selbst wenn Sie versprechen würden, nichts zu verraten, könnten Sie Ihr Geheimnis nicht bewahren.“

„Warum wollen Sie überhaupt, daß es ein Geheimnis bleibt?“ fragte Alvin. „Es wäre doch gewiß eine gute Sache für uns beide, wenn wir wieder zusammentreffen könnten.“

Seranis war ungehalten.

„Wir sind nicht dieser Meinung“, erwiderte sie. „Wenn wir die Tore öffneten, würde unser Land von den Neugierigen und Sensationshungrigen überflutet werden. Bisher ist es stets nur den Besten von euren Leuten gelungen, Lys zu erreichen.“

Diese Antwort strahlte so viel unbewußte Überlegenheit aus und beruhte auf so falschen Annahmen, daß Alvins Unruhe durch seinen Ärger verdeckt wurde.

„Das ist nicht wahr“, sagte er geradeheraus. „Ich glaube nicht, daß Sie noch einen Menschen in Diaspar finden, der die Stadt verlassen könnte, selbst wenn er wollte — selbst wenn er wüßte, daß es ein Ziel gibt. Wenn Sie mich zurückkehren lassen, ändert sich für Lys überhaupt nichts.“

„Die Entscheidung liegt nicht bei mir“, erklärte Seranis, „und Sie unterschätzen die Kräfte des Geistes, wenn Sie glauben, daß die Schranken, von denen Ihre Leute in Diaspar gehalten werden, nie zu brechen sind.

Wir wollen Sie jedoch nicht gegen Ihren Willen zurückhalten, aber wenn Sie nach Diaspar zurückkehren, müssen wir alle Erinnerungen an Lys aus Ihrem Gedächtnis löschen.“ Sie zögerte einen Augenblick. „Dieses Problem hat sich noch nie gestellt; alle Ihre Vorgänger kamen, um hierzubleiben.“

Das war eine Wahl, die Alvin nicht anzunehmen wünschte. Er wollte Lys durchforschen, seine Geheimnisse lüften, die Art entdecken, in der es sich von Diaspar unterschied. Aber er war gleichermaßen entschlossen, nach Diaspar zurückzukehren, um seinen Freunden zu beweisen, daß er kein weltfremder Träumer war. Er konnte die Gründe für diesen Wunsch nach Geheimhaltung nicht verstehen; selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte das an seiner Haltung nichts geändert.

Es war ihm klar, daß er Zeit gewinnen oder Seranis davon überzeugen mußte, daß er sich ihren Wünschen nicht fügen konnte.

„Khedron weiß, wo ich bin“, sagte er. „Sein Gedächtnis könnt ihr nicht auslöschen.“

Seranis lächelte. Es war ein angenehmes Lächeln, und unter anderen Umständen hätte man es wohl freundlich nennen können. Aber dahinter erkannte Alvin zum erstenmal die Gegenwart einer überwältigenden und unerbittlichen Macht.

„Sie unterschätzen uns, Alvin“, erwiderte sie. „Das wäre sogar ganz leicht. Ich kann Diaspar schneller erreichen, als ich Lys zu durchqueren vermag. Vor Ihnen sind andere hierhergekommen, und einige von ihnen erzählten ihren Freunden, wohin sie gingen. Diese Freunde haben sie vergessen, und sie verschwanden aus der Geschichte Diaspars.“

Alvin war unklug gewesen, diese Möglichkeit zu übersehen, obwohl sie jetzt allzu deutlich erschien, nachdem Seranis darauf hingewiesen hatte.

Er fragte sich, wie oft in den Millionen Jahren seit der Trennung dieser beiden Kulturen Menschen aus Lys nach Diaspar gegangen waren, um ihr eifersüchtig gehütetes Geheimnis zu bewahren. Und er fragte sich auch, wie weitreichend tatsächlich die geistigen Kräfte waren, über die diese seltsamen Menschen verfügten und die sie nicht anzuwenden zögerten.

War es sicher, überhaupt Pläne zu schmieden? Seranis hatte versprochen, seine Gedanken nicht ohne seine ausdrückliche Zustimmung zu lesen, aber er fragte sich, ob es nicht Umstände geben konnte, unter denen dieses Versprechen nicht gehalten wurde…

„Sie erwarten doch sicher nicht“, sagte er, „daß ich meine Entscheidung sofort treffe. Kann ich nicht noch einiges von Ihrem Land sehen, ehe ich mich entschließe?“

„Selbstverständlich“, erwiderte Seranis. „Sie können hierbleiben, solange Sie wollen, und jederzeit nach Diaspar zurückkehren, sobald Sie Ihren Vorsatz ändern. Aber es wäre wesentlich einfacher, wenn Sie sich im Verlaufe der nächsten Tage entscheiden könnten. Sie wollen sicher nicht, daß sich Ihre Freunde um Sie sorgen, und je länger Sie fortbleiben, desto schwerer wird es für uns, die erforderlichen Veränderungen vorzunehmen.“

Alvin konnte das verstehen; er hätte allerdings gerne gewußt, welcher Art diese ›Veränderungen‹ waren. Vermutlich würde jemand aus Lys mit Khedron Kontakt aufnehmen — ohne daß es der Spaßmacher überhaupt merkte — und sein Gedächtnis beeinflussen. Alvins Verschwinden konnte zwar nicht verheimlicht werden, aber man würde die Informationen, die er und Khedron entdeckt hatten, beseitigen. Im Laufe der Zeit würde sich Alvins Name zu den anderen Einzigartigen gesellen, die auf geheimnisvolle Weise spurlos verschwunden und — vergessen worden waren.

Hier lagen viele Geheimnisse, und er schien ihrer Lösung nicht nähergekommen zu sein. Existierte hinter der eigenartigen, einseitigen Beziehung zwischen Lys und Diaspar irgendein Sinn, oder handelte es sich einfach um einen geschichtlichen Zufall? Wer und was waren die Einzigartigen, und, wenn die Leute aus Lys nach Diaspar gelangen konnten, warum hatten sie dann nicht die Gedächtnisanlagen gelöscht, die den Schlüssel zu ihrer Existenz enthielten? Vielleicht war das die einzige Frage, auf die Alvin eine überzeugende Antwort wußte. Das Zentral-Elektronengehirn dürfte ein zu hartnäckiger Gegner sein und konnte wohl selbst von den fortgeschrittensten geistigen Techniken kaum beeinflußt werden…

Er schob diese Probleme beiseite; eines Tages, wenn er wesentlich mehr gelernt hatte, konnte er sie vielleicht lösen. Es war müßig zu spekulieren, eine Pyramide von Vermutungen auf einem Fundament der Unwissenheit zu errichten.

„Nun gut“, sagte er — wenn auch nicht besonders liebenswürdig, weil ihn dieses unerwartete Hindernis immer noch ärgerte. „Ich gebe Ihnen meine Antwort, sobald ich kann — wenn Sie mir Ihr Land zeigen.“

„Gut“, erwiderte Seranis, und diesmal verbarg ihr Lächeln keine Drohung. „Wir sind stolz auf Lys, und es wird uns ein Vergnügen sein, Ihnen zu zeigen, wie Menschen ohne die Hilfe von Städten leben. Inzwischen brauchen Sie sich nicht zu sorgen — Ihre Freunde werden über Ihre Abwesenheit nicht beunruhigt sein. Dafür sorgen wir, und sei es nur zu Ihrem eigenen Schutz.“ Zum erstenmal hatte Seranis ein Versprechen gegeben, das sie nicht halten konnte.

11

Es gelang Alystra nicht, Khedron zu weiteren Auskünften zu bewegen.

Der Spaßmacher erholte sich schnell von seinem ersten Schock und der Panik, die ihn nach oben getrieben hatte, als er sich allein in den Tiefen unter dem Grabmal fand. Er schämte sich seines feigen Verhaltens und überlegte, ob er jemals wieder den Mut aufbringen würde, zur Höhle der Fließstraßen und des Tunnelnetzes zurückzukehren. Obwohl er der Meinung war, daß sich Alvin vorschnell und unvernünftig benommen hatte, glaubte er nicht wirklich an eine Gefahr für ihn. Er würde schon wieder zurückkommen, dessen war Khedron sicher. Nun, fast sicher; er fühlte gerade so viel Zweifel, daß ihm eine gewisse Vorsicht am Platze schien.

Es war klüger, entschied er sich, jetzt sowenig wie möglich zu sagen und die ganze Sache als Spaß abzutun.

Unglücklicherweise konnte er seine Gefühle nicht verbergen, als ihn Alystra bei seiner Rückkehr an die Oberfläche zur Rede stellte. Sie hatte in seinen Augen unverkennbare Furcht gelesen und sie sofort als Zeichen dafür ausgelegt, daß sich Alvin in Gefahr befand. Alle Versicherungen Khedrons blieben wirkungslos, und als sie gemeinsam durch den Park zurückgingen, geriet sie immer mehr in Zorn. Zuerst wollte sie am Grabmal bleiben und auf Alvin warten. Es war Khedron gelungen, Alystra davon zu überzeugen, daß das Zeitverschwendung sei. Es bestand die Möglichkeit, daß Alvin sofort zurückkam, und er wollte nicht, daß jemand das Geheimnis Yarlan Zeys entdeckte.

Als sie die Stadt erreichten, merkte Khedron, daß seine ausweichende Taktik völlig versagt hatte und ihm die ganze Sache aus der Hand geglitten war. Zum erstenmal in seinem Leben befand sich Khedron in Verlegenheit; er wußte nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Seine vorübergehende und unvernünftige Angst wurde jetzt von einer tieferen und ernsthafteren Beunruhigung verdrängt. Bisher hatte Khedron kaum an die Folgen seines Vorgehens gedacht.

Trotz des Unterschiedes an Jahren und Erfahrung zwischen ihnen war Alvins Wille immer der mächtigere gewesen. Jetzt konnte man nichts mehr ändern; Khedron fühlte, daß er von den Ereignissen hilflos mitgerissen wurde.

Im Hinblick darauf schien es ein wenig ungerecht, daß ihn Alystra offensichtlich als Alvins bösen Geist betrachtete und Neigung zeigte, ihm die Schuld an allen Vorkommnissen zuzuschreiben. Alystra war nicht eigentlich rachsüchtig, aber sie ärgerte sich, und ein Teil ihres Ärgers richtete sich gegen Khedron.


Sie trennten sich in eisigem Schweigen, als sie die große Rundstraße erreichten, die den Park umgab. Khedron sah Alystra in der Ferne verschwinden, und er fragte sich müde, welche Pläne sie wohl ausbrüten mochte.

Er konnte nur einer Sache völlig sicher sein. Langweilig würde es in der nächsten Zeit bestimmt nicht werden.

Alystra handelte schnell und mit Überlegung. Sie bemühte sich erst gar nicht, Eriston und Etania zu verständigen; Alvins Eltern waren nette, aber nichtssagende Leute. Sie würde nur ihre Zeit mit ihnen verschwenden.

Jeserac lauschte ihrer Geschichte ohne offenkundige Gemütsbewegung.

Wenn er überrascht und beunruhigt war, so verbarg er es geschickt — so geschickt, daß Alystra etwas enttäuscht war. Sie hatte den Eindruck, noch nie sei etwas so Außergewöhnliches und Wichtiges geschehen, und Jeseracs unbewegte Miene ernüchterte sie. Als sie zu Ende war, befragte er sie eingehend und deutete an, ohne es tatsächlich auszusprechen, daß sie sich getäuscht haben könnte. Welcher Grund bestand zu der Annahme, daß Alvin wirklich die Stadt verlassen hatte? Vielleicht war alles nur ein auf sie gemünzter Streich gewesen; die Beteiligung Khedrons machte das sogar sehr wahrscheinlich. Vielleicht lachte Alvin, in diesem Augenblick irgendwo in Diaspar versteckt, über sie.

Die einzige positive Reaktion, die sie Jeserac entlocken konnte, war das Versprechen, Nachforschungen anzustellen und sie am nächsten Tag von dem Ergebnis zu unterrichten. In der Zwischenzeit solle sie sich keine Sorgen machen, und außerdem sei es am besten, wenn sie keinem Menschen von der Angelegenheit erzähle. Es sei nicht nötig, wegen eines Vorfalls Aufregung zu stiften, den man wahrscheinlich in wenigen Stunden aufklären könne.

Alystra verließ Jeserac enttäuscht. Sie wäre zufriedener gewesen, wenn sie sein Verhalten kurz nach ihrem Weggang gesehen hätte.

Jeserac besaß Freunde im Rat; er war im Laufe seines langen Lebens selbst Mitglied gewesen und würde es bei etwas Pech wieder werden. Er rief drei seiner einflußreichsten Kollegen und weckte vorsichtig ihr Interesse. Als Alvins Lehrer wußte er, wie heikel seine Lage war, so daß er sich entsprechend absicherte.

Man einigte sich darauf, sofort mit Khedron in Verbindung zu treten und eine Erklärung zu verlangen. Dieser Plan hatte nur einen kleinen Fehler.

Khedron hatte ihn vorausgesehen; er war nirgends zu finden.


Wenn Alvins Lage etwas Zweideutiges anhaftete, so bemühten sich seine Gastgeber jedenfalls, ihn nicht daran zu erinnern. Es stand ihm frei, sich überall in Airlee umzusehen, wie die kleine Siedlung hieß, über die Seranis herrschte — obwohl das Wort ›herrschen‹ für ihre Stellung zu stark war. Manchmal schien es Alvin, als führe sie eine gemäßigte Diktatur, aber bei anderen Gelegenheiten hatte es den Anschein, als besitze sie überhaupt keine Macht. Bisher war es ihm völlig mißlungen, das Gesellschaftssystem von Lys zu begreifen, entweder weil es zu einfach oder weil es so kompliziert war, daß sich ihm seine Verästelungen entzogen. Mit Sicherheit hatte er nur festgestellt, daß Lys in unzählige Dörfer unterteilt war, wobei Airlee als typisches Beispiel gelten durfte. Aber in gewisser Hinsicht wiederum gab es gar keine typischen Beispiele, denn man hatte Alvin versichert, daß sich jede Siedlung bemühte, ihren Nachbarn so wenig wie möglich zu gleichen.

Obwohl Airlee sehr klein war und weniger als tausend Einwohner zählte, bot es viele Überraschungen. Es gab kaum einen Lebensaspekt, der nicht von seinem Gegenstück in Diaspar abwich. Die Unterschiede erstreckten sich sogar auf so grundlegende Dinge wie die Sprache. Nur die Kinder benützten ihre Stimmen zur normalen Verständigung; die Erwachsenen sprachen kaum jemals, und nach einer Weile entschied Alvin, daß sie es nur aus Höflichkeit ihm gegenüber taten. Es war eine seltsame Erfahrung, sich in einem großen Netz aus geräuschlosen und unaufspürbaren Worten eingesponnen zu fühlen, aber nach einer Weile gewöhnte sich Alvin daran. Eigentlich war es erstaunlich, daß sich die Lautsprache überhaupt erhalten hatte, aber Alvin entdeckte später, daß die Menschen von Lys den Gesang und alle Arten der Musik liebten. Ohne diesen Anreiz wären sie wahrscheinlich völlig verstummt.

Sie waren immer sehr beschäftigt, mit Aufgaben und Problemen, die Alvin gewöhnlich unverständlich blieben. Wo er begriff, was sie taten, schien vieles an ihrer Arbeit ziemlich unnötig. Ein beträchtlicher Teil der Nahrung wurde tatsächlich angebaut und nicht synthetisch hergestellt.

Als Alvin darauf zu sprechen kam, erklärte man ihm geduldig, daß die Menschen von Lys gerne Dinge wachsen sahen, komplizierte genetische Experimente anzustellen liebten und immer raffiniertere Aromen und Gerüche entwickeln wollten. Airlee war wegen seiner Früchte berühmt, aber als Alvin einige Kostproben genoß, schienen sie ihm nicht besser zu sein als jene, die er in Diaspar ohne jede Mühe herbeizaubern konnte.

Zuerst fragte er sich, ob die Menschen von Lys die Kräfte und Maschinen vergessen oder nie besessen hatten, die ihm selbstverständlich waren und auf denen das ganze Leben in Diaspar beruhte. Er sah bald, daß diese Meinung nicht zutraf. Geräte und Wissen waren vorhanden, aber man verwendete sie nur, wenn sie unbedingt nötig schien. Das deutlichste Beispiel dafür lieferte das Transportsystem, wenn man es mit einem so hochtrabenden Namen belegen durfte. Bei kurzen Strecken gingen die Einwohner von Lys zu Fuß, und sie schienen es gerne zu tun. Wenn sie es eilig hatten oder kleinere Lasten befördern mußten, verwendeten sie Tiere, die offensichtlich für diese Zwecke entwickelt waren. Bei der lastentragenden Art handelte es sich um ein niedriges, sechsbeiniges Tier, sehr geduldig und stark, aber mit wenig Intelligenz. Die schnellaufenden Tiere waren von völlig anderem Charakter; sie gingen normalerweise auf vier Beinen, benützten aber, wenn sie große Geschwindigkeiten erzielen wollten, nur ihre muskulösen Hinterbeine. Sie konnten ganz Lys in wenigen Stunden durchqueren; der Reiter saß in einem drehbaren Sitz, der auf dem Rücken des Tieres festgeschnallt wurde. Alvin hätte um nichts in der Welt einen solchen Ritt unternommen, aber unter den jungen Männern galt er als beliebte Sportart. Ihre hochgezüchteten Renner waren die Aristokraten der Tierwelt, was sie sehr wohl wußten. Sie besaßen einen mittelgroßen Wortschatz, und Alvin belauschte sie oft, wenn sie unter sich von vergangenen und künftigen Siegen prahlten.

Versuchte er, freundlich zu sein und an ihren Gesprächen teilzunehmen, dann gaben sie vor, ihn nicht zu verstehen, und sprangen beleidigt davon.

Diese beiden Tierarten genügten allen normalen Ansprüchen und bereiteten ihren Besitzern ein Vergnügen, wie es bei mechanischen Geräten nicht möglich gewesen wäre. Wenn jedoch überschnelle Geschwindigkeiten nötig oder gewaltige Lasten zu bewegen waren, gab es auch die entsprechenden Maschinen, und man setzte sie ohne Zögern ein.

Obwohl das Tierleben von Lys Alvin eine ganze Welt neuer Interessen und Überraschungen bescherte, waren es doch die beiden Extreme der menschlichen Bevölkerung, die ihn am stärksten faszinierten. Die ganz Jungen und die ganz Alten — beide waren gleichermaßen seltsam und gleichermaßen wunderbar. Airlees' ältester Bewohner war kaum in sein zweites Jahrhundert getreten und hatte nur mehr wenige Lebensjahre vor sich. Wenn Alvin dieses Alter erreichte, würde sich sein Körper kaum verändert haben, während die körperlichen Kräfte dieses alten Mannes beinahe erschöpft waren. Sein Haar war vollkommen weiß und sein Gesicht unglaublich faltig. Er schien die meiste Zeit in der Sonne zu sitzen oder langsam durch die Siedlung zu wandern, wobei er mit jedem Grüße tauschte, dem er begegnete. Soviel Alvin sehen konnte, war er vollkommen zufrieden, verlangte nicht mehr vom Leben und schien vor dem nahenden Ende keine Angst zu haben.

Die Philosophie stand mit der Diaspars so in Widerspruch, daß sie Alvins Begriffsvermögen nicht zu fassen vermochte. Warum akzeptierte jemand den Tod, wenn er so unnötig war und wenn man die Wahl hatte, tausend Jahre zu leben und dann durch die Jahrtausende vorwärtszueilen, um in einer Welt, die man zu formen mitgeholfen hatte, neu zu beginnen? Er war entschlossen, dieses Geheimnis zu klären, sobald er Gelegenheit hatte, frei darüber zu sprechen. Es fiel ihm ungeheuer schwer zu glauben, daß Lys diese Wahl aus eigenem, freien Willen getroffen haben könnte, wenn es von der Alternative gewußt hätte.

Er fand einen Teil der Antwort bei den Kindern, diesen kleinen Wesen, die ihm so fremd waren wie die Tiere von Lys. Er verbrachte viel Zeit mit ihnen, schaute ihnen bei den Spielen zu und wurde schließlich als Freund anerkannt. Manchmal hatte er den Eindruck, als seien sie überhaupt nicht menschlich, so fremd wirkten Motive, Logik und sogar Sprache. Er starrte dann ungläubig auf die Erwachsenen und fragte sich, wie es möglich war, daß sie sich aus diesen außergewöhnlichen Wesen entwickelt hatten.

Und doch riefen sie in seinem Herzen ein ganz neues Gefühl wach.

Wenn sie gelegentlich in Tränen der Enttäuschung oder der Verzweiflung ausbrachen, erschienen ihm ihre kleinen Sorgen tragischer als der lange Rückzug des Menschen nach dem Verlust seines galaktischen Imperiums. Dies war zu gewaltig und zu fern, aber das Weinen eines Kindes drang ihm bis ins Herz.

Alvin hatte in Diaspar Liebe gefunden, aber jetzt lernte er etwas ebenso Wertvolles, ohne das auch die Liebe ihre höchste Erfüllung nicht finden konnte. Er lernte Zärtlichkeit.


Alvin studierte also Lys, aber Lys studierte auch ihn und war nicht unzufrieden mit den Ergebnissen. Er war drei Tage in Airlee, als Seranis vorschlug, er könne seine Streifzüge ausdehnen und etwas mehr von ihrem Land besichtigen. Er war sofort einverstanden — unter der Bedingung, daß man nicht von ihm verlangte, einen der schnellen Renner zu besteigen.

„Ich kann Ihnen versichern“, sagte Seranis mit einem seltenen Anflug von Humor, „daß hier niemand daran denkt, eines seiner wertvollen Tiere zu riskieren. Da es sich um einen Ausnahmefall handelt, werde ich ein Fahrzeug bereitstellen, in dem Sie sich zu Hause fühlen. Hilvar wird Ihnen als Führer dienen, aber Sie können natürlich hingehen, wohin Sie wollen.“

Alvin fragte sich, ob das wirklich stimmte. Er konnte sich vorstellen, daß man Einwendungen erheben würde, wenn er zu dem kleinen Hügel zurückzukehren versuchte, von dem aus er nach Lys gekommen war. Im Augenblick beunruhigte ihn das jedoch nicht, weil er es nicht eilig hatte, nach Diaspar zurückzukehren.

Er wußte Seranis' Geste, ihm ihren Sohn als Führer mitzugeben, zu schätzen, obgleich man Hilvar sicher angewiesen hatte aufzupassen, damit Alvin nicht in Ungelegenheiten geriet. Alvin hatte geraume Zeit gebraucht, um sich an Hilvar zu gewöhnen, aus einem Grund, den er ihm nicht gut erklären konnte, ohne seine Gefühle zu verletzen. Körperliche Vollkommenheit war in Diaspar so allgemein, daß persönliche Schönheit an Wert verloren hatte; die Menschen bemerkten sich nicht mehr als die Luft, die sie atmeten. In Lys war das nicht der Fall, und das schmeichelndste Beiwort, das auf Hilvar paßte, war unschön. Nach Alvins Maßstäben war er ausgesprochen häßlich, und eine Weile hatte er es vermieden, mit ihm zusammenzutreffen. Wenn es Hilvar merkte, so zeigte er es jedenfalls nicht, und es dauerte nicht lange, bis seine gutmütige Freundlichkeit die Schranke zwischen ihnen beseitigt hatte. Es sollte eine Zeit kommen, in der sich Alvin so an Hilvars breites, etwas schiefes Lächeln, an seine Kraft und seine Güte gewöhnt hatte, daß er kaum glauben konnte, ihn jemals häßlich gefunden zu haben.


Sie verließen Airlee am frühen Morgen in einem kleinen Fahrzeug, das Hilvar Bodengleiter nannte; der Gleiter arbeitete anscheinend nach dem gleichen Prinzip wie die Maschine, mit der Alvin aus Diaspar gekommen war. Er schwebte einige Zentimeter über dem Rasen, und obwohl nichts von einer Leitschiene zu sehen war, erzählte ihm Hilvar, daß er sich nur auf genau festgelegten Bahnen bewegen konnte. Alle Bevölkerungszentren waren auf diese Weise miteinander verbunden, aber Alvin sah während seines ganzen Aufenthaltes in Lys nie einen anderen Gleiter in Betrieb.

Hilvar hatte sehr viel Mühe auf die Vorbereitung der Expedition verwendet und freute sich anscheinend ebenso darauf wie Alvin. Er hatte den Fahrtweg unter Berücksichtigung seiner eigenen Interessen festgelegt, denn er studierte leidenschaftlich Naturgeschichte und hoffte, in den unbewohnten Gebieten von Lys neue Insektenarten zu finden. Er beabsichtigte, so weit südlich vorzudringen, wie sie die Maschine bringen konnte; den Rest des Weges würden sie zu Fuß zurücklegen müssen. Da ihm die damit verbundenen Konsequenzen nicht klar waren, erhob Alvin keine Einwendungen.

Sie nahmen einen Begleiter mit auf die Reise, Krif, das auffallendste von Hilvars vielen Haustieren. Wenn Krif ruhte, lagen seine sechs gazeartigen Flügel an seinen Körper gefaltet, der wie ein mit Juwelen besetztes Zepter unter ihnen glitzerte. Wenn ihn etwas störte, stieg er mit einem leuchtenden Flackern und einem schwachen Summen unsichtbarer Flügel in die Luft. Obwohl das große Insekt kam, wenn man es rief, und manchmal — nur manchmal — einfache Befehle ausführte, war es fast völlig ohne Verstand. Aber es besaß eine ausgeprägte eigene Persönlichkeit und war, aus irgendeinem Grund, Alvin gegenüber mißtrauisch.

Für Alvin schien die Fahrt durch Lys von traumhafter Unwirklichkeit.

Stumm wie ein Geist glitt die Maschine über weite Ebenen dahin, schlängelte sich durch Wälder, ohne von ihrem unsichtbaren Kurs abzuweichen. Sie bewegte sich etwa zehnmal so schnell wie ein Fußgänger; selten hatte es ein Bewohner von Lys eiliger.

Sie kamen durch viele Siedlungen, manche größer als Airlee, aber die meisten in ähnlicher Weise angelegt. Alvin stellte mit Interesse die feinen, aber bedeutsamen Unterschiede in der Kleidung, ja sogar in der körperlichen Erscheinung fest. Die Zivilisation von Lys setzte sich aus Hunderten von ausgeprägten Kulturen zusammen, wobei jede einzelne zur Gesamtheit etwas Wesentliches beitrug. Der Bodengleiter führte beträchtliche Mengen von Airlees berühmtestem Erzeugnis mit, einem kleinen gelben Pfirsich, der stets dankbar entgegengenommen wurde, wenn Hilvar Kostproben verteilte. Er blieb oft stehen, um mit Freunden zu sprechen und Alvin vorzustellen, den die selbstverständliche Höflichkeit, mit der sofort die Lautsprache benützt wurde, immer wieder beeindruckte. Es mußte ihnen oft nicht leichtgefallen sein, aber soweit er es beurteilen konnte, widerstanden sie stets der Versuchung, in die Telepathie zurückzufallen, so daß er sich nie von ihren Gesprächen ausgeschlossen fühlte.

Sie machten die längste Pause in einem kleinen Ort, fast völlig in einem Meer aus großem goldenem Gras versteckt, das hoch über ihre Köpfe emporragte und sich unter dem leichten Wind wellte, als sei es mit Leben begabt. Während sie durchführen, wurden sie ständig von den Wogen überrollt. Anfangs wirkte es ein wenig störend, weil Alvin das komische Gefühl hatte, das Gras beugte sich herab, um ihn anzustarren, aber nach einer Weile empfand er die ständige Bewegung als beruhigend.

Alvin entdeckte bald, warum sie hier angehalten hatten. Unter der kleinen Menschenmenge, die sich schon versammelt hatte, bevor der Gleiter in das Dorf schwebte, befand sich ein scheues, junges Mädchen, das Hilvar als Nyara vorstellte. Sie freuten sich offensichtlich über ihr Wiedersehen, und Alvin beneidete sie um das Glück, das ihnen dieses kurze Zusammentreffen zu bereiten schien. Hilvar wurde spürbar zwischen seiner Pflicht als Führer und seinem Wunsch, keine andere Gesellschaft als Nyara zu haben, hin und her gerissen, und Alvin befreite ihn bald aus diesem Zwiespalt, indem er sich allein auf eine Erkundungstour machte.

Es gab in dem Dorf nicht viel zu sehen, aber er ließ sich Zeit.

Als sie sich wieder auf den Weg machten, hatte er viele Fragen auf dem Herzen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die Liebe in einer telepathischen Gesellschaft beschaffen war, und nach einer längeren, diskreten Pause erkundigte er sich bei Hilvar danach. Hilvar war sofort zu einer Erklärung bereit, obwohl Alvin vermutete, daß er seinen Freund bei einem langen und zärtlichen Abschied unterbrochen hatte.

In Lys, so meinte Hilvar, begann jede Liebe mit geistigem Kontakt, und es konnte Monate oder Jahre dauern, bis ein Paar wirklich zusammentraf. Auf diese Weise gab es beiderseits keine falschen Eindrücke, keine Täuschungen. Zwei Menschen, deren Gedanken einander offenlagen, konnten keine Geheimnisse verbergen. Wenn es einer von ihnen versuchte, wußte es der andere sofort.

Nur sehr reife und ausgewogene Menschen konnten sich diese Ehrlichkeit leisten; nur eine auf absolute Selbstlosigkeit beruhende Liebe konnte sie überdauern. Alvin begriff sehr gut, daß eine solche Zuneigung tiefer und voller war als alles, was seine Leute kannten; sie konnte so vollkommen sein, daß er kaum zu glauben vermochte, daß es sie wirklich gab.

Aber Hilvar bestätigte es ihm und verlor sich in seine eigenen Träumereien, als ihn Alvin bat, deutlicher zu werden.

Als der Bodengleiter die Savanne verließ, lag eine Reihe niedriger, baumbestandener Berge vor ihnen. Dies war ein Ausläufer des großen Gebirges, das Lys beschützte, erklärte Hilvar. Die großen Berge erhoben sich jenseits davon, aber für Alvin waren selbst diese kleinen Hügel ein eindrucksvoller Anblick.

Der Gleiter kam in einem engen, geschützten Tal zum Stehen, das noch von der Wärme und vom Licht der sinkenden Sonne überflutet wurde.

Hilvar sah Alvin mit einer Art unschuldigen Aufrichtigkeit an, die völlig ohne Hintergedanken war, so hätte man schwören können.

„Aber hier müssen wir laufen“, sagte er fröhlich und begann, die Ausrüstung aus dem Fahrzeug zu werfen. „Wir können nicht mehr weiterfahren.“

Alvin sah auf die Hügel, dann wieder auf den bequemen Sessel, in dem er die Fahrt verbracht hatte.

„Gibt es denn keinen Umweg?“ fragte er, nicht sehr hoffnungsvoll.

„Natürlich“, erwiderte Hilvar. „Aber wir machen ihn nicht. Wir steigen hinauf, das ist viel interessanter. Ich stelle den Gleiter auf Automatik, damit er auf uns wartet, wenn wir auf der anderen Seite herunterkommen.“

Entschlossen, nicht ohne Widerstand aufzugeben, machte Alvin einen letzten Versuch.

„Es wird bald dunkel“, wandte er ein. „Wir schaffen es nie vor dem Sonnenuntergang.“

„Genau“, sagte Hilvar und sortierte mit unglaublicher Schnelligkeit Pakete und Ausrüstungsgegenstände. „Wir verbringen die Nacht auf dem Gipfel und setzen den Weg am anderen Morgen fort.“

Für diesmal wußte Alvin, daß er sich geschlagen geben mußte.

Die Ausrüstung, die sie trugen, sah geradezu gewaltig aus, aber trotz ihres Umfanges wog sie praktisch nichts. Sie war in Behältern verpackt, die die Schwerkraft aufhoben und das Gewicht neutralisierten, so daß man nur noch mit der Trägheit fertig werden mußte. Solange sich Alvin in gerader Linie vorwärtsbewegte, kam ihm überhaupt nicht zum Bewußtsein, daß er eine Last trug. Der Umgang mit diesen Behältern verlangte etwas Erfahrung, denn wenn er einen plötzlichen Richtungswechsel unternahm, schien sein Packen eine eigensinnige Persönlichkeit zu entwikkeln und ihn um jeden Preis in der bisherigen Richtung halten zu wollen, bis er seine Schwungkraft überwunden hatte.

Nachdem Hilvar alle Gurte befestigt und sich vergewissert hatte, daß alles in Ordnung war, gingen sie langsam das Tal hinauf. Alvin sah sich wehmütig um, als der Bodengleiter seine Spur zurückverfolgte und verschwand; er hätte wissen mögen, wie viele Stunden wohl vergehen würden, eh er es sich wieder auf dem Sessel bequem machen konnte.

Trotzdem war der Aufstieg, mit der milden Sonne im Rücken, ein Vergnügen. Sie folgten einem Pfad, der sich von Zeit zu Zeit verlor, dem aber Hilvar folgen konnte, auch wenn Alvin keine Spur mehr von ihm bemerkte. Er fragte Hilvar nach der Entstehung des Pfades und erfuhr, daß es auf diesen Bergen viele kleine Tiere gab — manche Einzelgänger, andere in primitiven Gemeinschaften lebend. Einige hatten sogar den Gebrauch von Werkzeugen und Feuer erlernt. Alvin kam gar nicht auf den Gedanken, daß solche Wesen unfreundlich gesinnt sein könnten.

Sie waren eine halbe Stunde gestiegen, als Alvin zum erstenmal ein schwaches, widerhallendes Donnern bemerkte. Er konnte seinen Ursprung nicht entdecken, weil es nicht aus einer bestimmten Richtung zu kommen schien. Es hörte nie auf und wurde langsam lauter, als sich die Landschaft um sie herum ausbreitete. Er hätte Hilvar nach der Ursache gefragt, aber er brauchte seinen Atem für wichtigere Dinge.

Alvin war gesundheitlich in bester Verfassung, ja, er war in seinem ganzen Leben noch nicht eine Stunde krank gewesen. Aber körperliches Wohlbefinden, so wichtig und notwendig es auch sein mochte, genügte nicht für die Aufgabe, vor der er jetzt stand. Er hatte den Körper, aber nicht die erforderliche Geschicklichkeit dazu. Hilvars leichte Schritte, sein müheloses Vorwärtsstreben, erfüllten Alvin mit Neid und der Entschlossenheit, nicht aufzugeben, solange er noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er wußte ganz genau, daß ihn Hilvar prüfen wollte, und nahm ihm das nicht übel. Es war ein gutmütiges Spiel, und er beteiligte sich daran, obwohl sich die Müdigkeit in seinen Beinen festsetzte.

Hilvar hatte Mitleid mit ihm, als zwei Drittel des Aufstiegs zurückgelegt waren; sie rasteten eine Weile, an eine westlich gerichtete Böschung gelehnt, und ließen sich von der warmen Sonne bescheinen. Das donnernde Geräusch ertönte jetzt sehr laut, und obwohl ihn Alvin danach fragte, weigerte sich Hilvar, eine Erklärung zu geben. Er sagte, er würde die Überraschung verderben, wenn Alvin wüßte, was ihn am Ende der Kletterei erwartete.

Sie liefen jetzt gegen die Sonne, aber glücklicherweise war der Rest des Weges nicht sehr steil. Die Bäume wurden lichter, als seien sie zu müde, gegen die Schwerkraft anzukämpfen; auf den letzten paar hundert Metern war der Boden mit kurzem, drahtigem Gras bedeckt, auf dem es sich sehr gut laufen ließ. Als der Gipfel in Sicht kam, sauste Hilvar in einem plötzlichen Energieausbruch die Steigung hinauf. Alvin beschloß, die Herausforderung nicht anzunehmen; es blieb ihm gar keine andere Wahl. Es genügte ihm, langsam und gleichmäßig vorwärtszustapfen und, als er Hilvar erreicht hatte, in befriedigter Erschöpfung neben ihm zu Boden zu sinken.

Erst als er seinen Atem wiedergewonnen hatte, konnte er die Ansicht genießen und den Ursprung des unaufhörlichen Donners sehen, der jetzt die Luft erfüllte. Der Grund vor ihm neigte sich steil nach unten — so steil, daß er bald zu einer senkrechten Wand wurde. Und hoch über diese Wand hinausspringend glitzerte ein mächtiges Band aus Wasser, das sich in den Raum hinauswölbte, um dreihundert Meter tiefer auf den Fels zu treffen. Dort verlor es sich in einem schimmernden Sprühnebel, während aus der Tiefe dieser trommelnde Donner stieg und mit hohlem Echo von den umliegenden Bergen zurückgeworfen wurde.

Der Wasserfall lag jetzt zum größten Teil im Schatten, aber das am Berg vorbeiflutende Sonnenlicht erleuchtete immer noch das weite Land und fügte den letzten Pinselstrich zum Zauber dieser Szene. Denn in leuchtender Schönheit zitterte über dem Grund des Wasserfalls der letzte Regenbogen der Erde.

Hilvar schwenkte seinen Arm in einer weiten Bewegung, die den ganzen Horizont umfaßte.

„Von hier aus“, sagte er mit lauter Stimme, um den Wasserfall zu übertönen, „kann man ganz Lys überblicken.“

Alvin glaubte es ihm. Im Norden erstreckte sich Kilometer um Kilometer der Wald, hier und dort von Lichtungen, Feldern und den wandernden Bändern vieler Flüsse unterbrochen. Irgendwo in diesem gewaltigen Panorama versteckt lag Airlee. Alvin bildete sich ein, den See aufblitzen zu sehen, an dem vorbei der Weg nach Lys führte, entschied aber, daß er sich getäuscht haben mußte. Noch weiter im Norden verloren sich Wald und Felder in einen gefleckten grünen Teppich, hier und dort von Hügeln hochgewölbt. Und jenseits davon lagen die Berge, die Lys vor der Wüste schützten wie eine ferne Wolkenbank.

Im Osten und Westen war der Ausblick wenig anders, aber im Süden schienen die großen Berge nur ein paar Kilometer entfernt zu sein. Alvin konnte sie ganz deutlich erkennen, und er begriff, daß sie sehr viel höher waren als der kleine Gipfel, auf dem er stand. Dazwischen lag Land, das viel wilder schien als das Gebiet, das sie durchfahren hatten. In einer undefinierbaren Weise schien es verlassen und leer, als hätte der Mensch hier viele, viele Jahre nicht mehr gelebt.

Hilvar beantwortete Alvins stumme Frage: „Früher war dieser Teil von Lys bewohnt“, sagte er. „Ich weiß nicht, warum man es aufgegeben hat; vielleicht ziehen wir eines Tages wieder hin. Jetzt leben nur die Tiere dort.“

In der Tat, nirgends war ein Zeichen menschlichen Lebens zu sehen — keine der Lichtungen und gebändigten Flüsse, die von der Gegenwart des Menschen zeugten. Nur an einer Stelle gab es einen Hinweis darauf, daß er jemals dort gelebt hatte, denn viele Kilometer entfernt hob sich eine einsame weiße Ruine wie ein gebrochener Stoßzahn über den Wald. Überall sonst herrschte der Dschungel.

Die Sonne sank hinter dem westlichen Wall von Lys. Einen atemlosen Augenblick schienen die fernen Berge von goldenen Flammen umzüngelt; dann ertrank das Land vor ihnen im Schatten, und die Nacht war gekommen.

„Wir hätten das vorher tun sollen“, sagte Hilvar, praktisch wie immer, als er die Ausrüstung auspackte. „In fünf Minuten wird es stockdunkel sein — und kalt dazu.“

Seltsame Geräte begannen das Gras zu bedecken. Ein dünner Dreifuß streckte einen Metallstab in die Höhe, der am anderen Ende ein kugelförmiges Gebilde trug. Hilvar schob den Stab in die Höhe, bis die Kugel über ihren Köpfen stand, und gab ein Gedankensignal, das Alvin nicht auffangen konnte. Im Nu war ihr kleines Lager mit Licht überflutet; die Dunkelheit zog sich zurück. Die Kugel spendete nicht nur Licht, sondern auch Wärme, denn Alvin konnte ein sanftes Glühen fühlen, das ihm bis ins Mark zu dringen schien.


Den Dreifuß in der einen, seinen Packen in der anderen Hand, ging Hilvar den Abhang hinunter, während Alvin hinuntereilte, um im Bereich des Lichtes zu bleiben. Hilvar schlug schließlich in einer kleinen Mulde, wenige hundert Meter unter dem Gipfel, das Lager auf und begann, den Rest seiner Ausrüstung aufzustellen.

Zuerst kam eine große Halbkugel aus starrem und nahezu unsichtbarem Material, die sie völlig umschloß und vor der kühlen Brise schützte, die jetzt über den Berg strich. Diese Kuppel schien von einem kleinen rechteckigen Kasten erzeugt zu werden, den Hilvar auf den Boden stellte und dann vollkommen unbeachtet ließ, ja, er türmte sogar die anderen Ausrüstungsgegenstände darauf. Vielleicht erzeugte der Kasten außerdem die gemütlichen, halbdurchsichtigen Sofas, auf denen sich Alvin so gerne ausruhte.

Die Mahlzeit, die Hilvar aus einem anderen seiner Geräte produzierte, war die erste synthetische, die Alvin seit seiner Ankunft in Lys gegessen hatte. Im ganzen gesehen, gab Alvin synthetischer Nahrung den Vorzug, weil ihm die Zubereitung der anderen Art unhygienisch erschien.

Sie setzten sich zum Abendessen, während die Sterne herauskamen.

Als sie gegessen hatten, war es jenseits ihres Lichtkreises völlig dunkel, und am Rand des Lichtes konnte Alvin verschwommene Umrisse erkennen, als die Waldtiere aus ihren Verstecken krochen. Von Zeit zu Zeit sah er den Widerschein des Lichts aufblitzen, wenn ihn helle Augen anstarrten, aber die Tiere kamen nicht näher.

Es war sehr friedlich, und Alvin fühlte sich vollkommen zufrieden. Eine Weile lagen sie auf ihren Sofas und sprachen über die Dinge, die sie gesehen hatten, das Geheimnis, das sie beide umschloß, und die vielen Einzelheiten, in denen sich ihre beiden Kulturen unterschieden. Hilvar war vom Wunder der Ewigkeitsanlagen fasziniert, die Diaspar dem Griff der Zeit entzogen hatten, und Alvin stellte fest, daß. einige seiner Fragen sehr schwer zu beantworten waren.

„Was ich nicht verstehe“, sagte Hilvar, „ist, wie die Planer Diaspars sicherstellten, daß mit den Gedächtnisanlagen nie etwas schiefgehen konnte. Du sagst, daß die Informationen über die Stadt und die Menschen, die darin leben, als Strukturen elektrischer Impulse in Kristallen aufbewahrt werden. Nun, Kristalle halten ewig — aber was ist mit den Stromkreisen?“

„Ich habe Khedron die gleiche Frage gestellt, und er sagte mir, daß die Gedächtnisanlagen in dreifacher Ausfertigung vorhanden sind. Jede der drei Anlagen kann die Stadt erhalten, und wenn bei einer davon eine Störung auftritt, wird sie von den anderen beiden sofort korrigiert. Nur wenn die gleiche Störung zur gleichen Zeit bei zwei Anlagen auftreten würde, könnte sich ein dauernder Schaden ergeben — und die Wahrscheinlichkeit dafür ist unendlich klein.“

„Und wie wird die Beziehung zwischen den in den Gedächtnisanlagen gespeicherten Strukturen und dem wirklichen Gefüge der Stadt aufrechterhalten? Zwischen dem Plan sozusagen und dem Objekt, das er beschreibt?“

Hier versagten Alvins Kenntnisse. Er wußte, daß die Antwort mit Technologien zu tun hatte, die auf der Manipulation des Raumes beruhten — aber wie man ein Atom starr an einer Stelle fixieren konnte, entsprechend den an anderer Stelle gespeicherten Angaben, vermochte auch er nicht zu erklären.

In einem plötzlichen Einfall deutete er auf die unsichtbare Kuppel, die sie vor der Nacht schützte.

„Sag mir, wie dieses Dach von dem Kasten am Boden erzeugt wird“, antwortete er, „und dann erkläre ich dir, wie die Anlagen funktionieren.“

Hilvar lachte. „Ich glaube, das ist ein guter Vergleich. Du müßtest einen unserer Feldexperten fragen, wenn du das wissen willst. Ich habe jedenfalls keine Ahnung davon.“

Diese Antwort machte Alvin nachdenklich. Es gab also noch heute Leute in Lys, die verstanden, wie ihre Maschinen funktionierten; das war mehr, als man von Diaspar sagen konnte.

So unterhielten sie sich und diskutierten, bis Hilvar sagte: „Ich bin müde.

Was ist mit dir, wirst du schlafen?“ Alvin rieb seine müden Arme.

„Ich möchte gerne“, gestand er, „aber ich weiß nicht, ob es geht. Es kommt mir immer noch als seltsamer Brauch vor.“

„Es ist weit mehr als ein Brauch“, lächelte Hilvar. „Ich habe gehört, daß es einmal für jeden Menschen absolut notwendig war. Wir selbst schlafen mindestens einmal am Tag, wenn auch nur ein paar Stunden. Während dieser Zeit erfrischen sich Körper und Geist. Schläft man denn in Diaspar überhaupt nie?“

„Nur bei ganz seltenen Gelegenheiten“, sagte Alvin. „Jeserac, mein Lehrer, hat es ein- oder zweimal getan, nachdem er besonders außergewöhnliche geistige Anstrengungen vollbracht hatte. Ein gutentwickelter Körper sollte solche Ruheperioden nicht nötig haben; wir konnten schon vor Millionen Jahren darauf verzichten.“

Schon als er diese prahlerischen Worte sprach, strafte er sie Lügen. Er fühlte eine Müdigkeit wie nie zuvor; sie schien sich von seinen Schenkeln über den ganzen Körper auszubreiten. An diesem Gefühl war nichts Unangenehmes, ganz im Gegenteil. Hilvar beobachtete ihn mit amüsiertem Lächeln, und Alvin fragte sich, ob sein Begleiter seine geistigen Kräfte an ihm erprobte. Wenn er das wirklich tat, so hatte er nicht das geringste dagegen einzuwenden.

Das von der Kugel herabflutende Licht schmolz zu einem schwachen Glühen, aber die Wärme blieb. Beim letzten Flackern des Lichts registrierte Alvins Gehirn noch eine seltsame Tatsache, über die er am nächsten Morgen Aufschluß verlangen wollte.

Hilvar hatte seine Kleidung abgelegt, und Alvin bemerkte mit Erstaunen eine seltsame kleine Vertiefung in Hilvars Bauch.

Als er sich einige Tage später daran erinnerte, bedurfte sie einiger Erklärung. Zur Erklärung der Funktion des Nabels brauchte Hilvar viele tausend Worte und einige Zeichnungen.

Und sowohl er als auch Alvin hatten einen großen Schritt vorwärts im Verständnis der Grundlage ihrer Kulturen getan.

12

Mitten in der Nacht wachte Alvin auf. Irgend etwas hatte ihn gestört, ein leises Geräusch, das trotz des unaufhörlichen Donners des Wasserfalls zu ihm gedrungen war. Er richtete sich auf und starrte angestrengt in das Dunkel, während er mit angehaltenem Atem dem trommelnden Brausen des Wassers und den sanfteren, flüchtigeren Geräuschen der nächtlichen Kreaturen lauschte.

Nichts war zu sehen. Das Sternenlicht glomm zu schwach, um die weite Landschaft Hunderte von Metern unter ihm zu erhellen; nur eine gezackte dunklere Linie, die Sterne verdunkelnd, deutete auf das Gebirge am südlichen Horizont. In der Dunkelheit neben ihm rührte sich Hilvar.

„Was ist los?“ flüsterte er.

„Ich habe etwas gehört.“

„Was denn?“

„Ich weiß nicht recht. Vielleicht war es nur Einbildung.“

Schweigend starrten die beiden in die Nacht hinaus. Dann packte Hilvar Alvin plötzlich beim Arm. „Schau!“ flüsterte er.

Weit im Süden flimmerte ein einsamer Lichtpunkt, zu niedrig am Himmel für einen Stern. Er war strahlend weiß mit violettem Rand, und während sie ihn anstarrten, leuchtete er immer heller, bis die Augen den grellen Lichtkreis nicht mehr ertragen konnten. Dann explodierte er — und es schien, als sei der Blitz unter dem Rand der Welt eingeschlagen. Einen kurzen Augenblick zeichnete sich Gebirge und Land gegen das Dunkel der Nacht ab. Viel später drang das Echo einer weit entfernten Explosion zu ihnen, und in den Wäldern unten rührte sich ein jäher Wind zwischen den Bäumen. Er legte sich schnell, und nacheinander erschienen die Sterne wieder am Himmel.

Zum zweitenmal in seinem Leben fühlte Alvin Angst. Sie war nicht so persönlich und drohend wie in der Höhle der Fließstraßen, als er die Entscheidung gefällt hatte, die ihn nach Lys führte. Vielleicht war es eher Scheu als Angst; er sah dem Unbekannten ins Gesicht, und fast schien es, als habe er schon gespürt, daß da draußen, jenseits der Berge, etwas auf ihn wartete. „Was war das?“ flüsterte er schließlich.

„Ich will es festzustellen versuchen“, sagte Hilvar und schwieg wieder.

Alvin erriet sein Vorhaben und störte die stumme Suche seines Freundes nicht.

Bald darauf seufzte Hilvar enttäuscht. „Alles schläft“, sagte er. „Niemand konnte mir etwas sagen. Wir müssen bis zum Morgen warten, wenn ich nicht einen meiner Freunde wecke. Und das möchte ich vermeiden, solange es nicht besonders wichtig ist.“

Alvin fragte sich, was Hilvar als wirklich wichtige Angelegenheit betrachtete. Er wollte gerade ein wenig sarkastisch bemerken, daß es sich wegen ihres Erlebnisses wohl lohnen dürfte, jemand aus dem Schlaf zu reißen. Ehe er den Vorschlag machen konnte, begann Hilvar wieder zu sprechen.

„Es ist mir eben erst eingefallen“, sagte er entschuldigend. „Das war lange vor meiner Zeit, und ich bin mir auch über die Richtung nicht ganz im klaren. Aber das muß Shalmirane gewesen sein.“ „Shalmirane! Das existiert noch?“

„Ja. Ich hatte es fast vergessen. Seranis erzählte mir einmal, daß die Festung in diesen Bergen liegt. Natürlich ist sie seit vielen Jahrtausenden eine Ruine, aber vielleicht lebt dort noch jemand.“

Shalmirane! Für diese Kinder zweier Rassen, in Geschichte und Kultur so unterschieden, war das wirklich ein magischer Name. In der ganzen langen Geschichte der Erde hatte es kein größeres Heldenlied gegeben, als die Verteidigung Shalmiranes gegen einen Eindringling, der das ganze Universum erobert hatte. Obwohl sich die Tatsachen im Nebel der Frühzeit verloren, hatte man die Legenden nie vergessen.

Hilvars Stimme kam wieder aus der Dunkelheit. „Die Leute im Süden könnten uns mehr darüber sagen. Ich habe dort einige Freunde; morgen früh werde ich sie rufen.“

Alvin hörte ihn kaum; er war tief in seine Gedanken versunken und versuchte, sich an alles zu erinnern, was er je über Shalmirane gehört hatte.

Es war wenig genug; nach dieser gewaltigen Zeitspanne konnte niemand mehr Wahrheit von Legende unterscheiden. Sicher war nur, daß die Schlacht von Shalmirane das Ende der Eroberungen des Menschen und den Beginn seines langen Abstiegs kennzeichnete.

In diesen Bergen, dachte Alvin, könnten die Antworten auf all die Fragen liegen, die ihn seit so vielen Jahren quälten.

„Wie lange würden wir brauchen, um die Festung zu erreichen?“ sagte er zu Hilvar.

„Ich bin noch nie dort gewesen, aber es ist viel weiter entfernt, als ich eigentlich gehen wollte. Ich glaube nicht, daß wir es in einem Tag schaffen würden.“

„Können wir nicht den Bodengleiter benützen?“ „Nein. Der Weg führt durch die Berge, und dort können keine Gleiter fahren.“


Alvin dachte darüber nach. Er war müde, seine Füße wund, und die Muskeln seiner Schenkel schmerzten noch von der ungewohnten Anstrengung. Alles drängte ihn, die Sache auf ein andermal zu verschieben. Aber vielleicht gab es kein andermal…

Unter dem schwachen Leuchten der verblassenden Sterne, von denen viele seit dem Bau Shalmiranes untergegangen waren, rang Alvin mit seinen Gedanken und gelangte schließlich zu einer Entscheidung. Es hatte sich nichts verändert; die Berge übernahmen wieder die Wacht über das schlafende Land. Aber ein Wendepunkt der Geschichte war gekommen und vergangen; die Menschheit befand sich auf dem Weg zu einer seltsamen, neuen Zukunft. Alvin und Hilvar schliefen in dieser Nacht nicht mehr; beim ersten Zeichen der Morgendämmerung brachen sie ihr Lager ab. Der Hügel war mit Tau übersät, und Alvin bewunderte die glitzernde Pracht, die jedes Blatt und jeden Halm niederdrückte. Das Rauschen im nassen Gras, wenn er hindurchschritt, faszinierte ihn, und beim Blick zurück sah er seine Spur wie ein dunkles Band im schimmernden Boden.

Die Sonne hatte sich gerade über den östlichen Wall von Lys erhoben, als sie den Waldrand erreichten. Hier herrschte rohe Natur. Sogar Hilvar schien unter den gigantischen Bäumen verloren, die das Sonnenlicht blockierten und riesige Schatten auf den Dschungelboden warfen. Glücklicherweise strömte der Fluß aus dem Wasserfall in einer geraden, also kaum natürlichen Linie nach Süden, so daß sie sich am Ufer entlang halten und das dichtere Unterholz vermeiden konnten. Hilvar hatte Mühe, Krif zu beaufsichtigen, der gelegentlich im Dschungel verschwand oder über die Wasserfläche dahinraste. Selbst Alvin, dem alles neu war, empfand den seltsamen Bann dieses Urwaldes, der den kleineren, kultivierteren Wäldern im nördlichen Lys fehlte. Kaum ein Baum glich dem anderen; die meisten befanden sich in verschiedenen Stadien der Rückentwicklung, manche sogar waren im Laufe der Zeiten zu ihren ursprünglichen, natürlichen Formen zurückgekehrt. Viele stammten offensichtlich überhaupt nicht von der Erde — wahrscheinlich nicht einmal aus dem Sonnensystem. Wie Wachtposten überragten Riesenmammutbäume, hundert bis hundertfünfzig Meter hoch, die übrigen Stämme.

Der Fluß wurde breiter; immer wieder öffnete er sich zu kleinen Seen mit winzigen Inseln. Es gab Insekten hier, leuchtend farbige Kreaturen, die über dem Wasser tanzten. Einmal sauste Krif trotz Hilvars Zurufen davon, um sich zu seinen entfernten Verwandten zu gesellen. Er verschwand sofort in einer taumelnden Wolke aus blitzenden Flügeln, und zorniges Summen erfüllte die Luft. Einen Augenblick später brach die Wolke auseinander, und Krif kam zurückgeschossen. Danach blieb er nahe bei Hilvar und unternahm keine Ausflüge mehr.


Gegen Abend konnten sie gelegentliche Blicke auf das Gebirge werfen.

Der Fluß, der ihnen so treu als Führer gedient hatte, strömte jetzt träge dahin, als nähere er sich dem Ende seiner Reise. Aber es war klar, daß sie die Berge vor dem Anbruch der Nacht nicht mehr erreichen konnten; lange vor dem Sonnenuntergang wurde der Urwald so dunkel, daß an ein Weitergehen nicht zu denken war. Die großen Bäume lagen im Schatten; durch die Blätter fuhr ein kalter Wind. Alvin und Hilvar ließen sich für die Nacht neben einer riesigen Sequoia nieder, deren oberste Äste noch im Sonnenlicht glänzten.

Als die verborgene Sonne schließlich unterging, verweilte das Licht noch auf dem tanzenden Wasser. Die beiden Forschungsreisenden — denn als solche betrachteten sie sich jetzt, und das mit Recht — lagen in der Düsternis, starrten auf den Fluß und dachten über alles nach, was sie gesehen hatten. Bald fühlte Alvin wieder diese herrliche Schläfrigkeit, die er in der vergangenen Nacht zum erstenmal erlebt hatte, und er überließ sich gern dem Schlummer. Man brauchte ihn nicht in dem mühelosen Leben Diaspars, aber hier begrüßte er ihn. Im letzten Augenblick vor dem Schwinden des Bewußtseins fragte er sich, wer wohl zuletzt diesen Weg zurückgelegt hatte.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie den Wald hinter sich ließen und endlich vor den Gebirgsmauern von Lys standen. Vor ihnen stieg der Grund steil in Wellen aus rauhem Fels empor. Hier endete der Fluß ebenso großartig, wie er begonnen hatte, denn der Boden öffnete sich vor ihm, und er rauschte donnernd in die Tiefe. Alvin hätte wissen mögen, was mit ihm geschah und durch welche unterirdischen Höhlen er seinen Weg nahm, ehe er wieder ans Tageslicht trat. Vielleicht existierten auch die Meere noch, tief unten in der ewigen Dunkelheit, und dieser alte Fluß hörte immer noch den Ruf, der ihn zum Meer zog.

Eine Weile starrte Hilvar auf den Strudel und das einsame Land ringsumher. Dann deutete er auf eine Lücke zwischen den Bergen.

„Shalmirane liegt in dieser Richtung“, sagte er zuversichtlich. Alvin fragte ihn nicht, woher er das wußte; er nahm an, daß Hilvar mit einem viele Kilometer entfernten Freund in Verbindung getreten war und die entsprechende Auskunft erhalten hatte.

Sie brauchten nicht lange, um diese Lücke zu erreichen, und nach ihrer Überwindung standen sie am Fuß einer eigenartigen Hochebene mit sanft ansteigenden Hängen. Alvin fühlte keine Müdigkeit mehr und keine Angst — nur gespannte Erwartung und eine Vorahnung von nahenden Abenteuern.

Als sie sich der Anhöhe näherten, veränderte sich plötzlich der Boden.

Die unteren Hänge hatten aus porösem Vulkangestein bestanden, hier und dort in großen Schlackenhügeln aufgehäuft. Jetzt verwandelte sich die Oberfläche plötzlich in harte, glasige Platten, glatt und gefährlich, als sei der Fels einst in geschmolzenen Strömen am Berg hinabgeflossen.

Der Rand der Hochebene lag fast vor ihren Füßen. Hilvar erreichte ihn zuerst; wenige Sekunden später von Alvin eingeholt, der sprachlos neben ihm stehenblieb. Denn sie standen nicht vor einer Hochebene, wie sie erwartet hatten, sondern am Rand einer riesigen Mulde mit einer Tiefe von achthundert Metern und einem Durchmesser von fünf Kilometern.

Vor ihnen fiel der Boden steil nach unten, wurde am Grund der Mulde eben und stieg, steiler und steiler werdend, wieder zum gegenüberliegenden Rand empor. In der untersten Schale dieser Mulde lag ein runder See, dessen Oberfläche unaufhörlich bebte.

Obwohl sie in vollem Sonnenlicht lag, war die gesamte Senke von kohlschwarzer Farbe. Alvin und Hilvar wagten nicht einmal zu raten, aus welchem Material dieser Riesenkrater bestand, aber er war so schwarz wie der Fels einer Welt ohne Sonne. Das war noch nicht alles: Unter ihren Füßen und um den ganzen Krater verlief ein fugenloses, fast hundert Meter breites Metallband, vom Lauf der Zeit getrübt, aber ohne jedes Anzeichen des Verfalls.

Als sich ihre Augen an die unirdische Szenerie gewöhnten, begriffen Alvin und Hilvar, daß die Schwärze der Mulde nicht so allgemein war, wie sie ursprünglich gedacht hatten. Hier und dort flackerten winzige Lichter in den schwarzen Wänden auf. Sie erschienen aufs Geratewohl, verschwanden, so schnell wie sie gekommen waren, wie der Widerschein von Sternen auf einem sturmgepeitschten See.

„Wunderbar!“ rief Alvin.. „Aber was ist es?“

„Sieht aus wie ein Reflektor.“

„Aber es ist so schwarz!“

„Nur für unsere Augen. Wir wissen nicht, welche Strahlung sie verwendeten.“

„Aber sicher muß doch noch mehr vorhanden sein! Wo ist die Festung?“

Hilvar deutete auf den See.

„Sieh genau hin“, sagte er.

Alvin starrte durch die zitternde Oberfläche des Sees und versuchte, die in seinen Tiefen verborgenen Geheimnisse zu enträtseln. Anfangs konnte er nichts sehen; dann erkannte er an den seichten Stellen am Ufer ein schwaches Netzmuster aus Licht und Schatten. Er konnte das Muster bis zum Mittelpunkt des Sees verfolgen, bis das tiefe Wasser alle Einzelheiten verbarg.


Der dunkle See hatte die Festung verschlungen. Dort unten lagen die Ruinen einst mächtiger Gebäude, gestürzt von der Zeit. Aber nicht alle waren untergegangen, denn an der anderen Seite des Kraters bemerkte Alvin jetzt Steinhaufen und große Blöcke, die einst einen massiven Wall gebildet haben mußten. Das Wasser umspielte sie, aber es war noch nicht so hoch gestiegen, um sie ganz zu bedecken.

„Wir umgehen den See“, sagte Hilvar leise, als habe die majestätische Einöde Scheu in seine Seele gesenkt. „Vielleicht finden wir etwas in den Ruinen.“

Auf den ersten paar hundert Metern war die Kraterwand so steil und glatt, daß man sich kaum aufrecht halten konnte, aber nach einer Weile erreichten sie sanftere Hänge, auf denen sie ohne Schwierigkeit vorwärtskamen. Inder Nähe des Seeufers wurde die glatte Schwärze des Wasserspiegels von einer dünnen Schicht Erde verdeckt, die von den Winden herbeigetragen sein mußte.

Fünfhundert Meter entfernt türmten sich titanische Steinblöcke aufeinander, wie verstreutes Spielzeug eines kindlichen Riesen. Hier war ein Teilstück der massiven Mauer erkennbar; dort bezeichneten zwei gemeißelte Obelisken die Stelle, an der sich einst ein mächtiger Eingang befunden hatte. Überall wuchsen Moos und Kriechpflanzen und winzige, verkümmerte Bäume. Selbst der Wind wagte sich kaum zu rühren.

So stießen Alvin und Hilvar auf die Ruinen von Shalmirane. Gegen diese Mauern hatten Kräfte, die eine Welt zerstören konnten, Flammen und Donner geschleudert und waren zurückgeschlagen worden. Einst hatte dieser friedliche Himmel mit Feuer aus dem Inneren vieler Sonnen gebrannt, und die Berge von Lys mußten sich unter dem Zorn ihrer Herren wie lebende Wesen geduckt haben.

Nie hatte jemand Shalmirane erobert. Aber jetzt war die Festung, die unüberwindliche Festung, doch gefallen — gefangen und zerstört von den geduldigen Ranken des Efeus, den Generationen blind wühlender Würmer und dem langsam steigenden Wasser des Sees.


Überwältigt von dieser Majestät, gingen Alvin und Hilvar schweigend auf das kolossale Wrack zu. Sie kamen in den Schatten einer verfallenen Mauer und betraten eine Schlucht, wo die Felsberge auseinandergerissen worden waren. Vor ihnen lag der See, und kurz darauf standen sie am dunklen Wasser. Am schmalen Ufer brachen sich unaufhörlich winzige Wellen.

Hilvar sprach als erster, und seine Stimme klang ein wenig unsicher. Alvin sah ihn überrascht an.


„Das verstehe ich nicht“, sagte Hilvar langsam. „Es weht kein Wind; was also verursacht die Wellen? Das Wasser müßte eigentlich vollkommen ruhig sein.“

Ehe Alvin eine Antwort einfiel, kniete Hilvar nieder, drehte den Kopf auf die Seite und tauchte sein rechtes Ohr unter Wasser. Alvin fragte sich, was er in einer so lächerlichen Stellung zu entdecken hoffte; dann wurde ihm klar, daß er horchte. Mit Widerwillen — das Wasser sah keineswegs einladend aus — folgte er Hilvars Beispiel.

Der erste Kälteschock hielt nur eine Sekunde an; als er vergangen war, hörte er schwach, aber deutlich, ein gleichmäßiges, rhythmisches Pochen. Es schien, als könnte er, weit unten in den Tiefen des Sees, den Schlag eines Riesenherzens belauschen.

Sie schüttelten das Wasser aus dem Haar und sahen sich stumm an.

Keiner wollte aussprechen, was sie dachten — daß der See lebte.

„Es wäre am besten“, sagte Hilvar, „wenn wir in diesen Ruinen suchten und uns vom See fernhielten.“

„Glaubst du, daß da unten irgend etwas lebt?“ fragte Alvin und deutete auf die rätselhaften Wellen. „Könnte es gefährlich sein?“

„Nichts ist gefährlich, was Verstand besitzt“, erwiderte Hilvar.

Stimmt das? dachte Alvin. Und was ist dann mit den Invasoren? „Ich kann keine Gedanken entdecken, aber ich glaube, wir sind nicht alleine.

Es ist sehr seltsam.“

Sie gingen langsam zu den Ruinen der Festung zurück; jeder hörte in Gedanken diesen gleichmäßigen, gedämpften Pulsschlag. Es schien Alvin, als häufe sich Geheimnis auf Geheimnis, als entferne er sich trotz seiner Bemühungen immer weiter vom Verständnis der Wahrheiten, die er suchte.

Es hatte nicht den Anschein, als könnten ihnen die Ruinen etwas verraten, aber sie suchten sorgfältig unter den Schutthaufen und den großen Steinblöcken. Hier lagen vielleicht die Gräber der verschütteten Maschinen — jener Maschinen, die vor so langer Zeit ihren Dienst geleistet hatten. Sie wären jetzt unbrauchbar, dachte Alvin, wenn die Invasoren zurückkehrten. Warum waren sie nie zurückgekommen? Aber das war ein weiteres Geheimnis: Er hatte genug Rätsel zu lösen und brauchte nicht nach neuen zu suchen.

Wenige Meter vom See entfernt fanden sie einen kleinen freien Platz. Er war mit Unkraut bewachsen gewesen, das gewaltige Hitze geschwärzt und verkohlt hatte. Wenn sie darauf traten, wurden ihre Füße mit schwarzen Streifen beschmiert. Im Mittelpunkt des freien Platzes stand ein metallener Dreifuß, fest im Boden verankert und einen runden Ring tragend, dessen Achse schräg geneigt war, so daß er auf einen Punkt in halber Höhe des Himmels deutete. Zuerst schien es, als schlösse der Ring nur Luft ein; als Alvin aber näher hinsah, bemerkte er, daß der Ring mit einem dünnen, kaum sichtbaren Nebel ausgefüllt war — dem Glimmen von Energie. Ohne Zweifel hatte dieser Mechanismus die Lichtexplosion hervorgebracht, die sie nach Shalmirane lockte.

Sie wagten sich nicht näher, sondern betrachteten die Maschine aus sicherer Distanz. Sie waren auf der richtigen Spur, dachte Alvin; jetzt blieb nur noch zu entdecken, wer oder was diesen Apparat hierhergesetzt hatte und worin seine Absicht bestand. Dieser gekippte Ring war ganz deutlich in den Weltraum gerichtet. Hatte es sich bei dem Blitz in der vergangenen Nacht um ein Signal gehandelt? Ein Gedanke mit atemberaubenden Folgerungen.

„Alvin“, sagte Hilvar plötzlich in ruhigem, aber dringendem Ton, „wir haben Besucher.“

Alvin drehte sich blitzschnell um und starrte in ein Dreieck lidloser Augen. Das war zumindest sein erster Eindruck; dann sah er hinter den starrenden Augen die Umrisse einer kleinen, aber komplizierten Maschine. Sie schwebte eineinhalb Meter über dem Boden und glich nicht den Robotern, die er bisher gesehen hatte.

Sobald die erste Überraschung abgeklungen war, fühlte er sich vollkommen Herr der Lage. Er hatte sein Leben lang Befehle an Maschinen erteilt, und die Tatsache, daß es sich hier um eine fremdartige Konstruktion handelte, war nicht von Wichtigkeit. Im übrigen hatte er nie mehr als ein paar Prozent der Roboter gesehen, die in Diaspar für seine täglichen Bedürfnisse sorgten. „Kannst du sprechen?“ fragte er.

Stille.

„Steuert dich jemand?“

Immer noch Schweigen.

„Geh fort. Komm her. Auf. Ab.“

Keiner der üblichen Steuerungsbefehle zeigte Wirkung. Die Maschine blieb untätig. Sie war entweder zu unintelligent, um ihn zu verstehen, oder sie war sogar sehr intelligent und mit eigner Willenskraft ausgestattet. In diesem Fall mußte er sie als gleichberechtigt behandeln. Selbst dann konnte er sie unterschätzen — aber sie würde es ihm nicht nachtragen, denn unter Dünkel litten Roboter selten.

Hilvar mußte über Alvins offensichtliche Enttäuschung lachen. Er wollte eben vorschlagen, ihm die Aufgabe der Verständigung zu übertragen, als die Worte auf seinen Lippen erstarben. Die Stille Shalmiranes wurde von einem unheimlichen und unmißverständlichen Geräusch durchbrochen — dem gurgelnden Planschen eines großen Körpers, der sich aus dem Wasser erhob.

Zum zweitenmal nach dem Verlassen Diaspars wünschte Alvin, zu Hause zu sein. Dann dachte er daran, daß das nicht die richtige Einstellung für Abenteurer war, und er ging langsam, aber entschlossen auf den See zu.

Das Wesen, das aus dem dunklen Wasser auftauchte, schien eine ungeheure Parodie in lebender Materie auf den Roboter, der sie immer noch stumm beobachtete. Die gleiche Anordnung der Augen konnte kein Zufall sein; selbst das Gefüge von Greifarmen und kleinen, gelenkigen Gliedern, kehrte, grob vereinfacht, wieder. Darüber hinaus endete jedoch die Ähnlichkeit. Der Roboter besaß nicht den Besatz aus feinen, fedrigen Fühlern, die das Wasser in gleichmäßigem Rhythmus schlugen, die vielen stämmigen Beine, auf denen das Wesen zum Ufer wankte, oder die Lüftungseinlässe, wenn sie das waren, die in der dünnen Luft stoßweise keuchten.

Der größte Teil des Körpers blieb im Wasser; nur die ersten zehn Beine hoben sich in ein ihnen anscheinend fremdes Element. Das ganze Wesen war etwa fünfzehn Meter lang, und auch eine Person ohne Biologiekenntnisse hätte bemerkt, daß mit ihm grundsätzlich etwas nicht stimmte. Es wirkte außergewöhnlich improvisiert und unüberlegt entworfen, als seien seine Bestandteile ohne besondere Voraussicht erzeugt und dann wahllos zusammengewürfelt worden.

Trotz seiner Größe und der ursprünglichen Zweifel spürten weder Alvin noch Hilvar die geringste Nervosität, als sie den Seebewohner deutlich sahen. Das Wesen besaß eine ansprechende Plumpheit; man konnte es nicht als ernsthafte Bedrohung betrachten. Die Menschheit hatte längst ihren kindlichen Schrecken vor dem nur Fremdartigen in der äußeren Erscheinung verloren. Diese Furcht hatte die erste Berührung mit freundlich gesinnten außerirdischen Rassen nicht überlebt.

„Laß mich das machen“, sagte Hilvar ruhig. „Ich bin gewöhnt, mit Tieren umzugehen.“

„Aber das ist kein Tier“, flüsterte Alvin. „Ich bin sicher, daß es intelligent ist und daß ihm dieser Roboter gehört.“

„Vielleicht ist es eher umgekehrt. Auf jeden Fall muß seine Mentalität sehr eigenartig sein. Ich kann noch kein Zeichen von Gedanken entdekken. Nanu — was ist das?“

Das Ungeheuer hatte sich nicht von seiner Stellung am Rand des Wassers gerührt. Aber in der Mitte des Augendreiecks bildete sich eine halbdurchsichtige Membran — eine Membran, die pulsierte und zitterte und kurz darauf hörbare Töne von sich zu geben begann. Es war ein tiefes, klingendes Brummen ohne verständliche Worte, obwohl man deutlich erkennen konnte, daß das Wesen zu sprechen versuchte.

Einige Minuten lang mühte sich das Ungeheuer vergeblich; dann, ganz plötzlich, schien es zu begreifen, daß es einen Fehler gemacht hatte. Die Membran verkleinerte sich, und die daraus hervordringenden Laute stiegen einige Oktaven, bis sie den Bereich der normalen Sprache erreichten. Erkennbare Worte begannen sich zu formen, obwohl sie noch immer von unverständlichem Zeug unterbrochen wurden. Es schien, als erinnere sich das Wesen an einen Wortschatz, den es vor langer Zeit besessen, aber viele Jahre nicht benützt hatte.

Hilvar versuchte, ihm zu helfen.

„Wir können dich jetzt verstehen“, sagte er langsam und deutlich. „Können wir dir helfen? Wir haben das Licht gesehen. Es hat uns von Lys hierhergebracht.“

Bei dem Wort ›Lys‹ schien das Wesen zusammenzusinken. „Lys“, wiederholte es; mit dem ›s‹ hatte es einige Schwierigkeiten, so daß es wie ›Lyd‹ klang. „Immer von Lys. Sonst kommt niemand hierher. Wir rufen die Großen, aber sie hören nicht.“

„Wer sind die Großen?“ fragte Alvin begierig. Die zarten, ständig in Bewegung befindlichen Fühler winkten kurz zum Himmel.

„Die Großen“, sagte das Wesen. „Von den Planeten der ewigen Tage.

Sie werden kommen. Der Meister hat es uns versprochen.“

Das schien die Sache keineswegs klarer zu machen. Ehe Alvin sein Kreuzverhör fortsetzen konnte, mischte sich Hilvar wieder ein. Seine Befragung war so geduldig, so verstehend und doch so tiefschürfend, daß sich Alvin hütete, ihn zu unterbrechen. Er wollte nicht gerne zugeben, daß ihn Hilvar an Intelligenz übertraf, aber ohne Zweifel erstreckte sich sein Talent im Umgang mit Tieren sogar auf dieses phantastische Wesen. Ja, noch mehr, es schien auf ihn einzugehen. Im Verlauf des Gesprächs wurde seine Sprache deutlicher, und wo es am Anfang bis zur Grobheit kurz gewesen war, gab es jetzt ausführliche Antworten und Informationen aus eigenem Antrieb.

Alvin verlor jeden Sinn für die Zeit, als Hilvar die unglaubliche Geschichte zusammenfügte. Sie konnten nicht die ganze Wahrheit entdecken; es blieb endloser Raum für Mutmaßungen und Diskussionen. Während das Wesen Hilvars Fragen immer bereitwilliger beantwortete, begann sich seine Erscheinung zu verändern. Es rutschte in den See zurück, und die stämmigen Beine, die es getragen hatten, schienen in den Körper einzuschmelzen. Kurz darauf ging eine noch erstaunlichere Veränderung vor sich; die drei großen Augen schlossen sich, schrumpften zu Stecknadelgröße zusammen und verschwanden. Es war, als habe das Wesen alles gesehen, was ihm im Augenblick wichtig erschien, und habe daher keine Verwendung mehr für Augen.

Andere und feinere Änderungen gingen unaufhörlich vor sich, und schließlich blieb nahezu nur noch die vibrierende Membran über dem Wasserspiegel. Ohne Zweifel würde auch sie in der gestaltlosen Masse aus Protoplasma aufgelöst werden, wenn sie nicht mehr gebraucht wurde.

Alvin vermochte kaum zu glauben, daß in einer derart unstabilen Form Intelligenz hausen konnte — und die größte Überraschung sollte erst noch kommen. Obwohl deutlich wurde, daß dieses Wesen nicht irdischen Ursprungs war, dauerte es einige Zeit, bis selbst Hilvar trotz seiner größeren Biologiekenntnisse begriff, welche Art von Organismus sie vor sich hatten. Es war nicht eine einzige Wesenheit; während des ganzen Gesprächs bezeichnete es sich ständig als ›wir‹. In der Tat, es war nicht weniger als eine Kolonie unabhängiger Wesen, von unbekannten Kräften organisiert und kontrolliert.

In grauer Vorzeit hatte es einst in den Meeren der Erde Tiere ähnlicher Art gegeben — die Meduse zum Beispiel. Einige dieser Tiere waren sehr groß gewesen und hatten ihre durchscheinenden Körper und Wälder aus stacheligen Greifarmen über zwanzig, dreißig Meter ausgebreitet. Aber keines davon hatte je den kleinsten Schimmer von Intelligenz gezeigt, jenseits der Fähigkeit, auf einfache Reize zu reagieren.

Hier lag jedoch eindeutig Intelligenz vor, wenn auch abnehmende, zerfallende Intelligenz. Nie sollte Alvin diese unirdische Zusammenkunft vergessen, als Hilvar die Geschichte vom Meister Stück für Stück aneinanderfügte, während der seine Gestalt wechselnde Polyp nach schwierigen Worten suchte, der schwarze See an den Ruinen von Shalmirane Wellen schlug und sie der dreiäugige Roboter mit unverwandtem Blick beobachtete.

13

Der Meister war im Chaos der Jahrhunderte des Übergangs zur Erde gekommen, als das Galaktische Imperium auseinanderfiel, die Verbindung zwischen den Sternen aber noch nicht völlig abgerissen war. Er war menschlicher Abstammung gewesen, obgleich er von einem Planeten kam, der eine der Sieben Sonnen umkreiste. Als junger Mann mußte er aus seiner Heimat flüchten, und die Erinnerung daran verfolgte ihn sein ganzes Leben. Die Schuld an seiner Vertreibung maß er rachsüchtigen Feinden zu, aber in Wirklichkeit litt er an einer unheilbaren Krankheit, nämlich an religiösem Fanatismus.

Während des ersten Teils der menschlichen Geschichte hatte die Menschheit viele Seher und Propheten hervorgebracht, die sich und ihre Anhänger davon überzeugten, daß sie allein die Geheimnisse des Universums begriffen.

Der Aufstieg der Wissenschaft vernichtete schließlich alle derartigen Sekten. Sie zerstörte jedoch nicht Scheu, Ehrfurcht und Demut aller intelligenten Wesen bei der Betrachtung des gewaltigen Alls, in das sie sich gestellt sahen.

Obwohl sie niemals wirkliche Macht besaßen, waren im Laufe der Zeiten zahllose Kulte entstanden; so phantastisch ihr Glaube auch sein mochte, es gelang ihnen stets, einige Anhänger zu finden. Sie gediehen besonders in Zeiten der Unordnung und Verwirrung; es konnte daher nicht überraschen, daß gerade die Jahrhunderte des Übergangs eine große Epidemie der Unvernunft erlebten. Wenn die Wirklichkeit bedrückend schien, versuchten sich die Menschen mit Mythen zu trösten.

Der Meister verließ seine Welt nicht ohne Hilfsmittel. Die Sieben Sonnen waren das Zentrum galaktischer Macht und Wissenschaft gewesen, und er mußte einflußreiche Freunde besessen haben. Er unternahm seine Flucht in einem kleinen Schiff, das zu den schnellsten Raumfahrzeugen gehörte, die jemals gebaut wurden. In sein Exil nahm er ein anderes Endprodukt mit — den Roboter, der Alvin und Hilvar jetzt anstarrte.

Niemand hatte je die vollen Talente und Funktionen dieser Maschine ausgeschöpft. Bis zu einem gewissen Grade war sie praktisch zum anderen Ich des Meisters geworden; ohne sie wäre die Religion der Großen wahrscheinlich nach dem Tode des Meisters zusammengebrochen.

Gemeinsam durchstreiften sie die Sternwolken auf einem Zickzackkurs, der schließlich, gewiß nicht zufällig, zu jener Welt zurückführte, von der die Vorfahren des Meisters gekommen waren.


Über dieses Epos waren ganze Bibliotheken geschrieben worden, von denen jedes Werk wieder zahlreiche Kommentare verlangte, bis die ursprünglichen Bände in einer Art Kettenreaktion unter Bergen von Anmerkungen und Erklärungen verschwanden. Der Meister hatte viele Welten besucht und bei vielen Rassen Anhänger geworben. Seine Persönlichkeit mußte ungeheuer beeindruckend gewesen sein, um sowohl Menschen als auch Nichtmenschen begeistern zu können, und es bestand kein Zweifel daran, daß eine Religion von so umfassendem Anreiz vieles Gute und Edle enthielt.

Worin die Lehre bestand, konnten weder Alvin noch Hilvar mit irgendwelcher Genauigkeit herausfinden. Der große Polyp bemühte sich nach Kräften, sie ihnen zu verdeutlichen, aber viele seiner Worte waren bedeutungslos, und er hatte die Gewohnheit, Sätze und ganze Reden mit einer mechanischen Schnelligkeit zu wiederholen, die sie sehr schwer verständlich machte. Nach einer Weile lenkte Hilvar das Gespräch von diesem sinnlosen Gerede ab, um sich auf feststellbare Tatsachen konzentrieren zu können.

Der Meister und eine Gruppe seiner treuesten Anhänger waren in jenen Tagen vor dem Untergang der Städte auf der Erde angekommen, zu einer Zeit also, in der Diaspars Hafen noch den Sternen offenstand. Sie mußten in sehr verschiedenen Raumschiffen angekommen sein; die Polypen zum Beispiel erschienen in einem mit Wasser aus ihren Heimatmeeren angefüllten Raumfahrzeug. Ob die Bewegung auf der Erde begrüßt wurde, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen; aber jedenfalls stieß sie nicht auf heftige Gegenwehr, und nach längerem Umherziehen errichteten sie ihre letzte Zuflucht in den Bergen und Wäldern von Lys.

Am Ende seines langen Lebens hatten sich die Gedanken des Meisters wieder seiner Heimat zugewandt, und er bat seine Freunde, ihn ins Freie zu tragen, damit er die Sterne sehen konnte. Mit sinkender Kraft hatte er die Kulmination der Sieben Sonnen erwartet und gegen das Ende zu viele unverständliche Dinge gemurmelt. Immer wieder erwähnte er die Großen, die dieses Universum aus Raum und Materie verlassen hätten, aber gewiß eines Tages zurückkehren würden, und er beauftragte seine Anhänger, hierzubleiben und sie zu begrüßen. Das waren seine letzten vernünftigen Worte. Danach erkannte er seine Umgebung nicht mehr, aber kurz vor seinem Ende sprach er noch einen Satz, der die Zeiten überdauerte und jeden verfolgte, der ihn hörte: „Es ist herrlich, die farbigen Schatten auf den Planeten des ewigen Lichts zu betrachten.“ Dann starb er.

Nach dem Tode des Meisters zogen viele seiner Anhänger davon, aber andere blieben seiner Lehre treu und bewahrten sie über die Zeiten hinweg. Zuerst glaubten sie, daß die Großen, wer sie auch immer sein mochten, bald zurückkehren würden, aber mit den dahinziehenden Jahrhunderten schwand diese Hoffnung. Die Geschichte wurde hier sehr verwirrt, und es schien, als seien Wahrheit und Legende untrennbar verwoben. Alvin gewann nur ein undeutliches Bild zahlreicher Generationen von Fanatikern, die auf ein großes Ereignis warteten, das sie nicht verstanden und das zu einem unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft stattfinden sollte.

Die Großen kehrten niemals zurück. Langsam nahm die Kraft der Bewegung ab, als Tod und Enttäuschung sie ihrer Anhänger beraubten. Die kurzlebigen Menschen verschwanden als erste, und es lag höchste Ironie in der Tatsache, daß der letzte Anhänger eines menschlichen Propheten ein sehr menschenunähnliches Wesen war.

Der große Polyp wurde aus einem ganz einfachen Grunde zum letzten Schüler des Meisters. Er war unsterblich. Die Milliarden individueller Zellen, aus denen sich sein Körper zusammensetzte, starben dahin, aber ehe es soweit kam, pflanzten sie sich fort. In langen Zwischenräumen zerfiel das Wesen in seine Myriaden einzelner Zellen, die ihren eigenen Weg gingen und sich durch Teilung vermehrten, wenn ihre Umwelt das zuließ. Während dieses Stadiums existierte der Polyp nicht als bewußtes, intelligentes Einzelwesen — und hier wurde Alvin unwiderstehlich an die Art erinnert, in der die Bewohner Diaspars viele Jahrtausende in den Gedächtnisanlagen der Stadt zubrachten.

Zu gegebener Zeit vereinigte eine geheimnisvolle biologische Kraft wieder die verstreuten Bestandteile, und der Polyp begann einen neuen Kreislauf der Existenz. Er kehrte ins Bewußtsein zurück und erinnerte sich seiner vergangenen Lebensperioden, obgleich manchmal nur lükkenhaft, da durch Zufall gelegentlich Zellen beschädigt wurden.

Vielleicht hätte keine andere Lebensform einem Glauben so lange treu bleiben können, der im übrigen seit tausend Millionen Jahren vergessen war. In gewisser Hinsicht schien der große Polyp ein hilfloses Opfer seiner biologischen Natur. Seiner Unsterblichkeit wegen konnte er sich nicht verändern; er war gezwungen, in Ewigkeit immer wieder den gleichen Kreislauf zu wiederholen.

Die Religion der Großen wurde in ihrem späten Stadium mit einer Verehrung der Sieben Sonnen gleichgestellt. Als sich die Großen hartnäckig weigerten zu erscheinen, versuchte man, ihre ferne Heimat mit Signalen zu erreichen. Schon vor langer Zeit sank dieses Signalisieren zu einem bedeutungslosen Ritual herab, jetzt durchgeführt von einem Tier, das vergessen hatte, wie man lernte, und einem Roboter, der nie gewußt hatte, wie man vergaß.

Als die unermeßlich alte Stimme schließlich schwieg, wurde Alvin von einer Aufwallung des Mitleids übermannt. Die falsch angebrachte Hingabe, die Treue, die das Wesen nutzlos bewahrt hatte, während Sonnen und Planeten vergingen — nie hätte er eine solche Geschichte geglaubt, wenn er nicht den Beweis vor Augen gehabt hätte. Mehr denn je betrübte ihn das Ausmaß seiner Unwissenheit. Für einen kleinen Augenblick war ein winziger Bruchteil der Vergangenheit aufgehellt, aber jetzt hatte sich schon wieder das Dunkel darüber gebreitet.

Die Geschichte des Universums mußte ein Gewirr aus solchen voneinander getrennten Fäden sein, und niemand konnte entscheiden, welche wichtig und welche unbedeutend waren. Diese phantastische Geschichte vom Meister und den Großen schien eine weitere jener Legenden, die irgendwie die Zivilisation der Frühzeit überlebt hatten. Aber die Existenz des riesigen Polypen und des stumm beobachtenden Roboters hinderten Alvin daran, die ganze Geschichte als Fabel abzutun.

Irgendwie sah er den Roboter als das wichtigere der beiden Wesen an.

Er war der Vertraute des Meisters gewesen und mußte alle seine Geheimnisse kennen.

Alvin wandte sich der rätselhaften Maschine zu, die ihn unverwandt anstarrte. Warum wollte sie nicht sprechen? Welche Gedanken glitten durch ihr kompliziertes und vielleicht fremdartiges Gehirn? Aber wenn sie dem Meister gedient hatte, konnte ihr Gehirn nicht ganz fremdartig sein, und sie müßte auf menschliche Befehle reagieren.

Als er an die vielen Geheimnisse dachte, die diese eigensinnig stumme Maschine besitzen mußte, fühlte Alvin eine Wißbegierde, die fast an Habsucht grenzte. Es schien ungerecht, daß soviel Wissen verschwendet und der Welt verborgen sein sollte; hier mußten Wunder liegen, die sogar die Möglichkeiten des Zentralgehirns in Diaspar überschritten.

„Warum spricht dein Roboter nicht zu uns?“ fragte er den Polypen, als Hilvar im Moment keine Frage einfiel. Die Antwort, die er erhielt, hatte er halb erwartet.

„Es war der Wunsch des Meisters, daß er nur mit seiner Stimme sprechen sollte. Sie aber schweigt jetzt.“ „Aber dir gehorcht er?“

„Ja. Der Meister hat ihn in unsere Obhut gegeben. Wir können durch seine Augen sehen, wohin er auch geht. Er bedient die Maschinen, die diesen See bewahren und das Wasser rein erhalten. Aber es wäre richtiger, ihn nicht unseren Diener, sondern unseren Partner zu nennen.“

Alvin dachte darüber nach. Eine Idee begann sich, noch vage und verschwommen, herauszubilden. Vielleicht wurde sie durch reines Verlangen nach Wissen und Macht hervorgerufen; auch wenn er später an diesen Augenblick zurückdachte, konnte er seine Motive nicht genau bestimmen. Sie mochten zum größten Teil egoistisch sein, aber sie schlossen auch ein gewisses Mitleid ein. Wenn es ihm gelang, wollte er den nutzlosen Kreislauf unterbrechen und diese Wesen von ihrem bedauernswerten Schicksal erlösen. Er wußte nicht genau, was man bei dem Polypen erreichen konnte, aber vielleicht war es möglich, den Roboter von seinem Wahnsinn zu heilen und gleichzeitig seine unbezahlbaren verborgenen Erinnerungen freizulegen.

„Weißt du bestimmt“, sagte er langsam, indem er den Polypen ansprach, mit seinen Worten aber auf den Roboter zielte, „daß du wirklich die Wünsche des Meisters erfüllst, wenn du hierbleibst? Er wollte, daß die Welt von seiner Lehre erfuhr, aber sie ging verloren, während du dich hier in Shalmirane versteckt hast. Nur durch Zufall haben wir dich gefunden.“

Hilvar sah ihn scharf an, offensichtlich in Ungewißheit über seine Absichten. Der Polyp schien erregt, und das gleichmäßige Pochen seiner Atmungsorgane setzte für wenige Sekunden aus. Dann erwiderte er mit unsicherer Stimme: „Wir haben dieses Problem viele Jahre diskutiert. Da wir Shalmirane nicht verlassen können, muß die Welt zu uns kommen, gleichgültig, wie lange es dauert.“

„Ich habe eine bessere Idee“, sagte Alvin eifrig. „Es stimmt, daß du vielleicht hier im See bleiben mußt, aber es gibt keinen Grund, warum dein Begleiter nicht mit uns kommen sollte. Er kann jederzeit zurückkehren, wenn es ihm beliebt oder wenn du ihn brauchst. Seit dem Tod des Meisters haben sich viele Dinge verändert — Dinge, über die du Bescheid wissen solltest, die du aber nie begreifen kannst, wenn du hierbleibst.“

Der Roboter rührte sich nicht, aber in seiner Unentschlossenheit tauchte der Polyp völlig unter die Wasserfläche und blieb einige Minuten unten.

Vielleicht führte er ein stummes Gespräch mit seinem Begleiter; mehrmals begann er emporzutauchen, überlegte es sich wieder anders und verschwand wieder. Hilvar benützte diese Gelegenheit, mit Alvin ein paar Worte zu wechseln.

„Ich möchte wissen, was du vorhast“, sagte er, halb scherzhaft.

„Oder weißt du es selbst nicht?“

„Gewiß tun dir doch diese armen Wesen leid?“ erwiderte Alvin.

„Glaubst du nicht, daß die Anständigkeit gebietet, sie zu retten?“

„Doch, aber ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß Selbstlosigkeit nicht eine deiner beherrschenden Eigenschaften ist. Du hast noch ein anderes Motiv.“

Alvin lächelte kläglich. Auch wenn Hilvar seine Gedanken nicht las, kannte er doch offensichtlich seinen Charakter.


„Ihr habt bedeutende geistige Kräfte“, erwiderte er und versuchte, das Gespräch von dem gefährlichen Thema abzulenken. „Vielleicht könnt ihr etwas für den Roboter tun, wenn man schon dem Tier nicht helfen kann.“ Er sprach sehr leise, damit ihn die Maschine nicht hören konnte.

Diese Vorsichtsmaßnahme mochte wenig fruchten, aber der Roboter ließ nicht erkennen, ob er Alvins Bemerkungen verstanden hatte.

Ehe Hilvar weiterforschen konnte, tauchte der Polyp glücklicherweise wieder an die Oberfläche. Er war in den letzten Minuten wesentlich kleiner geworden, und seine Bewegungen schienen unkontrolliert. Während Alvin den Polypen beobachtete, brach ein Teil seines komplizierten durchsichtigen Körpers vom Hauptleib ab und zerfiel in viele kleine Teilchen, die schnell verschwanden. Das Wesen begann sich vor ihren Augen aufzulösen.

Als es wieder sprach, war seine Stimme kaum zu verstehen. „Der nächste Kreislauf beginnt“, stieß er flüsternd hervor. „Haben ihn nicht so früh erwartet — nur noch ein paar Minuten — Aufregung zu groß — können uns nicht mehr lange halten.“

Alvin und Hilvar starrten das Wesen mit entsetzter Faszination an. Obwohl der Vorgang, den sie beobachteten, ganz natürlich war, bereitete kein Vergnügen, einem Wesen zuzusehen, das sich anscheinend im Todeskampf befand. Sie fühlten sich auch irgendwie schuldig; dieses Gefühl war unvernünftig, weil es an sich gleichgültig war, wann der Polyp einen neuen Kreislauf begann, aber sie begriffen, daß die durch ihre Anwesenheit bedingte ungewohnte Anstrengung und Erregung für diese verfrühte Verwandlung verantwortlich war.

Alvin spürte, daß er schnell handeln mußte, ehe diese Gelegenheit vorüberging — vielleicht nur für ein paar Jahre, vielleicht auch für Jahrhunderte.

„Was hast du beschlossen?“ fragte er. „Kommt der Roboter mit uns?“

Eine quälende Pause trat ein, während sich der Polyp bemühte, den zerfallenden Körper unter seinen Willen zu zwingen. Die Sprachmembran zitterte, aber kein hörbarer Laut drang hervor. Dann winkte er, wie in einer verzweifelten Abschiedsgeste, schwach mit seinen zarten Fühlern und ließ sie ins Wasser zurückfallen, wo sie sich sofort abtrennten und in den See hinaustrieben. In wenigen Minuten war die Verwandlung vorbei.

Von dem Wesen blieben keine Teilchen größer als zwei Zentimeter. Das Wasser war voll von winzigen, grünen Punkten, die eigenes Leben und eigene Beweglichkeit zu besitzen schienen und sich schnell in der Weite des Sees verloren.

Die Wellen auf dem Wasserspiegel waren jetzt völlig verschwunden, und Alvin wußte, daß der gleichmäßige Pulsschlag in den Tiefen verschwunden sein würde. Der See lag wieder leblos da — so schien es jedenfalls.

Das war jedoch eine Illusion; eines Tages würden die unbekannten Kräfte, die in der Vergangenheit stets ihre Pflicht getan hatten, wieder in Aktion treten, und der Polyp würde wiedergeboren werden. Es war ein seltsamer und wunderbarer Vorgang, aber war er soviel seltsamer als die Zusammensetzung des menschlichen Körpers? War nicht auch er eine Kolonie einzelner, lebender Zellen?

Alvin gab sich nicht lange mit solchen Überlegungen ab. Ihn bedrückte sein Mißerfolg, obgleich er nie gewußt hatte, wohin er eigentlich zielte.

Eine einmalige Gelegenheit war vertan, vielleicht kam sie nie wieder. Er starrte traurig auf den See hinaus, und es dauerte einige Zeit, bis er begriff, was ihm Hilvar ins Ohr flüsterte.

„Alvin“, sagte sein Freund leise. „Ich glaube, du hast gewonnen.“

Er drehte sich blitzschnell um. Der Roboter, der sich bisher regungslos in einiger Entfernung gehalten hatte, war stumm näher gekommen und schwebte jetzt einen Meter über seinem Kopf. Seine unbeweglichen Augen, mit ihrem gewaltigen Sehbereich, gaben nicht zu erkennen, wohin sie blickten. Wahrscheinlich überschauten sie die ganze Halbkugel, aber Alvin zweifelte nicht daran, daß sich ihre Aufmerksamkeit jetzt auf ihn richtete.

Der Roboter wartete auf seine nächste Bewegung. Bis zu einem gewissen Grade gehorchte er jedenfalls seiner Kontrolle. Er würde ihm nach Lys folgen, vielleicht sogar nach Diaspar — bis er sich anders besann. Bis dahin war er, probeweise, sein Herr.

14

Die Fahrt nach Airlee zurück dauerte fast drei Tage — zum Teil auch deswegen, weil es Alvin nicht eilig hatte. Die Erforschung des Gebietes von Lys war nunmehr einer wichtigeren und aufregenderen Aufgabe untergeordnet; er nahm langsam Verbindung mit dieser seltsamen, besessenen Intelligenz auf, die zu seinem Begleiter geworden war.

Er verdächtigte den Roboter, daß er ihn für seine eigenen Absichten zu gebrauchen gedachte, was nicht mehr als ausgleichende Gerechtigkeit gewesen wäre. Über seine Motive konnte er sich nie klarwerden, weil er sich weiterhin hartnäckig weigerte, zu ihm zu sprechen. Aus irgendeinem persönlichen Grund — vielleicht aus Furcht, er könnte zuviel verraten — mußte der Meister äußerst wirksame Sperren in seinem Sprachzentrum verursacht haben, und Alvins Versuche zu ihrer Beseitigung scheiterten kläglich. Selbst eine indirekte Befragung nach der Methode, ›wenn du nichts sagst, nehme ich an, daß es ja bedeutet‹, versagte; der Roboter war viel zu gescheit, um auf derart simple Tricks hereinzufallen.

In anderer Beziehung schien er dagegen eher zur Zusammenarbeit bereit. Er befolgte Befehle, wenn sie nicht von ihm verlangten, daß er sprechen oder Auskünfte erteilen sollte. Nach einer Weile stellte Alvin fest, daß er ihn, wie die Roboter in Diaspar, allein schon durch Denken steuern konnte. Das war ein großer Schritt vorwärts, und ein wenig später gab das Wesen — es fiel schwer, den Roboter nur als Maschine anzusehen — noch etwas mehr nach und gestattete ihm, durch seine Augen zu sehen. Es schien, daß der Roboter nichts gegen solche primitiven Formen der Verständigung einzuwenden hatte, aber er blockierte alle Versuche zu weiterer Vertrautheit.

Hilvars Anwesenheit übersah er völlig; er gehorchte keinem seiner Befehle und verschloß seine Gedanken vor ihm. Zuerst war das für Alvin eine Enttäuschung, weil er gehofft hatte, Hilvars größere geistige Kraft würde diese Schatztruhe verborgener Erinnerungen aufbrechen können.

Erst später erkannte er den Vorteil, einen Diener zu besitzen, der außer ihm keinem Menschen gehorchte.

Das einzige Mitglied der Expedition, das Einspruch erhob, war Krif. Vielleicht sah er jetzt einen Rivalen vor sich, oder er mißbilligte grundsätzlich alles, was ohne Flügel flog. Als niemand hinsah, unternahm er verschiedene direkte Angriffe auf den Roboter, der ihn dadurch noch mehr in Raserei brachte, daß er diese Attacken überhaupt nicht zur Kenntnis nahm.

Schließlich gelang es Hilvar, ihn zu beruhigen, und auf der Heimfahrt im Bodengleiter schien er sich mit der Sache abgefunden zu haben. Roboter und Insekt begleiteten das Fahrzeug, das still durch Wälder und über Felder glitt — jeder blieb auf der Seite seines Herrn und gab vor, den anderen nicht zu bemerken.

Seranis erwartete sie bereits, als der Gleiter in Airlee ankam. Es war unmöglich, diese Leute zu überraschen, dachte Alvin. Die Verflechtung ihrer Gedanken hielt sie über alles auf dem laufenden, was in Lys geschah. Er fragte sich, wie sie auf seine Abenteuer in Shalmirane reagiert hatten, über die sicher jedermann in Lys Bescheid wußte.

Seranis schien besorgter und unsicherer, als er sie je gesehen hatte, und Alvin erinnerte sich an die Entscheidung, die vor ihm lag. In der Aufregung der letzten Tage hatte er sie fast vergessen; er regte sich nie über Dinge auf, die in der Zukunft lagen. Aber jetzt hatte ihn die Zukunft eingefangen; er mußte sich entscheiden, in welcher der beiden Welten er leben wollte.

Die Stimme Seranis' klang bekümmert, als sie zu sprechen begann, und Alvin hatte plötzlich den Eindruck, daß mit den Plänen, die Lys für ihn vorsah, etwas schiefgegangen war. Was hatte sich während seiner Abwesenheit ereignet? Waren Beauftragte nach Diaspar gegangen, um Khedrons Verstand zu beeinflussen — und hatten sie versagt?

„Alvin“, begann Seranis, „es gibt viele Dinge, von denen ich Ihnen noch nichts erzählt habe, die Sie jetzt aber erfahren müssen, wenn Sie unser Vorgehen verstehen wollen.

Sie kennen einen der Gründe für die Isolierung unserer beiden Rassen.

Die Furcht vor den Invasoren, dieser dunkle Schatten in den Tiefen jedes menschlichen Geistes, veranlaßte Ihre Leute, sich gegen die Welt abzuschließen und in ihren eigenen Träumen zu leben. Hier in Lys ist diese Furcht nie so stark gewesen, obwohl wir die Wucht des letzten Angriffs ertragen mußten. Wir hatten bessere Gründe für unsere Handlungen, und was wir taten, taten wir mit offenen Augen.

Vor langer Zeit, Alvin, strebten die Menschen nach Unsterblichkeit und errangen sie schließlich. Sie vergaßen, daß eine Welt, die den Tod verbannt, auch die Geburt beseitigen muß. Die Macht, sein Leben unendlich zu verlängern, mag dem einzelnen Zufriedenheit verleihen, der Rasse als Gesamtheit bringt sie Stillstand. Vor langer Zeit opferten wir unsere Unsterblichkeit, aber Diaspar folgt immer noch dem falschen Traum. Das ist der Grund, warum sich unsere Wege getrennt haben und warum sie sich nie mehr treffen dürfen.“

Obwohl die Worte halb vorauszusehen gewesen waren, wurde die Wucht des Schlages dadurch nicht gedämpft. Aber Alvin weigerte sich, das Mißlingen seiner Pläne zuzugeben, und nur ein Teil seines Gehirns hörte Seranis jetzt zu. Er begriff und vermerkte alle Worte Seranis', aber der bewußte Teil seines Verstandes verfolgte die Straße nach Diaspar zurück, versuchte sich die Hindernisse vorzustellen, die man ihm in den Weg legen könnte.

Seranis war sichtlich unglücklich. Ihre Stimme klang fast bittend, und Alvin wußte, daß sie nicht nur zu ihm, sondern auch zu ihrem Sohn sprach.

Sie spürte das gegenseitige Verstehen und die Zuneigung zwischen den beiden. Hilvar sah seine Mutter fest an, und es schien Alvin, als enthielte der Blick nicht nur Sorge, sondern auch eine Spur von Mißbilligung.

„Wir wollen Sie nicht zwingen, etwas gegen Ihren Willen zu tun, aber Sie werden sicher verstehen, was es bedeuten würde, wenn sich unsere beiden Rassen wieder begegneten. Zwischen Ihrer Kultur und der unseren besteht eine Kluft, die größer ist als jede andere zuvor. Denken Sie an das eine, Alvin. Sie und Hilvar sind jetzt beinahe gleich alt — aber er und ich werden Jahrhunderte tot sein, während Sie noch ein Jüngling sind. Und das ist nur das erste in einer unendlichen Reihe von Leben.“, Der Raum war sehr still, so still, daß Alvin die seltsam klagenden Laute unbekannter Tiere auf den Feldern am Dorfrand hören konnte. Er sagte, fast flüsternd: „Was verlangen Sie von mir?“

„Wir hofften, Ihnen die Wahl zwischen Hierbleiben und der Rückkehr nach Diaspar lassen zu können, aber das ist unmöglich geworden. Zuviel ist geschehen, als daß wir Ihnen die Entscheidung überlassen dürften.

Selbst in der kurzen Zeit Ihres Hierseins hat sich Ihr Einfluß als äußerst störend erwiesen. Nein, ich tadle Sie nicht; ich weiß, daß Sie nichts Böses wollen. Aber es wäre besser gewesen, die Wesen in Shalmirane ihrem Schicksal zu überlassen.

Und was Diaspar betrifft —“, Seranis machte eine ärgerliche Geste. „Zu viele Leute wissen, wohin Sie gegangen sind; wir haben nicht rechtzeitig eingegriffen. Schlimmer noch, der Mann, der Ihnen die Entdeckung von Lys verschafft hat, ist verschwunden; weder Ihr Rat noch unsere Agenten können ihn auffinden; er bleibt also eine potentielle Gefahr für unsere Sicherheit. Vielleicht überrascht es Sie, daß ich Ihnen das alles sage, aber ich gehe damit kein Risiko ein. Ich fürchte, wir stehen vor einer einzigen Alternative; wir müssen Sie mit falschen Erinnerungen nach Diaspar zurückschicken. Diese Erinnerungen wurden mit großer Sorgfalt erzeugt, und wenn Sie nach Hause zurückkehren, werden Sie nichts mehr von uns wissen. Sie werden glauben, ziemlich langweilige und gefährliche Abenteuer in düsteren unterirdischen Höhlen erlebt zu haben, in denen die Höhlendecken ständig hinter Ihnen einstürzten und Sie sich nur dadurch am Leben erhalten konnten, daß Sie unappetitliches Unkraut aßen und aus Quellen tranken. Für den Rest Ihres Lebens werden Sie das für die Wahrheit halten, und jedermann in Diaspar wird Ihnen diese Geschichte glauben. Es wird dann auch kein Geheimnis mehr geben, das spätere Abenteurer anlocken könnte; man wird meinen, alles über Lys zu wissen.“

Seranis schwieg einen Augenblick und sah Alvin mit besorgten Augen an. „Wir bedauern es sehr, daß das nötig ist und bitten Sie um Verzeihung, solange Sie sich noch an uns erinnern. Sie werden unser Urteil nicht akzeptieren wollen, aber wir kennen viele Tatsachen, die Ihnen verborgen sind. Zumindest brauchen Sie nichts zu bedauern, weil Sie glauben werden, alles gefunden zu haben, was es zu entdecken gab.“

Alvin fragte sich, ob das stimmte. Er glaubte nicht, daß er sich jemals zu einem Normaldasein in Diaspar niederlassen würde, selbst wenn er der Meinung war, daß nichts Besonderes außerhalb der Stadtmauern existierte. Überdies hatte er nicht die Absicht, darauf eine Probe zu machen.

„Wann soll ich mich dieser — Behandlung unterziehen?“

„Sofort. Wir sind bereit, öffnen Sie mir Ihren Geist, wie Sie es schon einmal getan haben, und Sie werden nichts wissen, bis Sie sich in Diaspar wiederfinden.“

Alvin schwieg geraume Zeit, dann sagte er ruhig: „Ich möchte mich von Hilvar verabschieden.“ Seranis nickte.

„Ich verstehe. Ich lasse euch eine Weile allein und komme zurück, wenn Sie bereit sind.“ Sie ging zu der Treppe hinüber, die ins Innere des Hauses führte, und ließ sie allein auf dem Dach.

Es dauerte einige Zeit, bis Alvin zu seinem Freund sprach; er fühlte große Traurigkeit, aber auch eine ungebrochene Entschlossenheit, die Zerstörung all seiner Hoffnungen nicht zuzulassen. Er schaute wieder auf die Siedlung hinunter, wo er ein gewisses Glück gefunden hatte und die er nie mehr wiedersehen würde, wenn Seranis und ihre Berater ihren Willen durchsetzten. Der Bodengleiter stand noch unter einem der großen Bäume, mit dem geduldigen Roboter darüber. Ein paar Kinder drängten sich um den seltsamen Neuankömmling, aber die Erwachsenen schienen nicht interessiert zu sein.

„Hilvar“, sagte Alvin plötzlich, „es tut mir sehr leid.“ „Mir auch“, antwortete Hilvar mit schwankender Stimme. „Ich hatte gehofft, du könntest hierbleiben.“

„Glaubst du, daß das richtig ist, was deine Mutter tut?“ „Gib nicht meiner Mutter die Schuld. Sie tut nur, was man von ihr verlangt“, erwiderte Hilvar. Obwohl Alvins Frage nicht beantwortet worden war, hatte er nicht das Herz, Hilvar nochmals zu fragen. Es wäre unfair gewesen.


„Dann sag mir das eine“, sagte Alvin. „Wie könnten mich deine Leute aufhalten, wenn ich ohne falsche Erinnerungen zu fliehen versuchte?“

„Das wäre einfach. Wenn du zu entkommen versuchtest, würden wir deinen Verstand lenken und dich zwingen, zurückzukommen.“

Alvin hatte das erwartet und ließ sich nicht entmutigen. Er hätte Hilvar gern ins Vertrauen gezogen, aber er wollte das Scheitern seiner Pläne nicht riskieren. Sehr vorsichtig, jede Einzelheit berücksichtigend, verfolgte er die einzige Straße zurück, die ihn zu seinen eigenen Bedingungen nach Diaspar bringen konnte.

Es gab ein großes Risiko, gegen das er sich nicht zu schützen vermochte. Wenn Seranis ihr Versprechen brach und in seinen Gedanken las, waren seine sorgfältigen Vorbereitungen umsonst.


Er streckte Hilvar die Hand entgegen, der sie fest ergriff, aber nicht zu sprechen vermochte.

„Wir wollen zu Seranis hinuntergehen“, sagte Alvin. „Ich möchte noch einige Leute aus dem Dorf sehen, ehe ich fort muß.“

Hilvar folgte ihm stumm in die friedliche Kühle des Hauses und dann durch den Gang hinaus auf den farbigen Grasgürtel, der das Haus umgab. Dort wartete Seranis auf ihn, ruhig und entschlossen aussehend.

Sie wußte, daß Alvin etwas vor ihr zu verbergen suchte, und dachte wieder an ihre Vorsichtsmaßnahmen. Wie ein Mann seine Muskeln vor einer schweren Tätigkeit spielen läßt, durchlief sie noch einmal die Zwangsstrukturen, die sie vielleicht anwenden mußte.

„Sind Sie bereit, Alvin?“ fragte sie.

„Völlig“, erwiderte Alvin, und der Unterton in seiner Stimme veranlaßte sie, ihn scharf anzusehen.

„Dann wird es am besten sein, Sie löschen Ihre Gedanken wie beim erstenmal. Sie werden danach nichts fühlen oder wissen, bis Sie wieder in Diaspar sind.“

Alvin drehte sich zu Hilvar um und flüsterte schnell: „Auf Wiedersehen, Hilvar. Keine Angst — ich komme wieder.“ Dann sah er wieder Seranis an.

„Ich nehme Ihnen nicht übel, was Sie tun“, sagte er. „Ohne Zweifel halten Sie es für das beste, aber ich glaube, Sie irren sich. Diaspar und Lys sollten sich nicht ewig voneinander abschließen; eines Tages werden sie sich brauchen. Darum gehe ich jetzt mit allem, was ich erfahren habe, nach Hause — und ich glaube nicht, daß Sie mich aufhalten können.“


Er zögerte nicht länger, und das war gut so. Seranis bewegte sich nicht, aber augenblicklich fühlte er, daß ihm die Kontrolle über seinen Körper entglitt. Die Macht, die seinen Willen beiseite drängte, war größer, als er vermutet hatte, und er begriff, daß Seranis vielfach unterstützt wurde.

Hilflos ging er ins Haus zurück, und für einen Augenblick dachte er, sein Plan sei mißlungen.

Dann — ein Blitz aus Stahl und Kristall; die Metallarme schlossen sich fest um ihn. Sein Körper wehrte sich, wie er es vorausgesehen hatte, aber seine Bemühungen waren zwecklos. Der Boden entglitt seinen Füßen, und er warf einen Blick auf Hilvar, der mit einem idiotischen Lächeln erstarrte.

Der Roboter trug ihn über dem Boden dahin, viel schneller, als ein Mensch laufen konnte. Seranis brauchte nur eine Sekunde, um den Trick zu durchschauen. Aber sie war noch nicht besiegt, und kurz darauf geschah das, was Alvin befürchtet und entsprechend zu vereiteln gesucht hatte.

In seinem Verstand rangen jetzt zwei verschiedene Wesen miteinander; eines von ihnen flehte den Roboter an, ihn niederzusetzen. Der wirkliche Alvin wartete atemlos, nur schwach gegen Kräfte ankämpfend, denen er nichts Ebenbürtiges entgegensetzen konnte. Er hatte das Spiel gewagt, ohne voraussagen zu können, ob sein unsicherer Verbündeter so komplizierte Befehle auszuführen imstande war. Unter keinen Umständen, hatte er dem Roboter mitgeteilt, durfte er weitere Befehle von ihm anerkennen, bevor sie Diaspar sicher erreicht hatten. Das war der Auftrag.

Wenn er ausgeführt wurde, hatte Alvin sein Schicksal außerhalb des Bereiches menschlicher Einflußnahme gelegt.

Ohne zu zögern, raste die Maschine auf dem Weg dahin, den ihr Alvin genau vorgezeichnet hatte. Ein Teil von ihm bat immer noch zornig um Befreiung, aber er wußte sich bereits in Sicherheit. Und bald begriff es auch Seranis, denn die Kräfte in seinem Verstand hörten auf, sich zu bekämpfen. Wieder genoß er Frieden, wie vor urdenklichen Zeiten ein früher Wanderer, als er an seinen Mast gebunden den Gesang der Sirenen über dem weindunklen Meer verklingen hörte.

15

Alvin atmete erst auf, als er wieder in der Fließstraßenhöhle stand. Er hatte immer noch mit der Möglichkeit gerechnet, die Leute aus Lys könnten sein Fahrzeug zum Halten oder gar zur Umkehr zwingen. Aber die Rückfahrt war eine ereignislose Wiederholung der Hinreise; vierzig Minuten nach der Flucht aus Lys stand er im Grabmal von Yarlan Zey.

Die Wachen des Rates erwarteten ihn, in die förmlichen schwarzen Roben gekleidet, die sie seit Jahrhunderten nicht mehr getragen hatten. Alvin spürte keine Überraschung und kaum Unruhe, als er dieses Empfangskomitee sah. Seit der Abfahrt aus Diaspar hatte er viel gelernt, und mit diesem Wissen eine an Arroganz grenzende Zuversicht erworben.

Überdies besaß er jetzt einen mächtigen, wenn auch launenhaften Verbündeten. Die klügsten Gehirne von Lys waren nicht imstande gewesen, seine Pläne zu durchkreuzen; irgendwie glaubte er, daß es Diaspar ebensowenig gelingen würde.

Für diese Meinung gab es vernünftige Gründe, aber zum Teil beruhten sie auf einer Tatsache, die über die Vernunft hinausging — auf einem Glauben an seine Bestimmung, der sich langsam in Alvin entwickelt hatte. Das Geheimnis seiner Herkunft, die Art, in der sich ihm neue Ausblikke eröffnet hatten, sein Erfolg bei einem Tun, das noch nie jemand gewagt hatte — das alles trug zu seiner Selbstsicherheit bei.

„Alvin“, sagte der Anführer der Stadtwachen, „wir haben den Auftrag, dich überallhin zu begleiten, bis der Rat deinen Fall verhandelt und ein Urteil beschlossen hat.“

„Welchen Vergehens klagt man mich an?“ fragte Alvin. Er war noch von der Aufregung seiner Flucht aus Lys hochgestimmt und versuchte diese neue Entwicklung noch nicht ernst zu nehmen. Wahrscheinlich hatte Khedron ausgepackt; er ärgerte sich über den Spaßmacher, weil er das Geheimnis preisgegeben hatte.

„Eine Anklage ist noch nicht erhoben worden“, kam die Antwort. „Falls nötig, wird man sie nach deiner Einvernahme formulieren.“

„Und wann ist damit zu rechnen?“

„Sehr bald, nehme ich an.“ Der Mann fühlte sich offensichtlich nicht wohl in seiner Haut und wußte auch nicht, wie er diesen unwillkommenen neuen Auftrag ausführen sollte. Einmal behandelte er Alvin wie einen Mitbürger, dann fiel ihm seine Rolle als Bewacher ein, und er nahm eine Haltung übertriebener Ablehnung an.


„Dieser Roboter“, sagte er plötzlich, auf Alvins Begleiter deutend, „woher kommt er? Gehört er der Stadt?“

„Nein“, erwiderte Alvin. „Ich habe ihn in Lys gefunden, in dem Land, das ich besuchte. Ich brachte ihn mit, um ihn dem Zentralgehirn vorzustellen.“

Diese ruhige Feststellung rief beträchtliche Unruhe hervor. Die Tatsache, daß außerhalb Diaspars etwas existierte, war schwer genug zu akzeptieren, aber daß Alvin einen Bewohner mitgebracht hatte und ihn dem Gehirn der Stadt vorführen wollte, übertraf alles. Die Wachen sahen einander so ratlos an, daß Alvin kaum das Lachen verbeißen konnte.

Als sie durch den Park marschierten, wobei die Bewacher diskret im Hintergrund blieben und aufgeregt miteinander flüsterten, überlegte Alvin sein weiteres Vorgehen. Als erstes mußte er herausfinden, was sich in seiner Abwesenheit ereignet hatte. Khedron war verschwunden. Es gab zahllose Stellen in Diaspar, an denen er sich verstecken konnte, und bei der unübertroffenen Stadtkenntnis des Spaßmachers würde es schwerfallen, ihn zu finden, ehe er sich entschloß, wieder aufzutauchen. Vielleicht konnte er eine Botschaft hinterlassen, wo sie Khedron sehen mußte, und ein Zusammentreffen vereinbaren. Die Anwesenheit der Wachen konnte das jedoch vereiteln.

Er mußte zugeben, daß die Überwachung sehr diskret erfolgte. Als er seine Wohnung erreichte, hatte er die Wachen fast vergessen. Er vermutete, daß sie ihm nichts in den Weg legen würden, solange er nicht Diaspar zu verlassen suchte, und das lag ihm im Augenblick fern. Ja, er war sich sogar sicher, daß er auf dem ursprünglichen Weg nicht mehr nach Lys gelangen konnte. Inzwischen würden Seranis und ihre Berater das unterirdische Transportsystem gewiß unterbrochen haben.

Die Wachen folgten ihm nicht in sein Zimmer; sie wußten, daß es nur einen einzigen Ausgang gab, und dort ließen sie sich nieder.

Sobald sich die Wand hinter ihm geschlossen hatte, materialisierte Alvin sein Lieblingssofa und warf sich darauf. Er ließ seine letzten Erzeugnisse in Malerei und Bildhauerei aus den Gedächtnisanlagen erscheinen und betrachtete sie mit kritischem Blick. Er löschte diese Produkte seiner Kindheit für immer. Das Zimmer war wieder leer, bis auf das Sofa und den Roboter, der ihn immer noch mit großen, unergründlichen Augen ansah. Was hielt der Roboter wohl von Diaspar? dachte Alvin. Dann erinnerte er sich daran, daß er kein Fremder hier war, denn er hatte die Stadt in den letzten Tagen ihrer Berührung mit den Sternen gekannt.

Erst als sich Alvin wieder ganz heimisch fühlte, begann er, seine Freunde zu rufen. Er fing mit Eriston und Etania an, wenn auch mehr aus einem gewissen Pflichtgefühl heraus als aus dem wirklichen Wunsch, sie zu sehen. Er bedauerte es nicht, als ihm mitgeteilt wurde, daß sie nicht zu erreichen seien, und hinterließ ihnen eine kurze Nachricht. Das war eigentlich unnötig, weil inzwischen sicher die ganze Stadt von seiner Rückkehr erfahren hatte. Er hoffte jedoch, daß sie seine Zuvorkommenheit schätzen würden; er war dabei, Rücksichtnahme zu lernen, obwohl ihm noch nicht aufgegangen war, daß sie, wie die meisten Tugenden, wenig Wert besaß, solange sie nicht spontan und ohne Hintergedanken geübt wurde.

Dann rief er, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Nummer, die ihm Khedron vor so langer Zeit im Turm von Loranne gegeben hatte. Er erwartete natürlich keine Antwort, aber es bestand immerhin die Möglichkeit, daß Khedron eine Nachricht hinterlassen hatte.

Seine Vermutung erwies sich als richtig, aber die Nachricht selbst kam völlig unerwartet.

Die Wand löste sich auf, und Khedrons Bild stand vor ihm. Der Spaßmacher sah müde und nervös aus; er war nicht mehr der sichere, etwas zynische Mensch, der Alvin auf den Pfad nach Lys geführt hatte. Seine Augen blickten gehetzt, und er sprach, als habe er wenig Zeit.

„Alvin“, begann er, „das ist eine Aufzeichnung. Nur du kannst sie empfangen, aber du kannst damit tun, was du willst. Es wird mir nichts mehr ausmachen.

Als ich zum Grabmal Yarlan Zeys zurückkehrte, stellte ich fest, daß uns Alystra gefolgt war. Sie muß dem Rat berichtet haben, daß du Diaspar verlassen hattest und daß ich dir behilflich gewesen bin. Kurz darauf suchten die Wachen nach mir, und ich beschloß, mich zu verstecken.

Daran bin ich gewöhnt — ich war gelegentlich darauf angewiesen, wenn meine Späße nicht den entsprechenden Anklang fanden. Sie hätten mich in tausend Jahren nicht finden können — aber es wäre beinahe einer anderen Person gelungen. Es gibt Fremde in Diaspar, Alvin; sie können nur aus Lys gekommen sein, und sie suchen mich. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, und es gefällt mir nicht. Die Tatsache, daß sie mich beinahe erwischten, obwohl sie sich in einer fremden Stadt befinden, läßt darauf schließen, daß sie telepathische Kräfte besitzen. Ich könnte dem Rat widerstehen, aber das andere ist eine unbekannte Gefahr, der ich mich nicht stellen will.

Ich nehme daher etwas vorweg, was mir der Rat wohl aufzwingen wird, nachdem man es mir bereits früher androhte. Ich gehe an einen Ort, wohin mir niemand folgen kann und wo ich allen Veränderungen entgehe, die über Diaspar hereinbrechen werden. Vielleicht verhalte ich mich unklug; das kann nur die Zeit erweisen.


Eines Tages werde ich die Antwort kennen.

Inzwischen wirst du erraten haben, daß ich in die Halle der Schöpfung, in die Sicherheit der Gedächtnisanlagen, zurückgekehrt bin. Was auch immer geschehen mag, ich setze mein Vertrauen in das Zentralgehirn und die Kräfte, die es zum Besten Diaspars lenken. Wenn irgend etwas das Zentralgehirn verändert, sind wir alle verloren. Anderenfalls habe ich nichts zu fürchten.

Für mich scheint nur ein Augenblick zu vergehen, ehe ich Diaspar in fünfzig- oder hunderttausend Jahren wieder betrete. Welche Art von Stadt werde ich vorfinden? Es wird seltsam sein, wenn auch du da bist; eines Tages werden wir vermutlich wieder zusammentreffen. Ich kann nicht sagen, ob ich mich auf diesen Tag freuen oder ob ich mich vor ihm fürchten soll.

Ich habe dich nie verstanden, Alvin, obwohl ich eine gewisse Zeit eingebildet war, es zu glauben. Nur das Zentralgehirn kennt die Wahrheit, wie es die Wahrheit über die anderen Einzigartigen kennt, die von Zeit zu Zeit verschwanden und niemals wiederkehrten. Hast du entdeckt, was mit ihnen geschah?

Ein Grund für meine Flucht in die Zukunft ist wohl darin zu sehen, daß ich ungeduldig bin. Ich möchte die Ergebnisse dessen sehen, was du begonnen hast, aber die Zwischenstufen will ich auslassen — ich nehme an, daß sie ungemütlich werden. Es wird interessant sein, dann festzustellen, ob man sich deiner als Schöpfer oder als Zerstörer erinnert oder ob man sich überhaupt deiner erinnert.

Leb wohl, Alvin. Ich wollte dir eigentlich einige Ratschläge geben, aber ich glaube nicht, daß du sie annehmen würdest. Du wirst deinen eigenen Weg gehen, wie du es immer getan hast, und deine Freunde werden dir Werkzeuge sein, die du gebrauchst oder wegwirfst, je nach Notwendigkeit.

Das ist alles. Ich wüßte nicht, was es noch zu sagen gäbe.“ Einen Augenblick lang sah Khedron — der Khedron, den es nicht mehr gab, außer als Struktur elektrischer Impulse in den Gedächtniszellen der Stadt — mit Resignation und Trauer auf Alvin. Dann war der Bildschirm leer.

Alvin saß lange Zeit regungslos da. Er hatte Khedron nie besonders gern gehabt; die Persönlichkeit des Spaßmachers verhinderte jede enge Bindung, selbst wenn Alvin sie gewünscht hätte. Aber bei dem Gedanken an seine Abschiedsworte überfiel ihn Reue.

Seinetwegen war der Spaßmacher in die unbekannte Zukunft geflüchtet.

Aber eigentlich brauchte er sich doch dafür nicht schuldig zu fühlen, dachte Alvin. Es bewies nur, was er bereits gewußt hatte — daß Khedron ein Feigling war. Vielleicht kein größerer Feigling als alle anderen Menschen in Diaspar auch; dafür aber besaß er das zusätzliche Mißgeschick einer gewaltigen Phantasie. Alvin trug einen Teil der Verantwortung für sein Schicksal, aber keineswegs die gesamte Schuld.

Wen hatte er in Diaspar sonst gekränkt oder verletzt? Er dachte an Jeserac, seinen Lehrer, der seinem schwierigsten Schüler gegenüber unendliche Geduld bewiesen hatte. Er dachte an die vielen kleinen Freundlichkeiten seiner Eltern; jetzt, da er auf sie zurückblickte, waren es mehr, als er geglaubt hatte.

Und er dachte an Alystra. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte diese Liebe akzeptiert oder übersehen, wie es ihm beliebte. Aber was hätte er anderes tun sollen? Wäre sie glücklicher gewesen, wenn er sie verächtlich abgewiesen hätte.

Er begriff jetzt, warum er Alystra nie geliebt hatte, noch eine andere der Frauen von Diaspar. Diaspar hatte vieles vergessen, auch die wahre Bedeutung der Liebe. In Airlee hatte er den Müttern zugesehen, wie sie ihre Kinder auf den Knien schaukelten, und selbst diese schützende Zärtlichkeit für alle kleinen und hilflosen Wesen gespürt, die uneigennützige Zwillingsschwester der Liebe. Aber in Diaspar gab es keine Frau, die vom letzten Ziel der Liebe wußte oder danach strebte.

In der unsterblichen Stadt gab es keine wirklichen Gefühle, keine tiefen Leidenschaften. Vielleicht blühten solche Dinge nur, weil sie nicht ewig dauern konnten, weil sie immer unter jenem Schatten standen, den Diaspar verbannt hatte.

Das war der Augenblick, in dem Alvin begriff, worin seine Bestimmung lag. Bis jetzt war er unbewußter Handlanger seiner eigenen Willenskräfte gewesen. Aber nun wußte er, wohin. er wirklich gehen wollte.

Alvins Träumerei wurde rauh von dem Glockenton des Wandschirms unterbrochen. Der Klang verriet ihm sofort, daß es kein Anruf von außen war, sondern daß jemand erschienen war, um ihn persönlich zu sehen.

Er gab das Eintrittssignal; einen Augenblick später stand Jeserac vor ihm.

Sein Lehrer sah ihn ernst an. Aber es schien, als sei er dabei nicht unfreundlich gesinnt.

„Man hat mich gebeten, dich zum Rat zu bringen, Alvin“, sagte er. „Er wartet auf dich.“ Dann bemerkte Jeserac den Roboter und er betrachtete ihn neugierig. „Das ist also der Begleiter, den du von deinen Reisen mitgebracht hast. Es ist am besten, wenn er mit uns kommt.“

Das paßte Alvin sehr gut. Der Roboter hatte ihn bereits einmal aus einer gefährlichen Situation gerettet; vielleicht konnte er ihm noch einmal nützlich werden. Er fragte sich, was die Maschine über die Abenteuer und Wechselfälle dachte, in die sie verwickelt worden war, und wünschte zum zehntausendstenmal, verstehen zu können, was in ihr vorging. Alvin gewann den Eindruck, daß der Roboter zunächst beschlossen hatte, zu beobachten, zu prüfen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen, aber zunächst selbst nichts zu unternehmen, bis ihm die Zeit reif erschien. Dann würde er sich, vielleicht ganz plötzlich, zum Handeln entschließen, und es konnte sein, daß seine Aktionen mit Alvins Plänen nicht übereinstimmten.

Alystra erwartete sie an der Rampe, die zur Straße hinabführte. Selbst wenn Alvin sie wegen der Schuld an der Aufdeckung seines Geheimnisses hätte anklagen wollen, er brachte es nicht übers Herz. Ihre Qual war zu offensichtlich, und ihre Augen standen voll Tränen, als sie herbeilief, um ihn zu begrüßen.

„Oh, Alvin!“ rief sie. „Was werden sie mit dir tun?“

Alvin nahm ihre Hände mit einer Zärtlichkeit, die sie beide überraschte.

„Sorge dich nicht, Alystra“, sagte er. „Alles wird gut werden. Schließlich kann mich der Rat höchstens in die Gedächtnisanlagen zurückschicken — und irgendwie glaube ich nicht an diese Möglichkeit.“

Sanft entzog sich ihr Alvin und folgte Jeserac zum Ratssaal.

Alystras Herz war einsam, aber nicht mehr mit Bitterkeit erfüllt, als sie ihm nachsah. Sie wußte jetzt, daß sie ihn nicht verlor, weil er ihr nie gehört hatte.

Alvin bemerkte die seltsamen und entsetzten Blicke seiner Mitbürger kaum, als er mit seiner Begleitung durch die vertrauten Straßen schritt.

Von Zeit zu Zeit versicherte er sich, daß er nicht im geringsten beunruhigt und immer noch Herr der Situation war.

Sie warteten im Vorraum nur einige Minuten, aber das genügte Alvin, sich zu wundern, warum seine Beine so schwach schienen, obwohl er sich nicht fürchtete. Er hatte dieses Gefühl erst einmal gehabt, als er sich die letzten Meter auf den Berg hinaufzwang, wo ihm Hilvar den Wasserfall gezeigt hatte. Er fragte sich, was Hilvar jetzt wohl tat und ob sie sich jemals wieder treffen würden. Es war ihm plötzlich sehr wichtig, ihn wiederzusehen.

Die großen Türen glitten zur Seite, und er folgte Jeserac in den Saal. Die zwanzig Räte saßen bereits an ihrem sichelförmigen Tisch, und Alvin fühlte sich geschmeichelt, als er keinen leeren Platz bemerkte. Seit vielen Jahrhunderten hatte sich der Rat wieder einmal vollzählig versammelt. Die seltenen Sitzungen waren üblicherweise lediglich eine Formalität, die nur manchmal in einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des Rates und dem Zentralgehirn ihren Höhepunkt erlebte.

Alvin kannte die meisten Ratsmitglieder vom Sehen und fühlte sich unter so vielen vertrauten Gesichtern sicherer. Wie Jeserac schienen sie nicht unfreundlich — nur besorgt und verwirrt. Sie waren schließlich vernünftige Männer. Sie mochten sich darüber ärgern, daß man sie eines Besseren belehrt hatte, aber Alvin konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihm deshalb grollen würden. Früher wäre das eine äußerst voreilige Annahme gewesen, aber in gewisser Hinsicht hatten sich die Menschen gebessert.

Sie würden ihm eine gerechte Verhandlung gewährleisten, jedoch ihr Urteil konnte nicht den Ausschlag geben. Sein Richter war nicht mehr der Rat, sondern das Zentralgehirn.

16

Man begann ohne Förmlichkeiten. Der Präsident erklärte die Sitzung für eröffnet und wandte sich dann an Alvin.

„Alvin“, sagte er, ziemlich freundlich, „erzählen Sie uns bitte, was Ihnen zugestoßen ist, seit Sie vor zehn Tagen verschwanden.“

Die Anwendung des Wortes ›verschwinden‹ schien Alvin sehr bedeutsam. Sogar jetzt wollte der Rat nicht zugeben, daß er wirklich Diaspar verlassen hatte. Er fragte sich, ob sie wußten, daß Fremde in der Stadt gewesen waren, und bezweifelte es. In diesem Fall hätten sie sich aufgeregter verhalten.

Er berichtete seine Erlebnisse klar und ohne Übertreibungen; für die Ratsmitglieder waren sie ohnehin so seltsam und unglaublich, daß sie keiner Ausschmückung bedurften. Nur an einer Stelle wich er von der Wahrheit etwas ab, indem er die Art seiner Flucht aus Lys unterschlug.

Es schien mehr als wahrscheinlich, daß er sich noch einmal dieser Methode bedienen mußte.

Es war erstaunlich zu sehen, wie sich die Haltung der Ratsmitglieder im Verlauf seiner Erzählung veränderte. Anfangs waren sie skeptisch. Sie weigerten sich, die Umkehrung ihrer Glaubensgrundsätze, die Verletzung ihrer tiefsten Vorurteile anzuerkennen. Als ihnen Alvin von seinem leidenschaftlichen Wunsch berichtete, die Welt jenseits der Stadt zu erforschen, und seine durch Vernunft nicht belegbare Überzeugung erklärte, daß eine solche Welt existieren mußte, starrten sie ihn an, als sei er ein seltsames und unbegreifliches Tier. In ihren Augen war er es wirklich.

Aber schließlich mußten sie zugeben, daß er recht gehabt hatte und sie im Irrtum gewesen waren. Vielleicht gefiel ihnen nicht, was er mitteilte, aber die Wahrheit konnten sie nicht mehr leugnen. Wenn sie sich dazu versucht fühlten, brauchten sie nur Alvins stummen Begleiter anzusehen.

Es gab nur eine Stelle seines Berichtes, die ihre Entrüstung erregte — aber sie richtete sich nicht gegen ihn. Ein verärgertes Murmeln lief durch die Versammlung, als Alvin die Anstrengung der Bewohner von Lys erwähnte, jede Ansteckung durch Diaspar zu vermeiden, und von den Maßnahmen erzählte, die Seranis getroffen hatte, um eine derartige Katastrophe zu verhindern. Die Stadt war stolz auf ihre Kultur, und mit gutem Grund. Die Ratsmitglieder konnten nicht dulden, daß irgend jemand sie als minderwertig ansah.

Alvin bemühte sich, mit seinen Bemerkungen keinen Anstoß zu erregen; er wollte den Rat, soweit das möglich war, für sich gewinnen. Daher versuchte er durchweg den Eindruck zu erwecken, daß er in seinem Vorgehen nichts Falsches gesehen hatte und für seine Entdeckung eher Lob als Tadel erwartete. Das war die klügste Einstellung, denn sie entwaffnete seine Kritiker und bewirkte, daß die ganze Schuld auf den verschwundenen Khedron fiel, obwohl er das keineswegs beabsichtigt hatte. Alvin selbst, so erkannten seine Zuhörer, war zu jung, um die Gefahren seines Verhaltens zu sehen. Der Spaßmacher allerdings hätte es besser wissen müssen; er hatte sich verantwortungslos benommen. Sie wußten noch nicht, wie sehr Khedron mit ihnen übereinstimmte.

Auch Jeserac, als Alvins Lehrer, verdiente Tadel, und von Zeit zu Zeit warfen ihm einige Ratsmitglieder nachdenkliche Blicke zu. Es schien ihn nicht zu stören, obwohl er genau wußte, was sie dachten. Er hatte den ursprünglichsten Geist gelenkt, der seit der Frühzeit Diaspars erschienen war, und diese Ehre konnte ihm niemand nehmen.

Erst als Alvin die tatsächliche Wiedergabe seiner Abenteuer beendet hatte, versuchte er es mit Überredung. Irgendwie mußte er diese Männer von den Wahrheiten überzeugen, die er in Lys erfahren hatte, aber wie konnte er ihnen etwas wirklich begreiflich machen, das sie weder gesehen hatten noch sich vorstellen konnten?

„Ich halte es für eine Tragödie“, sagte er, „daß die beiden überlebenden Zweige der Menschheit voneinander getrennt sind. Eines Tages werden wir vielleicht wissen, warum es dazu kommen mußte, aber jetzt ist es richtiger, diesen Riß zu kitten und zu verhindern, daß es noch einmal geschieht. Als ich in Lys war, wandte ich mich gegen die dortige Einstellung, man sei uns überlegen; wir können sicher viel von ihnen lernen, sie aber auch von uns. Wenn wir beide glauben, nichts voneinander lernen zu können, wird da nicht deutlich, daß wir uns beide irren?“

Er sah erwartungsvoll auf die Reihe der Gesichter und fühlte sich ermutigt fortzufahren.

„Unsere Vorfahren“, erklärte er, „errichteten ein Imperium, das bis zu den Sternen reichte. Die Menschen verkehrten nach Belieben zwischen diesen Welten — und jetzt wagen sich ihre Nachkömmlinge nicht über die Mauern ihrer Stadt hinaus. Soll ich Ihnen sagen, warum?“ Er legte eine Pause ein; im großen Saal war es totenstill.

„Weil wir Angst haben — Angst vor einem Ereignis der Geschichte. In Lys erfuhr ich die Wahrheit, wenn ich sie auch längst vermutet hatte. Müssen wir uns immer wie Feiglinge in Diaspar verbergen, müssen wir heucheln, daß sonst nichts existiert — weil uns vor einer Milliarde von Jahren die Invasoren zur Erde zurückgetrieben haben?“

Er hatte den Finger auf ihre geheime Furcht gelegt — die Furcht, die er nie geteilt hatte und deren Macht er daher nie ganz verstehen konnte.

Nun sollten sie tun, was sie für richtig hielten, er hatte die Wahrheit dargelegt, wie er sie sah.

Der Präsident sah ihn ernst an.

„Haben Sie noch etwas zu sagen“, fragte er, „bevor wir beschließen, was zu tun ist?“

„Nur noch eines. Ich möchte diesen Roboter zum Zentralgehirn bringen.“

„Aber warum? Sie wissen, daß das Zentralgehirn alles wahrgenommen hat, was in diesem Raum vor sich ging.“

„Ich möchte trotzdem hingehen“, erwiderte Alvin höflich, aber hartnäkkig. „Ich ersuche um Genehmigung durch Rat und Zentralgehirn.“

Ehe der Präsident antworten konnte, tönte eine klare, ruhige Stimme durch den Saal. Alvin hatte sie noch nie gehört, aber er wußte, wer da sprach. Die Auskunftsmaschinen, die nur kleine Teilchen dieser großen Intelligenz waren, konnten zu den Menschen sprechen — aber sie besaßen nicht diesen unverwechselbaren Klang von Weisheit und Autorität.

„Er kann zu mir kommen“, sagte das Zentralgehirn.

Alvin sah den Präsidenten an. Es sprach für ihn, daß er seinen Sieg nicht auszunützen versuchte. Er fragte lediglich: „Erlauben Sie, daß ich gehe?“

Der Präsident sah sich im Ratssaal um, bemerkte keinen Widerspruch und erwiderte etwas hilflos: „Nun gut. Die Wachen werden Sie begleiten und wieder hierherbringen, sobald unsere Diskussion beendet ist.“

Alvin verbeugte sich leicht, die großen Türen weiteten sich, und er verließ langsam den Saal. Jeserac begleitete ihn, und als sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten, sah er seinen Lehrer an.

„Was, glaubst du, wird der Rat jetzt tun?“ fragte er besorgt. Jeserac lächelte.

„Immer noch ungeduldig?“ sagte er. „Ich weiß nicht, wieviel meine Vermutung wert ist, aber ich nehme an, sie werden das Grabmal Yarlan Zeys versiegeln, damit niemand deine Fahrt wiederholen kann. Dann ist Diaspar in der Lage, wie bisher weiterzuleben, ungestört von der Außenwelt.“

„Das fürchte ich auch“, meinte Alvin bitter.

„Und du hoffst immer noch, es verhindern zu können?“

Alvin antwortete nicht sofort; er wußte, daß Jeserac seine Absichten durchschaut hatte, aber wenigstens konnte der Lehrer seine Pläne nicht vorausahnen, denn er hatte keine. Er mußte improvisieren.

„Nehmen Sie mir das übel?“ sagte er, und Jeserac wunderte sich über den neuen Ton in seiner Stimme. Sie enthielt eine Andeutung von Demut, den winzigsten Hinweis darauf, daß Alvin zum erstenmal die Zustimmung seiner Mitmenschen suchte. Jeserac war gerührt, gleichzeitig aber auch zu klug, um ihn ernst zu nehmen. Alvin befand sich in einer schwierigen Lage; es schien daher nicht geraten, eine Verbesserung seines Charakters als dauerhaft anzuerkennen.

„Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten“, sagte Jeserac langsam.

„Ich fühle mich versucht zu sagen, daß Wissen an sich, jedes Wissen, wertvoll ist; man kann auch kaum bestreiten, daß du unser Wissen erheblich bereichert hast. Aber du hast auch unsere Gefahren vermehrt — und was wird auf lange Sicht wichtiger sein? Wie oft hast du dir das überlegt?“

Einen Augenblick sahen sich Lehrer und Schüler nachdenklich an, wobei vielleicht jeder den Standpunkt des anderen klarer sah als jemals zuvor.

Dann gingen sie den langen Korridor hinunter, während die Wachen geduldig hinter ihnen hermarschierten.

Alvin wußte, daß diese Welt nicht für den Menschen gemacht war. Unter grellem blauem Licht schienen sich die langen, breiten Gänge ins Unendliche zu erstrecken. In diesen großen Korridoren eilten die Roboter von Diaspar hin und her, aber jahrhundertelang hallten dort keine menschlichen Schritte.

Hier lag die unterirdische Stadt, die Maschinenstadt, ohne die Diaspar nicht leben konnte. Einige hundert Meter voraus führte der Gang in einen runden Saal von beinahe zwei Kilometern Durchmesser; das Dach wurde von großen Säulen getragen, auf denen auch das unvorstellbare Gewicht der Energiezentrale lastete. Hier brütete, den Plänen zufolge, das Zentralgehirn in Ewigkeit über dem Schicksal Diaspars.

Der Saal war vorhanden, und er schien sogar noch größer zu sein, als sich Alvin vorzustellen gewagt hatte — aber wo war das Zentralgehirn?

Irgendwie glaubte er eine einzige riesige Maschine vorzufinden, obwohl er wußte, wie naiv diese Vorstellung war. Das gewaltige Panorama unter ihm brachte ihn vor Staunen und Unsicherheit zum Stehen.

Der Korridor, durch den sie hierhergekommen waren, endete hoch oben in der Saalwand, und auf jeder Seite schwangen sich große Rampen zum fernen Boden hinab. Diese hell erleuchtete Fläche bedeckten Hunderte von großen weißen Gebilden; Alvin glaubte einen Augenblick lang, auf eine unterirdische Stadt zu blicken. Dieser Eindruck war ungeheuer lebendig, und er konnte sich nie mehr ganz davon lösen. Nirgends traf er den erwarteten Anblick — das vertraute Schimmern von Metall, das der Mensch seit Anbeginn der Zeiten mit seinen Dienern in Verbindung brachte.

Hier lag die Endstufe einer Entwicklung, beinahe so alt wie die des Menschen selbst. Ihre Anfänge verloren sich im Nebel der Frühzeit, als die Menschheit erstmals den Gebrauch der Energie erlernt und lärmende Maschinen um die Welt geschickt hatte. Dampf, Wasser, Wind — alle waren eine Weile gezähmt und dann aufgegeben worden. Jahrhunderte hindurch hatte Energie der Materie die Welt versorgt, bis auch sie übertroffen wurde; bei jeder Veränderung vergaß man die alten Maschinen und setzte neue an ihren Platz. Ganz langsam, über Jahrhunderte hinweg, näherte man sich dem Idealbild der vollkommenen Maschine — jenem Ideal, das einst ein Traum, dann eine ferne Möglichkeit gewesen und schließlich zur Wirklichkeit geworden war: Eine Maschine darf keine beweglichen Teile besitzen.

Hier lag der letztmögliche Ausdruck dieses Ideals. Der Mensch hatte vielleicht hundert Millionen Jahre dazu benötigt und im Augenblick des Triumphes der Maschine auf ewig den Rücken gekehrt. Sie hatte den letzten Punkt erreicht und konnte sich nun ewig selbst erhalten, während sie ihm diente.

Alvin fragte sich nicht mehr, welche dieser stummen weißen Strukturen das Zentralgehirn war. Er wußte, daß es alle umfaßte und sich weit über diesen Saal hinaus erstreckte, die zahllosen anderen Maschinen in Diaspar einschloß, seien sie beweglich oder stationär. Wie sein eigenes Gehirn die Summe vieler Milliarden einzelner Zellen war, so verteilten sich die physischen Elemente des Zentralgehirns über ganz Diaspar.

Dieser Saal enthielt vielleicht nicht mehr als das Schaltsystem, durch welches alle Einheiten miteinander in Verbindung standen.

Unsicher starrte Alvin auf die stumme Arena. Das Zentralgehirn mußte wissen, daß er hier war, wie es alles wußte, was in Diaspar geschah. Er konnte nichts weiter tun, als auf seine Anweisungen zu warten.

Die schon vertraute, aber noch immer scheuerregende Stimme war so ruhig und so nahe bei ihm, daß er zweifelte, ob seine Begleitung sie ebenfalls hören konnte. „Geh die linke Rampe hinunter“, sagte sie. „Ich werde dir dann den weiteren Weg zeigen.“

Er ging langsam die Rampe hinunter; der Roboter schwebte über ihm.

Weder Jeserac noch die Wachen folgten ihm; er fragte sich, ob sie angewiesen waren hierzubleiben oder ob sie entschieden hatten, ihn von oben aus zu beobachten. Oder vielleicht trauten sie sich nicht näher heran…


Am Fuß der Rampe gab die ruhige Stimme Alvin wieder einen Hinweis, und er schritt zwischen Reihen titanischer Formen dahin. Dreimal sprach die Stimme zu ihm, ehe er wußte, daß er sein Ziel erreicht hatte.

Die Maschine, vor der er stand, war kleiner als die meisten anderen, aber er fühlte sich wie ein Zwerg vor ihr. Die fünf Reihen mit ihren weit ausschwingenden horizontalen Linien vermittelten den Eindruck eines kauernden Raubtieres. Alvin sah auf seinen Roboter, dann wieder auf die Maschine und konnte kaum glauben, daß sie beide Produkte derselben Entwicklung waren und beide mit demselben Namen belegt wurden.

Etwa einen Meter über dem Boden lief eine breite, durchsichtige Tafel an der ganzen Maschine entlang. Alvin preßte seine Stirn gegen das glatte, seltsam warme Material und starrte in die Maschine. Zuerst sah er nichts; dann beschattete er die Augen und erkannte Tausende schwacher Lichtpünktchen, die im Nichts zu schweben schienen. Sie waren hintereinander in einem dreidimensionalen Gitterwerk gruppiert und erschienen ihm so seltsam und unbegreiflich, wie die Sterne den ersten Menschen vorgekommen sein mußten. Obwohl er sie lange beobachtete, rührten sich die farbigen Lichter nicht von der Stelle.

Wenn er in sein eigenes Gehirn sehen könnte, dachte Alvin, würde er genauso wenig verstehen. Die Maschine schien träge und reglos, weil er ihre Gedanken nicht sehen konnte.

Alvin wartete schweigend auf ein Zeichen. Er fragte sich, wie das Zentralgehirn seine Anwesenheit wahrnahm, wie es ihn sehen und hören konnte. Nirgends waren Sinnesorgane zu sehen — keines der Gitter oder Bildschirme oder Kristallaugen, durch die der Roboter normalerweise die Welt aufnahm.

„Bring dein Problem vor“, sagte die ruhige Stimme an seinem Ohr. Es schien merkwürdig, daß diese überwältigende Masse von Maschinen ihre Gedanken so sanft formulieren konnte. Dann begriff Alvin, daß er sich schmeichelte; vielleicht beschäftigte sich nicht einmal ein Millionstel des Zentralgehirns mit ihm. Er war eines der unzähligen Vorkommnisse, mit denen das Zentralgehirn zu tun hatte.

Es war schwierig, zu einem Wesen zu sprechen, das den ganzen Raum erfüllte. Alvins Worte schienen in der leeren Luft zu vergehen, sobald er sie ausgesprochen hatte.

„Was bin ich?“ fragte er.

Hätte er diese Frage an eine der Auskunftsmaschinen in der Stadt gerichtet, so hätte er die Antwort vorher gewußt. Sie erwiderten stets: ›Du bist ein Mensch. ' Aber jetzt verhandelte er mit einer völlig andersgearteten Intelligenz. Das Zentralgehirn würde wissen, was er meinte, aber das hieß noch lange nicht, daß es ihm auch antworten würde.

In der Tat entsprach die Erwiderung genau Alvins Befürchtungen.

„Ich kann diese Frage nicht beantworten. Würde ich es tun, dann bedeutete es die Preisgabe der Absicht meiner Erbauer und damit ihre Vereitelung.“

„Meine Rolle wurde demnach eingeplant, als man die Stadt entwarf?“

„Das gilt für alle Menschen.“

Diese Antwort ließ Alvin einen Augenblick verstummen. Es war richtig; die menschlichen Einwohner Diaspars waren ebenso sorgfältig geplant worden wie seine Maschinen. Die Tatsache seiner Einzigartigkeit machte Alvin zwar zu einer Seltenheit, aber sie war noch keine Tugend an sich.

Er wußte, daß er über das Geheimnis seiner Herkunft hier nicht mehr erfahren würde. Seine Enttäuschung war nicht besonders groß; er fühlte, daß er der Wahrheit bereits sehr nahe kam, und außerdem war das nicht der Hauptgrund seines Hierseins.

Er sah den Roboter aus Lys an und überlegte sich, wie er sich weiterhin verhalten sollte. Vielleicht reagierte er gewaltsam, wenn er erfuhr, was Alvin vorhatte, dann durfte er nicht hören, was er dem Zentralgehirn zu sagen hatte.

„Kannst du eine Zone des Schweigens errichten?“ fragte er.

Augenblicklich spürte er das unverwechselbare tote Gefühl, die totale Ausschaltung aller Geräusche, die in einer solchen Zone herrschten. Die Stimme des Zentralgehirns, jetzt seltsam matt und unheimlich, sprach:

„Niemand kann uns hören. Sprich.“

Alvin blickte auf den Roboter; er hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

Vielleicht argwöhnte er nichts. Vielleicht war er ihm als treuer Diener nach Diaspar gefolgt, ohne eigene Pläne im Sinn zu haben.

„Du hast gehört, wie ich diesen Roboter traf“, begann Alvin. „Er muß unbezahlbares Wissen über die Vergangenheit besitzen, zurück bis zu jenen Tagen, ehe die Stadt in der heutigen Form bestand. Vielleicht ist er sogar in der Lage, uns über andere Welten zu berichten, da er den Meister bei seinen Flügen begleitete. Unglücklicherweise sind seine Sprachzentren blockiert. Ich weiß nicht, wie wirksam diese Sperre ist, aber ich bitte dich, sie aufzuheben.“

Die Stimme klang tot und hohl, als die Schweigezone jedes Wort verschluckte, ehe es ein Echo bilden konnte. Er wartete in dieser unsichtbaren Leere auf die Entscheidung.

„Dein Auftrag umfaßt zwei Probleme“, erwiderte das Zentralgehirn. „Eines davon ist moralischer, das andere technischer Natur. Dieser Roboter wurde so konstruiert, daß er nur den Befehlen eines bestimmten Mannes gehorchte. Welches Recht habe ich, mich über sie hinwegzusetzen, selbst wenn ich es tun kann?“

Alvin hatte diese Frage vorausgesehen und verschiedene Antworten darauf bereit.

„Wir wissen nicht genau, welche Form das Verbot des Meisters hatte“, erwiderte er. „Wenn du mit dem Roboter sprechen kannst, wird es dir vielleicht gelingen, ihn davon zu überzeugen, daß sich die Umstände, unter denen die Sperre erfolgte, geändert haben.“

Das war die naheliegendste Möglichkeit. Alvin hatte es, ohne Erfolg, selbst versucht, aber er hoffte, daß es dem Zentralgehirn gelingen würde.

„Das hängt ausschließlich von der Art der Sperre ab“, kam die Antwort.

„Man kann eine Sperre errichten, die bei einer fremden Einflußnahme den Inhalt aller Gedächtniszellen löscht. Ich halte es jedoch nicht für wahrscheinlich, daß der Meister die dafür erforderliche Geschicklichkeit besaß. Ich werde deine Maschine fragen, ob in ihren Gedächtniseinheiten ein Löschkreis besteht.“

„Aber angenommen“, sagte Alvin, plötzlich beunruhigt, „die Löschung wird schon dadurch hervorgerufen, daß man diese Frage stellt?“

„Es gibt ein Standardverfahren für solche Fälle, an das ich mich halten werde. Ich bereite sekundäre Anweisungen vor, die der Maschine befehlen, meine Frage zu ignorieren, falls eine derartige Situation besteht.

Damit wird sie sich in ein logisches Paradox verwickeln, weil sie meinen Anweisungen zuwiderhandeln muß, ob sie nun antwortet oder nichts sagt. In einem derartigen Fall verhalten sich alle Roboter gleich, zu ihrem eigenen Schutz. Sie löschen ihre Aufnahmeeinheiten und tun so, als hätten sie keine Frage vorgelegt bekommen.“

Alvin bedauerte, die Sache angeschnitten zu haben, und beschloß, die gleiche Taktik anzuwenden und so zu tun, als habe er die Frage nie gestellt. Zumindest hatte er sich einer Tatsache vergewissert — das Zentralgehirn war in der Lage, mit allen Fällen fertig zu werden, die in den Gedächtniseinheiten des Roboters enthalten sein mochten. Alvin wollte nicht aus der Maschine einen Haufen Schrott machen; lieber hätte er sie wieder nach Shalmirane zurückgebracht.

Er wartete so geduldig, wie es ihm möglich war, während das stumme, unbegreifliche Treffen der Gehirne stattfand. Hier ereignete sich eine Begegnung zweier Intelligenzen, beide vom menschlichen Genie im langverlorenen goldenen Zeitalter geschaffen. Und jetzt konnte sie kein lebender Mensch völlig begreifen.

Viele Minuten später sprach die hohle Stimme des Zentralgehirns zu Alvin. „Ich habe teilweisen Kontakt aufgenommen“, sagte sie. „Immerhin kenne ich die Art der Sperre, und ich glaube zu wissen, warum sie errichtet wurde. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, sie aufzuheben. Der Roboter wird erst wieder sprechen, wenn die Großen auf die Erde kommen.“

„Aber das ist doch Unsinn!“ rief Alvin. „Der andere Anhänger des Meisters glaubte auch an sie und versuchte uns zu erklären, wer sie seien.

Die meiste Zeit schwatzte er unverständliches Zeug. Die Großen hat es nie gegeben, und es wird sie nie geben!“

Alvin fühlte bittere, hilflose Enttäuschung. Er wurde von der Wahrheit durch die Wünsche eines Mannes abgehalten, der wahnsinnig gewesen und vor einer Milliarde Jahre gestorben war.

„Du magst recht haben“, erklärte das Zentralgehirn, „wenn du sagst, daß es die Großen nie gegeben hat. Aber das heißt nicht, daß es sie nie geben wird.“

Lange Zeit war es wieder still. Alvin versuchte den Sinn dieser Bemerkung zu ergründen, während die beiden Roboter wieder miteinander in Verbindung traten. Und plötzlich, ohne Vorankündigung, stand Alvin in Shalmirane.

17

Es sah genauso aus, wie er es verlassen hatte; die große schwarze Mulde schluckte das Sonnenlicht, ohne die Strahlen zu reflektieren. Alvin stand vor den Ruinen der Festung und schaute auf den See hinaus, dessen regungslose Oberfläche bewies, daß der große Polyp nicht mehr als eigenes, bewußtes Wesen existierte.

Der Roboter schwebte noch neben ihm, aber von Hilvar war nichts zu sehen. Er fand nicht die Zeit, sich zu wundern oder über die Abwesenheit seines Freundes besorgt zu sein, weil im nächsten Augenblick etwas so Phantastisches geschah, daß alle anderen Gedanken verdrängt wurden.

Der Himmel begann sich zu spalten. Ein dünner Keil der Dunkelheit reichte vom Horizont bis zum Zenit und verbreitete sich langsam, als brächen Nacht und Chaos über das Universum herein. Unerbittlich weitete sich der Keil, bis er ein Viertel des Himmels umfaßte. Trotz seiner Kenntnisse der anerkannten Fakten der Astronomie konnte sich Alvin nicht des überwältigenden Eindruckes erwehren, daß er und seine Welt unter einer großen blauen Kuppel lagen und daß jetzt irgend etwas von draußen durch diese Kuppel brach.

Der Nachtkeil hörte auf zu wachsen. Die Mächte, die ihn geschaffen hatten, starrten jetzt auf das neuentdeckte Spielzeuguniversum hinunter und berieten sich vielleicht, ob es ihre Aufmerksamkeit lohnte. Unter dieser kosmischen Überprüfung fühlte Alvin keine Unruhe, keine Angst. Er wußte, daß er einer Macht und Weisheit gegenüberstand, vor der ein Mensch wohl Scheu, aber nicht Entsetzen empfinden konnte.

Und jetzt hatten sie entschieden — sie würden einige Fragmente der Ewigkeit an die Erde und ihre Bewohner verschwenden. Sie kamen durch das Fenster, das sie in den Himmel gebrochen hatten.

Wie die Funken aus einer himmlischen Schmiede trieben sie auf die Erde hinab. Dichter und dichter kamen sie, bis ein feuriger Wasserfall vom Himmel herabströmte und sich in Seen aus flüssigem Licht am Boden niederschlug. Alvin brauchte die Worte nicht mehr, die in seinen Ohren klangen: „Die Großen sind gekommen.“

Das Feuer erreichte ihn, und es brannte nicht. Es war überall, es füllte die große Mulde von Shalmirane mit goldenem Glühen. Alvin sah, daß es keine formlose Lichtflut war; es besaß Form und Struktur. Es begann sich in deutliche Umrisse aufzuteilen, in getrennten wilden Wirbeln zu sammeln. Die Wirbel drehten sich immer schneller um ihre Achsen, sie stiegen empor und bildeten Säulen, in denen Alvin seltsame Formen erkennen konnte. Von diesen glühenden Säulen tönte es leise, unendlich fern und geheimnisvoll süß: „Die Großen sind gekommen.“

Diesmal kam eine Antwort. Als Alvin die Worte hörte: „Die Diener des Meisters grüßen euch. Wir haben euer Erscheinen erwartet“, wußte er, daß das Hindernis gefallen war. Und in diesem Augenblick stand er wieder vor dem Zentralgehirn in den Tiefen Diaspars.

Es war nur eine Illusion gewesen, nicht wirklicher als die Phantasiewelt der Abenteuer, in der er viele Stunden seiner Jugend verbracht hatte.

Aber wie war sie geschaffen worden? Woher kamen die seltsamen Bilder?

„Es war ein außergewöhnliches Problem“, sagte die ruhige Stimme des Zentralgehirns. „Ich wußte, daß der Roboter eine körperliche Vorstellung von den Großen haben mußte. Wenn ich ihn davon überzeugen konnte, daß die ihm vermittelten Sinneseindrücke mit diesem Bild übereinstimmten, war das übrige einfach.“

„Und wie gelang dir das?“

„Einfach ausgedrückt, indem ich den Roboter fragte, wie die Großen aussehen, und dann die Struktur übernahm. Sie war sehr unvollkommen, und ich mußte improvisieren. Ein- oder zweimal begann das vor mir geschaffene Bild erheblich von der Vorstellung des Roboters abzuweichen, aber ich bemerkte seine Verwirrung und veränderte das Bild, ehe er Verdacht schöpfen konnte. Du wirst begreifen, daß ich Hunderte von Anlagen einsetzen kann, wo dem Roboter nur eine Zelle zur Verfügung steht, und so schnell von einem Bild zum anderen überzuwechseln vermag, daß der Wechsel nicht erkennbar wird. Eigentlich war es ein Zauberkunststück; es gelang mir, die Sinnesanlagen des Roboters zu überladen und auch seine kritischen Fähigkeiten zu überwältigen. Was du gesehen hast, war nur das letzte, korrigierte Bild — jenes, das den Eröffnungen des Meisters am meisten entsprach. Es war unvollkommen, aber es genügte. Der Roboter war lange genug von seiner Echtheit überzeugt, so daß die Sperre aufgehoben wurde, und in diesem Augenblick konnte ich mit seinem Verstand völligen Kontakt aufnehmen. Er ist nicht mehr wahnsinnig; er wird alle Fragen beantworten, die du ihm zu stellen hast.“

Alvin erinnerte sich an die Warnung des Zentralgehirns und fragte besorgt: „Wie steht es mit den moralischen Einwänden, die dich zögern ließen, die Befehle des Meisters außer Kraft zu setzen?“

„Ich habe entdeckt, warum sie gegeben wurden. Wenn du seine Lebensgeschichte im einzelnen durchgehst, wie es jetzt möglich ist, wirst du feststellen, daß er behauptete, viele Wunder vollbracht zu haben.

Seine Anhänger glaubten ihm, und ihre Überzeugungen steigerten seine Macht. Aber für alle diese Wunder gab es natürlich irgendeine einfache Erklärung — wenn die Wunder überhaupt stattfanden. Es überrascht mich, daß sonst sehr intelligente Menschen auf solche Dinge hereinfallen.“

„Der Meister war also ein Betrüger?“

„Nein, so einfach ist das nicht. Wenn er nur ein Scharlatan gewesen wäre, hätte er nie diesen Erfolg gehabt, und seine Bewegung hätte sich niemals so lange gehalten. Er war ein guter Mensch, und vieles an seiner Lehre war richtig und weise. Am Schluß glaubte er an seine eigenen Wunder, aber er wußte, daß es einen Zeugen gab, der sie widerlegen konnte. Der Roboter kannte seine sämtlichen Geheimnisse; er war sein Sprecher und sein Mitstreiter; wenn man ihn aber ausführlich befragen sollte, konnte er die Grundlage seiner Macht zerstören. Deswegen befahl er ihm, seine Erinnerungen bis zum letzten Tag des Universums, wenn die Großen kämen, nicht preiszugeben. Es scheint kaum glaublich, daß in einem Menschen eine derartige Mischung aus Aufrichtigkeit und Täuschung bestehen kann, aber so war es.“

Alvin fragte sich, was der Roboter über seine Befreiung von der uralten Fessel dachte. Er war genügend kompliziert, um Gefühle wie Groll und Zorn verstehen zu können. Vielleicht haßte er den Meister, weil er ihn versklavt hatte — vielleicht haßte er Alvin und das Zentralgehirn, weil sie ihm den gesunden Verstand wieder aufgezwungen hatten.

Die Zone des Schweigens war aufgehoben; sie brauchten nichts mehr geheimzuhalten. Der Augenblick, auf den Alvin gewartet hatte, war gekommen. Er wandte sich an den Roboter und stellte ihm die Frage, die ihn verfolgte, seit er die Geschichte des Meisters gehört hatte.


Jeserac und die Wachen warteten immer noch geduldig. Oben auf der Rampe blickte Alvin noch einmal auf den Saal zurück. Unter ihm lag eine tote Stadt aus seltsamen weißen Gebäuden, eine vom grellen Licht gebleichte Stadt, nicht für menschliche Augen gedacht. Solange die Welt bestand, würden diese stummen Maschinen hier sein.

Obwohl Jeserac auf dem Weg zum Ratssaal Alvin befragte, erfuhr er nichts von dem Gespräch mit dem Zentralgehirn, weil Alvin von seinem Erfolg wie berauscht und zu keinem vernünftigen Gespräch fähig war.

Jeserac mußte sich in Geduld fassen und darauf vertrauen, daß Alvin bald aus seinem Traumzustand aufwachen würde.

Während des ganzen Rückwegs gewann Alvin immer größeren Kontakt zu der Maschine, die er aus ihrer langen Gefangenschaft befreit hatte.

Sie war immer in der Lage gewesen, seine Gedanken zu empfangen, aber vorher hatte er nie gewußt, ob sie seinen Befehlen gehorchen würde. Jetzt gab es diese Unsicherheit nicht mehr; er konnte mit ihr wie mit einem anderen Menschen sprechen, aber er wies sie an, einfache Gedankenbilder zu verwenden, solange sie nicht allein waren. Manchmal ärgerte er sich über die Tatsache, daß Roboter miteinander telepathisch verkehren konnten, obwohl es dem Menschen nicht möglich war — außer in Lys. Auch diese Fähigkeit hatte Diaspar verloren oder absichtlich beseitigt.

Er setzte das stumme, aber etwas einseitige Gespräch fort, während sie im Vorraum des Ratssaales warteten. Bei der gegenwärtigen Situation bot sich unabweisbar der Vergleich mit Lys an, als Seranis und ihre Berater versucht hatten, ihn ihrem Willen gefügig zu machen. Er hoffte, eine weitere Auseinandersetzung vermeiden zu können, aber wenn es soweit kommen sollte, war er weit besser gerüstet als je zuvor.

Sein erster Blick auf die Räte verriet ihm die Entscheidung. Er war weder überrascht noch besonders enttäuscht und zeigte keine der Gefühlsaufwallungen, die die Ratsmitglieder erwartet haben mochten, als der Präsident die Entscheidung begründete.

„Alvin“, begann der Präsident, „wir haben mit großer Sorgfalt die Situation geprüft, die durch deine Entdeckung entstanden ist, und sind zu einer einstimmigen Entscheidung gelangt. Weil niemand eine Veränderung unserer Lebensweise will und weil ferner nur sehr selten jemand geboren wird, der Diaspar überhaupt verlassen kann, ist das Tunnelsystem nach Lys unnötig und sicher auch eine Gefahr. Der Zugang zu der Fließstraßenhöhle wurde daher versiegelt.

Überdies wird eine Durchforschung der MonitorGedächtnisanlagen veranlaßt, da möglicherweise noch andere Wege aus der Stadt hinausführen.

Wir haben uns auch überlegt, ob gegen dich persönlich etwas zu unternehmen sei. Unter Berücksichtigung deiner Jugend und der seltsamen Umstände deiner Herkunft kamen wir zu der Auffassung, einen Tadel für dein Verhalten als unberechtigt anzusehen. Im Gegenteil. Durch die Aufdeckung einer möglichen Gefahr für unsere Lebensweise hast du unserer Stadt einen Dienst geleistet, und wir sprechen dir dafür ausdrücklich unsere uneingeschränkte Anerkennung aus.“

Es gab ein zustimmendes Gemurmel, und die Mienen der Räte nahmen einen Ausdruck der Zufriedenheit an. Man hatte eine schwierige Situation schnellstens bereinigt, eine Zurechtweisung Alvins vermieden und konnte nun wieder seiner Wege gehen, in der Überzeugung, als Bürger von Diaspar seine Pflicht getan zu haben. Bei einigem Glück mochte es Jahrhunderte dauern, bis man wieder zusammentreten mußte.


Der Präsident sah Alvin erwartungsvoll an; vielleicht hoffte er, daß Alvin in seiner Erwiderung die Güte des Rates würdigen werde. Er wurde enttäuscht.

„Darf ich eine Frage stellen?“ fragte Alvin höflich.

„Selbstverständlich.“

„Das Zentralgehirn hat Ihrem Vorgehen vermutlich zugestimmt?“

Normalerweise wäre das eine unverschämte Frage gewesen. Der Rat brauchte seine Beschlüsse nicht zu rechtfertigen oder mitzuteilen, wie er zu ihnen gelangt war. Aber Alvin genoß das Vertrauen des Zentralgehirns, aus irgendeinem seltsamen Grund. Er nahm eine bevorzugte Stellung ein.

Die Frage verursachte deutlich einige Verwirrung, und die Antwort wurde etwas widerwillig gegeben.

„Wir haben uns mit dem Zentralgehirn besprochen. Es hat uns angewiesen, nach eigenem Ermessen zu entscheiden.“

Das entsprach Alvins Vermutung. Das Zentralgehirn hatte sich im selben Augenblick mit dem Rat verständigt, als es auch mit ihm sprach. Es wußte ebensogut wie Alvin, daß die Entscheidungen des Rates jetzt nichts mehr bedeuteten. Die Zukunft war den Räten in dem Augenblick für immer entglitten, als sie in glücklicher Unwissenheit glaubten, die Krise endlich überwunden zu haben.

Alvin fühlte keine Überlegenheit, keine süßen Vorfreuden des Triumphes, als er diese lächerlichen alten Männer ansah, die sich für die Herrscher Diaspars hielten. Er hatte den wirklichen Herrscher der Stadt gesehen und in der ernsten Stille seiner strahlenden, unterirdischen Stadt zu ihm gesprochen. Diese Begegnung hatte die Arroganz fast ganz aus ihm vertrieben, aber der Rest reichte noch für ein letztes Wagnis, das alle anderen übertreffen würde.

Als er sich vom Rat verabschiedete, fragte er sich, ob sie über seine stille Ergebenheit staunten. Die Wachen begleiteten ihn nicht mehr; er stand nicht mehr unter Beobachtung, jedenfalls nicht so offenkundig. Nur Jeserac folgte ihm auf die farbigen, überfüllten Straßen hinaus.

„Nun, Alvin“, sagte er. „Du hast heute deine besten Manieren vorgeführt, aber mich kannst du nicht täuschen. Was hast du vor?“

Alvin lächelte. „Ich wußte, daß du etwas ahnen würdest. Wenn du mich begleiten willst, werde ich dir zeigen, warum die Fließstraßenhöhle nach Lys nicht mehr wichtig ist. Ich möchte auch noch ein anderes Experiment versuchen; es wird dir nichts passieren, aber vielleicht unangenehm für dich sein.“


„Nun gut. Man hält mich zwar immer noch für deinen Lehrer, aber die Rollen scheinen vertauscht zu sein. Wohin führst du mich?“

„Wir gehen zum Turm von Loranne, und ich werde dir die Welt außerhalb von Diaspar zeigen.“

Jeserac erblaßte. Dann nickte er kurz, als traue er sich nicht zu sprechen, und folgte Alvin hinaus auf die gleitende Fläche der Fließstraße.

Jeserac zeigte keine Furcht, als sie den langen Tunnel durchschritten, durch den der kalte Wind nach Diaspar wehte. Der Tunnel hatte sich verändert; das Steingitter war verschwunden. Es diente keinem besonderen Zweck, und das Zentralgehirn hatte es auf Alvins Bitte hin kommentarlos entfernt. Später würde es die Monitoren vielleicht anweisen, das Gitter wieder anzubringen. Aber im Augenblick öffnete sich der Tunnel unversperrt und ungeschützt auf die Außenmauer der Stadt.

Erst als Jeserac das Ende des Luftschachtes fast erreicht hatte, begriff er, daß die Außenwelt unmittelbar vor ihm lag. Seine Schritte wurden unsicherer, und schließlich blieb er ganz stehen. Alvin erinnerte sich, wie Alystra damals davongelaufen war, und er überlegte, wie er Jeserac zum Weitergehen bewegen konnte.

„Ich will ja nur, daß du hinaussiehst“, bat er, „und nicht, daß du die Stadt verlassen sollst. Das wirst du doch gerade noch fertigbringen!“

Während seines kurzen Aufenthaltes in Airlee hatte Alvin eine Mutter beobachtet, die ihrem Kind das Laufen beibrachte. Er wurde unweigerlich daran erinnert, als er Jeserac den Korridor hinaufbettelte und aufmunternde Bemerkungen machte, während sein Lehrer widerwillig Fuß vor Fuß setzte. Er wollte gegen den inneren Zwang ankämpfen, aber es war ein verzweifelter Kampf. Alvin fühlte sich fast so erschöpft wie der alte Mann, als er Jeserac endlich an einen Punkt gelotst hatte, von dem aus er die weite, ununterbrochene Wüstenlandschaft sehen konnte.

Die seltsame Schönheit dieser Szene schien Jeserac seine Angst vergessen zu lassen. Die Sanddünen und fernen, alten Berge schlugen ihn ganz offensichtlich in ihren Bann. Es war Spätnachmittag, und bald würde die Nacht über dieses Land hereinbrechen.

„Ich habe dich hergebeten“, sagte Alvin hastig, als könnte er seine Ungeduld kaum bezähmen, „weil ich weiß, daß du mehr als jeder andere berechtigt bist, zu sehen, wohin mich meine Reisen geführt haben. Ich wollte, daß du die Wüste siehst, und ich brauche dich auch als Zeugen, damit der Rat weiß, was ich getan habe.

Wie ich dem Rat schon berichtete, brachte ich diesen Roboter von Lys mit, in der Hoffnung, das Zentralgehirn würde in der Lage sein, die vom Meister errichtete Gedächtnissperre aufzuheben. Mit einem Trick, den ich immer noch nicht ganz begreife, hatte das Zentralgehirn Erfolg. Jetzt stehen mir alle Erinnerungen des Roboters zur Verfügung, ebenso auch seine Spezialfertigkeiten. Eine von ihnen werde ich jetzt anwenden. Paß auf.“

Auf einen stummen Befehl hin schwebte der Roboter durch die Tunnelöffnung hinaus, beschleunigte sich und war im Verlauf weniger Sekunden nur noch ein fernes metallisches Blitzen im Sonnenlicht. Er flog in niedriger Höhe über die Wüste dahin, über den Sanddünen, die sich wie erstarrte Wellen kreuzten. Jeserac gewann den Eindruck, daß er etwas suchte.

Dann stieg der glitzernde Punkt plötzlich empor und kam dreihundert Meter über dem Boden zum Stillstand. Im gleichen Augenblick seufzte Alvin erleichtert. Er sah Jeserac an, als wollte er sagen: „Das ist es!“

Zuerst konnte Jeserac keine Veränderung erkennen. Dann sah er, daß sich eine Staubwolke langsam von der Wüste erhob.

Nichts ist schrecklicher als eine Bewegung, wo es gar keine geben kann, aber Jeserac befand sich jenseits aller Überraschung und Angst, als sich die Sanddünen zu teilen begannen. Unter dem Wüstenboden rührte sich etwas, und dann erreichte ihn das Krachen stürzender Erde und das Donnern zerreißender Felsen. Plötzlich stieg eine riesige Sandfontäne Hunderte von Metern empor und verbarg den Boden.

Langsam trieb der Staub auf die gezackte Wunde in der Wüste hinab.

Aber Jeserac und Alvin starrten immer noch auf den Himmel, in dem zuerst nur der Roboter gewartet hatte. Jetzt endlich wußte Jeserac, warum Alvin die Entscheidung des Rates so gleichgültig aufgenommen hatte.

Warum er sich nicht aufregte, als man ihm von der Versiegelung der Fließstraßenhöhle erzählte.

Die Schicht aus Erde und Gestein konnte die stolzen Umrisse des Schiffes nicht verbergen, das jetzt aus der Wüste emporstieg. Während Jeserac es beobachtete, wandte es sich ihnen langsam zu, bis es zu einem Kreis verkürzt war. Dann begann sich der Kreis auszudehnen.

Alvin, sprach schnell, als habe er nicht viel Zeit.

„Dieser Roboter wurde als Begleiter und Diener des Meisters gebaut und vor allem als Pilot dieses Schiffes. Ehe er nach Lys kam, landete er auf dem Flughafen von Diaspar, der jetzt dort draußen unter dem Sand begraben liegt. Selbst damals dürfte er zum großen Teil unbenutzt gewesen sein; ich glaube, daß das Schiff des Meisters eines der letzten Raumfahrzeuge war, die auf der Erde landeten. Er lebte geraume Zeit in Diaspar, ehe er nach Shalmirane ging; die Untergrundbahn muß damals noch verkehrt haben. Aber das Raumschiff brauchte er nie mehr; es hat die ganze Zeit hier unter dem Wüstenboden gewartet. Wie Diaspar selbst, wie dieser Roboter, wurde es von seinen eigenen Gedächtnisanlagen bewahrt. Solange es eine Energiequelle besaß, konnte es weder zerfallen noch vernichtet werden; das in seinen Erinnerungszellen vorhandene Bild konnte nie vergehen, und dieses Bild bewahrte seine physische Struktur.“

Das von dem Roboter gelenkte Schiff war inzwischen nahe herangekommen; Jeserac konnte sehen, daß es etwa dreißig Meter lang war und an beiden Enden spitz zulief. Man sah keine Fenster oder andere Öffnungen, obwohl die dicke Erdschicht manches verbarg.

Sie wurden plötzlich mit Schmutz überschüttet, als sich ein Teil der Außenhülle öffnete; Jeserac erhaschte einen Blick auf eine kleine, leere Kabine mit einer zweiten Tür. Das Raumschiff schwebte dreißig Zentimeter vor der Öffnung des Luftschachtes, an die es sich vorsichtig heranmanövriert hatte.

„Leb wohl, Jeserac“, sagte Alvin. „Ich kann mich von meinen Freunden in Diaspar nicht verabschieden; erledige du das bitte für mich. Sag Eriston und Etania, daß ich bald zurückzukehren hoffe; wenn es nicht möglich sein sollte, danke ich ihnen für alles, was sie für mich getan haben.

Und ich bin auch dir dankbar, selbst wenn du diese Anwendung deiner Lektion nicht billigen kannst.

Was den Rat angeht — so sag ihm, daß man einen Weg, der einmal offensteht, nicht durch Beschlüsse wieder sperren kann.“

Das Raumschiff war nur noch ein dunkler Fleck am Himmel; wenig später hatte es Jeserac ganz aus den Augen verloren. Vom Himmel hallte das seltsamste Geräusch herüber, das der Mensch jemals erzeugt hatte — der langgezogene Donner, der in einen plötzlich luftleer gesaugten Tunnel am Himmel einstürzenden Luft.

Selbst als die letzten Echos in der Wüste verhallt waren, rührte sich Jeserac nicht. Er dachte an den Jungen, der verschwunden war, denn für Jeserac würde Alvin immer ein Kind bleiben, das einzige Kind, das in Diaspar seit langer Zeit zur Welt gekommen war. Alvin würde nie erwachsen werden; für ihn war das ganze Universum ein Spielzeug, ein Rätselspiel, das seinem Vergnügen diente. Jetzt hatte er das letzte, todbringende Spielzeug gefunden, das den Rest der menschlichen Zivilisation zerstören konnte — aber gleichgültig, wie es ausging, für ihn war es nur ein Spiel.

Die Sonne stand tief am Horizont; ein kühler Wind strich von der Wüste herüber. Aber Jeserac überwand seine Angst, und bald sah er zum erstenmal in seinem Leben die Sterne.

18

Selbst in Diaspar hatte Alvin selten diesen Luxus gesehen, der vor ihm lag, als die innere Tür der Luftschleuse zur Seite glitt. Der Meister war offensichtlich alles andere als ein Asket gewesen. Erst geraume Zeit später fiel Alvin ein, daß dieser Komfort keine sinnlose Verschwendung war; diese kleine Welt mußte das einzige Zuhause des Meisters auf vielen langen Reisen zwischen den Sternen gewesen sein.

Es gab keine sichtbaren Bedienungsgeräte, aber der große, ovale Bildschirm, der die ganze vordere Wand ausfüllte, bewies, daß es sich hier um keinen gewöhnlichen Raum handelte; drei niedrige Sofas waren in einem Halbkreis davor auf gestellt; dahinter standen zwei kleine Tische und eine Anzahl gepolsterter Sessel — von denen einige offensichtlich nicht für menschliche Insassen gedacht waren.

Als Alvin es sich vor dem Bildschirm bequem gemacht hatte, sah er sich nach dem Roboter um. Zu seiner Überraschung war er verschwunden; dann sah er ihn, säuberlich in einer Nische unter der gewölbten Decke verstaut. Er hatte den Meister durch den Weltraum zur Erde gebracht und war ihm dann als Diener nach Lys gefolgt. Jetzt war er bereit, seine alte Aufgabe wieder zu erfüllen, als seien die vergangenen Äonen nie gewesen.

Alvin gab ihm versuchsweise einen Befehl, und der riesige Bildschirm leuchtete auf. Vor ihm lag der Turm von Loranne, seltsam verkürzt und anscheinend auf die Seite gekippt. Weitere Versuche gaben ihm den Blick auf den Himmel, auf die Stadt und auf weite Wüstengebiete frei.

Das Bild war strahlend hell und fast unnatürlich scharf, obwohl ohne Verzögerung. Alvin experimentierte eine Weile, bis er jeden gewünschten Blick erhielt; dann war er startbereit.

„Bring mich nach Lys“ — der Befehl war einfach, aber wie sollte ihm das Schiff gehorchen können, wenn er selbst keine Ahnung von der einzuschlagenden Richtung hatte? Alvin hatte sich das vorher nicht überlegt, und als er daran dachte, raste das Schiff bereits mit gewaltiger Geschwindigkeit über die Wüste. Er zuckte die Achseln und akzeptierte dankbar die Tatsache, daß seine Diener klüger waren als er selbst.

Der Maßstab des auf dem Schirm dahinrasenden Bildes war schwer zu bestimmen, aber sie legten anscheinend jede Minute viele Kilometer zurück. Nicht weit von der Stadt hatte sich die Farbe des Bodens plötzlich zu einem trüben Grau verändert, und Alvin wußte, daß er jetzt das Bett eines der verschwundenen Meere überflog. Diaspar mußte einst sehr nah am Meer gelegen haben, obwohl nicht einmal die ältesten Aufzeichnungen Andeutungen darüber enthielten. So alt die Stadt auch war, die Meere mußten lange vor ihrer Erbauung dahingegangen sein.

Hunderte von Kilometern später stieg der Boden steil an, und die Wüste kehrte wieder. Einmal brachte Alvin sein Schiff über einem merkwürdigen Muster sich überschneidender Linien zum Stehen, die sich schwach im Sand abzeichneten. Einen Augenblick war er verblüfft; dann begriff er, daß er auf die Ruinen einer vergessenen Stadt hinuntersah. Er blieb nicht lange; der Gedanke, daß Milliarden Menschen keine andere Spur ihres Daseins als diese Furchen im Sand hinterlassen hatten, war bedrückend.

Die glatte Wölbung des Horizonts löste sich endlich auf, faltete sich zu Gebirgen, die er auch schon erreichte, kaum daß er sie entdeckt hatte.

Das Schiff verlangsamte seine Fahrt und schwebte in einem weiten Bogen auf die Erde hinab. Und dann lag Lys unter ihm, seine Wälder und endlosen Flüsse, eine Szene so unvergleichlicher Schönheit, daß er eine Weile blieb. Im Osten lag das Land im Schatten, und die großen Seen schwammen auf ihm wie Teiche aus dunkler Nacht. Aber im Westen tanzte und glitzerte das Wasser im Sonnenschein, warf Farben zurück, die er nie gesehen hatte.

Airlee war leicht zu entdecken — glücklicherweise, weil ihn der Roboter nicht mehr leiten konnte. Alvin hatte das erwartet und war ein wenig froh, eine Begrenzung seiner Macht gefunden zu haben.

Nach einigen Versuchen landete Alvin sein Schiff auf dem Hügel, von dem aus er Lys zum erstenmal erblickt hatte. Das Schiff war ganz leicht zu bedienen; er brauchte nur seine Wünsche zu formulieren, alles andere erledigte der Roboter. Er würde wahrscheinlich gefahrbringende oder unausführbare Anweisungen ignorieren, obgleich Alvin nicht die Absicht hatte, solche Befehle zu erteilen, wenn er es vermeiden konnte. Alvin war sich ziemlich gewiß, daß niemand seine Ankunft bemerkt hatte. Er hielt das für sehr wichtig, weil er nicht beabsichtigte, noch einmal mit Seranis einen geistigen Kampf auszutragen. Seine Pläne waren noch etwas unklar, aber er ging kein Risiko ein, bis er freundschaftliche Beziehungen aufgenommen hatte. Der Roboter konnte ihm als Botschafter dienen, während er selbst im Raumschiff blieb.

Auf der Straße nach Airlee begegnete ihm niemand. Es war ein merkwürdiges Gefühl, im Raumschiff zu sitzen, während sein Blick mühelos auf dem vertrauten Weg dahinglitt und das Rauschen des Waldes in seinen Ohren klang. Noch konnte er sich nicht völlig mit dem Roboter identifizieren, und seine Steuerung verursachte immer noch erhebliche Anstrengung.


Es war beinahe ganz dunkel, als er Airlee erreichte; die kleinen Häuser schwammen in Tümpeln aus Licht. Alvin hielt sich im Schatten und hatte Seranis' Haus fast erreicht, als man ihn entdeckte. Plötzlich hörte er ein zorniges Summen, und seine Sicht wurde durch surrende Flügel verdeckt. Er wich unwillkürlich zurück; dann begriff er, was geschehen war.

Krif brachte wieder einmal seine Mißbilligung zum Ausdruck.

Alvin wollte das schöne, aber dumme Insekt nicht verletzen; er brachte den Roboter zum Stehen und ertrug die auf ihn niederprasselnden Schläge, so gut es eben ging. Obwohl er eineinhalb Kilometer entfernt in aller Bequemlichkeit in seinem Schiff saß, konnte er ein Zusammenzukken nicht vermeiden; er war froh, als Hilvar schließlich herauskam, um nachzusehen.

Beim Nahen seines Herrn zog Krif wütend ab. In der nun eintretenden Stille sah Hilvar den Roboter eine Weile an.

„Guten Abend, Alvin“, sagte er. „Ich freue mich über deine Rückkehr.

Oder bist du noch in Diaspar?“

Alvin fühlte, nicht zum erstenmal, eine neidvolle Bewunderung für die Schnelligkeit und Präzision von Hilvars Verstand.

„Nein“, sagte er, und staunte, daß der Roboter seine Stimme so deutlich wiedergeben konnte. „Ich bin in Airlee, nicht weit entfernt. Aber ich bleibe zunächst hier.“

Hilvar lachte.

„Ich glaube fast auch, daß das besser ist. Seranis hat dir verziehen, aber der Senat — nun das ist eine andere Sache. Zur Zeit findet hier eine Konferenz statt — die erste, die wir in Airlee erleben.“

„Willst du damit sagen“, meinte Alvin, „daß eure Räte tatsächlich hierhergekommen sind? Mit euren telepathischen Kräften habt ihr doch wirkliche Treffen gar nicht nötig.“

„Sie sind selten, aber manchmal glaubt man, ohne sie nicht auskommen zu können. Ich kenne die genaue Art der Krise nicht, aber drei Senatoren sind bereits erschienen, und die übrigen werden in Kürze erwartet.“

Alvin mußte über die Art lächeln, in der die Ereignisse in Diaspar hier widergespiegelt wurden. Wohin er auch ging, überall hinterließ er Verwirrung und Unruhe.

„Ich glaube, es wäre gut“, sagte er, „wenn ich zu diesem Senat sprechen könnte — solange meine Sicherheit garantiert wird.“

„Du könntest nur hierherkommen“, sagte Hilvar, „wenn der Senat verspricht, nicht wieder deine Gedanken zu beeinflussen. Im anderen Fall würde ich bleiben, wo du jetzt bist. Ich werde deinen Roboter zu den Senatoren führen — sie werden bestürzt sein, wenn sie ihn sehen.“

Wieder fühlte sich Alvin hochgestimmt und angenehm erregt, als er Hilvar ins Haus folgte. Er trat den Herrschern von Lys fast als gleichberechtigter Partner gegenüber; obwohl er keinen Groll gegen sie hegte, war es erfreulich, zu wissen, daß er die Situation beherrschte und Kräfte befehligte, die er noch nicht einmal völlig abzuschätzen versucht hatte.

Die Tür zum Konferenzraum war versperrt und Hilvar brauchte einige Zeit, um sich bemerkbar zu machen. Die Senatoren waren anscheinend sehr beschäftigt. Aber schließlich glitt die Wand zur Seite, und Alvin dirigierte seinen Roboter schnell in das große Zimmer.

Die drei Senatoren erstarrten, als er auf sie zuschwebte, aber Seranis schien nur wenig überrascht. Vielleicht hatte sie Hilvar schon vorbereitet, oder sie hatte erwartet, daß Alvin früher oder später zurückkehren würde.

„Guten Abend“, sagte er höflich, als sei sein Erscheinen das natürlichste Ereignis der Welt. „Ich habe mich entschlossen, zurückzukommen.“

Ihre Überraschung übertraf seine kühnsten Erwartungen. Einer der Senatoren, ein junger Mann mit grauen Schläfen, faßte sich als erster.

„Wie sind Sie hergekommen?“ stieß er hervor.

Der Grund für sein Erstaunen war offensichtlich. Wie Diaspar mußte auch Lys die Fließstraßenhöhle abgeschlossen haben.

„Nun, einfach wie beim letztenmal“, entgegnete Alvin, der sich diesen Spaß nicht verkneifen konnte.

Zwei der Senatoren sahen den dritten fest an, der seine Hände in verwirrter Resignation ausbreitete. Dann begann der junge Mann, der ihn vorher angeredet hatte, wieder zu sprechen.

„Hatten Sie keine — Schwierigkeiten?“ fragte er.

„Nicht im geringsten“, sagte Alvin, entschlossen, ihre Verwirrung noch zu vergrößern. Er sah, daß es ihm gelang.

„Ich bin aus freiem Willen zurückgekommen“, fuhr er fort, „und außerdem bringe ich wichtige Neuigkeiten. Im Hinblick auf unsere früheren Mißhelligkeiten halte ich mich jedoch zur Zeit verborgen. Versprechen Sie, keine weiteren Versuche zur Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit zu unternehmen, wenn ich persönlich erscheine?“

Geraume Zeit schwiegen alle, und Alvin hätte wissen mögen, welche Gedanken jetzt ausgetauscht wurden. Dann sprach Seranis für alle. „Wir werden nicht mehr versuchen, Sie zu beeinflussen — obwohl ich nicht den Eindruck habe, als sei es uns beim letztenmal gelungen.“


„Sehr schön“, erwiderte Alvin. „Ich komme nach Airlee, so schnell ich kann.“

Er wartete, bis der Roboter zurückgekehrt war; dann gab er genaue Anweisungen und ließ sich diese wiederholen. Seranis würde ihr Wort nicht brechen, das wußte er; trotzdem zog er es vor, seinen Rückzug abzusichern.

Die Luftschleuse schloß sich leise hinter ihm, als er das Schiff verließ.

Kurze Zeit später hörte er das Schiff zischend aufsteigen. Einen Augenblick lang verdeckte ein dunkler Schatten die Sterne; dann war das Raumschiff verschwunden.

Erst dann fiel ihm ein, daß ihm einer jener kleinen, aber ärgerlichen Fehler unterlaufen war, die selbst den raffiniertesten Plänen zum Verhängnis werden. Er hatte vergessen, daß die Sinne des Roboters wesentlich schärfer waren als die seinen und daß die Dunkelheit seine Erwartungen übertraf. Mehr als einmal verlor er den Weg und manchmal vermied er es knapp, an einen Baum zu stoßen. Im Wald konnte man die Hand nicht vor den Augen sehen, und einmal kam etwas Großes durch das Unterholz auf ihn zu. Zweige knackten; zwei smaragdene Augen starrten ihn unverwandt an. Er rief leise, und eine unglaublich lange Zunge fuhr rauh über seine Hand. Einen Augenblick später rieb sich ein mächtiger Tierleib zutraulich an seinen Beinen und verschwand wieder geräuschlos. Er hatte keine Ahnung, was es gewesen war.

Bald darauf schimmerten die Lichter der Siedlung zwischen den Bäumen, aber er brauchte sie nicht mehr, denn der Pfad unter seinen Füßen war zu einem Strom aus blauem Feuer geworden. Das Moos leuchtete, und seine Fußstapfen hinterließen dunkle Flecke, die sich langsam hinter ihm auflösten. Als Alvin stehenblieb und eine Handvoll Moos aufhob, schimmerte es minutenlang in seiner Hand.

Hilvar wartete zum zweitenmal vor dem Haus auf ihn und stellte ihm zum zweitenmal Seranis und den Senatoren vor. Sie empfingen ihn mit vorsichtigem und widerwilligem Respekt.

„Ich bedaure außerordentlich“, begann Alvin, „daß ich Ihr Land auf so unwürdige Weise verlassen mußte. Es dürfte Sie interessieren, daß es beinahe ebenso schwierig war, aus Diaspar zu entkommen…“ Er wartete die Wirkung dieser Bemerkung ab und fügte dann schnell hinzu: „Ich habe meinen Mitbürgern alles über Lys berichtet und mein Bestes getan, um einen günstigen Eindruck zu vermitteln. Aber Diaspar will nichts mit Ihnen zu tun haben. Ungeachtet meiner Einwendungen möchte die Stadt jede Berührung mit einer niedrigeren Kultur vermeiden.“

Es war äußerst befriedigend, die Reaktion der Senatoren zu beobachten, und sogar Seranis verfärbte sich bei seinen Worten. Wenn er Lys und Diaspar ausreichend ärgerlich aufeinander machen konnte, dachte Alvin, war sein Problem halb gelöst. Jeder würde bemüht sein, den Vorrang seiner Lebensweise unter Beweis zu stellen, und dadurch unwillkürlich die Schranken zwischen beiden Kulturen niederreißen.

„Warum sind Sie nach Lys zurückgekommen?“ fragte Seranis.

„Weil ich Sie — und Diaspar — davon überzeugen will, daß man einen schweren Fehler gemacht hat.“ Er erwähnte den anderen Grund nicht — daß er in Lys den einzigen Freund besaß, auf den er sich verlassen konnte und dessen Hilfe er brauchte.

Die Senatoren schwiegen immer noch; sie warteten darauf, daß er fortfuhr, und er wußte, daß durch ihre Augen und Ohren viele andere unsichtbare Intelligenzen zusahen und zuhörten. Er war der Stellvertreter Diaspars, und ganz Lys beurteilte ihn nach seinen Worten. Auf ihm lag eine große Verantwortung. Er begann zu sprechen.

Sein Thema war Diaspar. Er zeichnete die Stadt so, wie er sie zuletzt gesehen hatte, träumend am Rand der Wüste, ihre Türme wie gefangene Regenbogen am Himmel glühend. Von der Schatzkammer der Erinnerungen rief er die Lieder herbei, die die alten Dichter zum Lob Diaspars gesungen hatten, und er sprach von den zahllosen Menschen, die ihr Leben der Verschönerung der Stadt gewidmet hatten. Niemand, so sagte er, könne jemals die Schätze der Stadt ausschöpfen, wie lange er auch leben mochte. Geraume Zeit beschrieb er einige der Wunder, die den Menschen Diaspars gelungen waren; versuchte, wenigstens einen kurzen Eindruck der Herrlichkeit zu vermitteln, die von den Künstlern der Vergangenheit zur ewigen Bewunderung durch die Menschen geschaffen worden war. Und er fragte sich etwas wehmütig, ob es wirklich der Wahrheit entsprach, daß die Musik Diaspars das letzte war, was die Erde jemals zu den Sternen sandte.

Sie hörten ihn ohne Unterbrechung an. Als er zum Ende kam, war es sehr spät geworden, und Alvin fühlte größere Müdigkeit als je zuvor. Anstrengung und Aufregung dieses langen Tages machten sich endlich bemerkbar, und ganz plötzlich schlief er ein.


Als er aufwachte, befand er sich in einem fremden Zimmer, und es dauerte einige Zeit, bis ihm einfiel, daß er nicht mehr in Diaspar war. Während das Bewußtsein wiederkehrte, erstrahlte auch das Licht um ihn, bis er im sanften, kühlen Leuchten der Morgensonne gebadet wurde, die durch die jetzt durchsichtigen Wände hereinschien.

Mit sanftem, musikalischem Ton öffnete sich eine Wand. Hilvar trat herein und betrachtete Alvin mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis.

„Nachdem du wach bist, Alvin“, sagte er, „kannst du mir vielleicht erklären, was du vorhast und wie dir die Rückkehr gelungen ist. Die Senatoren sind gerade unterwegs, um sich die Untergrundbahn anzusehen; sie verstehen nicht, wie du mit ihr hierherkommen konntest. Hast du sie überhaupt benützt?“

Alvin sprang aus dem Bett und reckte sich gewaltig.

„Wir müssen sie einholen“, meinte er. „Ich möchte nicht, daß sie ihre Zeit verschwenden. Was deine Frage angeht — nun, die Antwort darauf werde ich dir bald zeigen.“

Sie hatten fast den See erreicht, ehe sie die drei Senatoren einholten.

Sie bemerkten, daß Alvin von ihrer Absicht wußte, und das unerwartete Zusammentreffen war ihnen peinlich.

„Ich fürchte, ich habe Sie gestern irregeführt“, sagte Alvin fröhlich. „Ich bin nämlich nicht auf dem alten Weg nach Lys gekommen, so daß Ihre Sperre völlig unnötig war. Übrigens hat auch der Rat von Diaspar die Bahn verriegelt, mit ebensowenig Erfolg.“

Die Gesichter der Senatoren boten ein Bild der Verwirrung, als sie eine Lösung nach der anderen überlegten und jede wieder verwerfen mußten.

„Wie sind Sie denn dann hergekommen?“ fragte der Anführer. In seinen Augen spiegelte sich ein plötzliches Ahnen, und Alvin merkte, daß er der Wahrheit auf die Spur kam. Er fragte sich, ob er seinen stummen Befehl aufgefangen hatte, den er gerade über das Gebirge schickte. Aber er sagte nichts, sondern deutete schweigend auf den nördlichen Himmel.

Eine Nadel aus silbernem Licht schoß über das Gebirge, schneller als die Augen folgen konnten. Sechstausend Meter über Lys kam sie zum Stillstand. Es gab keine Verlangsamung, kein Abbremsen der gewaltigen Geschwindigkeit. Sie kam augenblicklich zum Stehen, so daß die Augen weiter über den Himmel glitten, ehe man ihre Bewegung hemmen konnte. Vom Himmel drang ein mächtiger Donnerschlag; wenig später landete das schimmernde Raumschiff hundert Meter entfernt auf dem Hügel.

Schwer zu sagen, wer am meisten überrascht wurde, aber Alvin faßte sich als erster. Als sie auf das Raumschiff zuliefen, fragte er sich, ob es immer mit dieser unvorstellbaren Geschwindigkeit flog. Bei seinem ersten Flug hatte er überhaupt keine Bewegung gespürt. Bedeutend erstaunlicher war jedoch die Tatsache, daß dieses herrliche Schiff noch vor einem Tag unter einer dicken Schicht aus eisenhartem Gestein versteckt gewesen war. Erst als Alvin das Schiff erreichte und sich die Finger an der Hülle verbrannte, begriff er, was geschehen war. Nahe am Heck konnte man noch Spuren von Erde sehen, aber sie waren zu Lava eingeschmolzen. Alles übrige war abgestreift, so daß die strahlende Hülle hervortrat, der weder die Zeit noch irgendeine Naturkraft etwas anhaben konnte.

Alvin stand in der offenen Tür, Hilvar neben ihm, und sah auf die schweigenden Senatoren. Er hätte wissen mögen, was sie dachten — was ganz Lys dachte. Ihrem Ausdruck nach zu schließen, schien es fast, als seien sie über alles Denken hinaus…

„Ich gehe nach Shalmirane“, sagte Alvin, „und ich werde in einer Stunde nach Airlee zurückkehren. Aber das ist nur ein Anfang, und während ich fort bin, möchte ich Sie bitten, folgendes zu bedenken.

Das ist kein normales Flugzeug, mit dem die Menschen über die Erde flogen. Es ist ein Raumschiff, eines der schnellsten, das je gebaut wurde.

Wenn Sie wissen wollen, wo ich es gefunden habe, erfahren Sie die Antwort in Diaspar. Aber Sie müssen hingehen, denn Diaspar wird nie zu Ihnen kommen.“

Er wandte sich an Hilvar und deutete auf die Tür. Hilvar zögerte nur einen Augenblick, sah nur noch einmal auf die vertraute Landschaft. Dann trat er in die Luftschleuse.

Die Senatoren warteten, bis das Schiff verschwunden war. Dann zuckte der grauhaarige junge Mann, der die Gruppe anführte, die Achseln und wandte sich an einen seiner Kollegen.

„Du hast dich immer gegen alles Neue gesträubt“, sagte er, „und bis jetzt konntest du dich immer durchsetzen. Aber ich glaube nicht, daß die Zukunft bei einer unserer beiden Kulturen liegt. Diaspar und Lys haben das Ende einer Ära erreicht, und wir müssen versuchen, das Beste daraus zu machen.“

„Ich fürchte, du hast recht“, kam die düstere Antwort. „Wir stehen in einer Krise, und Alvin wußte, was er sagte, als er uns empfahl, nach Diaspar zu gehen. Sie wissen dort schon Bescheid über uns, so daß es keinen Zweck hat, sich länger zu verbergen. Ich glaube, wir müssen uns mit unseren Vettern besprechen — vielleicht sind sie jetzt eher zur Zusammenarbeit bereit.“

„Aber die Untergrundbahn ist an beiden Enden verschlossen!“

„Wir können sie hier öffnen; es wird nicht mehr lange dauern, bis Diaspar das gleiche tut.“

Die Senatoren, sowohl die in Airlee anwesenden als auch die über ganz Lys verstreuten, überlegten sich den Vorschlag, und er gefiel ihnen gar nicht. Aber sie sahen keine andere Wahl.


Früher, als er erwarten durfte, begann die von Alvin ausgestreute Saat aufzugehen.


Die Berge schwammen noch im Schatten, als sie Shalmirane erreichten.

Von ihrer Höhe aus erschien die große Mulde der Festung winzig klein; es schien unmöglich, daß das Schicksal der Erde einst von diesem kleinen schwarzen Kreis abgehangen hatte.

Als Alvin das Schiff in den Ruinen am See landete, überwältigte ihn die Verheerung der Landschaft. Er öffnete die Luftschleuse, und die Stille kroch in das Schiff. Hilvar, der während des ganzen Fluges kaum gesprochen hatte, fragte ruhig: „Warum bist du nochmals hierhergeflogen?“

Alvin antwortete nicht, bis sie das Seeufer fast erreicht hatten. Dann sagte er: „Ich wollte dir das Schiff zeigen. Und außerdem hoffte ich, den Polypen wieder vorzufinden; ich glaube, ich schulde ihm allerhand, und ich wollte ihm erzählen, was ich entdeckt habe.“

„In diesem Fall“, erwiderte Hilvar, „wirst du warten müssen. Du bist viel zu früh zurückgekommen.“

Alvin hatte es erwartet. Der See lag vollkommen still. Er kniete am Ufer nieder und starrte in die kalten dunklen Tiefen.

Winzige, durchsichtige Kelche mit fast unsichtbaren Greifarmen trieben unter der Oberfläche hin und her. Alvin tauchte eine Hand ins Wasser und holte einen davon heraus. Er ließ ihn sofort wieder fallen; er hatte ihn gestochen.

Eines Tages — vielleicht Jahre, vielleicht Jahrhunderte später — würden sich diese gehirnlosen Zellen wieder zusammenschließen, und der große Polyp würde wiedererstehen. Alvin fragte sich, wie er seine Entdeckung aufnehmen würde; vielleicht würde er nicht erfreut sein, die Wahrheit über den Meister zu erfahren. Ja, er könnte sich sogar weigern zuzugeben, daß sein äonenlanges Warten umsonst gewesen war.

War es das wirklich? Die lange Wacht dieser Wesen hatte schließlich ihre Belohnung gefunden. Wie durch ein Wunder hatten sie ein Wissen aus der Vergangenheit herübergerettet, das sonst für immer verloren gewesen wäre. Jetzt konnten sie in Frieden ruhen.

19

Hilvar und Alvin gingen in nachdenklichem Schweigen zum wartenden Schiff zurück, und bald war die Festung nur mehr ein dunkler Schatten im Gebirge. Er schrumpfte immer mehr zusammen, bis er einem schwarzen, lidlosen Auge glich, das in den Weltraum starrte; kurze Zeit später verlor er sich im großen Panorama von Lys.

Alvin bremste das Raumschiff nicht ab; immer noch stiegen sie, bis ganz Lys unter ihnen ausgebreitet lag, eine grüne Insel in einem ockerfarbenen Meer. Nie zuvor war Alvin so hoch oben gewesen; als sie schließlich zum Stillstand kamen, war die ganze Halbkugel sichtbar. Lys war jetzt ganz klein, nur ein smaragdener Flecken in der rostfarbenen Wüste — aber weit hinter der Wölbung des Globus glitzerte etwas wie ein vielfarbiges Schmuckstück. Und so sah Hilvar zum erstenmal die Stadt Diaspar.

Sie saßen lange Zeit schweigend in ihren Sesseln und beobachteten, wie sich die Erde unter ihnen drehte. Alvin wünschte die Welt, wie er sie jetzt sah, den Herrschern von Lys und Diaspar zeigen zu können.

„Hilvar“, sagte er schließlich, „glaubst du, daß es richtig ist, was ich mache?“

Die Frage überraschte Hilvar, der plötzliche Zweifel bei seinem Freund nicht gewöhnt war und auch von Alvins Zusammentreffen mit dem Zentralgehirn noch nichts wußte.

„Ich glaube, du handelst richtig“, antwortete Hilvar langsam. „Unsere Völker waren lange genug getrennt.“ Das ist wahr, dachte er, obgleich er wußte, daß die Antwort von seinen persönlichen Gefühlen beeinflußt wurde. Aber Alvin machte sich noch immer Sorgen.

„Mich stört vor allem eine Sache“, fuhr er mit besorgter Stimme fort,

„und das ist der Unterschied in unserer Lebensdauer.“ Er schwieg, aber jeder wußte, was der andere dachte.

„Das hat mich auch schon beschäftigt“, gab Hilvar zu, „aber ich glaube, daß sich das Problem mit der Zeit selbst lösen wird, wenn sich unsere Leute gegenseitig kennenlernen. Wir können nicht beide recht haben — unser Leben mag kurz sein, dafür ist das eure entschieden zu lang. Man wird sich schließlich auf einen Kompromiß einigen.“

Alvin blieb skeptisch. Natürlich lag auf diesem Weg die einzige Hoffnung, aber die Zeit des Übergangs würde schwer werden. Er dachte wieder an die bitteren Worte Seranis': ›Er und ich werden Jahrhunderte tot sein, während Sie noch ein Jüngling sind.‹ Nun gut; er akzeptierte die Bedingungen. Selbst in Diaspar lagen alle Freundschaften unter dem gleichen Schatten; am Ende spielte es keine Rolle mehr, ob es in hundert oder in einer Million Jahre kam.

Alvin wußte mit einer Sicherheit, die über alle Logik hinausging, daß die Zukunft der Menschheit von der Veränderung dieser beiden Kulturen abhing; in einem solchen Fall war persönliches Glück unwichtig. Einen Augenblick lang sah Alvin die Menschheit als etwas mehr, als daß sie nur den lebenden Hintergrund für sein eigenes Dasein abgab, und akzeptierte aufrecht das Unglück, das seine Wahl eines Tages mit sich bringen mußte.

Unter ihnen drehte sich die Erde endlos um ihre Achse. Hilvar schwieg, bis Alvin die Stille brach.

„Als ich Diaspar zum erstenmal verließ“, sagte er, „wußte ich nicht, was ich zu finden hoffte. Lys hätte mich früher einmal befriedigt — mehr als befriedigt —, aber jetzt scheint mir alles auf der Erde so klein und unwichtig. Jede meiner Entdeckungen erweckt größere Fragen und eröffnet weitere Horizonte. Ich frage mich, wo das enden wird…“ — Hilvar hatte Alvin noch nie in einer so grüblerischen Stimmung gesehen; er wollte seinen Monolog nicht unterbrechen. In den letzten Minuten hatte er viel über seinen Freund erfahren.

„Der Roboter sagte mir“, fuhr Alvin fort, „daß dieses Schiff die Sieben Sonnen in weniger als einem Tag erreichen kann. Was meinst du? Soll ich hinfliegen?“

„Glaubst du, ich könnte dich aufhalten?“ erwiderte Hilvar ruhig. Alvin lächelte.

„Das ist keine Antwort“, sagte er. „Wer weiß, was draußen im Weltraum liegt? Vielleicht haben die Invasoren das Universum verlassen, aber es könnte andere Intelligenzen geben, die dem Menschen nicht freundlich gesinnt sind.“

„Wie kommst du darauf?“ fragte Hilvar. „Mit dieser Frage beschäftigen sich unsere Philosophen seit langer Zeit. Eine wirklich intelligente Rasse kann praktisch nicht böse sein.“

„Aber die Invasoren?“

„Sie sind ein Rätsel, das gebe ich zu. Wenn sie tatsächlich bösartig waren, müssen sie sich in der Zwischenzeit selbst vernichtet haben. Und wenn auch nicht —“, Hilvar deutete auf die endlosen Wüsten. „Einst besaßen wir ein Imperium. Was besitzen wir jetzt, das sie begehren könnten?“


Alvin war ein wenig überrascht, daß jemand einen Standpunkt einnahm, der dem seinigen so nahe verwandt war.

„Denken alle deine Leute so?“ fragte er.

„Nur eine Minderheit. Der Normalbürger macht sich keine Gedanken darüber; er würde aber wahrscheinlich sagen, daß die Invasoren die Erde schon vor langer Zeit vernichtet hätten, wenn sie das wirklich wollten.

Ich glaube nicht, daß sich wirklich jemand vor ihnen fürchtet.“

„In Diaspar liegen die Dinge ganz anders“, sagte Alvin. „Meine Leute sind große Feiglinge. Sie haben Angst davor, die Stadt zu verlassen, und ich weiß nicht, was geschieht, wenn sie erfahren, daß ich ein Raumschiff gefunden habe. Jeserac wird es dem Rat inzwischen erzählt haben; ich möchte wissen, was er zu tun gedenkt.“

„Das kann ich dir sagen. Er bereitet sich auf den Empfang der ersten Abordnung aus Lys vor. Seranis hat es mir eben mitgeteilt.“

Alvin schaute wieder auf den Bildschirm. Er konnte die Entfernung zwischen Lys und Diaspar mit einem einzigen Blick überbrücken; obwohl eines seiner Ziele erreicht war, schien es jetzt sehr unbedeutend. Aber er freute sich; die langen Zeitalter der unfruchtbaren Isolierung waren gewiß vorbei.

Das Wissen, etwas erreicht zu haben, das er einmal als seine Hauptaufgabe angesehen hatte, beseitigte seine letzten Zweifel. Er hatte sein Ziel hier auf der Erde erreicht, schneller und vollständiger, als er je zu hoffen gewagt hatte. Der Weg zu seinem vielleicht letzten, sicher aber größten Abenteuer lag klar vor ihm.

„Kommst du mit mir, Hilvar?“ sagte er, obwohl er genau wußte, was er hier verlangte.

„Diese Frage war unnötig, Alvin“, erwiderte Hilvar. „Ich habe Seranis und meinen Freunden mitgeteilt, daß ich mit dir gehe — vor einer guten Stunde.“

Sie schwebten in großer Höhe, als Alvin dem Roboter die letzten Anweisungen gab. Das Raumschiff war fast völlig zum Stillstand gekommen, und die Erde lag etwa sechzehnhundert Kilometer unter ihnen, beinahe den Himmel ausfüllend. Dann gab es ein schwaches Geräusch, das erste, das Alvin jemals von einer Maschine hörte. Es war ein ganz leises Summen, das schnell Oktave um Oktave emporstieg, bis es den Hörbereich verließ. Man konnte keine Veränderung oder Bewegung feststellen, aber plötzlich bemerkte er, daß die Sterne über den Bildschirm glitten.

Die Erde erschien wieder und trieb vorbei — erschien wieder, in etwas veränderter Position. Das Schiff suchte; es schwang im Weltraum hin und her, wie eine nach Norden zielende Kompaßnadel. Minutenlang drehte sich der Himmel um sie, bis das Raumschiff schließlich zur Ruhe kam — ein Riesengeschoß, auf die Sterne gezielt.

Im Mittelpunkt des Bildschirms lag der große Ring der Sieben Sonnen in seiner regenbogenfarbenen Schönheit. Ein winziges Teilstück der Erde war noch als dunkle Sichel mit dem goldenen und blutroten Rand des Sonnenunterganges sichtbar. Alvin wußte, daß jetzt etwas geschah, was über alle Erfahrungen hinausging. Er umklammerte die Armlehnen seines Sessels und wartete, während die Sekunden vergingen, und die Sieben Sonnen auf dem Bildschirm glitzerten.

Es gab kein Geräusch, nur einen plötzlichen Ruck, der die Sicht zu verwischen schien — aber die Erde war verschwunden, als hätte sie eine Riesenhand fortgerissen. Sie befanden sich allein im Weltraum, allein mit den Sternen und einer seltsam eingeschrumpften Sonne. Die Erde war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Wieder kam der Ruck und mit ihm diesmal ein ganz schwaches, murmelndes Geräusch, als zeigten die Generatoren zum erstenmal einen ausdrückbaren Bruchteil ihrer Kraft. Einen Augenblick lang schien es jedoch, als sei nichts geschehen; dann bemerkte Alvin, daß auch die Sonne verschwunden war und die Sterne langsam am Schiff vorbeikrochen.

Er blickte zurück und sah — nichts. Der Himmel hinter ihm war völlig verschwunden, ausgelöscht von einer Halbkugel der Nacht. Während er zusah, konnte er die Sterne hineintauchen und wie Funken auf dem Wasser verlöschen sehen. Das Raumschiff flog jetzt weit schneller als das Licht, und Alvin wußte, daß sie sich nicht mehr im vertrauten Raum von Erde und Sonne befanden.

Als dieser plötzliche, schwindelige Ruck zum drittenmal kam, hörte sein Herz beinahe auf zu schlagen. Das merkwürdige Verschwimmen der Umgebung war jetzt unverkennbar; für einen Augenblick schien alles verzerrt. Die Bedeutung dieser Verzerrung wurde ihm plötzlich wie durch eine Eingebung klar. Sie war wirklich, keine Sinnestäuschung. Irgendwie erhaschte er einen Blick auf die Veränderungen, die im Raum vorgingen.

In derselben Sekunde wuchs das Murmeln der Generatoren zu einem Donnern an, von dem das Schiff erschüttert wurde. Dann war alles vorbei, und die plötzliche Stille summte in seinen Ohren. Die großen Generatoren hatten ihre Arbeit getan; bis zum Ende der Reise wurden sie nicht mehr gebraucht. Die Sterne glitzerten bläulichweiß und verschwanden im ultravioletten Licht. Aber durch irgendein Wunder der Wissenschaft oder der Natur waren die Sieben Sonnen noch sichtbar, obwohl sich jetzt Lage und Farbe etwas verändert hatten. Das Raumschiff raste durch einen dunklen Tunnel auf sie zu, jenseits der Grenzen von Raum und Zeit, mit einer geistig nicht mehr faßbaren Geschwindigkeit.

Es schien kaum glaublich, daß sie mit einer Geschwindigkeit aus dem Sonnensystem geschleudert worden waren, die sie durch das Herz der Milchstraße hinaus in die jenseits größere Leere tragen konnte, wenn man sie nicht bremste. Weder Alvin noch Hilvar konnten die Unermeßlichkeit ihrer Reise erkennen; die Berichte von den großen Forschungsflügen hatten die Auffassung des Menschen vom Universum völlig gewandelt, und selbst jetzt, Millionen Jahrhunderte später, waren die alten Traditionen nicht ganz tot. Einst hatte es ein Schiff gegeben, verkündete die Legende, das den ganzen Kosmos zwischen dem Aufstieg und dem Untergang der Sonne umrundet hatte. Bei solchen Geschwindigkeiten bedeuteten die Milliarden Kilometer zwischen den Sternen nichts. Für Alvin war diese Reise vielleicht weniger gefährlich als seine erste Fahrt nach Lys.

Es war Hilvar, der für beide sprach, als die Sieben Sonnen langsam heller erstrahlten: „Alvin, diese Form kann nicht natürlich sein.“

Der andere nickte.

„Das habe ich seit Jahren vermutet, aber es kommt mir immer noch unglaublich vor.“

„Es mag sein, daß dieses System nicht von Menschen geschaffen wurde“, stimmte Hilvar zu, „aber es muß seine Entstehung einer Intelligenz verdanken. Die Natur kann diesen vollkommenen Kreis aus Sternen gleicher Helligkeit nicht gebildet haben. Und es gibt im ganzen sichtbaren Universum nichts der Zentralsonne Vergleichbares.“

„Warum könnte man denn so etwas geschaffen haben?“

„Oh, ich kann mir viele Gründe vorstellen. Vielleicht als Signal, damit fremde Schiffe, die unser Universum besuchen, wissen, wo sie nach Leben suchen müssen. Vielleicht kennzeichnet es den Mittelpunkt der galaktischen Verwaltung. Oder aber — und irgendwie halte ich das für die wahre Erklärung —, es ist einfach das größte aller Kunstwerke. Aber zerbrechen wir uns nicht den Kopf darüber. Bereits in wenigen Stunden werden wir die ganze Wahrheit wissen.“

Wir werden die Wahrheit wissen! Vielleicht, dachte Alvin — aber wieviel von ihr werden wir wirklich jemals wissen? Es schien merkwürdig, daß er jetzt, da er Diaspar und die Erde verließ, wieder an seine geheimnisvolle Herkunft denken mußte. Aber vielleicht war das nicht so sehr erstaunlich; er hatte vieles gelernt, seit er zum erstenmal in Lys angekommen war, ohne jedoch in aller Ruhe darüber nachdenken zu können.

Er mußte jetzt stillsitzen und abwarten; seine nächste Zukunft wurde von dieser wunderbaren Maschine bestimmt, die ihn ins Innere des Universums trug. Jetzt war die Zeit für Nachdenklichkeit und Überlegung, ob es ihm angenehm war oder nicht. Aber zuerst wollte er Hilvar berichten, was ihm seit seiner eiligen Flucht aus Lys zugestoßen war.

Hilvar hörte dem Bericht ohne Kommentar zu; er schien alles so zu verstehen und zeigte nicht einmal Überraschung, als er von dem Gespräch mit dem Zentralgehirn erfuhr.

„Es ist klar“, sagte er, als Alvin zu Ende gesprochen hatte, „daß das Zentralgehirn besondere Anweisungen hinsichtlich deiner Person erhalten haben mußte, als es gebaut wurde. Inzwischen wirst du auch den Grund erraten haben.“

„Ich glaube schon. Khedron gab mir einen Teil der Antwort, als er erklärte, daß die Erbauer Diaspars Maßnahmen vorgesehen hatten, um den Verfall Diaspars zu verhüten.“

„Meinst du damit, daß du — wie die anderen Einzigartigen vor dir — Teil des gesellschaftlichen Mechanismus bist, der den völligen Stillstand verhindert? So daß man euch im Gegensatz zu den Spaßmachern, die als kurzfristige Faktoren eingesetzt waren, als langfristige Faktoren bezeichnen könnte?“

Hilvar hatte das besser ausgedrückt, als Alvin es vermocht hätte, aber es entsprach doch nicht ganz seiner Vorstellung.

„Ich glaube, daß die Wahrheit in Wirklichkeit komplizierter ist. Es sieht fast so aus, als hätten beim Bau der Stadt Meinungsverschiedenheiten bestanden, und zwar zwischen jenen, die sie völlig von der Außenwelt abschließen wollten, und anderen, die einige Berührungspunkte belassen wollten. Die erste Gruppe setzte sich durch, aber die andere gab sich nicht geschlagen. Ich glaube, daß Yarlan Zey einer ihrer Führer war, aber er besaß nicht genug Macht, um offen handeln zu können. Er tat sein Bestes, indem er die Untergrundbahn bestehen ließ, und sicherstellte, daß in langen Zeitabständen ein Mensch die Halle der Schöpfung verließ, der die Furcht seiner Mitbürger nicht teilte. In der Tat frage ich… mich…“ Alvin machte eine Pause und schien sich in seine Gedanken zu versenken.

„Woran denkst du jetzt?“ fragte Hilvar.

„Mir ist eben eingefallen — vielleicht bin ich selbst Yarlan Zey. Das wäre durchaus möglich. Vielleicht hat er seine Persönlichkeit in den Gedächtnisanlagen bewahrt und sich darauf verlassen, daß sie die Natur Diaspars durchbrechen würde, ehe es zu spät war. Ich muß eines Tages herausfinden, was mit diesem früheren Einzigartigen geschehen ist; vielleicht läßt sich dann manches leichter verstehen.“

„Und Yarlan Zey — oder wer es sonst war — wies außerdem das Zentralgehirn an, die Einzigartigen besonders zu unterstützen“, murmelte Hilvar.

„Ganz richtig. Ironischerweise hätte ich alle erforderlichen Auskünfte unmittelbar vom Zentralgehirn erhalten, ohne die Hilfe des armen Khedron. Es hätte mir mehr erzählt als ihm. Aber ohne Zweifel hat er mir eine Menge Zeit erspart und vieles beigebracht, das ich alleine nie erfahren hätte.“

„Ich glaube, deine Theorie berücksichtigt alle bekannten Tatsachen“, meinte Hilvar vorsichtig. „Leider läßt sie das größte aller Probleme unbeantwortet — nämlich den ursprünglichen Zweck Diaspars. Warum gaben deine Leute vor, daß die Außenwelt nicht existiert? Das ist eine Frage, auf die ich gerne Antwort hätte.“

„Ich beabsichtige, sie zu beantworten“, erwiderte Alvin. „Aber ich weiß nicht, wann — und wie.“

So diskutierten und träumten sie, während Stunde um Stunde die Sieben Sonnen auseinander wichen, bis sie diesen seltsamen Tunnel der Nacht ausfüllten, in dem das Raumschiff flog. Dann verschwanden, einer nach dem anderen, die sechs äußeren Sterne am Rand des Dunkels, und schließlich blieb nur die Zentralsonne übrig, die mit einem perlfarbenen Licht strahlte, das sie von allen anderen Sternen unterschied. Langsam nahm ihre Helligkeit zu, bis sie bald nicht mehr nur ein Punkt, sondern eine winzige Scheibe war. Und jetzt begann sich die Scheibe vor ihnen auszudehnen — Es gab ein ganz kurzes Warnsignal: Sekundenlang ertönte ein tiefer, glockenartiger Ton. Alvin umklammerte die Sesselarme.

Wieder sprangen die großen Generatoren an, und mit einer blendenden Plötzlichkeit erschienen die Sterne wieder. Das Raumschiff war in den Weltraum zurückgekehrt, zurück in das Universum aus Sonnen und Planeten, in die natürliche Welt, in der sich nichts schneller bewegte als das Licht.

Sie befanden sich bereits im Sonnensystem der Sieben Sonnen, denn der große Ring aus farbigen Kugeln beherrschte den ganzen Himmel.

Und was für einen Himmel! Alle bekannten Sterne, alle vertrauten Sternbilder, waren verschwunden. Die Milchstraße war kein undeutliches Nebelband am Himmel mehr; sie befand sich jetzt im Mittelpunkt der Schöpfung, und der große Kreis teilte das Universum in zwei Hälften.

Das Raumschiff bewegte sich immer noch schnell auf die Zentralsonne zu, und die sechs anderen Sterne des Systems warfen farbige Strahlen an den Himmel. Nicht weit vom nächsten Stern entfernt, sahen sie die winzigen Funken kreisender Planeten, Welten, die von enormer Größe sein mußten, um über derartige Entfernung sichtbar zu sein.

Die Ursache des perlmuttartigen Lichts der Zentralsonne wurde jetzt deutlich sichtbar. Der riesige Stern war in eine Gashülle eingeschlossen, die seine Strahlung milderte und ihm die charakteristische Färbung verlieh. Den umliegenden Nebelfleck konnte man nur indirekt erkennen, in seltsame Formen verzerrt, die sich dem Auge entzogen. Aber er war da, und je länger man hinschaute, desto ausgedehnter schien er zu sein.

„Nun, Alvin“, sagte Hilvar, „wir haben eine ganze Menge Welten zur Auswahl. Oder glaubst du alle erforschen zu können?“

„Glücklicherweise ist das nicht nötig“, gab Alvin zu. „Wenn wir irgendwo Kontakt aufnehmen können, werden wir alles Wichtige erfahren. Am logischsten scheint mir, den größten Planeten der Zentralsonne aufzusuchen.“

„Wenn er nicht zu groß ist. Manche Planeten sollen so groß gewesen sein, daß menschliches Leben auf ihnen nicht existieren konnte — die Menschen wären von ihrem eigenen Gewicht erdrückt worden.“

„Ich bezweifle, daß das auch hier gilt, da dieses System vollkommen künstlich ist. Auf jeden Fall können wir von oben aus erkennen, ob es Städte und Gebäude gibt.“

Hilvar deutete auf den Roboter.

„Dieses Problem ist für uns gelöst worden. Vergiß nicht, daß unser Führer schon hier gewesen ist. Er bringt uns nach Hause — und ich möchte wissen, was er darüber denkt?“

Dasselbe fragte sich auch Alvin. Aber hatte es überhaupt einen Sinn, bei dem Roboter menschenähnliche Gefühle zu vermuten, jetzt, da er nach so vielen Jahrtausenden zur alten Heimat des Meisters zurückkehrte?

Während der ganzen Zeit seit dem Trick des Zentralgehirns hatte der Roboter nie Gefühle oder Leidenschaften gezeigt. Er hatte Alvins Fragen beantwortet und seine Befehle ausgeführt, aber seine wirkliche Persönlichkeit war unzugänglich geblieben. Daß er eine Persönlichkeit besaß, wußte Alvin; im anderen Fall hätte er nicht dieses seltsame Schuldgefühl gespürt, wenn er sich an den Trick erinnerte, mit dem er ihn übertölpelt hatte — ihn und seinen jetzt im See ruhenden Begleiter.

Der Roboter glaubte immer noch an all das, was der Meister gelehrt hatte; obwohl er ihn bei der Fälschung von Wundern und bei Lügen gegenüber seinen Anhängern ertappt hatte, beeinflußten diese Tatsachen nicht seine Treue. Er konnte, wie viele Menschen vor ihm, zwei miteinander in Widerstreit liegende Tatsachen vereinbaren.

Jetzt folgte er seinen unsterblichen Erinnerungen zurück zu ihrem Ursprung. Fast verloren im Glanz der Zentralsonne, kreiste ein blasser Lichtfunken, um ihn gruppiert der schwächere Schimmer noch kleinerer Welten. Ihre gewaltige Reise näherte sich dem Ende; bald würden sie wissen, ob sie umsonst gewesen war.

20

Der Planet, dem sie sich näherten, war nur noch ein paar Millionen Kilometer entfernt, eine herrliche Kugel aus vielfarbigem Licht. Auf seiner Oberfläche herrschte nirgends Dunkelheit, während er sich unter der Zentralsonne drehte, glitten die anderen Sterne nacheinander über seinem Himmel dahin. Alvin begriff jetzt die Bedeutung der letzten Worte des Meisters: ›Es ist herrlich, die farbigen Schatten auf den Planeten des ewigen Lichts zu beobachten‹. Sie waren so nahe herangekommen, daß sie Kontinente, Meere und eine dünne Atmosphäre erkennen konnten. Aber die Umrisse sahen sehr merkwürdig aus, und bald wurde ihnen klar, daß die Trennlinien zwischen Land und Wasser völlig regelmäßig verliefen. Die Kontinente dieses Planeten schienen künstlich hergestellt — aber wie leicht mußte die Formung eines Planeten den Wesen gefallen sein, die seine Sonne schufen!

„Das sind ja gar keine Meere“, rief Hilvar plötzlich. „Schau — man kann eine Zeichnung erkennen!“

Erst als der Planet näher kam, konnte Alvin erkennen, was sein Freund gemeint hatte. Er bemerkte undeutliche Streifen und Linien an den Küsten, ziemlich weit in dem Gebiet, das er für einen Ozean gehalten hatte.

Dieser Anblick erfüllte ihn mit plötzlichem Zweifel, denn er kannte die Bedeutung dieser Linien nur zu gut. Er hatte sie schon einmal gesehen, in der Wüste von Diaspar, und sie sagten ihm, daß seine Reise umsonst gewesen war.

„Dieser Planet ist so trocken wie die Erde“, sagte er tonlos. „Das Wasser ist verschwunden — diese Streifen sind Salzwüsten, in denen die Meere verdunsteten.“

„Das hätten sie niemals zugelassen“, erwiderte Hilvar. „Ich glaube, wir sind doch zu spät gekommen.“

Alvins Enttäuschung war so groß, daß er nicht zu sprechen wagte, sondern nur stumm auf die große Welt blickte. Mit eindrucksvoller Langsamkeit drehte sich der Planet unter dem Raumschiff, und seine Oberfläche stieg majestätisch empor, um sie zu empfangen. Jetzt konnten sie Gebäude erkennen — winzige weiße Krusten überall, außer auf dem Meeresboden.

Diese Welt war einst der Mittelpunkt des Universums gewesen. Jetzt war es still, die Luft war leer, und auf dem Boden eilten keine Pünktchen hin und her, die Leben verrieten. Aber das Raumschiff glitt immer noch über das erstarrte Steinmeer — ein Meer, das sich hier und dort in großen Wellen gesammelt hatte, die den Himmel herausforderten.

Kurze Zeit später kam das Schiff zum Stehen, als habe der Roboter endlich den Ursprung seiner Erinnerungen aufgespürt. Unter ihnen befand sich eine Säule aus schneeweißem Stein, die aus der Mitte eines gewaltigen Marmoramphitheaters emporragte. Alvin wartete eine Weile; dann, als sich das Raumschiff nicht rührte, befahl er, am Fuß der Säule zu landen.

Bis jetzt hatte Alvin immer noch halb gehofft, auf diesem Planeten Leben zu finden. Die Hoffnung verschwand sofort, als er die Luftschleuse verließ. Nie zuvor in seinem Leben, nicht einmal in Shalmirane, hatte er völlige Stille erlebt. Auf der Erde gab es immer das Gemurmel von Stimmen, die Geräusche lebender Wesen, das Seufzen des Windes. Hier gab es nichts von alledem, noch würde dergleichen jemals wiederkehren.

„Warum hast du uns hierhergeführt?“ fragte Alvin. Die Antwort war ihm ziemlich gleichgültig, aber der Schwung seiner Nachforschungen trieb ihn vorwärts, obwohl er die Lust daran völlig verloren hatte.

„Der Meister ist von hier abgeflogen“, erwiderte der Roboter.

„Das dachte ich mir“, sagte Hilvar. „Siehst du denn nicht die Ironie? Er ging geächtet von dieser Welt — und schau dir das Denkmal an, das sie ihm erbaut haben!“

Die gewaltige Steinsäule war etwa hundertmal so groß wie ein Mensch und in einem etwas über dem Boden erhobenen Metallring eingelassen.

Sie trug weder Verzierung noch Inschrift. Wie viele Tausend oder Millionen Jahre hatten sich die Anhänger des Meisters hier versammelt, um ihn zu ehren? Und hatten sie jemals erfahren, daß er im Exil auf der fernen Erde gestorben war?

Es spielte keine Rolle mehr. Der Meister und seine Anhänger waren begraben und vergessen.

„Komm mit hinaus“, drängte Hilvar, der Alvin aus seiner bedrückten Stimmung reißen wollte. „Wir haben das halbe All durchquert, um diese Stelle zu sehen. Du kannst dir doch wenigstens die Mühe machen, ins Freie zu gehen.“

Alvin mußte lächeln; er folgte Hilvar durch die Luftschleuse. Im Freien begannen sich seine Lebensgeister wieder zu regen. Auch wenn diese Welt tot war, mußte sie vieles Interessante bieten, vieles, das ihm bei der Enträtselung der Vergangenheit behilflich sein konnte.

Die Luft war modrig, aber zu atmen. Trotz der vielen Sonnen am Himmel lag die Temperatur ziemlich niedrig. Nur die weiße Scheibe der Zentralsonne lieferte wirkliche Wärme, die aber beim Durchgang durch den Nebelschleier an Kraft verloren zu haben schien. Die anderen Sonnen gaben Farbe, aber keine Wärme.

Sie brauchten nur wenige Minuten, um festzustellen, daß ihnen der Obelisk nichts verraten konnte. Hilvar wollte eben vorschlagen, zum Schiff zurückzukehren und das nächstliegende Gebäude anzufliegen, als Alvin einen langen, schmalen Riß im Marmorboden des Amphitheaters bemerkte. Sie folgten ihm geraume Zeit; der Riß wurde immer breiter, bis man ihn schließlich nicht mehr überschreiten konnte.

Einen Augenblick später standen sie an seinem Ursprung. Der Boden der Arena war in einer gewaltigen, beinahe zwei Kilometer langen Vertiefung zerfetzt und zerrissen. Man brauchte keinen Verstand, keine Vorstellungskraft, um sich den Grund auszumalen. Vor Äonen — jedenfalls lange Zeit, nachdem dieser Planet verlassen worden war — hatte hier eine gewaltige, zylindrische Form gelegen, sich dann wieder in den Weltraum erhoben und den Planeten seinen Erinnerungen überlassen.

Wer waren sie gewesen? Woher waren sie gekommen? Alvin würde niemals wissen, ob er diese Besucher um tausend oder eine Million Jahre verfehlt hatte.

Schweigend gingen sie zu ihrem eigenen Schiff zurück und flogen langsam über die Arena, bis sie das eindrucksvollste Gebäude an ihrem Rand erreichten. Als sie vor dem reichverzierten Eingang landeten, wies Hilvar auf etwas hin, das Alvin im selben Augenblick aufgefallen war.

„Diese Gebäude sehen ziemlich wacklig aus. Schau dir diese Risse an — ein Wunder, daß sie überhaupt noch stehen. Wenn es auf diesem Planeten Stürme gäbe, wären sie längst eingestürzt. Ich glaube, wir sollten lieber nicht hineingehen.“

„Das hatte ich auch nicht vor. Ich schicke den Roboter — er kommt schneller vorwärts als wir und wird auch so vorsichtig sein, daß das Dach nicht über ihm zusammenbricht.“

Hilvar billigte diese Vorsichtsmaßnahme, bestand aber noch auf einer anderen, die Alvin übersehen hatte. Ehe der Roboter seinen Erkundungsgang antrat, veranlaßte ihn Alvin, dem nahezu ebenso intelligenten Gehirn des Raumschiffs die entsprechenden Anweisungen zu erteilen, damit sie auf jeden Fall sicher zur Erde zurückkehren konnten, auch wenn der Pilot aus irgendeinem Grund ausfallen sollte.

Es dauerte nicht lange, bis beide überzeugt waren, daß diese Welt nichts zu bieten hatte. Gemeinsam sahen sie kilometerlange, leere, staubbedeckte Gänge und Korridore über den Bildschirm gleiten, während der Roboter diese leeren Labyrinthe durchforschte. Alle von Verstandeswesen entworfenen Gebäude müssen mit gewissen grundlegenden Gesetzen übereinstimmen; nach einiger Zeit können nicht einmal mehr die fremdartigsten Architekturformen überraschen; das Gehirn wird durch endlose Wiederholung hypnotisiert. Diese Gebäude schienen ausschließlich Wohnzwecken gedient zu haben, und ihre Bewohner hatten etwa die Größe von Menschen besessen. Vielleicht waren es wirklich Menschen gewesen; es gab zwar überraschend viele Räume, die nur von fliegenden Wesen erreicht werden konnten, aber das hieß nicht, daß die Erbauer der Stadt Flügel besaßen. Sie hätten die AntischwerkraftVorrichtungen benützen können, die einst allgemein verwendet worden waren, von denen sich aber in Diaspar keine Spur mehr fand.

„Alvin“, sagte Hilvar schließlich, „wir können hunderttausend Jahre damit verbringen, diese Gebäude zu durchstreifen. Es ist klar, daß sie nicht nur verlassen wurden — man hat sorgfältig alles entfernt, was sie einmal enthielten. Wir verschwenden unsere Zeit.“

„Was schlägst du also vor?“ fragte Alvin.

„Wir sollten uns noch zwei oder drei andere Gebiete dieses Planeten ansehen, um festzustellen, ob sie diesem hier gleichen — was ich annehme. Dann sollten wir eine ebenso schnelle Überprüfung der anderen Planeten durchführen und nur landen, wenn sie sich im wesentlichen unterscheiden oder wenn wir etwas Ungewöhnliches bemerken. Mehr können wir gar nicht schaffen, wenn wir nicht den Rest unseres Lebens hier verbringen wollen.“

Hilvar hatte recht; sie wollten mit intelligentem Leben Kontakt aufnehmen, nicht aber archäologische Forschungen durchführen. Die erste Aufgabe konnte, wenn überhaupt, in wenigen Tagen erledigt werden. Die zweite Aufgabe würde jahrhundertelange Arbeit für Armeen von Menschen und Robotern bedeuten.

Sie verließen den Planeten zwei Stunden später und waren froh, endlich wieder unterwegs zu sein. Selbst als noch Leben auf ihr wimmelte, mußte diese Welt von endlosen Gebäuden reichlich bedrückend gewesen sein. Es gab keine Parks, keine offenen Flächen, wo etwas hätte wachsen können. Es war eine völlig unfruchtbare Welt gewesen, und man konnte sich den Charakter der Bewohner kaum vorstellen. Wenn ihr der nächste Planet glich, entschied Alvin, würde er seine Suche sofort abbrechen.


Er glich ihm nicht; ja, man hätte sich kaum einen größeren Kontrast vorstellen können.

Dieser Planet befand sich näher an der Sonne und wirkte schon vom Weltraum aus heiß. Er war teilweise von niedrigen Wolken verdeckt, die das Vorhandensein von Wasser anzeigten, aber man sah keine Meere.

Ebensowenig war intelligentes Leben zu entdecken; sie umkreisten den Planeten zweimal, ohne ein einziges künstliches Gebilde zu erblicken.

Der gesamte Globus war von den Polen bis zum Äquator in eine Decke aus giftigem Grün eingehüllt.

„Ich glaube, wir müssen hier sehr vorsichtig sein“, sagte Hilvar. „Diese Welt ist lebendig — und die Farbe dieser Vegetation gefällt mir nicht. Wir bleiben am besten im Schiff und öffnen die Luftschleuse überhaupt nicht.“

„Nicht einmal, um den Roboter auszusenden?“

„Nein, nicht einmal dafür. Du hast vergessen, was Krankheit ist, und obwohl meine Leute damit fertig werden, sind wir sehr weit von zu Hause entfernt; vielleicht gibt es hier Gefahren, die wir nicht erkennen. Ich glaube, daß diese Welt Amok gelaufen ist. Sie mag einst ein großer Garten oder Park gewesen sein, aber als man sie verließ, trat die Natur wieder die Herrschaft an. Sie kann niemals so ausgesehen haben, als das Sternsystem noch bewohnt war.“

Alvin bezweifelte nicht, daß Hilvar recht hatte. An der biologischen Anarchie da unten war etwas Böses, etwas Feindseliges gegenüber der Ordnung und Regelmäßigkeit, auf denen Lys und Diaspar beruhten. Hier hatte sich seit tausend Millionen Jahren ein endloser Kampf abgespielt, dessen Überlebenden mit Vorsicht zu begegnen sich empfehlen dürfte.

Sie schwebten vorsichtig auf eine große flache Ebene herab. Die Ebene wurde von fernen, mit riesigen Stämmen bestandenen Anhöhen begrenzt. Diese Bäume waren so dicht aneinandergefügt, im Unterholz so ineinander verwachsen, daß ihre Stämme praktisch unsichtbar blieben.

Viele geflügelte Wesen flogen zwischen den oberen Ästen umher, obwohl sie sich so schnell bewegten, daß man nicht entscheiden konnte, ob es Wirbeltiere, Insekten oder keines von beiden waren.

Hier und dort war es einem Waldriesen gelungen, einige Meter über seine kämpfenden Nachbarn emporzudringen, die sich wiederum zusammenschlossen, um ihn niederzukämpfen. Trotz der Stille war der Eindruck gnadenloser unwiderstehlicher Auseinandersetzung überwältigend.

Die Ebene wirkte vergleichsweise friedlich und ruhig. Sie erstreckte sich flach bis zum Horizont und schien mit dünnem, drahtigem Gras bewachsen. Obwohl sie bis auf fünfzehn Meter heruntergingen, waren keine Tiere zu sehen, was Hilvar wunderte. Vielleicht hatten sie sich bei ihrer Ankunft versteckt.


Sie schwebten wenige Meter über der Ebene, während Alvin Hilvar zu überzeugen versuchte, daß man die Luftschleuse ungefährdet öffnen könne. Hilvar erklärte geduldig Begriffe wie Bakterien, Viren, Schwämme und Mikroben — Dinge, die sich Alvin kaum vorstellen konnte. Die Streitfrage wurde bereits mehrere Minuten diskutiert, als sie etwas Seltsames entdeckten. Der Bildschirm, der ihnen noch vor wenigen Augenblicken den Wald gezeigt hatte, war plötzlich leer.

„Hast du ihn abgestellt?“ fragte Hilvar.

„Nein“, erwiderte Alvin, während ihm ein kalter Schauer über den Rükken lief, als er an die einzige andere Erklärung dachte. „Hast du es getan?“ fragte er den Roboter.

„Nein“, kam die Antwort.

Mit einem Seufzer der Erleichterung verwarf Alvin den Gedanken, der Roboter könnte eigenmächtig gehandelt haben.

„Warum ist dann der Bildschirm leer?“ fragte er.

„Die Bildempfänger sind zugedeckt worden.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Alvin, im Augenblick vergessend, daß der Roboter nur auf genau formulierte Befehle oder Fragen reagierte. Erfaßte sich schnell und sagte: „Wer hat die Empfänger zugedeckt?“

„Ich weiß es nicht.“

Die buchstäbliche Auslegung des Roboters konnte manchmal so unangenehm sein wie die Weitschweifigkeit der Menschen. Aber noch ehe Alvin die Befragung fortführen konnte, mischte sich Hilvar ein.

„Sag ihm, er soll das Schiff langsam steigen lassen“, forderte er, und seine Stimme klang dringend.

Alvin wiederholte das Kommando. Sie spürten, wie üblich, keine Bewegung. Aber langsam erschien das Bild wieder auf dem Schirm, obwohl es einen Augenblick verschwommen und verzerrt war. Doch es zeigte genug, um den Streit über eine Landung zu beenden.

Die flache Ebene war nicht mehr flach. Unmittelbar unter ihnen hatte sich eine große Wölbung gebildet — eine Ausbauchung, die oben, wo sich das Schiff befreit hatte, aufgerissen war. Riesige Greifarme schwangen trunken über der Lücke, als versuchten sie, die Beute wieder einzufangen, die ihnen eben entglitten war. Während Alvin entsetzt und gebannt hinunterstarrte, fiel sein Blick auf eine pulsierende dunkelrote Öffnung, am Rand mit peitschenartigen Fühlern besetzt, die im gleichen Takt schlugen und alles Erreichbare in diesen klaffenden Rachen trieben.

Um sein Opfer betrogen, sank das Wesen langsam wieder in den Boden — und jetzt erst bemerkte Alvin, daß die Ebene nur der dünne Schaum auf der Oberfläche eines stillstehenden Meeres war.

„Was war dieses — Ding?“ stieß er hervor.

„Ich müßte hinunter und es studieren, ehe ich dir das sagen könnte“, erklärte Hilvar trocken. „Es kann irgendein primitives Tier gewesen sein — vielleicht sogar ein Verwandter unseres Freundes von Shalmirane. Sicherlich besitzt es keinen Verstand, sonst hätte es nicht versucht, ein Raumschiff zu fressen.“

Alvin war erschüttert, obwohl er wußte, daß sie nicht ernsthaft in Gefahr gewesen waren. Er fragte sich, was wohl noch unter diesem unschuldig aussehenden Rasen leben mochte.

„Hier würde ich gerne länger bleiben“, sagte Hilvar offensichtlich fasziniert von dem Gesehenen. „Die Evolution muß unter diesen Bedingungen einige interessante Ergebnisse hervorgebracht haben. Nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Rückentwicklung, die nach dem Verlassen dieses Planeten begonnen haben muß. Inzwischen dürfte das Gleichgewicht eingetreten sein und — du willst doch nicht schon fort?“

Seine Stimme klang bedauernd.

„Doch“, sagte Alvin. „Ich habe eine Welt ohne Leben und eine mit zuviel Leben gesehen, und ich weiß nicht, welche mir mehr mißfällt.“

Fünfzehnhundert Meter über der Ebene bot ihnen der Planet eine abschließende Überraschung. Sie stießen auf eine Flottille riesiger, schlaffer Ballone, die im Wind dahintrieben. Von jeder halb durchsichtigen Hülle hingen Büschel von Ranken herunter und bildeten praktisch einen umgekehrten Wald. Einige Pflanzen schienen bei der Anstrengung, dem Kampf auf der Oberfläche zu entkommen, die Luft erobert zu haben.

Durch ein Wunder der Anpassung war es ihnen gelungen, Wasserstoff zu erzeugen und in Blasen zu sammeln, so daß sie sich in den Frieden der unteren Atmosphäre erheben konnten.

Dabei schien es nicht einmal gewiß, daß sie hier Sicherheit gefunden hatten. Ihre herabhängenden Ranken und Blätter waren mit einer ganzen Fauna spinnenartiger Tiere übersät, die ihr Leben hoch über der Oberfläche des Planeten verbringen mußten und den umfassenden Daseinskampf auf ihren einsamen, hochschwebenden Inseln weiterführten.

Wahrscheinlich bekamen sie von Zeit zu Zeit Kontakt mit dem Boden; Alvin sah einen der großen Ballons plötzlich zusammensinken und abstürzen, wobei seine geplatzte Hülle als Fallschirm fungierte. Er fragte sich, ob das ein Unfall war oder Teil des Lebenskreises dieser seltsamen Wesen.


Hilvar schlief, während sie den nächsten Planeten ansteuerten. Aus irgendeinem Grund, den ihnen der Roboter nicht erklären konnte, flog das Raumschiff nur langsam, seit es das Sternsystem erreicht hatte. Es brauchte beinahe zwei Stunden, um die Welt zu erreichen, die Alvin jetzt besuchen wollte.

Er weckte Hilvar, als sie in die Atmosphäre hinabsanken.

„Was hältst du davon?“ fragte er und deutete auf den Bildschirm.

Unter ihnen lag eine trostlose Landschaft aus Schwarz und Grau, ohne jedes Zeichen von Vegetation oder einen direkten Hinweis auf Leben.

Aber es gab indirekte Anzeichen; die niedrigen Hügel und sanften Täler waren mit Halbkugeln übersät, einige davon schienen sogar in komplizierten, symmetrischen Mustern angeordnet.

Sie hatten auf dem letzten Planeten Vorsicht gelernt; nach sorgfältiger Überlegung blieben sie hoch oben in der Atmosphäre und schickten den Roboter hinunter. Durch seine Augen sahen sie eine der Halbkugeln näher kommen, bis der Roboter wenige Meter vor der völlig glatten Oberfläche schwebte.

Man konnte weder einen Zugang sehen noch Hinweise auf den Zweck des Gebäudes entdecken. Es war ziemlich groß — über dreißig Meter hoch; andere Halbkugeln waren sogar noch größer. Wenn es sich wirklich um Gebäude handelte, schienen sie weder Zu- noch Ausgänge zu besitzen.

Nach einigem Zögern befahl Alvin dem Roboter, die Kuppel zu berühren.

Zu seinem größten Staunen weigerte er sich! Das war wirklich Meuterei — so schien es jedenfalls zunächst.

„Warum tust du nicht, was ich sage?“ fragte Alvin, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte.

„Es ist verboten“, kam die Antwort.

„Von wem?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wie kannst du dann — nein, paß auf. Ist dieser Befehl in dich einkonstruiert?“

„Nein.“

Damit schien die Möglichkeit ausgeschlossen, die Erbauer dieser Kuppeln seien Mitglieder der Rasse gewesen, die diesen Roboter konstruiert hatten.

„Wann hast du diesen Befehl erhalten?“


„Ich erhielt ihn, als ich landete.“

Alvin wandte sich an Hilvar, mit einem neuen Hoffnungsschimmer in den Augen.

„Hier gibt es Intelligenz! Kannst du sie fühlen?“

„Nein“, erwiderte Hilvar. „Mir kommt dieser Ort genauso tot vor wie die erste Welt, die wir besuchten.“

„Ich gehe zum Roboter hinaus. Vielleicht spricht das Wesen auch mit mir.“

Hilvar erhob keine Einwendungen, obwohl er sich nicht allzu wohl fühlte.

Sie landeten das Raumschiff dreißig Meter vor der Kuppel, nicht weit vom Roboter entfernt, und öffneten die Luftschleuse.

Alvin wußte, daß man die Schleuse nicht öffnen konnte, solange sich das Gehirn des Schiffes nicht vergewissert hatte, ob man die Außenluft atmen konnte. Einen Augenblick glaubte er, es habe einen Fehler gemacht — so dünn war die Luft. Dann atmete er tief ein und stellte fest, daß er genug Sauerstoff bekam, um überleben zu können, obwohl er merkte, daß er es hier nur wenige Minuten aushaken würde.

Schwer atmend, gingen sie zum Roboter und zur Wölbung der rätselhaften Kuppel. Sie taten noch einen Schritt — und erstarrten, als hätten sie beide im selben Augenblick einen Schlag erhalten. In ihrem Gehirn dröhnte, wie ein mächtiger Gong, eine einzige Botschaft:

›Gefahr. Nicht näher kommen. ‹

Es war eine Warnung, keine Drohung. Irgendwie wußten sie, daß sie sich nicht gegen sie richtete, sondern ihrem Schutz diente. Hier, schien sie zu sagen, befindet sich etwas grundlegend Gefährliches, und wir, die Erzeuger, wollen verhindern, daß jemand dadurch zu Schaden kommt.

Alvin und Hilvar traten mehrere Schritte zurück und sahen sich an; jeder wartete darauf, daß der andere aussprach, was sie dachten. Hilvar faßte die Lage als erster zusammen.

„Ich hatte recht, Alvin“, sagte er. „Es gibt keinen Verstand hier. Diese Warnung ist automatisch — ausgelöst durch unsere Gegenwart, als wir zu nahe herantraten.“

Alvin nickte zustimmend.

„Ich möchte wissen, was sie zu schützen versuchten“, sagte er. „Unter diesen Kuppeln könnten Gebäude — könnte alles mögliche versteckt sein.“

„Es gibt keinen Weg, das festzustellen, wenn uns alle Kuppeln fernhalten. Interessant — der Unterschied zwischen den drei Planeten, die wir besuchten. Vom ersten nahmen sie alles mit — den zweiten verließen sie, ohne sich darum zu kümmern — aber hier haben sie sich sehr viel Mühe gemacht.. Vielleicht wollten sie eines Tages zurückkommen und alles für die Rückkehr bereitstellen.“

„Aber sie sind niemals wiedergekommen — und das ist schon sehr lange her.“

„Vielleicht haben sie es sich anders überlegt.“

Eigenartig, dachte Alvin, wie er und Hilvar gleichzeitig unbewußt das Wort ›sie‹ verwendet hatten. Wer oder was ›sie‹ auch immer gewesen sein mochten, ihre Gegenwart war auf dem ersten Planeten deutlich spürbar — und hier noch mehr. Dies hier war eine Welt, die man sorgfältig eingepackt und aufgehoben hatte, bis sie wieder gebraucht wurde.

„Geh'n wir zum Schiff zurück“, keuchte Alvin. „Ich kann nicht richtig atmen.“

Als sich die Luftschleuse hinter ihnen geschlossen hatte und sie sich wieder wohler fühlten, besprachen sie ihr weiteres Vorgehen. Für eine ausführliche Erforschung mußten sie viele Kuppeln ausprobieren, in der Hoffnung, einen Bau zu finden, der keine Warnung ausstrahlte, den man also betreten konnte. Wenn das mißlang — aber Alvin wollte dieser Möglichkeit erst ins Auge sehen, wenn ihm nichts anderes mehr übrigblieb.

Nach einer Stunde war es soweit, und zwar auf dramatischere Art, als er sich das hätte träumen lassen. Sie hatten den Roboter zu einem halben Dutzend Kuppeln geschickt, stets mit demselben Ergebnis, als sie auf eine Szene stießen, die in dieser sauberen, gut verpackten Welt völlig fehl am Platze war.

Unter ihnen lag ein weites Tal; auch hier standen die undurchdringlichen Kuppeln. In der Mitte des Tales war die unverwechselbare Narbe einer großen Explosion zu sehen — einer Explosion, die Trümmer in alle Richtungen kilometerweit verstreut und einen flachen Krater in den Boden gebrannt hatte.

Und neben dem Krater lag das Wrack eines Raumschiffs.

21

Sie landeten am Schauplatz dieser alten Tragödie und schritten langsam auf den gewaltigen, zertrümmerten Rumpf zu. Nur ein kurzer Abschnitt des Schiffes — entweder der Bug oder das Heck — war erhalten; das übrige mußte bei der Explosion zerstört worden sein. Während sie sich dem Wrack näherten, dämmerte Alvin langsam ein Gedanke, der stärker und stärker und schließlich zur Gewißheit wurde.

„Hilvar“, sagte er, „ich glaube, das ist das Schiff, das auf dem ersten Planeten landete.“

Hilvar, der es vorzog, Sauerstoff zu sparen, nickte nur. Er hatte den gleichen Einfall gehabt. Er konnte als Lehre für unvorsichtige Besucher dienen, dachte er. Hoffentlich nahm sich Alvin das zu Herzen.

Sie erreichten den Rumpf und starrten in das Innere des Schiffes. Es war, als schaue man in ein großes, säuberlich entzweigeschnittenes Gebäude; Böden, Wände und Decken gaben einen verzerrten Aufriß des Schiffsquerschnitts. Alvin fragte sich, welche seltsamen Wesen wohl im Wrack ihres Fahrzeuges liegen mochten.

„Das verstehe ich nicht“, sagte Hilvar plötzlich. „Dieser Schiffsteil ist zwar schwer beschädigt, aber doch im wesentlichen intakt. Wo ist das übrige? Kann es sein, daß das Schiff im Weltraum auseinanderbrach und nur dieser Teil hier abstürzte?“

Erst als sie den Roboter ausgeschickt und das Gebiet um das Wrack genau untersucht hatten, fanden sie die Lösung. Es gab nicht den geringsten Zweifel, als Alvin die Reihe niedriger Erdhügel fand, jeder drei Meter lang.

„Sie sind also hier gelandet“, sagte Hilvar nachdenklich, „und haben die Warnung ignoriert. Sie waren neugierig, genau wie du. Sie versuchten, diese Kuppel aufzubrechen.“

Er deutete auf die andere Seite des Kraters, auf die glatte, unberührte Schale, in der die verreisten Herren dieser Welt ihre Schätze versiegelt hatten. Aber sie war keine Kuppel mehr, sondern beinahe eine vollkommene Kugel, denn der Boden unter ihr war weggesprengt.

„Sie zertrümmerte ihr Schiff und tötete viele Besatzungsmitglieder.

Trotzdem gelang es ihnen, das Raumschiff zu reparieren und wieder zu starten, indem sie diesen Teil abschnitten und alle wichtigen Geräte entfernten. Das muß eine Aufgabe gewesen sein!“

Alvin hörte ihn kaum. Er blickte auf das merkwürdige Zeichen, das ihn an diese Stelle geführt hatte — ein schmaler Stab, um den im oberen Drittel ein waagrechter Ring schwebte. Obwohl es fremdartig und seltsam wirkte, konnte er die stumme Botschaft verstehen, die es durch alle Zeiten bewahrt hatte.

Unter diesen Steinen lag zumindest die Antwort auf eine Frage. Sie durfte unbeantwortet bleiben, was immer diese Wesen gewesen sein mochten, sie hatten ihre Ruhe verdient.

Hilvar hörte kaum, was Alvin auf dem Weg zurück zu ihrem Schiff flüsterte.

„Ich hoffe, sie sind heimgekommen“, sagte er.

„Und wohin jetzt?“ fragte Hilvar, als sie wieder im Weltraum schwebten.

Alvin starrte nachdenklich auf den Bildschirm. „Meinst du, ich sollte zurückkehren?“

„Es wäre vernünftiger. Vielleicht hält unser Glück nicht mehr lange, und wer weiß, welche Überraschungen diese Planeten noch für uns bereithalten?“

Das war die Stimme der Vernunft und der Vorsicht, und Alvin lauschte ihr jetzt aufmerksamer, als er das noch vor ein paar Tagen getan hätte.

Aber er hatte einen weiten Weg zurückgelegt, und sein ganzes Leben auf diesen Augenblick gewartet; er wollte nicht umkehren, solange es noch so viel zu sehen gab.

„Ab sofort bleiben wir im Schiff“, sagte er, „und landen nirgends mehr.

Das müßte doch genügend Sicherheit verbürgen.“

Hilvar zuckte die Achseln, als weigere er sich, die Verantwortung für die kommenden Ereignisse zu übernehmen. Jetzt, da Alvin ein gewisses Maß an Vorsicht zeigte, wollte er nicht gerne zugeben, daß er ebensosehr drauf brannte, ihre Entdeckungsreise weiterzuführen, obwohl er längst jede Hoffnung auf intelligentes Leben aufgegeben hatte.

Vor ihnen lag eine Doppelwelt, ein großer Planet mit einem kleineren Trabanten. Der Riese hätte ein Zwilling des Planeten sein können, den sie als zweiten aufgesucht hatten; er war in die gleiche Decke aus giftigem Grün eingehüllt. Es hatte keinen Sinn, hier zu landen; diese Geschichte kannten sie schon.

Alvin ließ das Schiff in geringer Höhe über die Oberfläche des Trabanten gleiten; er brauchte keine Warnung von den komplizierten Schutzmechanismen, um zu wissen, daß es hier keine Atmosphäre gab. Alle Schatten hatten scharfe, abgeschnittene Ränder, und zwischen Tag und Nacht gab es keine Abstufungen. Es war die erste Welt, auf der er etwas der Nacht Vergleichbares entdeckte, denn über dem Horizont stand nur eine der etwas weiter entfernten Sonnen. Die Landschaft wurde von einem dunklen Licht überflutet, als sei sie in Blut getaucht.

Viele Kilometer flogen sie niedrig über Berge dahin, die noch so schroff und zerrissen wie in den fernen Zeitaltern ihrer Geburt emporragten.

Diese Welt kannte weder Veränderung noch Fäulnis, sie war nie von Wind und Regen heimgesucht worden. Hier wurden keine Ewigkeitsanlagen gebraucht, um die Dinge in ihrer alten Frische zu erhalten. Aber wenn es keine Luft gab, konnte es auch kein Leben gegeben haben — oder doch?

„Natürlich“, sagte Hilvar, als ihn Alvin danach fragte. „An dieser Vorstellung ist biologisch gesehen nichts Absurdes. Leben kann im luftleeren Raum nicht entstehen — aber es kann Formen entwickeln, die darin überleben werden. Es muß unzählige Male geschehen sein, sobald ein bewohnter Planet seine Atmosphäre verlor.“

„Aber glaubst du denn, daß intelligente Lebensformen in einem Vakuum existieren würden? Hätten sie nicht gegen den Verlust ihrer Luft vorgesorgt?“

„Wahrscheinlich, wenn er eingetreten wäre, nachdem sie genug Verstand besaßen, um das verhindern zu können. Wenn sich jedoch die Atmosphäre verflüchtigte, solange sie noch in einem primitiven Zustand lebten, müßten sie sich entweder anpassen oder untergehen. Nachdem sie sich angepaßt haben, könnten sie eine sehr hohe Intelligenz entwikkeln. Ja, sogar mit großer Wahrscheinlichkeit — der Anreiz wäre nämlich gewaltig.“

Dieses Argument blieb rein theoretischer Natur, dachte Alvin, soweit es diesen Planeten betraf. Nirgends gab es ein Zeichen, daß er jemals Leben, intelligent oder nicht, beherbergt hatte. Aber worin lag in diesem Fall der Zweck dieser Welt? Das gesamte Sternsystem der Sieben Sonnen war künstlich geschaffen, und auch diese Welt mußte Teil ihres grandiosen Entwurfs sein.

Man konnte sich vorstellen, daß sie ausschließlich Schmuckzwecken diente — als Mond am Himmel ihres riesigen Begleiters.

Aber auch in diesem Fall hätte man doch irgendeinen Zweck damit verbunden.

„Schau“, sagte Hilvar, auf den Bildschirm deutend. „Dort drüben rechts.“

Alvin veränderte den Kurs des Raumschiffes, und die Landschaft kippte.

Die roterleuchteten Felsen verschwanden bei der Geschwindigkeit, mit der sie darüber hinwegrasten; dann stabilisierte sich das Bild, und unten lag der unverwechselbare Beweis für Leben.


Unverwechselbar — aber auch unverständlich. Er hatte die Form einer langen Reihe von Säulen, die jeweils dreißig Meter voneinander entfernt und doppelt so hoch waren. Sie erstreckten sich in die Ferne, schrumpften in der Perspektive, bis sie der Horizont verschlang.

Alvin steuerte das Schiff nach rechts und flog an der Säulenreihe entlang; er fragte sich, welchem Zweck sie wohl gedient haben könnte. Die Säulen waren völlig gleichgeartet und marschierten in ununterbrochenem Gänsemarsch über die Berge und hinab in die Täler.

Nichts deutete darauf hin, daß diese Säulen jemals etwas zu tragen gehabt hätten; sie waren glatt, ohne besondere Merkmale und verjüngten sich ein wenig zur Spitze hin.

Ganz plötzlich veränderte die Reihe ihre Richtung und wandte sich in einem scharfen Winkel nach rechts. Das Raumschiff schoß mehrere Kilometer über diesen Punkt hinaus, ehe Alvin reagieren und das Schiff in die neue Richtung bringen konnte.

Die Säulen setzten sich in ungebrochener Reihenfolge über die Landschaft fort. Dann, achtzig Kilometer von der ersten Ecke entfernt, beschrieben sie wieder einen rechten Winkel. Bei diesem Tempo, dachte Alvin, werden wir bald wieder dort sein, wo wir angefangen haben.

Die endlose Folge der Säulen hatte sie so hypnotisiert, daß sie die Lücke mehrere Kilometer hinter sich gelassen hatten, ehe Hilvar rief, und Alvin, der überhaupt nichts bemerkt hatte, mit dem Schiff umkehrte. Sie schwebten langsam herab, und als sie über der von Hilvar gefundenen Stelle kreisten, begann in ihnen ein phantastischer Argwohn aufzukeimen — obwohl ihn zuerst keiner der beiden auszusprechen wagte.

Zwei Säulen waren an ihrer Basis abgebrochen. Sie lagen auf dem Felsboden.

Das war noch nicht alles; die beiden Säulen rechts und links von dieser Lücke waren von einer unwiderstehlichen Kraft zur Seite gebogen.

Es gab keine Ausflucht vor der Schlußfolgerung. Jetzt wußte Alvin, was sie überflogen hatten; er hatte ähnliches oft in Lys gesehen, es aber der erschreckenden Ausmaße wegen nicht gleich erkannt.

„Hilvar“, sagte er und wagte kaum, seine Gedanken in Worte zu fassen,

„weißt du, was das ist?“

„Kaum zu glauben, aber wir sind am Rand eines Geheges entlanggeflogen. Dieses Ding hier ist ein Zaun — ein Zaun, der nicht stark genug war.“

„Leute mit Haustieren“, meinte Alvin mit dem nervösen Lachen, hinter dem Männer manchmal Scheu zu verbergen suchen, „sollten eigentlich besser auf sie aufpassen.“

Hilvar ging auf diese gezwungene Spaßhaftigkeit nicht ein; er starrte mit gerunzelter Stirn auf die zerstörte Barrikade.

„Ich versteh es nicht“, sagte er schließlich. „Woher hätte es auf diesem Planeten Nahrung bekommen können? Und warum brach es aus seinem Gehege aus? Ich würde viel dafür geben, um zu erfahren, wie dieses Tier aussah.“

„Vielleicht hat man es hier verlassen, und es brach aus, weil es Hunger hatte“, vermutete Alvin. „Oder irgend etwas hat es wütend gemacht.“

„Geh ein wenig tiefer“, sagte Hilvar. „Ich möchte mir den Boden ansehen.“

Sie schwebten hinunter, bis das Schiff fast den Felsboden berührte, und jetzt bemerkten sie, daß die Ebene mit unzähligen kleinen Löchern übersät war, keines größer als drei bis vier Zentimeter . Außerhalb des Zaunes jedoch zeigte der Boden diese geheimnisvollen Narben nicht; am Zaun hörten sie abrupt auf.

„Du hast recht“, sagte Hilvar. „Es war hungrig. Aber es ist kein Tier gewesen; man könnte es eher eine Pflanze nennen. Es hatte den Boden in seinem Gehege ausgesaugt und mußte neue Nahrung finden. Wahrscheinlich bewegte es sich ganz langsam; vielleicht brauchte es Jahre, um diese Pforten niederzubrechen.“

Alvins Phantasie ergänzte schnell die Einzelheiten. Er zweifelte nicht daran, daß Hilvars Überlegung im wesentlichen zutraf und daß irgendein botanisches Ungeheuer einen trägen, aber unablässigen Kampf gegen diesen Zaun geführt hatte.

Es konnte immer noch am Leben sein und nach Belieben die Oberfläche des Planeten durchwandern. Sie suchten die Gegend um die Zaunlücke ab und fanden eine große Anhäufung der kleinen Löcher, wo sich das Wesen offensichtlich zu einer Mahlzeit niedergelassen hatte — wenn man dieses Wort auf einen Organismus anwenden konnte, der seine Nahrung aus dem Felsgestein bezog.

Als sie wieder in den Weltraum aufstiegen, fühlte Alvin eine seltsame Müdigkeit. Er hatte so viel gesehen und doch so wenig erfahren. Es gab viel Wunderdinge auf diesen Planeten, aber das, was er suchte, war längst abgewandert. Es würde zwecklos sein, dachte er, die anderen Planeten der Sieben Sonnen aufzusuchen. Auch wenn es noch Intelligenz im Universum gab, wo sollte er sie jetzt suchen? Er sah auf die Sterne, die wie Staubkörnchen über den Bildschirm verstreut lagen, und er wußte, daß der Rest der Zeit an sich nicht ausreichen würde, sie alle zu erforschen.


Er wurde von einem Gefühl nie gekannter Einsamkeit und Niedergeschlagenheit überwältigt. Jetzt konnte er die Angst Diaspars vor den Weiten des Universums verstehen, jenen Schrecken, der seine Mitbürger veranlaßte, sich im Mikrokosmos ihrer Stadt zusammenzudrängen. Es fiel sehr schwer, glauben zu müssen, daß sie letzten Endes doch recht gehabt hatten.

Er wandte sich an Hilvar um Unterstützung. Aber Hilvar stand mit geballten Fäusten und einem glasigen Ausdruck in den Augen in der Kabine.

Sein Kopf neigte sich auf eine Seite; er horchte.

„Was ist denn los?“ fragte Alvin besorgt. Er mußte die Frage wiederholen, ehe Hilvar sie hörte. Er starrte immer noch ins Leere, als er schließlich antwortete.

„Da kommt etwas“, sagte er langsam. „Etwas, das ich nicht verstehe.“

Alvin schien es, als sei die Kabine plötzlich sehr kalt geworden; er fröstelte, und der Alptraum von den Invasoren trat ihm in aller Schrecklichkeit vor Augen. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung zwang er sich zur Ruhe.

„Ist es freundlich?“ fragte er. „Soll ich zur Erde fliehen?“

Hilvar beantwortete nur die zweite Frage. Seine Stimme war sehr schwach, ohne jedoch Beunruhigung oder Angst zu zeigen. Sie ließ eher grenzenloses Staunen und Neugier anklingen, als sei er auf etwas so Überraschendes gestoßen, daß er sich nicht mit Alvins besorgter Frage abgeben konnte.

„Du bist zu spät dran“, sagte er. „Es ist schon hier.“

Die Galaxis hatte sich viele Male um ihre Achse gedreht, seit Vanamonde erstmals ins Bewußtsein getreten war. Er konnte sich kaum an diese ersten Äonen und die Wesen, die ihn damals behüteten, erinnern — aber er dachte noch an seine Trauer, als sie fortgegangen waren und ihn unter den Sternen allein gelassen hatten. Über die Zeiten hinweg war er von Sonne zu Sonne gewandert, hatte sich langsam entwickelt und seine Kräfte gesteigert. Einst hatte er davon geträumt, sie wiederzufinden, die seine Geburt besorgten, und obwohl der Traum verblaßte, war er doch nie ganz gestorben.

Auf zahllosen Welten fand er die Trümmer, die das Leben hinterlassen hatte, aber Intelligenz entdeckte er nur ein einziges Mal — und floh entsetzt vor der Schwarzen Sonne. Aber das Universum war sehr groß, und die Suche hatte kaum begonnen.

So weit entfernt der plötzliche Energieausbruch in Raum und Zeit auch war, er winkte Vanamonde über die Lichtjahre hinweg vom Herz der Galaxis aus zu. Er hatte mit der Strahlung der Sterne nichts gemein und war in sein Bewußtsein so plötzlich eingedrungen wie eine Meteorspur am wolkenlosen Himmel. Er bewegte sich durch Raum und Zeit darauf zu, zum spätesten Augenblick seiner Existenz, und warf die toten unveränderlichen Strukturen der Vergangenheit ab.

Die lange metallene Form mit der unendlichen Kompliziertheit ihres Gefüges konnte er nicht verstehen, denn sie war ihm ebenso fremd wie alle anderen Dinge der körperlichen Welt. Um sie hing noch die Aura der Energie, die ihn durch das Universum hierhergetrieben hatte, aber das interessierte ihn jetzt nicht mehr. Vorsichtig, mit der zarten Nervosität eines halb zur Flucht bereiten Tieres, griff er nach diesen beiden Gehirnen, die er entdeckt hatte.

Und dann wußte er, daß seine lange Suche zu Ende war.

Alvin packte Hilvar an den Schultern und schüttelte ihn heftig. „Sag mir, was los ist!“ rief er. „Was soll ich tun?“

Langsam wich der abwesende Ausdruck aus Hilvars Augen.

„Ich begreife immer noch nicht“, sagte er, „aber wir brauchen uns nicht zu fürchten — das weiß ich. Was es auch sein mag, es wird uns nichts tun. Es scheint einfach — neugierig zu sein.“

Alvin wollte etwas erwidern, als er plötzlich von einer Empfindung überwältigt wurde, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Ein warmes, prickelndes Glühen schien sich in seinem Körper auszubreiten; es dauerte nur wenige Sekunden, aber als es verging, war er nicht mehr nur er selbst.

Etwas teilte seinen Verstand, überlappte ihn, wie ein Kreis einen ändern teilweise bedeckt. Er war sich auch Hilvars Geist bewußt, mit ihm in diesem Wesen verschränkt. Diese Empfindung wirkte eher seltsam als unangenehm, und sie ließ Alvin zum erstenmal wirklich die Telepathie begreifen — jene Macht, die in seinen Mitbürgern so abgesunken war, daß man sie nur noch zur Steuerung von Maschinen gebrauchen konnte.

Alvin hatte sich sofort dagegengestemmt, als Seranis seinen Verstand beherrschen wollte, aber er wehrte sich nicht gegen dieses Eindringen.

Es wäre nutzlos gewesen, und er wußte, daß dieses Wesen, was immer es sein mochte, freundlich war. Er entspannte sich, akzeptierte ohne Widerstand die Tatsache, daß ein unendlich mächtigerer Verstand seinen Geist durchforschte. Aber diese Meinung war nicht ganz richtig.

Vanamonde bemerkte sofort, daß eines dieser Gehirne mitfühlender und leichter zugänglicher war als das andere. Er spürte, daß beide über seine Gegenwart staunten, und das überraschte ihn gewaltig. Es schien kaum zu glauben, daß sie vergessen haben sollten; das Vergessen lag, wie die Sterblichkeit, außerhalb Vanamondes Begriffsvermögen.

Die Verständigung gestaltete sich sehr schwierig; viele ihrer Gedankenbilder waren so fremdartig, daß er sie kaum erkennen konnte. Die ständig wiederkehrende Furcht vor den Invasoren verwirrte und ängstigte ihn ein wenig; sie erinnerte ihn an seine eigenen Gefühle, als er die Schwarze Sonne zum erstenmal bemerkt hatte.

Aber sie wußten nichts von der Schwarzen Sonne, und jetzt begannen sich ihre Fragen in seinem Geist zu regen.

„Was bist du?“

Er gab die einzige Antwort, die ihm möglich war.

„Ich bin Vanamonde.“

Es gab eine lange Pause, dann wurde die Frage wiederholt. Sie hatten nicht verstanden; das war seltsam, denn ihre Rasse hatte ihm doch diesen Namen mitgegeben.

Wieder kämpften sich ihre winzigen Gedanken in sein Bewußtsein.

„Wo sind die Leute, die die Sieben Sonnen schufen? Was ist mit ihnen geschehen?“

Er wußte es nicht; sie wollten ihm kaum glauben, und ihre Enttäuschung kam deutlich und klar über die Kluft, die seinen Verstand von dem ihren trennte. Aber sie waren geduldig, und er half ihnen gerne, denn ihre Suche war auch die seine, und sie waren die ersten, die ihm Gesellschaft leisteten.

Solange er lebte, würde er nie mehr ein so seltsames Erlebnis wie dieses stumme Gespräch haben, dachte Alvin. Kaum zu glauben, daß er wenig mehr als Zuschauer blieb, denn er wollte nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben, daß Hilvars Verstand in mancher Hinsicht weitaus fähiger war als der seine. Er konnte nur warten und staunen, halb betäubt vom Gedankenfluß, der knapp jenseits der Grenzen seines Begriffsvermögens dahinströmte.

Bald darauf brach Hilvar, blaß und angestrengt, die Verbindung ab und wandte sich an seinen Freund.

„Alvin“, sagte er müde. „Das ist seltsam. Ich kann es überhaupt nicht begreifen.“

Diese Mitteilung richtete Alvins Selbstgefühl wieder ein wenig auf, und sein Gesicht mußte es gezeigt haben, denn Hilvar lächelte plötzlich mitfühlend.

„Ich kann nicht herausfinden, was das ›Vanamonde‹ ist“, fuhr er fort.

„Es ist ein Wesen von gewaltigem Wissen, aber es scheint wenig Intelligenz zu besitzen. Natürlich“, fügte er hinzu, „mag sein Verstand von so völlig anderer Art sein, daß wir ihn nicht verstehen können — aber irgendwie glaube ich nicht daran.“

„Nun, was hast du erfahren?“ fragte Alvin ungeduldig. „Weiß er etwas über die Sieben Sonnen?“

Hilvars Geist schien immer noch abwesend zu sein.

„Sie wurden von vielen Rassen geschaffen, einschließlich der unseren“, sagte er. „Er kann mir solche Tatsachen mitteilen, aber er scheint ihre Bedeutung nicht zu begreifen. Ich glaube, er kennt die Vergangenheit, ohne sie deuten zu können. Alles, was je geschehen ist, scheint in seinem Verstand durcheinandergehäuft.“

Er schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann hellte sich seine Miene auf.

„Wir können nur das eine tun: Irgendwie müssen wir Vanamonde zur Erde bringen, damit ihn unsere Denker studieren.“

„Ist das nicht gefährlich?“ fragte Alvin.

„Nein“, antwortete Hilvar. „Vanamonde ist gutgesinnt. Mehr als das, er scheint uns sogar herzlich zugetan.“

Und ganz plötzlich wurde Alvin etwas klar. Er dachte an Krif und alle Tiere, die zum Ärger von Hilvars Freunden ständig entkamen. Und er erinnerte sich an ihre Expedition nach Shalmirane.

Hilvar hatte einen neuen Schützling gefunden.

22

Diese Konferenz wäre noch vor wenigen Tagen völlig undenkbar erschienen, dachte Jeserac. Die sechs Besucher aus Lys saßen dem Rat an einem Tisch gegenüber, den man vor den hufeisenförmigen Beratungstisch geschoben hatte. Welche Ironie, daß vor nicht langer Zeit Alvin an derselben Stelle gestanden war und den Beschluß des Rates vernommen hatte, wonach Diaspar wieder gegen die Außenwelt abzuschließen sei. Jetzt war die Welt über sie hereingebrochen — und nicht nur sie, sondern auch das Universum.

Schon hatte sich der Rat verändert. Nicht weniger als fünf seiner ständigen Mitglieder fehlten. Sie ertrugen die Probleme und die Verantwortung nicht, vor die sie sich gestellt sahen, und hatten den Weg beschriften, den bereits Khedron vor ihnen gegangen war. Ein Beweis mehr für das Versagen Diaspars, dachte Jeserac, wenn so viele seiner Bürger vor der ersten Herausforderung in Jahrmillionen die Flucht ergriffen. Viele Tausende hatten sich bereits in das kurze Vergessen der Gedächtnisanlagen geflüchtet, in der Hoffnung, bei ihrem Erwachen Diaspar in seiner wohlvertrauten Form wiederzufinden. Sie würden enttäuscht sein.

Jeserac war auf einen der freien Ratsplätze gewählt worden. Obwohl wegen seiner Stellung als Alvins Lehrer eigentlich verdächtig, war seine Anwesenheit doch so wichtig, daß niemand seinen Ausschluß vorgeschlagen hatte. Er saß am einen Ende des hufeisenförmigen Tisches — eine Position, die ihm mehrere Vorteile bot. Er konnte nicht nur die Profile der Besucher sehen, sondern auch die Gesichter seiner Ratskollegen beobachten — und ihre Mienen waren sehr lehrreich.

Es bestand kein Zweifel mehr daran, daß Alvin recht gehabt hatte, und langsam begriff auch der Rat diese schwerverdauliche Wahrheit. Die Abgeordneten aus Lys konnten wesentlich schneller denken als selbst die klügsten Geister in Diaspar. Das war übrigens nicht ihr einziger Vorteil, denn sie zeigten auch ein außergewöhnliches Maß an Zusammenarbeit, was nach Jeseracs Vermutung mit ihren telepathischen Fähigkeiten zusammenhing. Er fragte sich, ob sie wohl die Gedanken der Ratsmitglieder lasen, entschied aber dann, daß sie die feierliche Versicherung, ohne welche die Konferenz unmöglich zustandegekommen wäre, nicht verletzen würden.

Große Fortschritte waren nach Jeseracs Ansicht nicht erzielt worden; er hatte sie übrigens auch nicht erwartet. Der Rat, der mit Mühe die Existenz von Lys anerkannt hatte, schien noch nicht fähig, die Vorgänge zu begreifen. Aber er war erschreckt — ebenso die Besucher, obwohl sie diese Tatsache geschickter zu verbergen wußten.

Jeserac selbst war nicht so entsetzt, wie er angenommen hatte; seine Ängste existierten noch, aber er hatte sich ihnen endlich gestellt. Ein Quentchen von Alvins Unbekümmertheit — oder war es Mut? — hatte seine Auffassung verändert und ihm neue Horizonte erschlossen. Er glaubte nicht, daß er seinen Fuß jemals außerhalb Diaspars setzen könnte, aber er begriff den Antrieb, der Alvin dazu geführt hatte.

Die Frage des Präsidenten traf ihn unerwartet, aber er faßte sich schnell.

„Ich glaube“, sagte er, „daß nur durch reinen Zufall eine ähnliche Situation nicht schon früher aufgetreten ist. Wir wissen, daß es vierzehn Einzigartige gab, und bei ihrer Schaffung muß ein bestimmter Plan Pate gestanden haben. Dieser Plan sollte meiner Ansicht nach sicherstellen, daß Lys und Diaspar nicht für immer voneinander getrennt blieben. Alvin hat dafür gesorgt, aber er hat außerdem etwas getan, das sicher nicht im ursprünglichen Plan vorgesehen war. Könnte das Zentralgehirn das bestätigen?“

Die unpersönliche Stimme antwortete sofort.

„Die Räte wissen, daß ich nichts zu den Anweisungen sagen kann, die mir von meinen Erbauern gegeben wurden.“

Jeserac nahm den milden Tadel hin.

„Was auch der Grund sein mag, über die Tatsachen läßt sich nicht streiten. Alvin ist im Weltraum. Wenn er zurückkommt, werden Sie ihn vielleicht daran hindern, wieder abzufliegen — obwohl ich bezweifle, daß es Ihnen gelingt. Auch wenn das, was Sie befürchten, eingetreten ist — wir können nichts dagegen tun. Die Erde ist völlig hilflos — wie seit Millionen von Jahrhunderten.“

Jeserac machte eine Pause und sah die Männer der Reihe nach an.

Seine Worte gefielen keinem; er hatte nichts anderes erwartet.

„Aber ich sehe trotzdem nicht ein, warum wir beunruhigt sein sollen. Die Erde befindet sich nicht in größerer Gefahr als vorher. Warum sollten zwei Männer in einem einzigen, kleinen Raumschiff den Zorn der Invasoren wieder auf uns lenken? Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, daß die Invasoren unsere Welt schon vor langer Zeit hätten zerstören können.“

Mißbilligendes Schweigen. Das war Ketzerei — und früher hätte sie Jeserac selbst als solche verdammt.

Der Präsident unterbrach ihn.

„Gibt es nicht eine Legende, wonach die Invasoren die Erde nur unter der Bedingung schonten, daß der Mensch nie mehr in den Weltraum vordringen werde? Und haben wir diesen Vertrag nicht gebrochen?“

„Eine Legende, ja“, sagte Jeserac. „Wir nehmen viele Dinge hin, ohne zu fragen, und dazu gehört diese Legende. Es gibt keinerlei Beweise dafür. Mit persönlich fällt es reichlich schwer zu glauben, daß etwas von solcher Wichtigkeit nicht im Gedächtnis des Zentralgehirns aufgezeichnet wäre, aber es weiß nichts von diesem Vertrag. Ich habe mich danach erkundigt, wenn auch nur über die Auskunftsmaschinen. Vielleicht beliebt es dem Rat, diese Fragen direkt zu stellen.“

Jeserac sah nicht ein, warum er eine zweite Ermahnung riskieren sollte, und wartete die Antwort des Präsidenten ab.

Sie kam nie, denn in diesem Augenblick fuhren die Abgeordneten von Lys aus ihren Sitzen hoch, während ihre Gesichter in Ungläubigkeit und Schrecken erstarrten. Sie schienen zu lauschen, während eine weit entfernte Stimme eine Botschaft übermittelte.

Die Ratsmitglieder warteten; ihre eigenen Befürchtungen wurden um so größer, je länger das stumme Gespräch dauerte. Dann schreckte der Leiter der Delegation aus seiner Versunkenheit hoch und wandte sich entschuldigend an den Präsidenten.

„Wir haben eben sehr seltsame und beunruhigende Nachrichten aus Lys erhalten“, sagte er.

„Ist Alvin zur Erde zurückgekehrt?“ fragte der Präsident. „Nein — nicht Alvin. Etwas anderes.“


Als er mit seinem treuen Schiff über die Lichtung von Airlee zur Landung ansetzte, fragte sich Alvin, ob je in der menschlichen Geschichte irgendein Schiff solche Fracht zur Erde gebracht hatte — wenn sich Vanamonde wirklich im Schiff befand. Auf der Fahrt war nichts von ihm zu spüren gewesen; Hilvar glaubte, daß nur Vanamondes Aufmerksamkeitssphäre eine Position im Raum besitzen konnte. Vanamonde selbst befand sich nirgendwo — vielleicht auch nirgendwann.

Seranis und fünf Senatoren erwarteten sie, als sie das Schiff verließen.

Einen der Senatoren hatte Alvin schon bei seinem letzten Besuch kennengelernt; die anderen beiden befanden sich wohl in Diaspar. Er fragte sich, wie es der Abordnung ging und wie Diaspar auf die Anwesenheit der ersten Eindringlinge seit so vielen Jahrmillionen reagiert hatte.

„Es scheint, Alvin“, sagte Seranis trocken, nachdem sie ihren Sohn begrüßt hatte, „daß Sie ein Talent für die Entdeckung bemerkenswerter Wesen besitzen. Trotzdem dürfte es einige Zeit dauern, bis Sie Ihren jetzigen Erfolg überbieten können.“


Diesmal war Alvin überrascht.

„Vanamonde ist schon hier?“

„Ja, seit Stunden. Irgendwie gelang es ihm, den Weg Ihres Schiffes zurückzuverfolgen, den es auf seiner Fahrt zu den vielen Sonnen geflogen ist — eine überwältigende Tat, die mit interessanten philosophischen Problemen verknüpft ist. Es gibt einige Beweise dafür, daß er Lys in demselben Augenblick erreichte, als ihr ihn entdeckt habt, so daß er also unendlicher Geschwindigkeiten fähig ist. Und das ist noch nicht alles. In den letzten Stunden hat er uns mehr Geschichte gelehrt, als wir je für möglich gehalten hätten.“

Alvin sah sie überrascht an. Dann verstand er; man konnte sich unschwer vorstellen, welche Wirkung Vanamonde auf diese Leute mit ihrem scharfen Verstand ausgeübt haben mußte. Sie hatten mit erstaunlicher Geschwindigkeit reagiert, und er sah plötzlich ein widersinniges Bild Vanamondes vor Augen, wie er, vielleicht etwas verängstigt, von den gierigen Intelligenzen Lys' umgeben war.

„Habt ihr herausgefunden, was er ist?“ fragte Alvin.

„Ja. Das war einfach, obwohl wir seinen Ursprung noch nicht kennen. Er ist ein reiner Geist oder Verstand, wenn Sie so wollen, und sein Wissen scheint unbegrenzt. Aber er ist kindlich, und das meine ich ganz wörtlich!“

„Natürlich!“ rief Hilvar. „Ich hätte es wissen müssen!“ Alvin sah ihn verwirrt an, und Seranis klärte ihn auf: „Ich meine damit, daß Vanamonde, obwohl er einen gewaltigen, vielleicht sogar unbegrenzten Verstand besitzt, unreif und unentwickelt ist. Seine tatsächliche Intelligenz erreicht nicht einmal die eines menschlichen Wesens“, sie lächelte ein wenig wehmütig, „obwohl seine Gedankenvorgänge viel schneller ablaufen und er sehr schnell lernt. Er besitzt auch einige Kräfte, die wir noch nicht verstehen. Die ganze Vergangenheit scheint ihm offenzustehen, in einer Weise, die schwer zu beschreiben ist. Vielleicht hat er diese Fähigkeit benützt, um eurem Weg zur Erde zu folgen.“

Alvin schwieg überwältigt. Er begriff, wie recht Hilvar gehabt hatte, Vanamonde zur Erde zu bringen. Und er wußte auch, mit welchem Glück er Seranis übertölpelt hatte; es wäre ihm kein zweites Mal gelungen.

„Wollen Sie damit sagen“, fragte er, „daß Vanamonde eben erst geboren wurde?“

„Nach seinen Maßstäben, ja. Sein wirkliches Alter ist sehr hoch, aber offensichtlich geringer als das der Menschheit. Das Außergewöhnlichste aber ist, daß er behauptet, wir hätten ihn geschaffen; jedenfalls besteht kein Zweifel, daß sein Ursprung mit allen großen Geheimnissen der Vergangenheit verbunden ist.“

„Was geschieht jetzt mit Vanamonde?“ fragte Hilvar in einem etwas besitzergreifenden Ton.

„Die Historiker von Grevarn befragen ihn. Sie versuchen die groben Umrisse der Vergangenheit abzustecken, aber diese Arbeit wird Jahre in Anspruch nehmen. Vanamonde kann die Vergangenheit in allen Einzelheiten schildern, aber er versteht nicht, was er sieht; man kann nur schwer mit ihm arbeiten.“

Alvin fragte sich, woher Seranis das alles wußte; dann wurde ihm klar, daß wahrscheinlich alle Gehirne in Lys den Fortschritt dieser großen Forschung beobachteten. Er fühlte Stolz bei dem Wissen, daß er Lys seinen Stempel ebenso aufgedrückt hatte wie Diaspar, aber mit diesem Stolz mischte sich Enttäuschung. Hier war etwas, an dem er nie ganz teilhaben, das er nie völlig begreifen würde: Die unmittelbare Berührung auch nur menschlicher Gehirne blieb ihm ein ebenso großes Geheimnis wie die Musik für einen tauben Menschen oder Farbe für einen Blinden.

Aber die Leute von Lys tauschten mit diesem unvorstellbar fremdartigen Wesen, das er zur Erde gebracht hatte, Gedanken aus.

Hier war kein Platz für ihn; wenn die Befragung beendet war, würde man ihm die Antworten mitteilen. Er hatte die Tore zur Unendlichkeit aufgestoßen und fühlte jetzt Scheu — sogar Furcht — vor allem, was er getan hatte. Um seine eigene innere Ruhe wiederzuerlangen, mußte er in die winzige, vertraute Welt von Diaspar zurückkehren, dort Zuflucht suchen und sich mit seinen Träumen und seinem Ehrgeiz auseinandersetzen.

Welch ironische Situation: Er, der die Stadt verlassen hatte, um zu den Sternen zu fliegen, kam nun nach Hause wie ein geängstigtes Kind zu seiner Mutter.

23

Diaspar war nicht besonders erfreut, Alvin wiederzusehen. Die Stadt befand sich noch in Aufruhr, wie ein riesiger Bienenstock, den man mit einem Stecken aufgerührt hat. Sie sah der Realität immer noch widerwillig ins Auge; die Menschen, die sich weigerten, die Existenz von Lys und der Außenwelt anzuerkennen, konnten sich nirgends mehr verbergen.

Die Gedächtnisanlagen nahmen sie nicht mehr auf; sie gingen vergebens zur Halle der Schöpfung. Niemand konnte mehr hunderttausend Jahre schlafen; das Zentralgehirn beachtete weder die Bitten, noch gab es eine Erklärung für sein Verhalten.

Die verhinderten Flüchtlinge mußten traurig in die Stadt zurück und die Probleme ihrer eigenen Zeit bewältigen.

Alvin landete am Parkrand, nicht weit von der Ratshalle entfernt. Bis zum letzten Augenblick war er nicht sicher, ob er das Schiff in die Stadt bringen konnte, durch alle Abschirmungen hindurch, die ihren Himmel von der Außenwelt abschlossen. Das Firmament von Diaspar war, wie alles andere auch, künstlich, wenigstens zum Teil. Die Nacht, mit ihren sternenhaften Erinnerungen an all das, was der Mensch verloren hatte, durfte nie über die Stadt niedersinken; Diaspar war auch vor den Stürmen geschützt, die manchmal über die Wüste tobten.

Die unsichtbaren Wächter ließen Alvin durch, und als Diaspar unter ihm ausgebreitet lag, wußte er, daß er heimgekehrt war. So stark ihn auch das Universum und seine Geheimnisse riefen, hier war er geboren, und hier gehörte er hin. Es würde ihn nie befriedigen, aber er würde immer wieder zurückkommen. Um diese einfache Wahrheit begreifen zu können, hatte er das halbe All durchquert.

Die Menschenmenge versammelte sich, noch ehe das Schiff landete, und Alvin fragte sich, wie ihn seine Mitbürger wohl empfangen würden.

Er konnte ihre Mienen deutlich erkennen, als er sie durch den Bildschirm betrachtete, bevor er die Luftschleuse öffnete. Die beherrschende Empfindung schien Neugier zu sein — an. sich schon etwas Neues in Diaspar.

Daneben fand sich noch Besorgnis, hier und da sogar Furcht. Nicht einer, dachte Alvin, schien sich zu freuen, daß er zurückgekommen war…

Der Rat dagegen begrüßte ihn ausgesprochen liebenswürdig — wenn auch nicht aus reiner Freundschaft. Obwohl er diese Krise heraufbeschworen hatte, konnte er allein die Tatsache mitteilen, auf die sich eine künftige Politik stützen mußte. Man lauschte ihm mit großer Aufmerksamkeit, als er seinen Flug zu den Sieben Sonnen und sein Zusammentreffen mit Vanamonde beschrieb. Anschließend beantwortete er zahllose Fragen mit einer Geduld, die seine Partner überraschte. Ihre Gedanken wurden, wie er schnell herausfand, immer noch von der Furcht vor den Invasoren beherrscht, obwohl sie diesen Namen nie erwähnten und sichtlich unglücklich waren, als er dieses Thema direkt ansprach.

„Wenn sich die Invasoren noch in diesem Universum aufhalten“, erklärte er dem Rat, „dann müßte ich gewiß in seinem Mittelpunkt auf sie gestoßen sein. Aber auf den Planeten der Sieben Sonnen existiert kein intelligentes Leben; das hatten wir bereits vermutet, als es uns Vanamonde bestätigte. Ich glaube, daß die Invasoren schon vor sehr, sehr langer Zeit abgezogen sind; jedenfalls weiß Vanamonde, der mindestens so alt wie Diaspar ist, nichts von ihnen.“

„Ich möchte Folgendes zu bedenken geben“, sagte einer der Räte plötzlich. „Vielleicht ist Vanamonde ein Abkömmling der Invasoren, in einer Form, die wir gegenwärtig nicht begreifen. Er hat seine Herkunft vergessen, aber das bedeutet nicht, daß er nicht doch eines Tages wieder gefährlich werden könnte.“

Hilvar, der nur als Zuschauer anwesend war, wartete nicht auf eine Worterteilung. Zum erstenmal sah ihn Alvin zornig.

„Vanamonde hat in meinen Verstand gesehen“, sagte er, „und ich habe einen flüchtigen Blick auf seinen Geist werfen können. Meine Leute haben schon viel über ihn erfahren, obwohl sie noch nicht wissen, was er ist. Aber eines steht fest — er ist gutgesinnt und war froh, uns zu finden.

Wir haben nichts von ihm zu fürchten.“

Nach diesem Ausspruch herrschte Schweigen, und Hilvar setzte sich mit einem etwas verlegenen Ausdruck. Von da an verminderte sich die Spannung im Ratssaal beträchtlich, als sei ein drohendes Gewölk abgezogen. Jedenfalls machte auch der Präsident keinen Versuch, Hilvar zur Ordnung zu rufen.

Alvin bemerkte deutlich, daß sich der Rat aus drei verschieden eingestellten Gruppen zusammensetzte. Die Konservativen, die sich in der Minderheit befanden, hofften immer noch, die Zeit zurückdrehen und die alte Ordnung wiederherstellen zu können. Gegen alle Vernunft klammerten sie sich an den Gedanken, man könne Lys und Diaspar dazu bringen, alles wieder zu vergessen.

Die Fortschrittlichen bildeten eine ebenso kleine Minderheit; die Tatsache, daß es sie im Rat überhaupt gab, überraschte und freute Alvin ganz besonders. Sie begrüßten diesen Einbruch der Außenwelt nicht gerade, aber sie waren entschlossen, das Beste daraus zu machen. Einige von ihnen gingen sogar so weit, darauf hinzuweisen, daß eine Beseitigung der psychologischen Schranken möglich sein müsse, die Diaspar noch wirksamer als die physischen Hindernisse abgeschlossen hatten.

Die Mehrheit des Rates, in der sich die Meinung der Stadt widerspiegelte, nahm eine Haltung wachsamer Vorsicht ein, während sie das Auftauchen einer Struktur der Zukunft abwarteten. Sie begriffen, daß sie weder große Pläne machen noch eine bestimmte Politik verfolgen konnten, bis der Sturm vorübergezogen war.

Nach der Sitzung gesellte sich Jeserac zu Alvin und Hilvar. Er schien sich verändert zu haben, seit sie im Turm von Loranne Abschied genommen hatten. Jeserac schien jünger, als hätten die Flammen des Lebens neue Nahrung gefunden. Trotz seines Alters gehörte er zu jenen, die sich der von Alvin nach Diaspar gebrachten Herausforderung stellen konnten.

„Ich habe Neuigkeiten für dich, Alvin“, sagte er. „Du kennst doch Senator Gerane.“

Alvin dachte einen Augenblick nach; dann fiel es ihm ein.

„Natürlich — er war einer der ersten, die ich in Lys kennenlernte. Ist er nicht Mitglied Ihrer Delegation?“

„Ja. Wir haben uns ziemlich gut kennengelernt. Er ist ein glänzend begabter Mann und versteht mehr vom menschlichen Geist, als ich für möglich gehalten hätte — obwohl er mir erklärt hat, nach den Maßstäben von Lys sei er noch Anfänger. Während er sich hier aufhält, beginnt er ein Projekt, das dir sehr entsprechen wird. Er hofft, die Zwangsvorstellung analysieren zu können, die uns in der Stadt hält, und er glaubt, daß er sie beseitigen kann, sobald er festgestellt hat, wie sie uns eingepflanzt wurde. Etwa zwanzig Leute von uns arbeiten bereits mit ihm zusammen.“

„Und du gehörst zu ihnen?“

„Ja“, erwiderte Jeserac, beinahe etwas verschämt. „Es ist nicht leicht und gewiß nicht angenehm — aber es ist reizvoll.“

„Wie geht Gerane vor?“

„Er arbeitet mit den Abenteuern. Er hat sich eine ganze Reihe vorführen lassen und beobachtet unsere Reaktion, wenn wir sie durchleben. Ich hätte nicht gedacht, daß ich in meinem Alter noch einmal zu meinen kindlichen Vergnügen zurückkehren würde!“

„Was sind Abenteuer?“ fragte Hilvar.

„Eingebildete Traumwelten“, erklärte Alvin. „Das heißt, die meisten sind eingebildet, obwohl einige auf historischen Tatsachen beruhen dürften.

In den Gedächtniszellen der Stadt sind Millionen davon aufgezeichnet; man kann jede Art von Abenteuer oder Erfahrung auswählen, und sie erscheinen einem völlig wirklich, solange die entsprechenden Impulse in das Gehirn dringen.“ Er wandte sich an Jeserac.

„In welche Abenteuer führt euch Gerane?“

„Die meisten behandeln, wie sich denken läßt, das Verlassen Diaspars.

Einige Abenteuer haben uns in unsere frühesten Lebensperioden zurückgeführt, so nahe an die Gründung der Stadt wie nur möglich. Gerane glaubt, je näher er dem Ursprung dieser Zwangsvorstellung kommt, desto leichter wird es ihm gelingen, sie zu beseitigen.“

Alvin fühlte sich durch diese Nachricht sehr ermutigt. Sein Werk wäre nur halb getan, wenn er die Tore nach Diaspar aufgestoßen hätte — nur um festzustellen, daß niemand durchging.

„Wollen Sie wirklich Diaspar verlassen können?“ fragte Hilvar scharfsinnig.

„Nein“, antwortete Jeserac ohne Zögern. „Ich finde den Gedanken entsetzlich. Aber ich habe begriffen, daß unsere bisherige Anschauung völlig falsch war, und die Logik sagt mir, daß man etwas tun muß, um diesen Fehler wiedergutzumachen. Gefühlsmäßig bin ich immer noch nicht in der Lage, die Stadt zu verlassen; vielleicht wird sich das nie ändern.

Gerane meint, er könne einige von uns dazu bringen, daß wir nach Lys gehen, und ich helfe ihm bei diesem Versuch — obwohl ich mit halbem Herzen hoffe, es möge mißlingen.“

Alvin betrachtete seinen alten Lehrer mit neuem Respekt. Gerane würde seine Aufgabe zum Erfolg führen. Vielleicht war Jeserac schon zu alt, um das Gefüge eines ganzen Lebens durchbrechen zu können, aber er besaß jedenfalls den Willen, von vorne anzufangen. Sobald auch nur ein paar aus dieser Verstrickung entkommen waren, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis alle anderen nachfolgten.

Er fragte sich, was wohl mit Diaspar — und mit Lys — geschehen würde, wenn die Schranken völlig beseitigt waren. Irgendwie mußte man die besten Elemente beider Zivilisationen bewahren und sie in eine neue und gesündere Kultur verschmelzen. Die Aufgabe war entsetzlich schwer und würde alle Geduld und alle Weisheit beider Kulturen verlangen.

Einige Schwierigkeiten der kommenden Anpassung waren bereits aufgetaucht. Die Besucher aus Lys hatten sich, allerdings sehr höflich, geweigert, in den von der Stadt zur Verfügung gestellten Häusern zu wohnen.

Sie hatten ihre eigene Notunterkunft im Park aufgestellt, in einer Umgebung, die sie an Lys erinnerte. Hilvar war die einzige Ausnahme; obwohl er nicht gerne in einem Gebäude mit unbestimmbaren Wänden und vergänglichem Mobiliar wohnte, nahm er Alvins Gastfreundschaft tapfer an, durch die Versicherung beruhigt, er brauche nicht lange hierzubleiben.

Hilvar hatte sich in seinem ganzen Leben nie einsam gefühlt, aber in Diaspar lernte er die Einsamkeit kennen. Die Stadt schien ihm fremder, als Lys es für Alvin gewesen war, und ihre unendliche Kompliziertheit und die vielen Fremden bedrückten ihn schwer. In Lys kannte er jeden Menschen, ob er ihn getroffen hatte oder nicht. In Diaspar konnte er nicht einmal in tausend Leben alle Menschen kennenlernen. Nur seine Treue zu Alvin hielt ihn in einer Welt, die mit der seinigen nichts gemein hatte.

Innerhalb weniger Tage nach seiner Ankunft in Diaspar traf Hilvar mehr Leute als jemals zuvor in seinem ganzen Leben. Traf sie — und lernte praktisch keinen richtig kennen. Weil sie so eng beieinander wohnten, behaupteten die Stadtbewohner eine schwer zu durchdringende Reserve. Die einzige Privatsphäre, die sie kannten, war die des Geistes, und sie klammerten sich daran, auch wenn sie an den zahllosen gesellschaftlichen Ereignissen Diaspars teilnahmen. Hilvar fühlte Mitleid für sie, obwohl er wußte, daß sie dieses Mitleid nicht wollten. Sie wußten nicht, was ihnen entging — sie konnten das warme Gefühl der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit in Lys nicht verstehen. Ja, die meisten Leute, mit denen er sich unterhielt, bemitleideten ihn wegen seines unglaublich langweiligen und trüben Daseins.

Eriston und Etania, Alvins Vormünder, erkannte Hilvar als nette, aber unbedeutende Leute. Mit Verwirrung hörte er Alvin sie Vater und Mutter nennen — Worte, die in Lys ihre alte biologische Bedeutung beibehalten hatten. Man mußte sich ständig vor Augen halten, daß die Gesetze von Leben und Tod von den Gründern Diaspars außer Kraft gesetzt worden waren, und manchmal schien es Hilvar, als sei die Stadt trotz der allgemeinen Geschäftigkeit halb leer, weil es keine Kinder gab.

Er fragte sich, was mit Diaspar geschehen würde, jetzt, da die lange Isolierung zu Ende gegangen war. Das Vernünftigste wäre, entschied er, wenn die Stadt ihre Gedächtnisanlagen zerstören würde. So wunderbar sie auch schienen — als vielleicht höchster Triumph der Wissenschaft —, sie waren doch die Schöpfung einer kranken Kultur, einer ängstlichen Kultur. Eine dieser Ängste beruhte sogar ausschließlich auf Einbildung.

Hilvar kannte einen Teil der Ergebnisse der Erforschung von Vanamondes Geist. In wenigen Tagen würde sie auch Diaspar erfahren — und entdecken, wieviel von seiner Vergangenheit nichts als ein Märchen war.

Wenn jedoch die Gedächtnisanlagen zerstört würden, wäre die Stadt innerhalb von tausend Jahren tot, da ihre Menschen die Kraft, sich fortzupflanzen, verloren hatten. Das war das Dilemma, dem man gegenübertreten mußte, aber Hilvar hatte eine mögliche Lösung erspäht. Für jedes technische Problem gab es eine Lösung, und seine Leute waren Meister in den biologischen Wissenschaften. Was geschehen. war, konnte ungeschehen gemacht werden, wenn Diaspar es wollte.

Zuerst jedoch mußte die Stadt erkennen, was sie verloren hatte. Ihre Erziehung würde viele Jahre in Anspruch nehmen — vielleicht viele Jahrhunderte. Aber ein Anfang war gemacht; sehr bald würde die Wirkung der ersten Lehrstunde Diaspar so gründlich erschüttern wie die erste Berührung mit Lys.

Auch Lys würde erschüttert werden. Trotz aller Unterschiede zwischen den beiden Kulturen entstammten sie der gleichen Wurzel — und sie hatten die gleichen Illusionen gehegt. Beide würden gesünder sein, wenn sie wieder mit ruhigem und gesammelten Blick in die Vergangenheit schauten, die sie verloren hatten.

24

Das Amphitheater konnte die gesamte Bevölkerung Diaspars aufnehmen, und von den zehn Millionen Sitzplätzen waren nur wenige unbesetzt. Alvin schaute von seinem Stadtplatz ganz oben über die zahllosen Reihen hinweg auf die Arena hinab und wurde unwiderstehlich an Shalmirane erinnert. Die beiden Krater besaßen die gleiche Form und beinahe auch die gleiche Größe. Wenn man den Krater von Shalmirane mit Menschen ausfüllte, würde es ähnlich aussehen.

Es gab jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden. Die große Mulde von Shalmirane existierte wirklich, dieses Amphitheater dagegen nicht. Es war nur ein Scheingebilde, eine Struktur aus elektronischen Ladungen, die im Gedächtnis des Zentralgehirns schlummerte, bis sie gebraucht wurde. Alvin wußte, daß er sich in Wirklichkeit noch in seinem Zimmer befand und daß die unzähligen Menschen um ihn herum ebenfalls in ihren Wohnungen saßen. Solange er seinen Platz nicht verließ, war die Täuschung vollkommen. Er konnte sich einbilden, Diaspar sei abgeschafft und alle Bürger in dieser gewaltigen Arena versammelt.

Das Leben der Stadt kam nur sehr selten so völlig zum Stillstand, daß alle Bürger zur Großen Versammlung erscheinen konnten. In Lys spielte sich zur selben Zeit etwas Ähnliches ab.

Er konnte die meisten Gesichter erkennen, bis zur Grenze der normalen Sehweite. Zwei Kilometer entfernt und dreihundert Meter tiefer befand sich die kleine runde Bühne, auf die sich jetzt die Aufmerksamkeit der ganzen Welt richtete. Es schien kaum zu glauben, daß er bei einer derartigen Entfernung etwas erkennen konnte, aber Alvin wußte, er würde die Ansprache ebenso deutlich und klar verstehen wie jeder andere in Diaspar.

Die Bühne war von Nebel umhüllt; aus diesem Nebel trat Callitrax, Leiter der Gruppe, die aus den von Vanamonde mitgebrachten Informationen die Vergangenheit rekonstruieren sollte. Es war eine gewaltige, eine fast unmögliche Aufgabe gewesen, nicht allein wegen der riesigen Zeitspannen. Nur ein einziges Mal hatte Alvin mit der geistigen Unterstützung Hilvars einen Blick in den Verstand des seltsamen Wesens tun dürfen, das sie entdeckt hatten — oder von dem sie entdeckt worden waren. Alvin schienen die Gedanken Vanamondes so sinnlos wie tausend Stimmen, die in einer Höhle durcheinanderschreien. Aber die Menschen in Lys konnten sie entflechten, konnten sie aufzeichnen und dann in Ruhe studieren. Man flüsterte, ihre Feststellungen seien so merkwürdig, daß sie kaum noch eine Ähnlichkeit mit der menschlichen Geschichte besäßen, wie sie seit einer Jahrmilliarde allgemein anerkannt war.

Callitrax gab einen kurzen Abriß der menschlichen Geschichte, wie sie bekannt und gültig war. Er sprach von den unbekannten Völkern der Frühzeit, die nichts als einige große Namen und die verblassenden Legenden des Imperiums hinterlassen hatten. Schon am Anfang, so ging die Geschichte, ersehnte der Mensch die Sterne — und erreichte sie schließlich auch. Jahrmillionen hindurch hatte er sich über die Galaxis ausgebreitet, ein Sternsystem nach dem anderen in seinen Machtbereich einbezogen. Dann hatten aus dem Dunkel jenseits des Randes der Galaxis die Invasoren zugeschlagen und ihm alles entrissen.

Der Rückzug zum Sonnensystem war bitter gewesen und mußte viele Jahrtausende gedauert haben. Nur knapp überstand die Erde die ungeheuerlichen Schlachten, die um Shalmirane tobten. Als alles vorbei war, besaß der Mensch nur noch seine Erinnerung und die Welt, auf der er geboren war.

Seitdem hatte sich nichts Besonderes ereignet. Die Rasse, die einst das Universum beherrschen wollte, gab auch noch den größten Teil ihrer eigenen, winzigen Welt auf und teilte sich in die zwei isolierten Kulturen Lys und Diaspar — Oasen des Lebens in einer Wüste, die sie so wirksam trennte wie die Abgründe zwischen den Sternen.

Callitrax machte eine Pause; Alvin hatte das Gefühl, daß der Historiker ihn persönlich ansah.

„Soviel“, sagte Callitrax, „über die Geschichte, an die wir seit dem Beginn unserer Aufzeichnungen glaubten. Ich muß Ihnen jedoch sagen, daß sie unwahr sind — unwahr in jeder Einzelheit — eine einzige große Lüge!“

Erwartete, um die volle Bedeutung seiner Worte wirken zu lassen. Dann vermittelte er, langsam und deutlich sprechend, den Bewohnern von Lys und Diaspar jenes Wissen, das man Vanamonde verdankte.

Es war nicht einmal wahr, daß der Mensch die Sterne erreicht hatte. Sein ganzes, kleines Imperium wurde von den Bahnen Plutos und Persephones begrenzt, denn der interstellare Weltraum erwies sich als unüberwindbar für die Kräfte des Menschen. Seine gesamte Zivilisation drängte sich um die Sonne, und sie war noch sehr jung, als die Sterne zu ihr kamen.

Die Wirkung mußte niederschmetternd gewesen sein. Trotz seiner Mißerfolge hatte der Mensch nie daran gezweifelt, daß er eines Tages auch die Tiefen des Weltraums erobern würde. Er glaubte auch, daß das Universum höchstens ihm ebenbürtig, niemals aber überlegene Wesen hervorgebracht haben könnte. Jetzt erfuhr er, daß beide Meinungen falsch gewesen waren und daß weit draußen unter den Sternen Wesen existierten, deren Verstand weitaus bedeutender war als der seine. Viele Jahrhunderte hindurch durchforschte der Mensch die Galaxis, zuerst in den Raumschiffen anderer Rassen und später in Schiffen, die er mit geborgtem Wissen gebaut hatte. Überall fand er Kulturen, die er begreifen, mit denen er sich jedoch nicht messen konnte, und hier und dort traf er auf Gehirne, die seinem Verständnis bald ganz entzogen sein würden.

Der Schock war ungeheuerlich, aber er erwies sich als Prüfstein. Trauriger und weiser kehrte der Mensch in sein Sonnensystem zurück, um das erworbene Wissen zu durchdenken. Er wollte die Herausforderung annehmen; langsam entwickelte er einen Plan, der Hoffnung für die Zukunft erwarten ließ.

Einst waren die Naturwissenschaften für die Menschen das Wichtigste gewesen. Jetzt wandte er sich den Problemen der Genetik und dem Studium des Verstandes zu. Ohne Rücksicht auf die Kosten wollte er sie an die Grenzen seiner Entwicklung treiben.

Das große Experiment beanspruchte die gesamten Energien der Menschheit auf Jahrmillionen hinaus. Das ganze Streben, alle Opfer und alle Mühe wurde zu ein paar dürren Worten in Callitrax' Bericht. Er bescherte dem Menschen seine größten Siege. Er verbannte die Krankheit; er konnte, wenn er wollte, ewig leben, und mit der Beherrschung der Telepathie zwang er die raffiniertesten aller Kräfte und seinen Willen.

Er war bereit, wieder hinauszugehen in die Weiten der Galaxis. Er konnte den Rassen jener Welten, von denen er sich einst abgewandt hatte, ebenbürtig gegenübertreten. Und er wollte seine Rolle in der Geschichte des Universums spielen.

All das tat er auch. Von diesem Zeitalter rührten die Legenden über das Imperium her. Es war ein Imperium vieler Rassen gewesen, aber man hatte das in der Tragödie vergessen, die zu seinem Ende führte.

Das Imperium überdauerte mindestens eine Million Jahre. Es mußte viele Krisen, vielleicht sogar Kriege gegeben haben, aber all das verlor sich in dem großen Schwung, mit dem die Rassen auf ihre Reife zusteuerten.

„Wir können auf die Rolle, die unsere Vorfahren dabei spielten, sehr stolz sein“, fuhr Callitrax fort. „Selbst als sie ihr kulturelles Endziel erreicht hatten, verloren sie nichts von ihrer Initiative. Wir haben es jetzt mehr mit Vermutungen als mit bewiesenen Tatsachen zu tun, aber es scheint sicher, daß die Experimente, die zugleich der Untergang und der krönende Triumph des Imperiums waren, vom Menschen veranlaßt und geleitet wurden.

Die diesen Experimenten zugrundeliegende Philosophie scheint in folgendem bestanden zu haben: Die Berührung mit anderen Arten hatte dem Menschen gezeigt, wie sehr das Weltbild einer Rasse von seinem physischen Körper und den entsprechenden Sinnesorganen abhing.

Man behauptete, daß ein wirkliches Bild des Universums, wenn überhaupt, nur von einem Geist gewonnen werden könne, der von solchen physischen Hindernissen nicht belastet war — von einem reinen Geist also. Man hatte im natürlichen All keine körperlose Intelligenz gefunden; das Imperium machte sich daran, sie selbst zu schaffen.

Wir haben, wie so vieles andere auch, die Fertigkeit und Kenntnisse vergessen, die dazu nötig waren. Die Wissenschaftler des Imperiums hatten alle Kräfte der Natur, alle Geheimnisse von Zeit und Raum bezwungen.

Wie unser Verstand das Nebenprodukt einer unvorstellbar komplizierten Anordnung von Gehirnzellen, verbunden durch das Netz des Nervensystems ist, so bemühten sie sich, ein Gehirn zu schaffen, dessen Bestandteile nicht körperlich, sondern den Raum selbst eingefügte Strukturen waren. Ein derartiges Gehirn, wenn man es überhaupt so nennen kann, mußte für seine Tätigkeit elektrische oder noch höhere Kräfte benützen, und es wäre völlig frei von der Tyrannei der Materie. Es könnte mit weit größerer Geschwindigkeit arbeiten als jede organische Intelligenz; es könnte bestehen, solange noch ein Bruchteil freier Energie im All vorhanden wäre, und seine Macht wäre praktisch unbegrenzt. Es könnte sogar Fähigkeiten entwickeln, die nicht einmal für seine Schöpfer vorauszusehen waren.

Hauptsächlich aufgrund der bei seiner eigenen Wiedergeburt gemachten Erfahrungen schlug der Mensch vor, die Schaffung solcher Wesen zu versuchen.

Das war die größte Herausforderung, die der Intelligenz im Universum jemals entgegengeschleudert worden war, und nach jahrhundertelanger Debatte wurde sie angenommen. Alle Rassen des Universums vereinigten sich zu ihrer Ausführung.

Über eine Million Jahre sollten den Traum von der Wirklichkeit trennen.

Zivilisationen wuchsen heran, starben dahin, immer wieder ging die Arbeit ganzer Welten verloren, aber das Ziel wurde nie vergessen. Eines Tages mögen wir alle Einzelheiten über die größte Bemühung der ganzen Geschichte erfahren. Heute wissen wir nur, daß ihr Ende zu einer Katastrophe wurde, die beinahe die Galaxis vernichtete.

Vanamondes Verstand weigert sich, in diese Periode zu schauen. Es gibt eine schmale Zeitspanne, die ihm versperrt ist, wie wir glauben, allerdings nur durch seine eigene Furcht. Am Anfang dieses Zeitraums sehen wir das Imperium auf dem Gipfel seines Ruhms, gespannt in der Erwartung des kommenden Erfolges. An seinem Ende, nur ein paar Jahrtausende später, ist das Imperium zerschmettert, und die Sterne selbst glühen blasser, als sei ihnen alle Kraft entzogen. Über der Galaxis hängt das Leichentuch der Angst, einer Angst, die mit diesem Namen verbunden ist: das Irre Gehirn.

Es ist nicht schwer zu erraten, was in diesem kurzen Zeitraum geschehen sein muß. Man hatte den reinen Geist geschaffen, aber er war entweder wahnsinnig oder, wie andere Quellen wahrscheinlich machen, der Materie an sich feindlich gesinnt. Jahrhundertelang verwüstete er das Universum, bis er von Kräften, die wir nicht kennen, unter Kontrolle gebracht wurde. Die Waffe, der sich das Universum in diesem Notfall bedienen mußte, vergeudete die Energievorräte der Sterne; aus den Erinnerungen an diesen Konflikt entspringen einige, nicht alle, Legenden über die Invasoren. Aber darauf komme ich noch zu sprechen.

Das Irre Gehirn konnte nicht zerstört werden, weil es unsterblich war.

Man trieb es an den Rand der Galaxis und hielt es dort auf eine Weise gefangen, die wir nicht verstehen. Sein Gefängnis war ein seltsamer künstlicher Stern, bekannt als die Schwarze Sonne; dort befindet es sich heute noch. Wenn die Schwarze Sonne stirbt, wird es wieder frei sein.

Niemand kann sagen, wie weit dieser Tag in der Zukunft liegt.“

Callitrax schwieg wie in seinen eigenen Gedanken verloren, völlig ungerührt von der Tatsache, daß die Augen der ganzen Welt auf ihm ruhten.

In der Stille überblickte Alvin die dichtgedrängten Menschenmassen.

Zum größten Teil waren die Gesichter seiner Mitbürger ungläubig erstarrt; sie mühten sich ab, ihre falsche Vergangenheit abzustoßen, und konnten die seltsamere Wirklichkeit noch nicht akzeptieren, die an ihre Stelle getreten war.

Callitrax begann wieder zu sprechen, mit ruhiger, gedämpfter Stimme, als er von den letzten Tagen des Imperiums berichtete. „Obwohl die Galaxis vom Irren Gehirn verwüstet worden war, besaß das Imperium noch gewaltige Reserven, und sein Geist blieb ungebrochen. Mit einem Mut, den wir nur bewundern können, wurde das große Experiment wieder aufgenommen und nach dem Fehler gesucht, der die Katastrophe verschuldet hatte. Es gab diesmal natürlich viele, die diese Arbeit ablehnten und weitere Katastrophen voraussagten, aber sie wurden überstimmt.

Das Projekt ging weiter und — es gelang.

Die neue Rasse besaß einen Intellekt, den man nicht einmal messen konnte. Aber er war vollkommen kindlich; wir wissen nicht, ob seine Schöpfer das erwarteten, aber wahrscheinlich betrachteten sie es als unvermeidlich. Es dauert Jahrmillionen, bis er seine Reife erreicht, und man kann nichts tun, ihn zu beschleunigen. Vanamonde war der erste von ihnen; irgendwo in der Galaxis muß es noch andere geben, aber wir glauben, daß nur sehr wenige geschaffen wurden, denn Vanamonde ist nie einem begegnet.

Die Schaffung des reinen Verstandes war die größte Tat der galaktischen Zivilisation; der Mensch hatte dabei eine große und vielleicht beherrschende Rolle gespielt. Ich habe die Erde nicht erwähnt, weil ihre Geschichte nur ein winziger Faden in einem riesigen Wandteppich ist.

Da sie immer ihre abenteuerlichsten Geister abgegeben hatte, war sie sehr konservativ geworden, und am Ende stellte sie sich sogar gegen die Wissenschaftler, die Vanamonde schufen. Auf jeden Fall spielte sie im letzten Akt überhaupt keine Rolle.

Die Arbeit des Imperiums war jetzt getan; die Leute dieses Zeitalters besahen sich die Sterne, die sie in ihrer Not verwünscht hatten, und beschlossen, das Universum Vanamonde zu überlassen.

Hier liegt ein Geheimnis — das wir vielleicht nie enträtseln werden, weil uns Vanamonde nicht helfen kann. Wir wissen nur, daß das Imperium mit… etwas… sehr Seltsamem und sehr Großem in Berührung kam, weit draußen am Rand des Kosmos, am anderen Ende des Weltraumes. Was es gewesen ist, können wir nur vermuten, aber sein Ruf muß von gewaltiger Dringlichkeit und gewaltigem Versprechen gewesen sein. Kurze Zeit später brachen unsere Vorfahren und ihre Bruderrassen zu einer Reise auf, der wir nicht folgen können. Vanamondes Gedanken scheinen an den Grenzen der Galaxis zu enden, aber durch seinen Verstand haben wir die Anfänge dieses großen und geheimnisvollen Abenteuers beobachtet. Hier ist das Bild, das wir entworfen haben; Sie werden jetzt über eine Jahrmilliarde in die Vergangenheit schauen —“

Wie ein blasser Geist seiner früheren Pracht hing das langsam rotierende Rad der Galaxis im Nichts. Überall zogen sich die großen, leeren Risse hindurch, die das Irre Gehirn aufgeschlitzt hatte — Wunden, von den dahintreibenden Sternen in späteren Zeitaltern auszufüllen. Aber sie würden die verlorene Herrlichkeit nicht wiederbringen.

Der Mensch war dabei, sein Universum zu verlassen, wie er vor langer Zeit seine Welt verlassen hatte. Und nicht nur der Mensch, sondern auch die tausend anderen Rassen, die mit ihm das Imperium geschaffen hatten. Sie waren hier am Rand der Galaxis versammelt, vor einem Ziel, das sie wohl noch lange nicht erreichen würden.

Sie hatten eine Flotte ausgerüstet, vor der die Phantasie versagte. Ihre Flaggschiffe waren Sonnen, ihre kleinsten Schiffe Planeten. Ein riesiger runder Sternhaufen mit all seinen Sonnensystemen und all seinen fruchtbaren Welten stand vor dem Start in die Unendlichkeit.

Der lange Feuerstreifen schoß durch das Herz des Universums, sprang von Stern zu Stern. In einem Augenblick waren tausend Sonnen gestorben, hatten ihre Energie an die ungeheuerliche Form abgegeben, die an der Achse der Galaxis entlangraste und sich jetzt in der Ferne verlor…

„So verließ das Imperium unsere Milchstraße, um sein Schicksal an anderer Stelle zu finden. Wenn seine Erben, die reinen Geister, ihre Reife erlangt haben, kehrt es vielleicht zurück. Aber dieser Tag ist noch weit.

Das ist, in knappen Umrissen, die Geschichte der galaktischen Zivilisation. Unsere eigene Geschichte, die wir so wichtig nehmen, ist nicht mehr als ein verspätetes und unbedeutendes Nachwort, obgleich so kompliziert, daß wir seine Einzelheiten noch nicht enträtselt haben. Es scheint, daß sich viele der älteren, weniger abenteuerlichen Rassen geweigert haben, ihre Heimat zu verlassen; darunter befanden sich unsere unmittelbaren Vorfahren. Die meisten dieser Rassen verkümmerten und starben aus, obwohl noch einige von ihnen existieren mögen. Während der Jahrhunderte des Übergangs — die in Wirklichkeit Jahrmillionen dauerten — ging das Wissen über die Vergangenheit entweder verloren, oder es wurde absichtlich beseitigt. Der Mensch versank in abergläubische, aber doch wissenschaftliche Barbarei, in der er die Geschichte verzerrte, um sein Gefühl der Ohnmacht und des Mißerfolges zu verdecken. Die Legenden über die Invasoren sind völlig falsch, obgleich der verzweifelte Kampf gegen das Irre Gehirn zu ihrer Entstehung beigetragen haben mag. Nur die Krankheit ihrer Seelen hat unsere Vorfahren zur Erde zurückgetrieben.

Als wir diese Entdeckung machten, bewegte uns in Lys vor allem ein Problem. Die Schlacht von Shalmirane hat nie stattgefunden — aber Shalmirane existiert, auch heute noch. Überdies war die Festung eine der größten Vernichtungswaffen aller Zeiten.

Wir brauchten einige Zeit für die Lösung dieses Problems, aber die Antwort war eigentlich ganz einfach. Vor langer Zeit besaß unsere Erde einen einzigen, großen Trabanten, den Mond. Als er im Kampf zwischen den Gezeiten und der Schwerkraft schließlich auf die Erde zu stürzen drohte, mußte man ihn zerstören. Dafür wurde Shalmirane gebaut, und um seine Verwendung rankten sich die Legenden, die Sie ja alle kennen.“ Callitrax lächelte ein wenig reumütig.

„Es gibt viele solche Legenden, teils wahre, teils falsche, und andere Paradoxe in unserer Vergangenheit, die noch nicht geklärt wurden. Dieses Problem geht jedoch eher die Psychologen als die Historiker an. Selbst den Aufzeichnungen des Zentralgehirns darf man nicht völlig trauen — sie enthalten deutliche Beweise für Fälschungen in der allerletzten Vergangenheit.

Auf der Erde haben nur Diaspar und Lys die Zeit der Dekadenz überstanden — Diaspar dank der Vollkommenheit seiner Maschinen, Lys wegen seiner Isolierung und der ungewöhnlichen geistigen Kräfte seines Menschen. Aber beide Kulturen, auch als sie sich wieder auf ihr früheres Niveau hochgearbeitet hatten, wurden von den Ängsten und Mythen hin und her gerissen, die sie geerbt hatten.

Von diesen Ängsten brauchen wir uns nicht länger verfolgen zu lassen.

Es ist nicht meine Pflicht als Historiker, die Zukunft vorherzusagen; ich habe nur die Vergangenheit zu studieren und zu deuten. Aber ihre Lehre liegt klar zutage; wir haben zu lange ohne Berührung mit der Wirklichkeit gelebt, und jetzt ist es an der Zeit, unser Leben neu aufzubauen.“

25

Jeserac wanderte in stillem Staunen durch die Straße eines Diaspar, das er nie gesehen hatte. Es unterschied sich sogar so stark von der Stadt, in der er sein Leben zubrachte, daß er sie nie wiedererkannt hätte. Aber er wußte einfach, daß dies Diaspar war.

Die Straßen waren eng, die Gebäude niedrig — und der Park war verschwunden. Oder vielmehr, es gab ihn noch nicht. Dies war das Diaspar vor dem Wechsel, das Diaspar, das der Welt und dem Universum offenstand. Der Himmel über der Stadt war blaßblau und mit kleinen Wolkenfetzen besetzt, die sich langsam im Wind drehten.

Zwischen diesen Wolken bewegten sich solidere Himmelsreisende. Kilometerhoch über der Straße flogen die Schiffe, die Diaspar mit der Außenwelt verbanden. Jeserac starrte lange auf das Geheimnis und das Wunder des offenen Himmels, und für einen Augenblick streifte die Angst seine Seele. Er fühlte sich nackt und ungeschützt.

Die Angst war nicht stark genug, seinen Willen zu lähmen. In einem Winkel seines Verstandes wußte Jeserac, daß dieses Erlebnis ein Traum war, und ein Traum konnte ihn nicht anmahnen.

Er ging zur Mitte der Stadt, auf jene Stelle zu, an der sich in seiner Zeit das Grabmal Yarlan Zeys befand. Jetzt stand dort kein Grabmal — nur ein niedriges, rundes Gebäude mit vielen Eingängen. An einem dieser Eingänge wartete ein Mann auf ihn.

Jeserac hätte vor Staunen überwältigt sein müssen, aber jetzt konnte ihn nichts mehr überraschen. Irgendwie schien es richtig und natürlich, daß er dem Mann gegenüberstand, der Diaspar erbaut hatte.

„Sie wissen sicher, wer ich bin“, sagte Yarlan Zey.

„Natürlich; ich habe Ihre Statue sehr oft gesehen. Sie sind Yarlan Zey, und das ist Diaspar vor einer Milliarde Jahren. Ich weiß, daß ich träume und daß wir beide nicht wirklich hier sind.“

„Dann brauchen Sie sich vor nichts zu fürchten. Folgen Sie mir und denken Sie daran, daß Ihnen nichts passieren kann; Sie können im Diaspar Ihrer eigenen Zeit aufwachen, wann immer Sie wollen.“

Gehorsam folgte Jeserac Yarlan Zey in das Gebäude. Eine Erinnerung oder das Echo einer Erinnerung warnte ihn vor dem folgenden Geschehen, und er wußte, daß er einst entsetzt davor zurückgewichen wäre.

Aber jetzt spürte er keine Furcht. Er fühlte sich nicht nur vor dem Wissen geschützt, daß diese Erfahrung nicht wirklich war, auch die Gegenwart Yarlan Zeys schien eine Abschirmung gegen alle möglichen Gefahren.

Die Gleittreppen, die in die Tiefe führten, wurden nur von wenigen Menschen benützt, und als sie kurz darauf schweigend neben dem langen, stromlinienförmigen Zylinder standen, der Jeserac aus der Stadt hinausbringen würde, waren sie ganz allein. Als sein Führer auf die offene Tür deutete, zögerte er nur einen Augenblick an der Schwelle. Dann betrat er das Fahrzeug.

„Sehen Sie?“ sagte Yarlan Zey lächelnd. „Entspannen Sie sich und denken Sie daran, daß Sie in Sicherheit sind — daß Ihnen nichts geschehen kann.“

Jeserac glaubte ihm. Er fühlte nur leichte Besorgnis, als der Tunneleingang auf sie zuglitt und die Maschine schneller wurde. Alle Angst war durch den Eifer, mit dieser legendären Gestalt aus der Vergangenheit sprechen zu können, völlig vergessen.

„Finden Sie es nicht seltsam“, begann Yarlan Zey, „daß wir uns in der Erde verkriechen, obwohl uns der Himmel offensteht? Das ist der Anfang jener Krankheit, deren Ende Sie in Ihrer Zeit beobachten können. Die Menschheit versucht sich zu verbergen; sie fürchtet sich vor dem, was da draußen im Weltraum liegt, und bald wird sie alle Türen, die ins All führen, verschlossen haben.“

„Aber ich sah doch Raumschiffe im Himmel über Diaspar“, warf Jeserac ein.

„Sie werden sie nicht mehr lange sehen. Wir haben die Verbindung mit den Sternen verloren, bald werden auch die Planeten verlassen sein. Wir brauchten Jahrmillionen für den Flug in den Weltraum — aber nur ein paar Jahrhunderte, um wieder heimzukommen. Und in nicht allzu ferner Zukunft werden wir auch fast die ganze Erde aufgegeben haben.“

„Warum habt ihr das getan?“ fragte Jeserac. Er kannte die Antwort, aber irgendwie fühlte er sich zu dieser Frage gezwungen.

„Wir brauchten eine Zuflucht, die uns vor zwei Ängsten schützte — der Angst vor dem Tod und der Angst vor dem Weltraum. Wir waren ein krankes Volk und wollten mit dem All nichts mehr zu tun haben — daher taten wir so, als existierte es nicht. Wir hatten das Chaos durch die Sterne wüten sehen und sehnten uns nach Frieden und Sicherheit. Diaspar mußte abgeschlossen werden, damit nichts Neues eintreten konnte.

Wir gestalteten die Stadt, die Sie kennen, und erfanden eine falsche Vergangenheit, um unsere Feigheit zu verbergen. Oh, wir waren nicht die ersten — aber wir machten es als erste gründlich. Und wir veränderten den menschlichen Geist, nahmen ihm den Ehrgeiz und die wilderen Leidenschaften, damit er mit der Welt zufrieden sein sollte, die ihm blieb.


Der Bau der Stadt und ihrer Maschinen nahm tausend Jahre in Anspruch. Sobald jeder von uns seine Arbeit beendet hatte, wurden die Erinnerungen in seinem Gehirn gelöscht, durch die sorgfältig vorbereiteten falschen Erinnerungen ersetzt, und seine Persönlichkeit in den Gedächtnisanlagen gespeichert.

So kam schließlich der Tag, an dem kein einziger Mensch in Diaspar mehr am Leben war; es gab nur das Zentralgehirn, das die Befehle ausführte, die wir ihm gegeben hatten, und die Gedächtnisanlagen kontrollierte, in denen wir schliefen. Es gab keinen Menschen, der irgendeine Berührung mit der Vergangenheit hatte — und an diesem Punkt begann die Geschichte neu.

Dann kamen wir, einer nach dem anderen, in vorherbestimmter Folge aus den Anlagen und wurden wieder zu lebendigen Menschen. Wie eine Maschine, die eben gebaut, zum erstenmal eingesetzt wird, begann Diaspar ihre Pflichten zu erfüllen.

Und doch hatten einige von uns von Anfang an Zweifel. Die Ewigkeit ist eine lange Zeit; wir erkannten die Risiken, die mit dem Mangel eines Ablaßventils und mit der völligen Absperrung vor dem Universum verbunden waren. Wir durften den Wünschen unserer Kultur nicht zuwiderhandeln, also arbeiteten wir im geheimen an den Änderungen, die wir für notwendig hielten.

Die Einzigartigen waren unsere Erfindung. Sie sollten in langen Zeitabständen auftreten und, falls die Umstände das zuließen, feststellen, ob sich außerhalb Diaspars etwas fand, mit dem sich eine Verbindung lohnte. Wir dachten nie, daß es so lange dauern würde und daß der Erfolg schließlich so gewaltig sein könnte.“

Trotz der Ausschaltung der Kritikfähigkeit, der Grundlage jeden Traums, fragte sich Jeserac, wie Yarlan Zey von Dingen sprechen konnte, die eine Jahrmilliarde nach seiner Zeit geschahen. Es war alles sehr verwirrend — er wußte nicht mehr, wo in Raum und Zeit er sich befand.

Die Fahrt näherte sich ihrem Ende. Yarlan Zey begann mit einer Dringlichkeit und einer Autorität zu sprechen, die er vorher nicht gebraucht hatte.

„Die Vergangenheit ist vorbei. Wir haben unsere Arbeit getan, und damit ist sie erledigt. Als Sie geschaffen wurden, Jeserac, bekamen Sie die Furcht vor der Außenwelt und diesen Zwang, in der Stadt bleiben zu müssen, wie alle anderen Bürger der Stadt mit auf den Weg. Sie wissen jetzt, daß diese Furcht grundlos war und daß man sie Ihnen künstlich aufzwang. Ich, Yarlan Zey, der sie Ihnen gegeben hat, befreie Sie nun aus dieser Knechtschaft. Verstehen Sie?“


Bei diesen letzten Worten wurde die Stimme Yarlan Zeys immer lauter, bis sie im ganzen Raum zu hallen schien. Das unterirdische Fahrzeug, indem er dahinglitt, verschwamm und zitterte um Jeserac, als nähere sich der Traum seinem Ende. Als das Bild verblaßte, hörte er jedoch immer noch die gebieterische Stimme: „Du hast keine Angst mehr, Jeserac. Du hast keine Angst mehr.“

Er kämpfte sich ins Bewußtsein hoch, wie ein Taucher von den Ozeantiefen zum Meeresspiegel drängt. Yarlan Zey war verschwunden, aber es gab ein seltsames Zwischenspiel, als Stimmen, die er kannte, aber nicht erkannte, ermunternd auf ihn einsprachen und er sich von freundlichen Händen gestützt fühlte. Dann flutete die Wirklichkeit wie eine schnelle Dämmerung in ihn zurück.

Er öffnete die Augen und sah Alvin, Hilvar und Gerane besorgt neben sich stehen. Aber er achtete nicht auf sie; sein Denken war zu sehr von dem Wunder erfüllt, das jetzt vor ihm ausgebreitet lag — das Panorama aus Wäldern und Flüssen und der blauen Wölbung des offenen Himmels.

Er war in Lys — und er hatte keine Angst.

Niemand störte ihn, als dieser zeitlose Augenblick für die Ewigkeit eine Spur in seiner Seele hinterließ. Schließlich wandte er sich an seine Begleiter.

„Ich danke Ihnen, Gerane“, sagte er. „Ich hätte nie geglaubt, daß es Ihnen gelingen würde.“

Der Psychologe, dem man es ansah, daß er sehr mit sich zufrieden war, bediente verschiedene Hebel an einer kleinen Maschine, die neben ihm in der Luft schwebte.

„Sie haben uns ganz schön erschreckt“, gab er zu. „Ein- oder zweimal fingen Sie mit Fragen an, die nicht logisch zu beantworten waren, und ich fürchtete schon, abbrechen zu müssen.“

„Angenommen, Yarlan Zey hätte mich nicht überzeugt — was hätten Sie dann getan?“

„Wir hätten Sie bewußtlos gehalten und nach Diaspar zurückgebracht.

Dort wären Sie ganz natürlich aufgewacht, ohne je zu wissen, daß Sie in Lys waren.“

„Und dieses Bild von Yarlan Zey — wieviel von dem, was er sagte, entsprach wirklich der Wahrheit?“

„Das meiste, glaube ich. Ich bemühte mich, mein Abenteuer eher überzeugend als historisch genau zu gestalten, aber Callitrax hat es studiert und keinen Fehler gefunden. Es stimmt jedenfalls mit allem überein, was wir von Yarlan Zey und der Entstehung Diaspars wissen.“

„Jetzt können wir die Stadt richtig öffnen“, sagte Alvin. „Es mag noch lange dauern, aber wir werden diese Furcht bannen, damit jeder, der es will, Diaspar verlassen kann.“

„Es wird lange dauern“, erwiderte Gerane trocken. „Und vergessen Sie nicht, daß Lys nicht groß genug ist, um noch einige hundert Millionen Menschen aufzunehmen, wenn sich alle Bewohner Diaspars entschließen wollten, hierherzukommen. Ich halte das nicht für wahrscheinlich, aber möglich ist es immerhin.“

„Dieses Problem wird sich zur gegebenen Zeit selbst lösen“, meinte Alvin. „Lys ist klein, ja, aber die Welt ist weit. Warum sollten wir alles der Wüste überlassen?“

„Du träumst also immer noch, Alvin“, sagte Jeserac mit einem Lächeln.

„Ich fragte mich schon, was wohl für dich zu tun bleiben würde.“

Alvin antwortete nicht; das war eine Frage, die auch in seinem Inneren während der letzten Wochen immer dringlicher geworden war. Er blieb hinter den anderen etwas zurück, als sie den Hügel nach Airlee hinunterschritten. Würden die vor ihm liegenden Jahrhunderte nur eine einzige, lange Trostlosigkeit sein?

Die Antwort lag in seinen eigenen Händen. Er hatte seine Bestimmung erfüllt; vielleicht konnte er jetzt anfangen zu leben.

26

In der Erfüllung, im Wissen, daß ein lang ersehntes Ziel endlich erreicht ist und daß das Leben jetzt auf neue Ziele hin geformt werden muß, liegt eine besondere Traurigkeit. Alvin erfuhr sie, als er allein durch die Wälder und Wiesen von Lys wanderte. Nicht einmal Hilvar begleitete ihn, denn es gibt Zeiten, in denen ein Mann auch seine engsten Freunde nicht brauchen kann.

Er streifte nicht ziellos umher, obwohl er nie genau wußte, welches Dorf er als nächstes aufsuchen würde. Er suchte nicht nach einem bestimmten Ort, sondern nach einer Stimmung, einem Einfluß — ja, nach einer Lebensweise. Diaspar brauchte ihn nicht mehr; die Gärstoffe, die er in die Stadt gebracht hatte, arbeiteten schnell, und die Veränderungen, die dort vorgingen, konnte er weder beschleunigen noch hemmen.

Auch dieses friedliche Land würde sich verändern. Oft fragte er sich, ob es unrecht gewesen war, in dem unbarmherzigen Drang, seine eigene Neugier zu befriedigen, den alten Weg zwischen den beiden Kulturen freizulegen. Aber die Wahrheit war auch für Lys besser — daß es, wie Diaspar, zum Teil auf Ängsten und Falschheiten aufgebaut worden war.

Manchmal fragte er sich auch, welche Form die neue Gesellschaft annehmen würde. Er glaubte, daß Diaspar aus dem Gefängnis der Gedächtnisanlagen entfliehen und den Zyklus von Leben und Tod wiederherstellen müßte. Hilvar war überzeugt, das erreichen zu können, obwohl seine Vorschläge zu technisch waren und Alvin unverständlich blieben.

Vielleicht würde auch in Diaspar wieder eine Zeit kommen, in der die Liebe nicht mehr unfruchtbar bleiben mußte.

War es das, dachte Alvin, was ihm in Diaspar immer gefehlt — was er wirklich gesucht hatte? Er wußte jetzt, wenn Ehrgeiz, Macht und Neugierde befriedigt waren, blieben immer noch die Wünsche des Herzens.

Niemand hatte wirklich gelebt, wenn ihm nicht diese Verbindung von Liebe und Begierde gelungen war.

Er hatte die Planeten der Sieben Sonnen betreten — der erste Mensch nach einer Milliarde Jahre. Aber das bedeutete ihm wenig; manchmal, dachte er, gäbe er alle diese Taten für das Schreien eines kleinen Kindes, seines Kindes, hin.

In Lys würde er vielleicht eines Tages finden, was er suchte; die Menschen dort besaßen jene Warmherzigkeit, jenes Verständnis, die in Diaspar fehlten. Aber ehe er ruhen, ehe er Frieden finden konnte, mußte noch eine Entscheidung getroffen werden.


In seine Hände war Macht gelegt worden, die er noch immer besaß. Diese Verantwortung hatte er einst eifrig gesucht und angenommen, aber jetzt wußte er, daß er keinen Frieden finden würde, solange sie ihm noch gehörte. Aber er durfte sie nicht wegwerfen.

Er befand sich in einem Dorf mit kleinen Kanälen, am Ufer eines großen Sees, als er seine Entscheidung traf. Die farbigen Häuser, die auf den sanften Wellen verankert schienen, boten ein Bild beinahe unwirklicher Schönheit. Hier gab es Leben und Wärme und Behaglichkeit — alles, was er in der Pracht der Sieben Sonnen vermißt hatte.

Eines Tages würde die Menschheit wieder für den Weltraum bereit sein.

Welche neuen Kapitel der Mensch unter den Sternen schreiben würde, wußte Alvin nicht. Das ging ihn nichts an; seine Zukunft lag hier auf der Erde.

Aber er würde noch einen Flug unternehmen, ehe er den Sternen den Rücken kehrte.


Als Alvin das emporstrebende Schiff bremste, lag die Stadt zu weit entfernt, um noch als Menschenwerk zu erscheinen, und man konnte bereits die Wölbung der Erdkugel sehen. Bald darauf sahen sie die Dämmerungsgrenze, die Tausende Kilometer entfernt über die Wüste vordrang. Über und neben ihnen funkelten die Sterne.

Hilvar und Jeserac schwiegen; sie ahnten Alvins Gründe für diesen Flug, ohne sie jedoch genau zu kennen. Keinem war nach Reden zumute, als sich das trostlose Panorama unter ihnen ausbreitete. Diese Leere bedrückte sie beide, und Jeserac fühlte plötzlich verächtlichen Zorn gegen die Menschen der Vergangenheit in sich aufsteigen, die durch ihre Nachlässigkeit die Schönheit der Erde auf dem Gewissen hatten.

Er hoffte, daß Alvin recht hatte, wenn er davon träumte, all das ändern zu können. Macht und Wissen dafür existierten noch — es bedurfte nur noch des Willens, die Jahrhunderte zurückzudrehen und die Meere wieder zu füllen. Das Wasser war noch da, tief unten in der Erde; oder man konnte Umwandlungsanlagen bauen, die es produzierten.

In den vor ihnen liegenden Jahren gab es so viel zu tun. Jeserac wußte, daß er zwischen zwei Zeitaltern stand, überall um ihn herum konnte er fühlen, wie der Puls der Menschheit wieder schneller zu schlagen begann. Man stand vor großen Problemen — aber Diaspar würde sich nicht abwenden.

Alvin unterbrach seine Träumerei; und Jeserac wandte sich zum Bildschirm.


„Ich wollte, daß du das siehst“, sagte Alvin leise. „Du wirst vielleicht nie mehr Gelegenheit dazu bekommen.“

„Willst du die Erde verlassen?“

„Nein. Ich will mit dem Weltraum nichts mehr zu tun haben. Selbst wenn noch andere Zivilisationen in dieser Galaxis überlebt haben sollten, dürfte sich die Mühe, sie zu finden, nicht lohnen.

Hier gibt es. soviel zu tun. Ich weiß jetzt, daß das meine Heimat ist, und ich werde sie nicht wieder verlassen.“

Er schaute auf die großen Wüsten hinab, aber seine Augen sahen die Wasserfluten, die in tausend Jahren dort wogen würden. Der Mensch hatte seine Welt wieder entdeckt, und er würde ihr Schönheit geben, solange er dort lebte. Und danach — „Wir sind noch nicht bereit, zu den Sternen zu fliegen, und es wird noch lange Zeit dauern, bis wir ihre Herausforderung annehmen können. Ich habe mich gefragt, was ich mit diesem Schiff tun soll. Wenn es hier auf der Erde bleibt, wird es mich immer reizen, so daß ich nie zur Ruhe kommen kann. Aber ich darf es nicht vergeuden; es ist mir irgendwie anvertraut, und ich muß es zum Wohl der Erde einsetzen.

Ich habe mich daher zu Folgendem entschlossen. Ich werde es aus der Galaxis hinausschicken, mit dem Roboter am Steuer; es soll entdecken, was mit unseren Vorfahren geschehen ist — und, wenn möglich, was sie suchten, als sie unser Universum verließen. Es mußte etwas Herrliches gewesen sein, sonst hätten sie nicht soviel aufgegeben.

Der Roboter wird nie müde werden, solange die Fahrt auch dauern mag.

Eines Tages werden unsere Verwandten meine Botschaft erhalten und wissen, daß wir sie hier auf der Erde erwarten. Sie werden zurückkehren, und ich hoffe, daß wir ihrer bis dahin wert sein werden, wie mächtig sie auch geworden sein mögen.“

Alvin schwieg und starrte in eine Zukunft, die er geformt hatte, aber vielleicht nie sehen würde. Während der Mensch seine Welt wieder aufbaute, würde dieses Schiff das Dunkel zwischen den Galaxien durchbrechen, und nach Tausenden von Jahren würde es zurückkommen. Vielleicht war er dann noch hier, um es zu empfangen, aber auch wenn es nicht sein sollte, würde er zufrieden sein.

„Ich glaube, du handelst klug“, sagte Jeserac. Dann stieg zum letztenmal das Echo einer alten Furcht in ihm auf. „Aber nimm einmal an“, fügte er hinzu, „daß das Schiff mit Wesen in Berührung kommt, die wir nicht treffen wollen…“

Seine Stimme erstarb, als er den Ursprung seiner Furcht erkannte, und sein bedauerndes Lächeln bannte den letzten Schatten der Invasoren.

„Du vergißt“, sagte Alvin, den Einwand ernster nehmend, als Jeserac erwartet hatte, „daß uns bald Vanamonde helfen kann. Wir wissen nicht, welche Kräfte er besitzt, aber alle Leute in Lys vertreten die Auffassung, daß sie praktisch unbegrenzt sind. Nicht wahr, Hilvar?“

Hilvar antwortete nicht sofort. Es war richtig, daß Vanamonde das andere große Rätsel, das Fragezeichen über der Zukunft der Menschheit war, solange er auf der Erde weilte. Schon wurde Vanamondes Entwicklung durch seine Berührung mit den Denkern von Lys wesentlich beschleunigt. Sie legten große Erwartungen auf eine zukünftige Zusammenarbeit mit dem kindlichen Superverstand, weil sie glaubten, die Äonen seiner natürlichen Entwicklung abkürzen zu können.

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gestand Hilvar. „Irgendwie, glaube ich, sollten wir nicht allzuviel von Vanamonde erwarten. Wir können ihm jetzt helfen, aber in seiner gesamten Lebensspanne werden wir nur ein ganz kurzes Ereignis sein. Ich glaube nicht, daß seine Bestimmung letzten Endes mit unserem Schicksal etwas zu tun hat.“

Alvin sah ihn überrascht an.

„Warum glaubst du das?“ fragte er.

„Ich kann es nicht erklären“, sagte Hilvar. „Es ist nur ein Gefühl.“ Er hätte mehr hinzufügen können, aber er schwieg. Diese Dinge waren nicht mitteilbar, und obgleich Alvin über seinen Traum nicht gelacht hätte, wollte er ihn doch mit seinem Freund nicht einmal besprechen.

Es war mehr als ein Traum, das wußte er, und er würde ihn immer verfolgen. Irgendwie war er in seinen Verstand gedrungen, während der unbeschreiblichen Berührung mit Vanamondes Verstand. Wußte Vanamonde selbst, wohin ihn sein einsames Schicksal führte?

Eines Tages würden die Energien der Schwarzen Sonne vergehen und ihren Gefangenen freilassen. Und dann, am Ende des Universums, würden sich Vanamonde und das Irre Gehirn unter den Leichen der Sterne gegenüberstehen müssen.

Dieser Kampf würde vielleicht den Vorhang über der Schöpfung für immer zum Fallen bringen. Aber diese Auseinandersetzung hatte mit dem Menschen nichts zu tun, und ihr Ausgang würde ihm immer verborgen bleiben…

„Schaut!“ sagte Alvin plötzlich. „Das wollte ich euch zeigen.

Versteht ihr, was das bedeutet?“

Das Raumschiff schwebte über dem Pol, und die Erde unter ihnen bildete eine vollkommene Halbkugel. Als sie auf den Dämmergürtel hinabblickten, konnten Hilvar und Jeserac im selben Augenblick Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auf den entgegengesetzten Seiten der Welt sehen. Das Sinnbild war so vollkommen, so eindrucksvoll, daß sie es ihr Leben lang nicht vergaßen.


In diesem Universum brach die Nacht herein; die Schatten dehnten sich einem Osten entgegen, der keine neue Dämmerung kannte. Aber anderswo waren die Sterne noch jung; auf dem Pfad, den er einst zurückgelegt hatte, würde der Mensch eines Tages wieder vorwärtsschreiten.

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