Percy Jackson 01 - Diebe Im Olymp
Rick Riordan
(2012)
Außerdem von Rick Riordan im Carlsen Verlag erschienen:
Percy Jackson – Diebe im Olymp
Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen
Percy Jackson – Der Fluch des Titanen
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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2006
Neu bearbeitete Ausgabe 2010
Originalcopyright © 2005 by Rick Riordan
Originalverlag: Hyperion Books for Children
Permission for this edition was arranged through the Nancy Gallt Agency
Originaltitel: PERCY JACKSON AND THE OLYMPIANS –
THE LIGHTNING THIEF
Umschlagbild © Helge Vogt/trickwelt nach einem Entwurf von Kerstin Schürmann
Umschlaggestaltung und -typografie © Kerstin Schürmann, formlabor
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92000-0
Mehr über die griechischen Gottheiten,
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Für Haley, der die Geschichte als Erster gehört hat
Liebe Sterbliche, die ihr dies lest: Ich habe beim Fluss Styx geschworen, dass alles, was in diesem Buch erzählt wird, pure Erfindung ist.
Es gibt keinen zwölf Jahre alten Jungen Perseus »Percy« Jackson. Die griechischen Gottheiten sind einfach nur alte Mythen. Und selbstverständlich zeugen sie im einundzwanzigsten Jahrhundert keine Kinder mit Sterblichen. Es gibt keinen Ort wie Half-Blood Hill, ein Sommercamp für Demigottheiten auf dem östlichen Long Island. Percy ist niemals einem Satyrn oder einer Tochter der Athene begegnet. Und ganz bestimmt haben sie sich nicht zusammen auf den Weg quer durch die USA gemacht, um den Eingang zur Unterwelt zu finden und einen schrecklichen Krieg zwischen den Göttern zu verhindern.
Nachdem dies gesagt ist, muss ich euch dringend bitten, euch gut zu überlegen, ob ihr dieses Buch lesen wollt. Wenn ihr beim Lesen spüren solltet, dass sich in euch etwas regt, wenn euch der Verdacht kommt, dass diese Geschichte etwas aus eurem eigenen Leben beschreiben könnte – dann hört sofort mit Lesen auf. Andernfalls trage ich für die Folgen keinerlei Verantwortung.
Mögen die Gottheiten des Olymps (die es nicht gibt!) über euch wachen.
Mit besten Grüßen
Chiron Kentauros
Schriftleiter im Camp Half-Blood Hill
Ehrenmitglied im Rat der behuften Älteren
Mundschenk am Hofe des Poseidon usw. usw.
Inhalt
Aus purem Zufall lasse ich meine Mathelehrerin in Dampf aufgehen 9
Drei alte Damen stricken die Socken des Todes 26
Grover verliert überraschend seine Hose 40
Meine Mutter gibt mir Unterricht im Stierkampf 58
Ich spiele Binokel mit einem Pferd 73
Ich werde Alleinherrscher über das Badezimmer 94
Mein Abendessen löst sich in Rauch auf 115
Wir erobern eine Flagge 131
Mir wird eine Aufgabe angeboten 155
Ich ruiniere einen voll funktionsfähigen Bus 181
Wir besuchen das Emporium der Gartenzwerge 203
Ein Pudel gibt uns gute Ratschläge 226
Ich stürze mich in den Tod 236
Ich werde zum prominenten Flüchtling 253
Ein Gott lädt uns zu Cheeseburgern ein 261
Wir bringen ein Zebra nach Vegas 286
Wir sehen uns Wasserbetten an 313
Annabeth wird Hundetrainerin 333
Wir finden die Wahrheit, irgendwie 352
Ich kämpfe gegen die durchgedrehte Verwandtschaft 376
Ich rechne ab 392
Die Weissagung geht in Erfüllung 415
Danksagungen 440
Glossar 441
Aus purem Zufall lasse ich meine Mathelehrerin in Dampf aufgehen Echt, ich hab nicht darum gebeten, als Halbblut auf die Welt zu kommen.
Wenn ihr das hier lest, weil ihr auch gern eins wärt, dann rate ich euch: Klappt das Buch ganz schnell zu. Glaubt alle Lügen, die eure Eltern euch über eure Geburt erzählt haben, und versucht ein normales Leben zu führen.
Ein Halbblut zu sein ist gefährlich. Beängstigend. Meistens führt es zu einem schmerzhaften, scheußlichen Tod.
Wenn ihr ganz normale Menschen seid und das hier lest, weil ihr es für einen Roman haltet, alles klar. Weiterlesen. Ich beneide euch darum, glauben zu können, dass das alles nie passiert ist.
Aber wenn ihr euch in diesen Seiten wiedererkennt – wenn sich in euch etwas regt –, dann hört sofort mit Lesen auf. Vielleicht gehört ihr ja zu uns. Und wenn ihr das erst wisst, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch sie es spüren und sich auf die Suche nach euch machen.
Behauptet nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.
Ich heiße Percy Jackson.
Ich bin zwölf Jahre alt. Bis vor ein paar Monaten habe ich die Yancy Academy besucht, ein Internat für Problemkinder, das in der Nähe von New York liegt.
Bin ich ein Problemkind?
Ja. Das kann man durchaus so sagen.
Ich könnte an jedem Punkt meines kurzen, elenden Lebens anfangen, um das zu beweisen, aber richtig schlimm wurde alles erst im vergangenen Mai, als wir eine Klassenfahrt nach Manhattan gemacht haben – achtundzwanzig durchgeknallte Kids und zwei Lehrer in einem gelben Schulbus, unterwegs zum Metropolitan Museum of Art, um sich antiken griechischen und römischen Kram anzusehen.
Ich weiß, es klingt wie pure Folter. Die meisten Schulausflüge von Yancy waren pure Folter.
Aber diese Fahrt wurde von Mr Brunner geleitet, unserem Lateinlehrer, und da hab ich mir doch Hoffnungen gemacht.
Mr Brunner war ein Mann in mittleren Jahren, der in einem motorisierten Rollstuhl saß. Er hatte schütteres Haar, einen struppigen Bart und trug eine ausgefranste Tweedjacke, die immer nach Kaffee roch. Eigentlich würde man ihn gar nicht für cool halten, aber er erzählte Geschichten und Witze und ließ uns im Unterricht Spiele machen. Und er hatte eine umwerfende Sammlung von römischen Rüstungen und Waffen, deshalb war er der einzige Lehrer, bei dem ich im Unterricht nicht eingeschlafen bin.
Ich hoffte also, dass dieser Ausflug ganz nett sein würde. Zumindest hoffte ich, dass ich ausnahmsweise einmal keinen Ärger kriegen würde.
O Mann, da lag ich ja so was von schief!
Bei Klassenfahrten habe ich einfach immer Pech. Wie damals, als wir das Schlachtfeld von Saratoga besucht haben. Da passierte dieses Unglück mit der Kanone aus dem Unabhängigkeitskrieg. Ich hatte natürlich nicht auf den Schulbus gezielt, aber von der Schule gefeuert wurde ich trotzdem. Und auf der Schule davor hab ich, als wir im Haifischpark hinter die Kulissen schauen sollten, auf dem Steg aus Versehen den falschen Hebel berührt und die ganze Klasse musste unerwartet eine Runde schwimmen. Und auf der Schule davor … na ja, ihr wisst schon, was ich meine.
Auf diesem Ausflug also sollte alles gut gehen, dazu war ich fest entschlossen.
Während der ganzen Fahrt in die Stadt sah ich tatenlos zu, wie Nancy Bobofit, die rothaarige, sommersprossige Kleptomanin, meinem besten Freund Grover immerzu Stückchen von einem Erdnussbutter-Ketchup-Sandwich an den Hinterkopf warf.
Grover war ein leichtes Opfer. Er war schwächlich. Er weinte, wenn etwas schiefging. Sicher hatte er mehrere Klassen wiederholen müssen, er war der Einzige bei uns, der Akne und den ersten Bartflaum im Gesicht hatte. Und zu allem Überfluss war er auch noch behindert. Er hatte es schriftlich, dass er bis an sein Lebensende vom Sportunterricht befreit war, weil er irgendeine Art Muskelkrankheit in den Beinen hatte. Er hatte einen komischen Gang, jeder Schritt schien ihm wehzutun, aber davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Ihr hättet ihn mal loswetzen sehen sollen, wenn es in der Schulmensa Enchiladas gab.
Jedenfalls beschmiss Nancy Bobofit ihn mit Brotklumpen, die in seinen braunen Locken kleben blieben, und sie wusste, dass ich ihr nichts tun würde, weil ich ohnehin auf Bewährung war. Der Rektor hatte mir mit sofortigem Rausschmiss gedroht, wenn auf diesem Schulausflug irgendetwas Schlimmes, Peinliches oder auch nur leicht Amüsantes passierte.
»Ich bring sie um«, murmelte ich.
Grover versuchte mich zu beruhigen. »Ist schon gut. Ich ess gern Erdnussbutter.«
Er wich einem weiteren Brocken von Nancys Mittagessen aus.
»Das reicht.« Ich wollte aufstehen, aber Grover zog mich zurück auf meinen Sitz.
»Du bist auf Bewährung«, mahnte er. »Und du weißt, wem sie die Schuld zuschieben werden, wenn irgendwas schiefgeht.«
Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte Nancy Bobofit an Ort und Stelle eine reingesemmelt. Von der Schule zu fliegen wäre noch gar nichts gewesen im Vergleich zu den Scherereien, die ich nun bald haben würde.
Mr Brunner führte uns durch das Museum.
Er fuhr in seinem Rollstuhl vor uns her durch weite Galerien mit lautem Echo, vorbei an Marmorstatuen und Glaskästen voller uralter schwarzer und orangefarbener Töpfersachen.
Ich konnte es einfach nicht fassen, dass dieser Kram zwei-oder dreitausend Jahre überlebt hatte.
Mr Brunner versammelte uns vor einer fast vier Meter hohen Steinsäule, auf der eine Sphinx saß, und erzählte uns, dass das eine Grabsäule sei, eine Stele, für ein Mädchen in ungefähr unserem Alter. Er erzählte uns, was an den Seiten in den Stein geritzt war. Ich versuchte, mir das alles anzuhören, weil es ja irgendwie doch interessant war, aber alle um mich herum quasselten, und immer, wenn ich »Haltet doch mal die Klappe« sagte, starrte die andere Lehrerin, Mrs Dodds, mich wütend an.
Mrs Dodds war eine kleine Mathelehrerin aus Georgia und trug immer eine schwarze Lederjacke, obwohl sie schon fünfzig war. Sie sah fies genug aus, um auf einer Harley voll in deinen Schrank zu brettern. Sie war mitten im Schuljahr nach Yancy gekommen, als unsere letzte Mathelehrerin einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.
Vom ersten Tag an war Mrs Dodds hin und weg von Nancy Bobofit, mich dagegen hielt sie für die reine Teufelsbrut. Sie zeigte immer wieder mit ihrem krummen Finger auf mich und sagte honigsüß: »So, mein Herzchen«, und dann wusste ich, dass mir ein Monat Nachsitzen bevorstand.
Einmal, nachdem ich bis nach Mitternacht Auflösungen aus alten Mathebüchern hatte ausradieren müssen, sagte ich zu Grover, dass ich mir gar nicht vorstellen könnte, dass Mrs Dodds ein Mensch sei. Er schaute mich mit ganz ernster Miene an und sagte: »Du hast ja so Recht.«
Mr Brunner redete noch immer über griechische Grabkunst.
Da riss Nancy Bobofit einen blöden Witz über den nackten Typen oben auf der Stele und ich fuhr herum und sagte: »Kannst du jetzt endlich mal die Klappe halten?«
Das sagte ich lauter, als ich es vorgehabt hatte.
Die ganze Gruppe prustete los. Mr Brunner hörte mitten in der Geschichte auf.
»Mr Jackson«, sagte er. »Möchten Sie einen Kommentar abgeben?«
Mein Gesicht war knallrot. Ich sagte: »Nein, Sir.«
Mr Brunner zeigte auf eins der Bilder auf der Stele. »Vielleicht könnten Sie uns sagen, was dieses Bild darstellt?«
Ich schaute mir die in Stein geritzte Zeichnung an und war total erleichtert, weil ich das Bild erkannte. »Das ist Kronos, der seine Kinder frisst, nicht?«
»Ja«, sagte Mr Brunner, war damit aber offenbar noch nicht zufrieden. »Und das hat er getan, weil …«
»Na ja …« Ich zerbrach mir den Kopf, um mich zu erinnern. »Kronos war der König der Götter und …«
»Götter?«, fragte Mr Brunner.
»Titanen«, korrigierte ich mich. »Und … er misstraute seinen Kindern, die Götter waren. Und also, ähem, hat Kronos sie aufgegessen, stimmt’s? Aber seine Frau hatte den kleinen Zeus versteckt und Kronos stattdessen einen Felsen zu essen gegeben. Und als Zeus dann später größer wurde, hat er seinen Papa, Kronos, dazu gebracht, seine Geschwister auszukotzen …«
»Uääh!«, sagte eins von den Mädchen hinter mir.
»… und dann gab es einen wütenden Kampf zwischen Göttern und Titanen«, fügte ich hinzu. »Und die Götter haben gewonnen.«
In der Gruppe kicherten einige.
Hinter mir murmelte Nancy Bobofit einer Freundin zu: »Als ob wir das im wirklichen Leben zu irgendwas brauchen könnten. Als ob uns bei einer Jobbewerbung irgendwer sagen wird, bitte, erklären Sie uns, warum Kronos seine Kinder verspeist hat.«
»Und warum, Mr Jackson«, sagte Brunner, »um Miss Bobofits hervorragende Frage anders zu formulieren, spielt das im wirklichen Leben eine Rolle?«
»Reingefallen«, murmelte Grover.
»Fresse«, zischte Nancy und ihr Gesicht war jetzt noch röter als ihre Haare.
Wenigstens war Nancy jetzt auch erwischt worden. Mr Brunner war der Einzige, der jemals hörte, wenn sie etwas Falsches sagte. Der Mann hatte wirklich Radarohren.
Ich dachte über seine Frage nach und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Sir.«
»Aha.« Mr Brunner machte ein enttäuschtes Gesicht. »Na, immerhin ein halber Punkt, Mr Jackson. Zeus hat Kronos in der Tat eine Mischung aus Senf und Wein gegeben, worauf der seine anderen fünf Kinder auswürgte, die, als unsterbliche Gottheiten, vollständig unverdaut im Magen des Titanen überlebt hatten und herangewachsen waren. Die Götter überwältigten dann ihren Vater, schnitten ihn mit seiner eigenen Sense in Stücke und verstreuten seine Überreste im Tartarus, dem dunkelsten Teil der Unterwelt. Und an dieser fröhlichen Stelle legen wir jetzt die Mittagspause ein. Mrs Dodds, würden Sie uns wieder nach draußen führen?«
Die Klasse wanderte los, den Mädchen war das auf den Magen geschlagen, die Jungs rempelten sich an und benahmen sich wie Idioten.
Grover und ich wollten gerade hinterhergehen, als Mr Brunner sagte: »Mr Jackson?«
Ich wusste, was jetzt kommen würde.
Ich sagte zu Grover: »Geh schon mal vor.« Dann drehte ich mich zu Mr Brunner um. »Sir?«
Mr Brunner hatte einen Blick, der einen einfach nicht losließ – intensive braune Augen, von denen man denken konnte, sie wären tausend Jahre alt und hätten alles schon gesehen.
»Du musst die Antwort auf meine Frage finden«, sagte Mr Brunner nun.
»Über die Titanen?«
»Über das wirkliche Leben. Und was der Unterrichtsstoff damit zu tun hat.«
»Ach.«
»Was du von mir lernst«, sagte er, »ist von ungeheurer Bedeutung. Und ich werde von dir nur das Beste akzeptieren, Percy Jackson.«
Ich wurde wütend, dieser Typ setzte mich dermaßen unter Druck.
Ich meine, klar, es konnte schon lustig sein, wenn er an Wettkampftagen eine römische Rüstung anlegte, »Waffen, ho!« brüllte und uns, Schwertspitze auf die Kreide gerichtet, aufforderte, an die Tafel zu rennen und alle Griechen und Römer aufzuzählen, die je gelebt hatten, und zu erklären, wer ihre Mutter gewesen war und welche Gottheiten sie verehrt hatten. Aber Mr Brunner erwartete, dass ich genauso gut war wie alle anderen, obwohl ich Legastheniker und hyperaktiv war und in meinem ganzen Leben nie eine bessere Note als befriedigend gehabt hatte. Nein, das stimmt nicht – er erwartete nicht, dass ich ebenso gut war, ich sollte besser sein. Und ich konnte mir diese ganzen Namen und Fakten einfach nicht merken, mal ganz zu schweigen davon, sie richtig zu schreiben.
Ich murmelte etwas von größere Mühe geben, während Mr Brunner einen langen, traurigen Blick auf die Stele warf, als ob er bei der Beerdigung des Mädchens zugegen gewesen wäre.
Dann sagte er, ich sollte nach draußen gehen und meinen Sandwich essen.
Die Klasse hatte sich auf der Vordertreppe des Museums versammelt, wo wir den Verkehr auf der Fifth Avenue beobachten konnten.
Über uns braute sich ein gewaltiger Sturm zusammen, mit schwärzeren Wolken, als ich das jemals in der Stadt gesehen hatte. Ich nahm an, das lag an der Klimakatastrophe, denn im ganzen Staat New York war das Wetter seit Weihnachten schon komisch gewesen. Wir hatten heftige Schneestürme gehabt, Überschwemmungen und Lauffeuer, die durch Blitzeinschläge entstanden waren. Es hätte mich nicht im Geringsten überrascht, wenn hier ein Hurrikan heraufgezogen wäre.
Die anderen schienen nichts davon zu bemerken. Die Jungs bewarfen die Tauben mit Salzkräckern. Nancy Bobofit versuchte, etwas aus der Handtasche einer vorübergehenden Frau zu klauen, und Mrs Dodds kriegte natürlich rein gar nichts mit.
Grover und ich setzten uns auf den Brunnenrand, weit weg von den anderen. Wir dachten, dann würde vielleicht nicht alle Welt wissen, dass wir auf diese Schule gingen – die Schule für Versager, die nirgendwo anders zurechtkamen.
»Nachsitzen?«, fragte Grover.
»Nö«, sagte ich. »Das macht der Brunner doch nicht. Aber ich wünschte, er könnte mich mal in Ruhe lassen. Ich bin eben kein Genie.«
Grover schwieg eine Weile. Dann, als ich schon mit einem tiefsinnigen philosophischen Kommentar rechnete, der meine Laune verbessern sollte, fragte er: »Kann ich deinen Apfel haben?«
Ich hatte keinen besonderen Appetit, deshalb gab ich ihn ihm.
Ich sah mir die vielen Taxis auf der Fifth Avenue an und dachte an die Wohnung meiner Mom, die gar nicht weit entfernt lag. Ich hatte Mom seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Ich hätte mich am liebsten in ein Taxi gesetzt, um nach Hause zu fahren. Mom hätte mich umarmt und sich gefreut, mich zu sehen, aber sie wäre auch enttäuscht gewesen. Sie hätte mich sofort nach Yancy zurückgeschickt und mich daran erinnert, dass ich mir größere Mühe geben müsste, dass das hier meine sechste Schule in sechs Jahren war und dass ich vermutlich wieder fliegen würde. Ich würde ihren traurigen Blick nicht ertragen.
Mr Brunner hielt in seinem Rollstuhl unten vor der Rollstuhlrampe. Er aß Sellerie und las in einem Taschenbuch. Ein roter Regenschirm ragte hinten aus seinem Stuhl auf und dadurch sah der Stuhl aus wie ein motorisierter Cafétisch.
Ich wollte gerade mein Butterbrot auspacken, als Nancy Bobofit mit ihren hässlichen Freundinnen vor mir auftauchte – sie hatte es wohl satt, Touristinnen zu beklauen – und die Reste ihres Proviants in Grovers Schoß fallen ließ.
»Huch.« Sie grinste mich an und zeigte dabei ihre schiefen Zähne. Ihre Sommersprossen waren so orange, als ob jemand ihr Gesicht mit flüssigen Cheetos besprüht hätte.
Ich versuchte, ganz cool zu bleiben. Das hatte der Schulpsychologe mir eine Million Mal geraten. »Zähl bis zehn, dann kriegst du deine Wut in den Griff.« Aber ich war so wütend, dass ich nicht mehr denken konnte. In meinen Ohren schien eine Welle zu brausen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich sie angefasst habe, aber plötzlich saß Nancy im Brunnen auf ihrem Hintern und kreischte: »Percy hat mich geschubst!«
Sofort stand Mrs Dodds neben uns.
Ein paar von den anderen flüsterten: »Habt ihr gesehen …«
»… das Wasser …«
»… als ob es sie gepackt hätte …«
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redeten. Ich wusste nur, dass ich jetzt neuen Ärger hatte.
Kaum hatte Mrs Dodds sich davon überzeugt, dass die arme kleine Nancy nicht verletzt war, und ihr versprochen, ihr im Museumsladen ein neues Hemd zu kaufen und überhaupt und so weiter, machte sie sich über mich her. In ihren Augen brannte ein triumphierendes Feuer, als ob ich etwas getan hätte, auf das sie schon das ganze Schuljahr wartete. »So, mein Herzchen …«
»Ich weiß«, knurrte ich. »Einen Monat Bücher radieren.«
Das war nicht die passende Antwort.
»Komm mit«, sagte Mrs Dodds.
»Halt«, schrie Grover. »Ich war das. Ich hab sie geschubst.«
Ich starrte ihn verblüfft an. Ich konnte es nicht fassen, dass er versuchte mich zu retten. Grover hatte eine Sterbensangst vor Mrs Dodds.
Sie starrte ihn so wütend an, dass seine flaumigen Wangen zitterten.
»Das glaube ich nicht, Mr Underwood«, sagte sie.
»Aber …«
»Sie – bleiben – hier!«
Grover sah mich verzweifelt an.
»Schon gut, Mann«, sagte ich zu ihm. »Danke, dass du’s versucht hast.«
»Herzchen«, bellte Mrs Dodds mich an. »Sofort!«
Nancy Bobofit feixte.
Ich verpasste ihr mein Dich-bring-ich-nachher-um-Glotzen. Dann drehte ich mich zu Mrs Dodds um, aber die war nicht da. Sie stand vor dem Museumseingang, ganz oben auf der Treppe, und winkte mir ungeduldig zu.
Wie war sie da so schnell hingekommen?
Ich habe oft solche Momente, in denen mein Gehirn einschläft oder so was, und als Nächstes weiß ich dann, dass ich etwas verpasst habe – als sei ein Puzzlestück aus dem Universum gefallen und ich könne nur noch die leere Stelle dahinter anstarren. Der Schulpsychologe hat mir gesagt, dass das mit ADHD zu tun hat. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Desaster. Mein Gehirn deutet alles Mögliche falsch.
Ich bin mir da nicht so sicher.
Ich lief hinter Mrs Dodds her.
Auf halber Höhe der Treppe drehte ich mich zu Grover um. Er sah blass aus und sein Blick jagte zwischen mir und Mr Brunner hin und her, als wolle er Mr Brunner darauf aufmerksam machen, was hier passierte. Aber Mr Brunner war in seinen Roman vertieft.
Ich schaute nach oben. Mrs Dodds war schon wieder verschwunden. Jetzt stand sie im Museum, hinten in der Eingangshalle.
Na gut, dachte ich. Bestimmt muss ich jetzt im Laden für Nancy ein neues Hemd kaufen.
Aber das hatte Mrs Dodds dann offenbar doch nicht vor.
Ich folgte ihr weiter ins Museum hinein. Als ich sie endlich eingeholt hatte, befanden wir uns wieder in der griechisch-römischen Abteilung.
Außer uns war niemand dort.
Mrs Dodds stand mit verschränkten Armen vor einem großen Marmorfries, der die griechischen Gottheiten darstellte. Sie stieß ein seltsam kehliges Geräusch aus, wie ein Knurren.
Auch ohne dieses Geräusch wäre ich nervös geworden. Es ist komisch, mit einem Lehrer oder einer Lehrerin allein zu sein, und das gilt vor allem für Mrs Dodds. Sie starrte den Fries auf eine so seltsame Weise an, als wollte sie ihn mit ihren Blicken zu Staub zermahlen …
»Du machst uns wirklich Probleme, Herzchen«, sagte sie.
Ich ging auf Nummer sicher. Ich sagte: »Ja, Ma’am.«
Sie zupfte an den Ärmeln ihrer Lederjacke. »Hast du wirklich gedacht, du würdest damit durchkommen?«
Ihr Blick war jetzt mehr als nur böse. Er war verrückt.
Sie ist eine Lehrerin, dachte ich nervös. Natürlich wird sie mir nichts tun.
Ich sagte: »Ich … ich werde mir noch größere Mühe geben, Ma’am.«
Donnerschläge ließen das Gebäude erbeben.
»Wir sind keine Trottel, Percy Jackson«, sagte Mrs Dodds. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir dich finden würden. Gib alles zu und du wirst nicht so sehr leiden müssen.«
Ich wusste nicht, wovon sie redete.
Alles, was mir einfiel, war, dass die Lehrer offenbar herausgefunden hatten, dass ich in meinem Zimmer einen illegalen Süßigkeitenhandel betrieb. Vielleicht wussten sie auch, dass ich meinen Aufsatz über Tom Sawyer aus dem Internet abgeschrieben und das Buch nie gelesen hatte, und jetzt wollten sie mir eine schlechtere Note geben. Oder, schlimmer noch, mich zwingen es zu lesen.
»Na?«, fragte sie gebieterisch.
»Ma’am, ich weiß nicht …«
»Deine Zeit ist um«, fauchte sie und ihre Augen glühten wie Grillkohlen. Ihre Finger wurden länger und verwandelten sich in Krallen. Ihre Jacke zerschmolz zu großen, lederartigen Flügeln. Sie war kein Mensch. Sie war eine runzlige Hexe mit Fledermausflügeln und Krallen und einem Maul voller gelber Hauzähne und sie wollte mich in Fetzen reißen.
Dann wurde alles noch seltsamer.
Mr Brunner, der noch eine Minute zuvor vor dem Museum gesessen hatte, kam mit einem Kugelschreiber in der Hand durch die Galerie gerollt.
»Waffen, ho, Percy«, rief er und warf den Kugelschreiber durch die Luft.
Mrs Dodds sprang auf mich zu.
Ich schrie auf, duckte mich und fühlte, wie Krallen neben meinem Ohr durch die Luft sausten. Ich fing den Kugelschreiber auf, doch als er meine Hand berührte, war er kein Kugelschreiber mehr. Sondern ein Schwert. Mr Brunners Bronzeschwert, das er immer bei Schulwettbewerben schwenkte.
Mrs Dodds fuhr mit mörderischem Blick zu mir herum.
Meine Knie waren wie aus Pudding. Meine Hände zitterten dermaßen, dass mir das Schwert fast runtergefallen wäre.
Sie fauchte: »Stirb, Herzchen!«
Und dann flog sie auf mich zu.
Mich durchfuhr ein Gefühl absoluten Entsetzens. Ich tat das Einzige, was mir natürlich vorkam: Ich schwang mein Schwert.
Die Metallklinge traf ihre Schulter und durchschnitt ihren Körper wie Wasser. Ssssssss.
Mrs Dodds war eine Sandburg, die in einen Ventilator geraten war. Sie explodierte zu gelbem Staub und verdampfte auf der Stelle, und nichts blieb von ihr übrig außer Schwefelgestank und einem kalten Gefühl von Bosheit in der Luft, als starrten ihre glühend roten Augen mich noch immer an.
Ich war allein.
Ich hielt einen Kugelschreiber in der Hand.
Mr Brunner war nicht da. Niemand war da außer mir.
Meine Hände zitterten noch immer. Offenbar hatte mein Proviant Magic Mushrooms oder so was enthalten.
Hatte ich mir das alles nur eingebildet?
Ich ging wieder nach draußen.
Es regnete.
Grover saß vor dem Brunnen und hatte sich einen Plan des Museums über den Kopf gelegt. Nancy Bobofit stand nach ihrem Bad im Brunnen noch immer triefend da und knurrte ihre hässlichen Freundinnen an. Als sie mich sah, sagte sie: »Ich hoffe, Mrs Kerr hat dir den Arsch versohlt.«
Ich fragte: »Wer?«
»Unsere Lehrerin. Du Idiot!«
Ich kniff die Augen zusammen. Wir hatten keine Lehrerin namens Mrs Kerr. Ich fragte Nancy, wovon sie redete.
Sie verdrehte nur die Augen und ließ mich stehen.
Ich fragte Grover, wo Mrs Dodds stecke.
Er fragte: »Wer?«
Aber vorher zögerte er kurz und er sah mich nicht an. Ich dachte, er wollte mich auf den Arm nehmen.
»Reiß hier keine Witze, Mann«, sagte ich. »Das ist ernst.«
Über uns grollte der Donner.
Ich sah Mr Brunner unter seinem roten Schirm sitzen, er las sein Buch, als ob er sich keinen Zentimeter bewegt hätte.
Ich ging zu ihm hinüber.
Er schaute auf und wirkte ein wenig zerstreut. »Ach, das ist sicher mein Kugelschreiber. Bitte bringen Sie in Zukunft eigene Schreibgeräte mit, Mr Jackson.«
Ich reichte ihm den Kugelschreiber. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich ihn noch immer in der Hand hielt.
»Sir«, fragte ich. »Wo ist Mrs Dodds?«
Er starrte mich verständnislos an. »Wer?«
»Die Lehrerin, die mitgekommen ist. Mrs Dodds. Unsere Mathematiklehrerin.«
Er runzelte die Stirn und beugte sich mit leicht besorgter Miene vor. »Percy, hier ist keine Mrs Dodds mitgekommen. Soviel ich weiß, hat es an der Yancy Academy nie eine Mrs Dodds gegeben. Bist du vielleicht krank?«
Drei alte Damen stricken die Socken des Todes
An seltsame Erlebnisse ab und zu war ich ja gewöhnt, aber meistens gingen die schnell vorbei. Aber diese Wahnsinnshalluzination war zu viel für mich. Das ganze restliche Schuljahr über schienen alle mich nur noch auf den Arm nehmen zu wollen. Die anderen benahmen sich, als seien sie durch und durch davon überzeugt, dass Mrs Kerr – eine lebhafte blonde Frau, die ich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen hatte, als sie am Ende des Ausflugs in unseren Bus gestiegen war – schon seit vor Weihnachten bei uns Mathe unterrichtet hätte.
Immer wieder erwähnte ich den anderen gegenüber Mrs Dodds, in der Hoffnung, ihnen einen Kommentar zu entlocken, aber sie starrten mich an wie einen Superpsycho.
Fast hätte ich ihnen am Ende geglaubt – es hatte niemals eine Mrs Dodds gegeben.
Fast.
Aber Grover konnte mich nicht an der Nase herumführen. Wenn ich ihm gegenüber den Namen Dodds nannte, zögerte er, um dann zu behaupten, nie von ihr gehört zu haben. Aber ich wusste, dass er log.
Irgendetwas lief hier ab. Irgendetwas war im Museum passiert.
Tagsüber hatte ich nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, aber nachts ließen mich Visionen von Mrs Dodds mit Krallen und Lederflügeln in kaltem Schweiß gebadet aus dem Bett auffahren.
Das Wetter blieb weiterhin seltsam, was meine Stimmung nicht gerade hob. Eines Nachts blies der Wind die Fenster aus unserem Schlafsaal. Einige Tage später wütete der größte jemals im Tal des Hudson beobachtete Tornado knappe fünfundsiebzig Kilometer von der Yancy Academy entfernt. Und ein aktuelles Thema, das wir im Sozialkundeunterricht besprachen, war die ungewöhnlich hohe Anzahl von Sportflugzeugen, die in diesem Jahr bei plötzlichen Windböen in den Atlantik gestürzt waren.
Ich war meistens gereizt und genervt. Meine Noten wurden immer schlechter. Dauernd geriet ich mit Nancy Bobofit und ihren Freundinnen aneinander. In fast jeder Unterrichtsstunde wurde ich auf den Gang geschickt.
Als mich dann Mr Nicoll, unser Englischlehrer, zum millionsten Mal fragte, wieso ich zu faul sei, um für die Rechtschreibtests zu lernen, drehte ich durch. Und nannte ihn einen alten Hahnrei. Ich wusste nicht mal, was das bedeutete, aber es hörte sich gut an.
In der folgenden Woche schickte der Rektor meiner Mom einen Brief, in dem es offiziell verkündet wurde: Im nächsten Schuljahr war ich nicht mehr Schüler der Yancy Academy.
Schön, sagte ich mir. Mir nur recht.
Ich hatte Heimweh.
Ich wollte bei meiner Mom in unserer kleinen Wohnung in der Upper East Side sein, auch wenn ich dann auf eine öffentliche Schule gehen und mich mit meinem widerlichen Stiefvater und seinen blödsinnigen Pokerrunden abfinden müsste.
Aber trotzdem … es gab in Yancy Dinge, die mir fehlen würden. Der Blick vom Schlafsaalfenster auf die Wälder, der Hudson River in der Ferne, der Duft der Fichten. Grover würde mir fehlen. Er war ein guter Freund gewesen, wenn er auch ein wenig seltsam war. Ich fragte mich besorgt, wie er ohne mich das kommende Schuljahr überleben sollte.
Und der Lateinunterricht würde mir fehlen – Mr Brunners verrückte Wettbewerbe und seine Überzeugung, dass ich gute Leistungen erbringen könnte.
Als die Examenswoche näher rückte, büffelte ich nur für die Lateinklausur. Ich hatte nicht vergessen, dass Mr Brunner mir gesagt hatte, für mich sei das ein lebenswichtiges Thema. Ich wusste nicht, warum, aber inzwischen glaubte ich ihm.
Am Abend vor der Klausur war ich so frustriert, dass ich mein Lexikon der griechischen Mythologie quer durch den Schlafsaal schleuderte. Die Wörter begannen von der Seite zu rutschen, sie wirbelten vor meinen Augen hin und her, die Buchstaben fuhren Achten wie mit einem Skateboard. Es war einfach unmöglich, sich den Unterschied zwischen Chiron und Charon oder zwischen Polydektes und Polydeukes zu merken. Und die Konjugation der lateinischen Verben? Vergesst es.
Ich lief im Zimmer hin und her und hatte das Gefühl, dass unter meinem Hemd Ameisen herumkrochen.
Ich dachte an Mr Brunners ernste Miene, an seine tausend Jahre alten Augen. Ich werde von dir nur das Beste akzeptieren, Percy Jackson.
Ich holte tief Luft. Dann hob ich das Lexikon auf.
Ich hatte noch nie einen Lehrer um Hilfe gebeten. Aber wenn ich Mr Brunner fragte, würde er mir vielleicht ein paar Tipps geben. Und ich könnte mich schon mal für die miese Note entschuldigen, die ich in seiner Klausur fabrizieren würde. Ich wollte ihn nicht in dem Glauben zurücklassen, ich hätte es nicht versucht.
Ich ging nach unten zu den Arbeitszimmern der Lehrer. Die meisten waren dunkel und leer, aber Mr Brunners Tür stand offen, das Licht aus dem Fenster seiner Tür fiel in den Gang.
Ich war drei Schritte von der Türklinke entfernt, als ich aus dem Zimmer Stimmen hörte. Mr Brunner stellte eine Frage. Eine Stimme, die einwandfrei Grover gehörte, sagte: »… Sorgen um Percy, Sir.«
Ich erstarrte.
Ich lausche sonst nicht an Türen, aber ich wette, ihr würdet auch zuhören, wenn euer bester Freund sich mit einem Erwachsenen über euch unterhält.
Ich schlich mich näher an die Tür.
»… allein in diesem Sommer«, sagte Grover gerade. »Ich meine, eine Wohlgesinnte hier in der Schule! Jetzt wissen wir es mit Sicherheit und sie wissen es auch.«
»Wir würden alles nur noch schlimmer machen, wenn wir ihn zur Eile antrieben«, sagte Mr Brunner. »Der Junge muss erst noch reifer werden.«
»Aber vielleicht hat er keine Zeit mehr. Die Sommersonnenwende ist Stichtag und …«
»Wir müssen ohne ihn entscheiden, Grover. Soll er seine Unwissenheit genießen, solange das noch möglich ist.«
»Sir, er hat sie gesehen …«
»Einbildung«, sagte Mr Brunner eindringlich. »Die Undurchsichtigkeit des Ganzen wird ihn davon überzeugen.«
»Sir, ich … ich darf nicht noch einmal meine Pflicht vernachlässigen.« Grovers Stimme bebte. »Sie wissen, was das bedeuten würde.«
»Du hast deine Pflicht nicht vernachlässigt«, sagte Mr Brunner freundlich. »Ich hätte sie gleich durchschauen müssen. Aber jetzt wollen wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie wir Percy bis zum nächsten Herbst am Leben erhalten können …«
Das Lexikon der griechischen Mythologie rutschte mir aus der Hand und knallte auf den Boden.
Mr Brunner verstummte.
Mit hämmerndem Herzen hob ich das Buch auf und schlich rückwärts den Gang entlang.
Ein Schatten glitt über das bunte Glas in Mr Brunners Arbeitszimmertür, der Schatten von etwas viel Größerem als meinem an den Rollstuhl gefesselten Lehrer, etwas, das dem Bogen eines Schützen zum Verwechseln ähnlich sah.
Ich öffnete die nächstbeste Tür und verschwand in einem Zimmer.
Einige Sekunden darauf hörte ich ein langsames Klapper-di-klapp, wie von mit Stoff umwickelten Holzklötzen, und dann schien direkt vor der Tür ein Tier herumzuschnüffeln. Eine große dunkle Gestalt blieb vor dem Türfenster stehen und ging endlich weiter.
Ein Bächlein aus Schweißtropfen lief über meinen Nacken.
Irgendwo auf dem Gang hörte ich Mr Brunner. »Nichts«, murmelte er. »Seit der Wintersonnenwende bin ich mit den Nerven zu Fuß.«
»Ich auch«, sagte Grover. »Aber ich hätte schwören können …«
»Geh wieder auf dein Zimmer«, sagte Mr Brunner zu ihm. »Morgen hast du einen langen Tag voller Klausuren.«
»Erinnern Sie mich bloß nicht daran.«
Das Licht erlosch.
Ich wartete in der Dunkelheit, eine Ewigkeit, wie mir schien.
Endlich schlüpfte ich hinaus auf den Gang und ging nach oben in den Schlafsaal.
Grover lag auf seinem Bett und büffelte Latein, als ob er den ganzen Abend nichts anderes getan hätte.
»Hallo«, sagte er und sah mich mit roten Augen an. »Meinst du, du schaffst die Klausur?«
Ich gab keine Antwort.
»Du siehst schrecklich aus.« Er runzelte die Stirn. »Ist irgendwas passiert?«
»Bin nur … müde.«
Ich drehte mich um, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte, und tat so, als wollte ich einschlafen.
Ich begriff nicht, was ich da gerade gehört hatte. Ich hätte gern geglaubt, dass ich mir das alles nur einbildete.
Aber eins stand fest: Grover und Mr Brunner redeten hinter meinem Rücken über mich. Und sie glaubten, dass mir irgendeine Gefahr drohte.
Am nächsten Nachmittag kam ich aus der dreistündigen Lateinklausur und meine Augen trieften von den vielen griechischen und römischen Namen, die ich falsch geschrieben hatte. Da rief Mr Brunner mich noch einmal herein.
Einen Moment lang hatte ich Angst, er könnte herausgefunden haben, dass ich ihn am Vorabend belauscht hatte, aber das schien nicht der Fall zu sein.
»Percy«, sagte er. »Nimm es dir nicht so zu Herzen, dass du Yancy verlassen musst. Es ist … es ist besser so.«
Er hörte sich freundlich an, aber seine Worte waren mir doch peinlich. Obwohl er leise sprach, konnten die anderen, die gerade mit der Klausur fertig wurden, ihn hören. Nancy Bobofit feixte und machte mit dem Mund spöttische kleine Kussbewegungen.
Ich murmelte: »Schon gut, Sir.«
»Ich meine …« Mr Brunner rollte seinen Stuhl vor und zurück und schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. »Das ist nicht der richtige Ort für dich. Es war nur eine Frage der Zeit.«
Meine Augen brannten.
Hier erzählte mir mein Lieblingslehrer vor den Ohren der ganzen Klasse, dass ich nicht gut genug sei. Nachdem er das ganze Schuljahr behauptet hatte, an mich zu glauben, gab er jetzt zu, dass ich den Rausschmiss verdient hätte.
»Na gut«, sagte ich zitternd.
»Nein, nein«, sagte Mr Brunner. »Ach, verflixt noch mal. Was ich zu sagen versuche … Du bist nicht normal, Percy. Das ist kein Grund zur …«
»Danke«, platzte es aus mir heraus. »Vielen Dank, Sir, dass Sie mich daran erinnern.«
»Percy …«
Aber ich war schon nicht mehr da.
Am letzten Schultag stopfte ich meine Klamotten in meinen Koffer.
Die anderen Jungs juxten herum und redeten über ihre Ferienpläne. Einer würde in der Schweiz wandern gehen. Ein anderer wollte für einen Monat auf Karibikkreuzfahrt. Sie waren Problemjugendliche wie ich, aber sie waren reiche Problemjugendliche. Ihre Papis waren Geschäftsführer oder Botschafter oder Promis. Ich war ein Niemand und kam aus einer Familie von Niemanden.
Sie fragten mich, was ich im Sommer machen würde, und ich sagte, ich wollte zurück in die Stadt.
Was ich ihnen nicht sagte, war, dass ich mir einen Sommerjob suchen müsste. Ich würde Hunde ausführen oder Zeitschriftenabos verkaufen und mir in meiner Freizeit darüber den Kopf zerbrechen, wo ich eine neue Schule für den Herbst finden würde.
»Ach«, sagte ein Typ. »Klingt klasse.«
Dann redeten sie weiter, als ob es mich niemals gegeben hätte.
Der Einzige, bei dem es mir vor dem Abschied grauste, war Grover, aber dann stellte sich heraus, dass das nicht nötig gewesen wäre. Er wollte mit demselben Bus wie ich nach Manhattan fahren und da saßen wir wieder zusammen, unterwegs in die Stadt.
Die ganze Busfahrt über starrte Grover nervös den Mittelgang und die übrigen Fahrgäste an. Mir ging auf, dass er immer nervös und fahrig war, wenn wir Yancy verließen. Er schien mit irgendeinem Unglück zu rechnen. Bisher hatte ich angenommen, er habe Angst davor, schikaniert zu werden. Aber hier im Bus war niemand, der ihn schikanieren könnte.
Endlich hielt ich es nicht mehr aus.
Ich fragte: »Hältst du Ausschau nach Wohlgesinnten?«
Grover wäre fast an die Decke gegangen. »Wa… wovon redest du?«
Ich gestand, dass ich in der Nacht vor der Klausur ihn und Mr Brunner belauscht hatte.
Grovers Augenlider zuckten. »Wie viel hast du gehört?«
»Ach … nicht viel. Was bedeutet das mit der Sommersonnenwende als Stichtag?«
Er wand sich. »Hör mal, Percy … Ich hab mir einfach Sorgen um dich gemacht, verstehst du? Ich meine, wo du Halluzinationen von dämonischen Mathelehrerinnen hast …«
»Grover …«
»Und ich habe Mr Brunner gesagt, dass du vielleicht übermäßig unter Stress stehst. Es gibt schließlich gar keine Mrs Dodds und …«
»Grover, du bist ein richtig mieser Lügner.«
Seine Ohren wurden rosa.
Dann fischte er eine schmuddelige Visitenkarte aus seiner Hemdtasche. »Behalt die einfach, ja? Falls du mich in diesem Sommer irgendwann brauchst.«
Die Karte war in Schnörkelschrift bedruckt, der pure Mord für meine legasthenischen Augen, aber endlich konnte ich so ungefähr Folgendes lesen:
Grover Underwood – Hüter
Half-Blood Hill
Long Island, New York
(800)009–0009
»Was ist Half…«
»Sag das nicht laut«, keuchte er. »Das ist meine … ähem, Sommeradresse.«
Mein Herz wurde schwer. Grover hatte ein Sommerhaus. Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass er so reich wie die anderen in Yancy sein könnte.
»Na gut«, sagte ich düster. »Falls ich, also falls ich dein Landhaus besuchen will.«
Er nickte. »Oder … oder wenn du mich brauchst.«
»Warum sollte ich dich brauchen?«
Das klang gröber, als es gemeint gewesen war.
Grover errötete bis hinunter zu seinem Adamsapfel. »Hör mal, Percy, Tatsache ist, ich … ich muss dich sozusagen beschützen.«
Ich starrte ihn an.
Das ganze Schuljahr hindurch war ich in Schlägereien verwickelt gewesen, um ihn vor Schikanen zu retten. Ich hatte nicht schlafen können vor Angst, dass er nächstes Jahr ohne mich zusammengeschlagen werden könnte. Aber er führte sich auf, als wäre er derjenige, der mich verteidigte.
»Grover«, sagte ich. »Und wovor genau beschützt du mich?«
Unter unseren Füßen hörten wir ein lautes, bohrendes Geräusch. Schwarzer Rauch quoll aus dem Armaturenbrett und im ganzen Bus stank es wie faule Eier. Der Fahrer fluchte und fuhr den schlingernden Bus auf den Seitenstreifen des Highways.
Nachdem er sich einige Minuten lang mit Klappern und Klirren am Motor zu schaffen gemacht hatte, verkündete der Fahrer, dass wir aussteigen müssten. Grover und ich kletterten mit allen anderen Fahrgästen nach draußen.
Wir befanden uns irgendwo auf offener Strecke – es war keine Gegend, die man sich merken würde, wenn man dort nicht eine Panne hatte. Auf unserer Straßenseite gab es nur Ahornbäume und Abfall, der aus vorüberfahrenden Autos geworfen worden war. Auf der anderen Seite, hinter vier in der Nachmittagshitze flirrenden Fahrspuren, stand eine altmodische Obstbude.
Das Obst, das da verkauft wurde, sah richtig gut aus: überquellende Kisten mit blutroten Kirschen und Äpfeln, Walnüssen und Aprikosen und Apfelweinflaschen in einem mit Eis gefüllten Holzbottich. Es gab keine Kundschaft, es gab nur drei alte Damen, die in Schaukelstühlen im Schatten der Ahornbäume saßen und das größte Paar Socken strickten, das ich je gesehen hatte.
Also, es waren Socken, groß wie Pullover, aber es waren einwandfrei Socken. Die Frau rechts strickte die eine Socke. Die Frau links strickte die andere. Die Frau in der Mitte hatte einen riesigen Korb voll elektrisch-blauem Garn auf dem Schoß.
Alle drei sahen uralt aus, sie hatten bleiche, verschrumpelte Gesichter, silberne, mit schwarzen Kopftüchern nach hinten gebundene Haare und knochige Arme, die aus verschossenen Baumwollkleidern ragten.
Das Seltsamste war, dass sie mich alle anzuschauen schienen.
Ich blickte zu Grover hinüber, um eine Bemerkung darüber zu machen, und sah, dass sein Gesicht leichenblass geworden war. Seine Nase zuckte.
»Grover?«, fragte ich. »He, Mann.«
»Sag mir, dass sie dich nicht ansehen. Aber das tun sie. Oder?«
»Ja. Komisch, was? Glaubst du, die Socken würden mir passen?«
»Das ist nicht witzig, Percy. Das ist überhaupt nicht witzig.«
Die alte Dame in der Mitte zog eine riesige Schere hervor – golden und silbern und lang wie eine Schafschere. Ich hörte, wie Grover den Atem anhielt.
»Wir steigen wieder in den Bus«, sagte er zu mir. »Los.«
»Was?«, fragte ich. »Da drinnen sind tausend Grad.«
»Komm schon.« Er öffnete die Tür und stieg ein, ich blieb jedoch stehen.
Die alten Damen starrten mich noch immer von der anderen Straßenseite her an. Die in der Mitte zerschnitt den Faden und ich hätte schwören können, dass ich das über die vier Fahrspuren hinweg gehört hatte. Ihre beiden Freundinnen rollten die elektrisch-blauen Socken auf und ich fragte mich, für wen die wohl bestimmt sein könnten, für Sasquatch oder Godzilla.
Hinten am Bus riss der Fahrer ein riesiges rauchendes Metallteil aus dem Motor. Der Bus bebte und der Motor erwachte brüllend zum Leben.
Die Fahrgäste jubelten.
»Ja, verdammt«, schrie der Fahrer. Er schlug mit seinem Hut gegen den Bus. »Und jetzt alle wieder an Bord!«
Als wir wieder losfuhren, hatte ich das Gefühl, Fieber zu haben, wie bei einer Grippe.
Grover sah nicht viel besser aus. Er zitterte und seine Zähne klapperten.
»Grover?«
»Ja.«
»Was verheimlichst du mir?«
Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Percy, was hast du da vorhin an der Obstbude gesehen?«
»Du meinst die alten Damen? Was ist denn mit denen, Mann? Die sind nicht wie … Mrs Dodds, oder?«
Seine Miene war schwer zu deuten, aber ich hatte den Eindruck, dass diese Obstverkäuferinnen etwas viel, viel Schlimmeres waren als Mrs Dodds. Er sagte: »Erzähl mir einfach, was du gesehen hast.«
»Die in der Mitte hat eine Schere hervorgezogen und das Garn durchgeschnitten.«
Er schloss die Augen und bewegte seine Finger, wie um sich zu bekreuzigen, aber es war kein Kreuzzeichen. Es war etwas anderes, etwas noch Älteres.
Er sagte: »Du hast gesehen, wie sie den Faden durchtrennt hat.«
»Ja. Na und?« Aber noch während ich es sagte, wusste ich, dass es sehr wichtig gewesen war.
»Das kann einfach nicht sein«, murmelte Grover. Er fing an, an seinem Daumen zu nagen. »Ich will nicht, dass es wieder so kommt wie beim letzten Mal.«
»Wie beim letzten Mal?«
»Immer in der 6. Klasse. Darüber kommen sie nie hinaus.«
»Grover«, sagte ich, denn jetzt machte er mir wirklich Angst. »Wovon redest du?«
»Lass mich dich vom Busbahnhof nach Hause bringen. Versprich mir das.«
Die Bitte kam mir seltsam vor, aber ich sagte zu.
»Ist das so eine Art Aberglaube?«, fragte ich.
Keine Antwort.
»Grover – das Fadendurchtrennen. Bedeutet das, dass jemand sterben muss?«
Er starrte mich verzweifelt an, als überlegte er sich schon, welche Blumen ich am liebsten auf meinem Sarg hätte.
Grover verliert überraschend seine Hose
Und jetzt die Beichte: Ich ließ Grover sitzen, sowie wir den Busbahnhof erreicht hatten.
Ich weiß, ich weiß. Das war gemein. Aber Grover machte mich einfach fertig. Er starrte mich an wie einen Toten, murmelte: »Warum passiert das immer wieder?«, und: »Warum muss es immer in der 6. Klasse sein?«
Und wann immer er sich aufregte, drehte Grovers Blase durch, deshalb war ich gar nicht überrascht, als er mich, kaum waren wir aus dem Bus gestiegen, bat, auf ihn zu warten, und dann zu den Toiletten wetzte. Aber statt zu warten, holte ich meinen Koffer, lief nach draußen und setzte mich ins erstbeste Taxi.
»Ecke East One Hundred and Fourth und York«, sagte ich dem Fahrer.
Kurz etwas über meine Mutter, ehe ihr sie kennenlernt.
Sie heißt Sally Jackson, und sie ist der beste Mensch auf der Welt, was meine Theorie bestätigt, dass die besten Menschen das größte Pech haben. Ihre Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als sie fünf war, und sie wurde von einem Onkel großgezogen, der sich kaum um sie kümmerte. Sie wollte Schriftstellerin werden und deshalb sparte sie die ganze High-School-Zeit hindurch, um dann ein College mit gutem Unterricht für Kreatives Schreiben besuchen zu können. Dann bekam ihr Onkel Krebs und sie musste im letzten Jahr von der Schule abgehen, um ihn zu pflegen. Nach seinem Tod saß sie da, ohne Geld, ohne Familie und ohne Schulabschluss.
Das einzig Gute, was ihr je passiert ist, war, dass sie meinen Vater kennengelernt hat.
Ich kann mich nicht an ihn erinnern, ich weiß nur, dass da so ein warmes Glühen war, vielleicht eine Spur seines Lächelns. Meine Mom spricht nicht gern über ihn, das macht sie traurig. Fotos von ihm hat sie nicht.
Ihr müsst wissen, dass sie nicht verheiratet waren. Sie hat mir erzählt, dass er reich und wichtig war und dass sie ihre Beziehung deshalb geheim halten mussten. Dann ging er eines Tages auf irgendeine dringende Reise über den Atlantik und kam nie zurück.
Auf See geblieben, hat meine Mom mir erzählt. Nicht tot. Auf See geblieben.
Sie hat dann allerlei Jobs angenommen und Abendkurse gemacht, um ihren Schulabschluss zu schaffen, und sie hat mich allein großgezogen. Hat sich nie beklagt, wurde nie wütend. Kein einziges Mal. Aber ich weiß, dass ich kein pflegeleichtes Kind war.
Dann hat sie Gabe Ugliano geheiratet, der in den ersten dreißig Sekunden, die wir ihn kannten, nett war und sich dann als Mistkerl von Weltklasse entpuppte. Als ich kleiner war, hab ich ihn Gabe den Stinker genannt. Tut mir leid, aber so ist es eben. Der Kerl stinkt wie schimmelige Knoblauchpizza, die in eine Turnhose gewickelt ist.
Er und ich gemeinsam haben meiner Mom das Leben ganz schön schwer gemacht. So, wie Gabe der Stinker sie behandelt hat, wie er und ich uns gefetzt haben … Also, meine Heimkehr ist da ein gutes Beispiel.
Ich betrat unsere kleine Wohnung und hoffte, dass meine Mom schon von der Arbeit nach Hause gekommen wäre. Aber im Wohnzimmer saß nur Gabe der Stinker mit seinen Kumpels beim Pokern. Der Fernseher brüllte. Auf dem Teppich lagen überall Pommes und Bierdosen.
Er schaute kaum auf, sondern nuschelte, seine Zigarre im Mund: »Da bist du ja wieder.«
»Wo ist meine Mom?«
»Bei der Arbeit«, sagte er. »Hast du Geld?«
Das war’s. Kein Willkommen zu Hause. Schön, dich zu sehen. Wie waren denn die letzten sechs Monate so für dich?
Gabe hatte zugenommen. Er sah aus wie ein Walross ohne Stoßzahn, in Kleidern von der Heilsarmee. Er hatte ungefähr drei Haare auf dem Kopf, die er sorgfältig auf seinem kahlen Schädel verteilt hatte, als ob ihn das verschönen könnte.
Er leitete den Electronics Mega Mart in Queens, aber meistens saß er zu Hause herum. Ich habe keine Ahnung, warum sie ihn nicht schon längst gefeuert hatten. Er holte einfach weiter sein Gehalt ab und gab das Geld für Zigarren aus, von denen mir schlecht wurde, und natürlich für Bier. Immer Bier. Wenn er zu Hause war, erwartete er von mir Geld für seine Pokerrunden. Das nannte er »unser Geheimnis unter Jungs«. Was bedeutete, dass er mich zu Brei schlagen würde, wenn ich meiner Mom davon erzählte.
»Ich hab kein Geld«, sagte ich.
Er hob eine schmierige Augenbraue.
Gabe konnte Geld riechen, wie ein Bluthund eben Blut riecht, und das fand ich überraschend, schließlich hätte sein eigener Gestank eigentlich alle anderen neutralisieren müssen.
»Du hast am Busbahnhof ein Taxi genommen«, sagte er. »Hast vermutlich mit einem Zwanziger bezahlt. Hast sechs oder sieben Eier zurückgekriegt. Und wer hier unter diesem Dach leben will, muss sich an den Kosten beteiligen. Hab ich Recht, Eddie?«
Eddie, der Hausmeister bei uns im Block, schaute mich mit einem Hauch von Mitgefühl an. »Hör doch auf, Gabe«, sagte er. »Der Kleine ist ja gerade erst angekommen.«
»Hab ich Recht?«, fragte Gabe noch einmal.
Eddie schaute düster in eine Schüssel mit kleinen Brezeln. Die beiden anderen Typen ließen einträchtig einen fahren.
»Schön«, sagte ich. Ich fischte ein paar Dollars aus meiner Tasche und warf das Geld auf den Tisch. »Hoffentlich verlierst du.«
»Dein Zeugnis ist gekommen, Superhirn!«, rief er hinter mir her. »Ich an deiner Stelle wäre nicht so hochnäsig.«
Ich knallte mit der Tür zu meinem Zimmer, das im Grunde gar nicht mein Zimmer war. In den Schulmonaten war es Gabes »Arbeitszimmer«. Er arbeitete dort zwar nicht, er vertiefte sich einfach nur in alte Autozeitschriften, aber er fand es wunderbar, meine Sachen in den Schrank zu stopfen, seine schmutzigen Stiefel auf meine Fensterbank zu stellen und sich ansonsten große Mühe zu geben, dass alles nach seinem widerlichen Rasierwasser und seinen Zigarren und abgestandenem Bier roch.
Ich ließ meinen Koffer auf das Bett fallen. Trautes Heim, Glück allein.
Gabes Gestank war fast schlimmer als meine Albträume von Mrs Dodds oder das Geräusch, mit dem die Obstverkäuferin den Faden durchgeschnitten hatte.
Bei diesem Gedanken kriegte ich gleich wieder weiche Knie. Mir fiel Grovers panische Miene ein – und wie ich ihm hatte versprechen müssen, mich von ihm nach Hause bringen zu lassen. Mir wurde plötzlich eiskalt. Ich hatte das Gefühl, dass irgendwer – irgendwas – nach mir Ausschau hielt und vielleicht gerade die Treppe hochkam und dabei lange, entsetzliche Krallen ausfuhr.
Dann hörte ich die Stimme meiner Mom: »Percy?«
Sie öffnete die Zimmertür und meine Angst schmolz dahin.
Meine Mutter kann dafür sorgen, dass ich mich wohl fühle, einfach indem sie ins Zimmer kommt. Ihre Augen funkeln und ändern im Licht ihre Farbe. Ihr Lächeln ist warm wie eine Decke. Sie hat in ihren langen braunen Haaren ein paar graue Strähnen, aber für mich ist sie niemals alt. Wenn sie mich ansieht, dann scheint sie alle meine guten Seiten zu sehen und keine der schlechten. Ich habe nie gehört, dass sie laut geworden ist oder zu irgendwem ein unfreundliches Wort gesagt hat, nicht einmal zu Gabe.
»Ach, Percy!« Sie drückte mich an sich. »Ich kann es nicht fassen. Du bist seit Weihnachten gewachsen.«
Ihre rot-weiß-blaue Sweet-on-America-Uniform duftete nach allem, was auf der Welt wunderbar ist: Schokolade, Lakritz und was sie in dem Süßigkeitenkiosk in der Grand Central Station sonst noch verkaufte. Sie hatte mir eine riesige Tüte voller »Gratisproben« mitgebracht, das machte sie immer, wenn ich nach Hause kam.
Wir setzten uns nebeneinander auf die Bettkante. Während ich mich über die Blaubeergummischnecken hermachte, fuhr sie mir mit der Hand durch die Haare und wollte alles hören, was nicht in meinen Briefen gestanden hatte. Meinen Rausschmiss erwähnte sie mit keinem Wort. Der schien sie nicht weiter zu interessieren. Aber war alles in Ordnung mit mir? Ging es ihrem Kleinen wirklich gut?
Ich sagte: »Du drückst mich ja tot« und »Hände weg« und so, aber insgeheim freute ich mich ganz schrecklich darüber, sie zu sehen.
Aus dem Nachbarzimmer brüllte Gabe: »He, Sally, wie wär’s mit etwas Bohnendip, hä?«
Ich knirschte mit den Zähnen.
Meine Mom ist die liebste Frau auf der ganzen Welt. Sie müsste mit einem Millionär verheiratet sein, nicht mit einem Mistkerl wie Gabe.
Ihr zuliebe versuchte ich, mich ziemlich fröhlich anzuhören, was meine letzten Tage in der Yancy Academy anging. Ich behauptete, dass der Rausschmiss mir nicht so schrecklich viel ausmachte. Ich hatte doch immerhin fast ein ganzes Jahr durchgehalten. Ich hatte ein paar neue Freunde gefunden. In Latein war ich ziemlich gut geworden. Und ehrlich, die Prügeleien waren nicht so schlimm gewesen, wie der Rektor behauptet hatte. Die Yancy Academy hatte mir gefallen. Wirklich. So, wie ich es erzählte, klang das Jahr richtig gut. Fast hätte ich mir selbst geglaubt. Ich redete immer weiter, über Grover und Mr Brunner. Plötzlich kam mir nicht einmal mehr Nancy Bobofit so schrecklich vor.
Bis ich zu dem Ausflug ins Museum kam.
»Was?«, fragte meine Mom. Ihre Blicke zupften an meinem Gewissen und versuchten, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. »Hat dir da irgendwas Angst gemacht?«
»Nein, Mom.«
Ich fand es schrecklich, sie anzulügen. Ich hätte ihr so gern von Mrs Dodds und den drei alten Damen mit dem Faden erzählt, aber ich dachte, das würde sich blödsinnig anhören.
Sie schob die Lippen vor. Sie wusste, dass ich ihr etwas verschwieg, aber sie bedrängte mich nicht.
»Ich hab eine Überraschung für dich«, sagte sie. »Wir fahren an den Strand.«
Ich machte große Augen. »Montauk?«
»Drei Nächte – in derselben Hütte.«
»Wann?«
Sie lächelte. »Ich muss mich nur noch schnell umziehen.«
Ich konnte es nicht fassen. Meine Mom und ich waren zwei Sommer nicht mehr in Montauk gewesen, weil Gabe behauptete, wir hätten nicht genug Geld.
Gabe erschien in der Tür und knurrte: »Bohnendip, Sally, hast du mich nicht gehört?«
Ich hätte ihm gern eine gescheuert, aber ich fing den Blick meiner Mom auf und wusste, dass sie mir ein Geschäft vorschlug: Sei jetzt erst mal nett zu Gabe. Nur bis wir nach Montauk aufbrechen können. Und dann sind wir ja weg von hier.
»Ich war schon unterwegs, Schatz«, sagte sie zu Gabe. »Wir mussten nur kurz über unseren Ausflug reden.«
Gabe kniff die Augen zusammen. »Den Ausflug? Soll das heißen, dass das wirklich dein Ernst war?«
»Ich hab es ja gewusst«, knurrte ich. »Er lässt uns nicht weg.«
»Natürlich tut er das«, sagte meine Mom gelassen. »Dein Stiefvater macht sich nur Sorgen wegen des Geldes. Das ist alles. Außerdem«, fügte sie hinzu, »muss Gabriel sich nicht mit Bohnendip zufriedengeben. Ich werde ihm genug Sieben-Lagen-Dip für das ganze Wochenende machen. Guacamole. Sour Cream. Alles.«
Das besänftigte Gabe ein wenig. »Und das Geld für euren Ausflug … das nimmst du also aus deiner Kleiderkasse, ja?«
»Sicher, Schatz«, sagte meine Mutter.
»Und du fährst mit meinem Wagen nur direkt hin und zurück, sonst aber nirgendwohin.«
»Wir werden sehr vorsichtig sein.«
Gabe kratzte sein Doppelkinn. »Vielleicht, wenn du dich mit diesem Superdip beeilst … und wenn der Kleine sich dafür entschuldigt, dass er meine Pokerpartie unterbrochen hat.«
Vielleicht, wenn ich dich in deine Weichteile trete, dachte ich. Und wenn du dann eine Woche lang Sopran singen kannst.
Aber der Blick meiner Mutter bat mich, ihn nicht zu reizen.
Warum ließ sie sich von diesem Typen so viel gefallen? Ich hätte schreien können. Was interessierte es sie denn, was er dachte?
»Tut mir leid«, murmelte ich. »Tut mir wirklich leid, dass ich deine unvorstellbar wichtige Pokerrunde unterbrochen habe. Bitte, geh jetzt sofort weiterspielen.«
Gabe kniff die Augen zusammen. Vermutlich versuchte sein Minigehirn, in meinen Worten irgendeinen Sarkasmus zu entdecken.
»Na, von mir aus«, entschied er.
Er ging zurück zu den anderen.
»Danke, Percy«, sagte meine Mom. »In Montauk reden wir dann über … über das, was du mir zu erzählen vergessen hast, okay?«
Einen Moment lang glaubte ich, in ihren Augen Besorgnis zu sehen – dieselbe Furcht, die ich auf der Busfahrt bei Grover entdeckt hatte –, und auch meine Mom schien diese seltsame Kälte in der Luft wahrzunehmen.
Aber dann war ihr Lächeln wieder da und ich nahm an, dass ich mich geirrt hatte. Sie strich mir noch einmal durch die Haare und ging dann in die Küche, um Gabe seinen Superdip zu machen.
Eine Stunde darauf waren wir aufbruchbereit.
Gabe unterbrach seine Pokerpartie gerade lang genug, um zuzusehen, wie ich Moms Taschen in den Wagen wuchtete. Er jammerte und klagte die ganze Zeit darüber, dass ihm jetzt das ganze Wochenende lang ihre Kochkünste – und, schlimmer noch, sein 78er Camaro – fehlen würden.
»Nicht einen Kratzer auf meinem Wagen, Superhirn«, warnte er mich, als ich die letzte Tasche hineinhob. »Nicht den geringsten kleinen Kratzer.«
Als ob ich selber fahren würde. Ich war zwölf. Aber Gabe war das egal. Auch wenn eine Möwe auch nur den kleinsten Klecks auf den Autolack fallen ließe, dann würde er mich dafür verantwortlich machen.
Während ich zusah, wie er zum Wohnblock zurückschlurfte, wurde ich so wütend, dass ich etwas tat, was ich nicht erklären kann. Als Gabe die Tür erreichte, machte ich die Handbewegung, die Grover im Bus gemacht hatte, eine Art Geste, die das Böse abwehren soll: Ich hielt eine Hand gekrümmt über mein Herz und schob sie dann in Gabes Richtung. Die Tür knallte dermaßen hart zu, dass sie ihn am Hintern traf und wie aus einer Kanone geschossen die Treppe hochfliegen ließ. Vielleicht lag es nur am Wind, vielleicht war mit den Türangeln etwas nicht in Ordnung – ich blieb nicht mehr lange genug, um das herausfinden zu können.
Ich stieg in den Camaro und bat meine Mom, Gas zu geben.
Die Hütte, die wir schon häufiger gemietet hatten, lag am Südufer, ziemlich weit oben an der Spitze von Long Island. Sie sah aus wie eine halb in den Dünen versunkene kleine pastellfarbene Schachtel mit verschossenen Vorhängen. Immer gab es Sand im Bettzeug und Spinnen in den Schränken und meistens war das Meer zu kalt zum Schwimmen.
Ich fand es wunderbar dort.
Wir waren schon hergekommen, als ich noch ein Baby gewesen war. Meine Mom sogar noch länger. Sie hatte es nie wirklich gesagt, aber ich wusste, warum dieser Strand ihr so wichtig war. Hier hatte sie meinen Dad kennengelernt.
Als wir uns Montauk näherten, schien sie immer jünger zu werden, Jahre der Sorge und der Arbeit verschwanden aus ihrem Gesicht. Ihre Augen nahmen die Farbe des Meeres an.
Wir trafen bei Sonnenuntergang ein, rissen alle Fenster auf und machten wie immer erst mal alles sauber. Dann liefen wir über den Strand, fütterten die Möwen mit blauen Maischips und aßen blaue Gummibärchen, blaues Salzwassertoffee und die vielen anderen Gratisproben, die meine Mom aus dem Laden mitgebracht hatte.
Ich sollte das mit den blauen Süßigkeiten wohl erklären.
Gabe hatte meiner Mom einmal gesagt, blaue Süßigkeiten gebe es nicht. Darüber stritten sie sich, was mir damals reichlich unwichtig vorkam. Aber seither hat meine Mom sich immer wieder alle Mühe gegeben, blau zu essen. Sie backte blaue Geburtstagskuchen. Sie mixte Blaubeersmoothies. Sie kaufte Tortillachips aus Blaumais und brachte blaue Bonbons aus dem Laden mit. Und das – sowie die Tatsache, dass sie ihren eigenen Namen behielt, Jackson, statt sich Mrs Ugliano zu nennen – bewies doch, dass Gabe sie nicht total eingewickelt hatte. Sie hatte eine rebellische Seite, so wie ich.
Als es dunkel wurde, machten wir ein Feuer. Wir brieten Hot Dogs und Marshmallows. Mom erzählte mir von früher, als sie noch klein gewesen war, bevor ihre Eltern bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Sie erzählte von den Büchern, die sie irgendwann schreiben wollte, wenn sie genug Geld gespart hätte, um im Süßigkeitenkiosk aufzuhören.
Endlich fasste ich mir ein Herz und brachte sie auf das Thema, an das ich immer denken musste, wenn wir nach Montauk kamen: meinen Vater. Mom traten Tränen in die Augen. Ich nahm an, sie werde dasselbe sagen wie immer, aber ich bekam es nie über, es zu hören.
»Er war lieb, Percy«, sagte sie. »Groß, gut aussehend und mächtig. Aber auch sanft. Du hast seine dunklen Haare, weißt du, und seine grünen Augen.«
Mom fischte ein blaues Gummibärchen aus der Tüte. »Ich wünschte, er könnte dich sehen, Percy. Er wäre so stolz.«
Ich hätte gern gewusst, wieso sie das meinte. Was war denn so toll an mir? Ein legasthenischer, hyperaktiver Junge mit einem miesen Zeugnis, der soeben von der sechsten Schule in sechs Jahren geworfen worden war.
»Wie alt war ich?«, fragte ich. »Ich meine … als er gegangen ist.«
Sie schaute in die Flammen. »Er war nur einen Sommer bei mir, Percy. Hier an diesem Strand. In dieser Hütte.«
»Aber … er hat mich doch als Baby gekannt.«
»Nein, mein Schatz. Er wusste, dass ich ein Baby erwartete, aber er hat dich nie gesehen. Er musste uns noch vor deiner Geburt verlassen.«
Ich versuchte, diese Auskunft mit der Tatsache in Übereinstimmung zu bringen, dass ich doch glaubte mich zu erinnern … an irgendetwas, das mit meinem Vater zu tun hatte. Ein warmes Glühen. Ein Lächeln.
Ich war immer davon ausgegangen, dass er mich als Baby gekannt hatte. Meine Mom hatte das nie so gesagt, aber trotzdem hatte ich das Gefühl gehabt, dass es so sein musste. Und jetzt zu hören, dass er mich nie auch nur gesehen hatte …
Ich war wütend auf meinen Vater. Vielleicht war das blöd von mir, aber ich war sauer auf ihn, weil er auf diese Seereise gegangen war, weil er meine Mom nicht vorher geheiratet hatte. Er hatte uns verlassen und jetzt saßen wir da mit Gabe Ugliano.
»Wirst du mich wieder wegschicken?«, fragte ich sie. »Auf ein anderes Internat?«
Sie zog ein Marshmallow vom Feuer.
»Ich weiß es nicht, mein Schatz.« Ihre Stimme klang belegt. »Ich glaube … ich glaube, wir werden etwas unternehmen müssen.«
»Weil du mich nicht im Haus haben willst?« Ich bereute diese Frage, sowie ich sie ausgesprochen hatte.
Meiner Mutter traten wieder Tränen in die Augen. Sie nahm meine Hand und drückte sie ganz fest. »Aber Percy, nein. Ich … ich muss das tun, Schatz. Deinetwegen. Ich muss dich wegschicken.«
Ihre Worte erinnerten mich daran, was Mr Brunner gesagt hatte: dass es besser für mich wäre, Yancy zu verlassen.
»Weil ich nicht normal bin«, sagte ich.
»Bei dir klingt das wie etwas Schlechtes, Percy. Aber du weißt eben nicht, wie wichtig du bist. Ich hatte gedacht, die Yancy Academy wäre weit genug entfernt. Ich dachte, da wärst du endlich in Sicherheit.«
»In Sicherheit wovor?«
Sie schaute mir in die Augen und eine Flut von Erinnerungen brach über mich herein – an all die seltsamen, beängstigenden Dinge, die mir jemals passiert waren und von denen ich einige zu vergessen versucht hatte.
In der dritten Klasse hatte mir auf dem Schulhof ein Mann in einem schwarzen Trenchcoat aufgelauert. Als die Lehrer ihm mit der Polizei drohten, war er knurrend weggegangen, und niemand hatte mir geglaubt, dass er unter seinem breitkrempigen Hut nur ein Auge mitten auf der Stirn gehabt hatte.
Und davor – das war eine ganz frühe Erinnerung. Ich ging in den Kindergarten und eine Kindergärtnerin hatte mich zum Schlafen in ein Bett gelegt, in das eine Schlange geschlüpft war. Meine Mom schrie wie am Spieß, als sie mich holen kam und ich mit einem schlaffen, schuppigen Seil spielte, das ich auf irgendeine Weise mit meinen Patschhändchen erwürgt hatte.
Auf jeder Schule war etwas Unheimliches passiert, etwas Bedrohliches, und deshalb hatte ich wechseln müssen.
Ich wusste, dass ich meiner Mom von den drei alten Damen vor der Obstbude erzählen müsste und von Mrs Dodds im Museum, von meiner seltsamen Halluzination, dass ich meine Mathelehrerin mit einem Schwert zu Staub zerschlagen hatte. Aber ich brachte es einfach nicht über mich, ihr das alles zu sagen. Ich hatte das komische Gefühl, dass diese Mitteilungen unseren Aufenthalt in Montauk beenden würden, und das wollte ich nicht.
»Ich habe versucht, dich so nah bei mir zu behalten, wie das überhaupt nur möglich war«, sagte meine Mom. »Sie haben mir gesagt, dass das ein Fehler wäre. Aber es gibt nur eine andere Möglichkeit, Percy – den Ort, von dem dein Vater gesagt hat, ich sollte dich hinschicken. Und das … das bringe ich einfach nicht über mich.«
»Mein Vater wollte mich auf eine ganz besondere Schule schicken?«
»Keine Schule«, sagte sie leise. »Ein Sommercamp.«
In meinem Kopf drehte sich alles. Warum sollte mein Vater, der nicht einmal lange genug geblieben war, um meine Geburt zu erleben, mit meiner Mutter über ein Sommercamp geredet haben? Und wenn das so wichtig war, warum hatte sie es bisher nie erwähnt?
»Es tut mir leid, Percy«, sagte sie, als sie meinen Blick sah. »Aber ich kann nicht darüber sprechen. Ich – ich könnte dich einfach nicht dorthin schicken. Das wäre vielleicht ein Abschied für immer.«
»Für immer? Aber wenn es nur ein Sommercamp ist …«
Sie drehte sich zum Feuer und ich konnte ihr ansehen, dass sie in Tränen ausbrechen würde, wenn ich ihr jetzt noch weitere Fragen stellte.
In dieser Nacht hatte ich einen lebhaften Traum.
Am Strand wütete ein Sturm und zwei wunderschöne Tiere, ein weißes Pferd und ein goldener Adler, versuchten sich in der Brandung gegenseitig umzubringen. Der Adler glitt zu Boden und zerfetzte die Pferdeschnauze mit seinen langen Klauen. Das Pferd bäumte sich auf und versetzte den Adlerflügeln Tritte. Während sie kämpften, grollte es in der Erde und eine gewaltige Stimme irgendwo im Erdinneren feuerte die Tiere zu einem noch härteren Kampf an.
Ich rannte auf sie zu, ich wusste, dass ich sie daran hindern musste, sich gegenseitig zu töten, aber ich bewegte mich in Zeitlupe. Ich wusste, dass ich zu spät kommen würde. Ich sah den Adler wieder herabstoßen, sein Schnabel zielte auf die weit aufgerissenen Augen des Pferdes, und ich schrie: »Nein!«
Ich fuhr im Bett hoch.
Draußen stürmte es wirklich, ein Sturm von einer Stärke, die Bäume umknickt und Häuser einstürzen lässt. Am Strand gab es kein Pferd und keinen Adler, es gab nur Blitze, die ein trügerisches Licht verströmten und meterhohe Wellen, die wie Kanonendonner gegen die Dünen anrannten.
Vom nächsten Donnerschlag wurde meine Mom geweckt. Sie setzte sich mit großen Augen auf und sagte: »Hurrikan.«
Ich wusste, dass das nicht sein konnte. So früh im Sommer gab es auf Long Island keine Hurrikane. Aber das schien das Meer vergessen zu haben. Durch das Brüllen des Windes hörte ich aus der Ferne ein dumpfes Grollen, ein wütendes, gequältes Geräusch, bei dem mir die Haare zu Berge standen.
Und dann war da ein viel näheres Geräusch, wie Holzhämmer, die auf den Sand schlugen. Und eine verzweifelte Stimme – jemand schrie und hämmerte an unsere Haustür.
Meine Mutter sprang im Nachthemd aus dem Bett und riss den Riegel zurück.
Draußen im strömenden Regen stand Grover. Aber er war … er war irgendwie doch nicht Grover.
»Ganze Nacht gesucht«, keuchte er. »Was hast du dir denn dabei gedacht?«
Meine Mutter schaute mich voller Entsetzen an. Nicht wegen Grover, sondern, weil er überhaupt gekommen war.
»Percy«, fragte sie und sie musste brüllen, um durch den Regen hindurch gehört zu werden, »was ist in der Schule passiert? Warum hast du mir das nicht gesagt?«
Ich stand wie erstarrt und glotzte Grover an. Ich begriff nicht, was ich da sah.
»O Zeu kai alloi theoi!«, schrie er. »Es ist gleich hinter mir. Hast du es ihr denn nicht gesagt?«
Ich war zu erschüttert, um zu registrieren, dass er soeben auf Altgriechisch geflucht und dass ich ihn sehr gut verstanden hatte. Ich war zu erschüttert, um mich zu fragen, wie Grover mitten in der Nacht hierhergelangt war. Denn Grover trug keine Hose – und dort, wo seine Beine hätten sein müssen … wo seine Beine hätten sein müssen …
Meine Mom schaute mich streng an und sagte in einem Tonfall, den ich noch nie von ihr gehört hatte: »Percy. Raus damit!«
Ich stammelte etwas über die alten Damen am Obststand und über Mrs Dodds und meine Mom starrte mich an. Ihr Gesicht sah im Licht des Blitzes totenbleich aus.
Sie packte ihre Handtasche, warf mir meine Regenjacke zu und sagte: »Zum Auto. Alle beide. Los!«
Grover rannte zum Camaro – nun ja, er rannte nicht direkt. Er trabte, er schüttelte sein zottiges Hinterteil und plötzlich ergab diese Geschichte von den Muskelproblemen in seinen Beinen für mich einen Sinn. Ich wusste jetzt, warum er so schnell laufen konnte und beim Gehen trotzdem hinkte.
Denn dort, wo seine Füße hätten sein sollen, waren keine Füße. Dort waren gespaltene Hufe.
Meine Mutter gibt mir Unterricht im Stierkampf
Wir jagten über dunkle Landstraßen durch die Nacht. Der Wind schlug auf den Camaro ein. Der Regen peitschte auf die Windschutzscheibe. Ich begriff nicht, wie meine Mom überhaupt irgendetwas sehen konnte, aber sie hatte die ganze Zeit ihren Fuß auf dem Gas.
Bei jedem Blitz schaute ich Grover an, der neben mir auf dem Rücksitz saß, und fragte mich, ob ich den Verstand verloren hatte oder ob er eine Art Flokati-Hose trug. Aber nein, er roch nach etwas, woran ich mich von den Ausflügen her erinnern konnte, die wir mit dem Kindergarten in den Streichelzoo gemacht hatten – nach Lanolin, nach Wolle. Er roch wie ein nasses Tier auf einem Bauernhof.
Das Einzige, was mir zu sagen einfiel, war: »Meine Mom und du … ihr kennt euch also?«
Grovers Blick flog zum Rückspiegel, obwohl es hinter uns keine Autos gab. »Nicht so ganz«, sagte er. »Ich meine, wir sind uns noch nie persönlich begegnet. Aber sie hat gewusst, dass ich dich im Auge behalte.«
»Du behältst mich im Auge?«
»Ich beobachte, was du so machst. Überzeuge mich davon, dass bei dir alles in Ordnung ist. Aber ich hab nicht nur so getan, als ob ich dein Freund wäre«, fügte er eilig hinzu. »Ich bin wirklich dein Freund.«
»Hmmm … aber was bist du denn nun genau?«
»Das spielt im Moment keine Rolle.«
»Das spielt keine Rolle? Mein bester Freund ist von der Taille abwärts ein Esel …«
Grover stieß ein scharfes, kehliges »Meck-meck-meck« aus.
Ich hatte das schon früher von ihm gehört, es aber immer für ein nervöses Lachen gehalten. Jetzt ging mir auf, dass es sich eher um ein gereiztes Meckern handelte.
»Ziege!«, schrie er.
»Was?«
»Von der Taille abwärts bin ich eine Ziege!«
»Du hast eben gesagt, dass das keine Rolle spielt.«
»Meck-meck-meck! Es gibt Satyrn, die dich wegen einer solchen Beleidigung tottrampeln würden!«
»Meine Güte. Moment. Satyrn? Du meinst wie … wie in Mr Brunners Mythen?«
»Waren diese alten Damen an der Obstbude ein Mythos, Percy? War Mrs Dodds ein Mythos?«
»Du gibst also zu, dass es eine Mrs Dodds gegeben hat.«
»Natürlich.«
»Warum hast du dann …«
»Je weniger du weißt, umso weniger Ungeheuer lockst du an«, sagte Grover, als sei das ganz selbstverständlich. »Wir werfen den Menschen Sand in die Augen. Wir hatten gehofft, du würdest die Wohlgesinnte für eine Halluzination halten. Aber das hat nichts genutzt. Du hast angefangen zu erkennen, wer du bist.«
»Wer ich bin? Moment mal, wovon redest du hier eigentlich?«
Das seltsame dumpfe Dröhnen ertönte wieder hinter uns, diesmal schien es näher zu sein. Was immer uns da jagte, war uns weiterhin auf den Fersen.
»Percy«, sagte meine Mom. »Es gibt zu viel zu erklären, und wir haben nicht genug Zeit. Wir müssen dich in Sicherheit bringen.«
»Sicherheit wovor? Wer ist da hinter mir her?«
»Ach, niemand Besonderes«, sagte Grover, der offenbar noch immer über die Sache mit dem Esel sauer war. »Nur der Herr der Toten und ein paar von seinen blutdürstigen Jüngern.«
»Grover!«
»Tut mir leid, Mrs Jackson. Könnten Sie bitte schneller fahren?«
Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was hier passierte, aber das gelang mir nicht. Ich wusste, dass es kein Traum war. Ich hatte keine Fantasie. Niemals würde ich mir etwas dermaßen Seltsames ausdenken können.
Meine Mom riss das Steuer nach links. Wir schlingerten auf eine schmalere Straße und jagten vorbei an dunklen Bauernhöfen, bewaldeten Hügeln und Plakaten, die an weißen Lattenzäunen zu »Erdbeeren selbst pflücken« einluden.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
»In das Sommerlager, von dem ich dir erzählt habe.« Die Stimme meiner Mutter klang angespannt; sie gab sich meinetwegen alle Mühe, nicht ängstlich zu klingen. »Wohin dein Vater dich schicken wollte.«
»Wo du mich nicht hinschicken wolltest.«
»Bitte, Liebling«, flehte meine Mom. »Es ist so schon schwer genug. Versuch das zu verstehen. Du bist in Gefahr.«
»Weil ein paar alte Damen Fäden zerschneiden.«
»Das waren keine alten Damen«, sagte Grover. »Das waren die Moiren. Begreifst du, was es bedeutet, dass sie vor deinen Augen aufgetaucht sind? Das tun sie nur, wenn du … wenn bald jemand sterben wird.«
»Meine Güte. Du hast du gesagt.«
»Hab ich nicht. Ich habe jemand gesagt.«
»Aber du hast du gemeint. So wie ich.«
»Ich habe du gemeint wie irgendwer oder wie man. Nicht wie du, du.«
»Jungs!«, sagte meine Mom.
Sie riss das Lenkrad nach rechts und ich konnte eine Gestalt erahnen, der sie ausgewichen war – eine dunkle, flatternde Gestalt, die sich jetzt hinter uns im Sturm verlor.
»Was war das?«, fragte ich.
»Wir sind fast da«, sagte meine Mutter und überging meine Frage. »Noch zwei Kilometer. Bitte. Bitte. Bitte.«
Ich wusste nicht, wo da war, aber ich ertappte mich dabei, dass ich mich angespannt im Wagen vorbeugte; ich wollte jetzt dort sein.
Draußen gab es nur Regen und Dunkelheit – die Art leere Landschaft, wie man sie an der Spitze von Long Island eben findet. Ich musste an Mrs Dodds denken und an den Moment, in dem sie sich in das Wesen mit den scharfen Zähnen und den Lederflügeln verwandelt hatte. Meine Glieder waren wie betäubt von dem Schock, der jetzt verspätet einsetzte. Sie war wirklich kein Mensch gewesen. Sie hatte mich umbringen wollen.
Dann dachte ich an Mr Brunner … und an das Schwert, das er mir zugeworfen hatte. Ehe ich Grover danach fragen konnte, sträubten sich mir alle Nackenhaare. Ich sah einen blendenden Blitz, hörte einen durch Mark und Bein dringenden Knall – und dann explodierte unser Wagen.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich mir schwerelos vorkam. Ich hatte das Gefühl, zerdrückt und gebraten und dabei aber abgespült zu werden.
Ich grub meine Stirn aus der Rückseite des Fahrersitzes und sagte: »Au.«
»Percy«, schrie meine Mom.
»Mir geht’s gut …«
Ich versuchte, mich von meiner Benommenheit zu befreien. Ich war nicht tot. Der Wagen war nicht wirklich explodiert. Wir waren im Straßengraben gelandet; die Türen auf der Fahrerseite steckten im Schlamm fest. Das Dach war geborsten wie eine Eierschale und der Regen strömte herein.
Ein Blitz. Das war die einzige Erklärung. Wir waren von einem Blitz von der Straße geschleudert worden. Neben mir auf der Rückbank saß ein großer, bewegungsloser Klumpen. »Grover!«
Er hing gebückt da, Blut tropfte aus seinem Mundwinkel. Ich schüttelte seine zottige Hüfte und dachte: Nein! Auch wenn du zur Hälfte ein Tier bist, du bist mein bester Freund und du darfst nicht sterben!
Er stöhnte: »Essen«, und da wusste ich, dass noch Hoffnung bestand.
»Percy«, sagte meine Mutter. »Wir müssen …« Ihre Stimme versagte.
Ich schaute mich um. Ein Blitz zeigte mir durch das mit Schlamm bespritzte Rückfenster eine Gestalt, die am Straßenrand auf uns zugerannt kam. Dieser Anblick verpasste mir eine Gänsehaut. Es war die dunkle Silhouette eines riesigen Kerls, er kam mir vor wie ein Football-Spieler. Er schien sich eine Decke über den Kopf zu halten. Sein Oberkörper war massig und zottig. Seine erhobenen Hände ließen ihn aussehen, als habe er Hörner.
Ich schluckte. »Wer ist …«
»Percy«, sagte meine Mutter mit tödlichem Ernst. »Raus aus dem Auto.«
Meine Mutter warf sich gegen die Fahrertür. Aber die steckte im Schlamm fest. Ich versuchte es bei meiner. Auch die steckte fest. Ich schaute verzweifelt zum Loch im Dach hoch. Es hätte einen Ausweg bieten können, aber die Kanten waren scharf gezackt und rauchten.
»Steig auf der anderen Seite aus«, sagte meine Mutter. »Percy, du musst rennen! Siehst du den großen Baum dahinten?«
»Was?«
Wieder leuchtete ein Blitz auf und durch das rauchende Loch im Dach sah ich den Baum, den sie gemeint hatte: eine riesige Fichte von der Größe des Weihnachtsbaums im Weißen Haus, die auf der Spitze eines nahe gelegenen Hügels aufragte.
»Das ist die Grundstücksgrenze«, sagte meine Mom. »Von dem Hügel aus siehst du unten im Tal einen großen Bauernhof. Renn darauf zu und schau dich nicht um. Ruf um Hilfe. Und bleib erst stehen, wenn du die Tür erreicht hast.«
»Mom, du kommst mit.«
Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen so traurig wie sonst nur dann, wenn sie den Ozean betrachtete.
»Nein!«, schrie ich. »Du kommst mit mir. Hilf mir, Grover zu tragen.«
»Essen«, stöhnte Grover ein wenig lauter.
Der Mann mit der Decke über dem Kopf lief weiter auf uns zu und stieß grunzende, schnaufende Geräusche aus. Als er näher kam, ging mir auf, dass er sich gar keine Decke über den Kopf halten konnte, denn seine Hände – riesige fleischige Pranken – schwenkte er beim Gehen hin und her. Es war keine Decke. Diese klobige, zottige Masse, die zu groß war, um sein Kopf sein zu können … war sein Kopf. Und diese Dinger, die aussahen wie Hörner …
»Ihm geht es nicht um uns«, sagte meine Mutter. »Er will dich. Und er kann die Grundstücksgrenze nicht überschreiten.«
»Aber …«
»Wir haben keine Zeit, Percy. Lauf. Bitte.«
Da wurde ich sauer – auf meine Mutter, auf Grover, den Ziegenbock, auf dieses Dings mit Hörnern, das langsam und zielstrebig auf uns zukam wie ein Stier.
Ich stieg über Grover hinweg und stieß die Tür auf. »Wir gehen zusammen. Los jetzt, Mom.«
»Ich hab dir doch gesagt …«
»Mom! Ich lass dich hier nicht allein! Hilf mir, Grover rauszuziehen.«
Ich wartete nicht auf ihre Antwort. Ich taumelte hinaus und zerrte Grover aus dem Wagen. Er war überraschend leicht, aber ich hätte ihn nicht weit tragen können, wenn meine Mom mir nicht zu Hilfe gekommen wäre.
Mit vereinten Kräften legten wir uns Grovers Arme über die Schultern und stolperten durch nabelhohes feuchtes Gras den Hang hoch.
Als ich mich umschaute, konnte ich das Monster zum ersten Mal deutlich sehen. Es war mehr als zwei Meter groß, und seine Arme und Beine hätten vom Cover der Zeitschrift Muskelmann stammen können – schwellende Bizepse und Trizepse und jede Menge andere Zepse, prall wie Basebälle unter von dicken Adern durchzogener Haut. Er trug nur Unterwäsche, eine strahlend weiße Unterhose, und das hätte komisch sein können, wenn da nicht seine obere Körperhälfte gewesen wäre. Struppige braune Haare wuchsen oberhalb seines Nabels und wurden zu seinen Schultern hin immer dichter. Sein Hals war eine Masse aus Muskeln und Fell unter seinem riesigen Kopf, der eine Schnauze so lang wie mein Arm hatte, dazu verrotzte Nüstern mit einem funkelnden Messingring, grausame schwarze Augen und Hörner – gewaltige schwarzweiße Hörner mit Spitzen, wie sie kein elektrischer Bleistiftspitzer herstellen könnte.
Natürlich hatte ich das Ungeheuer gleich erkannt. Es war in einer der ersten Geschichten vorgekommen, die Mr Brunner uns erzählt hatte. Aber es konnte doch unmöglich echt sein.
Ich kniff die Augen zusammen, weil mir Regen hineinlief. »Das ist …«
»Der Sohn der Pasiphaë«, sagte meine Mutter. »Wenn ich doch nur gewusst hätte, wie sehr sie deinen Tod wünschen.«
»Aber das ist ein Min…«
»Sag seinen Namen nicht«, warnte sie. »Namen haben Macht.«
Die Fichte war noch immer weit weg – mindestens hundert Meter weiter oben am Hang.
Ich schaute mich wieder um.
Der Stiermann beugte sich über unser Auto und schaute in die Fenster – aber eigentlich schaute er nicht. Es war eher ein Schnüffeln, ein Abtasten. Ich wusste nicht recht, warum er sich diese Mühe machte, wir waren doch höchstens fünfzig Meter von ihm entfernt.
»Essen?«, stöhnte Grover.
»Pssst«, sagte ich. »Mom, was macht er da? Kann er uns nicht sehen?«
»Er kann so gut wie gar nichts sehen und hören«, sagte sie. »Er orientiert sich am Geruch. Aber er wird bald merken, wo wir sind.«
Und wie auf ein Stichwort brüllte der Stiermann wütend los. Er packte Gabes Camaro an dem geborstenen Dach, das Fahrgestell ächzte und stöhnte. Dann hob er das Auto über seinen Kopf und schleuderte es auf die Straße. Es knallte auf den feuchten Asphalt und schlingerte noch ein paar hundert Meter weiter, ehe es zum Stillstand kam. Dann explodierte der Benzintank.
Nicht einen Kratzer, hatte Gabe gesagt.
Himmel.
»Percy«, sagte meine Mom. »Wenn er uns entdeckt hat, wird er angreifen. Warte bis zum letzten Moment, dann springst du beiseite – einfach zur Seite. Er kann seine Richtung nicht ändern, wenn er erst einmal losgelaufen ist. Verstehst du?«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe schon lange einen Angriff befürchtet. Ich hätte damit rechnen sollen. Es war selbstsüchtig von mir, dich in meiner Nähe zu behalten.«
»Mich in deiner Nähe zu behalten? Aber …«
Wieder brüllte der Stiermann wütend auf und kam dann den Hang hochgetrampelt.
Er hatte unsere Witterung aufgenommen.
Die Fichte war jetzt nur noch wenige Meter entfernt, aber der Hang wurde steiler und glitschiger und Grover wurde nicht leichter.
Der Stiermann kam näher. Noch ein paar Sekunden, dann würde er uns eingeholt haben.
Meine Mutter musste erschöpft sein, aber sie lud sich Grover auf die Schulter. »Los, Percy. Weg von uns! Denk daran, was ich gesagt habe!«
Ich wollte sie nicht verlassen, aber ich hatte das Gefühl, dass sie Recht hatte. Es war unsere einzige Chance. Ich sprintete nach links, drehte mich um und sah den Stiermann auf mich zukommen. Seine schwarzen Augen glühten vor Hass. Er stank wie faules Fleisch.
Er senkte den Kopf und rannte los und seine rasierklingenscharfen Hörner zielten direkt auf meine Brust.
Die Angst in meinem Bauch wollte mich zur Flucht treiben, aber das hätte nichts genutzt. Ich hätte diesem Wesen niemals weglaufen können. Also blieb ich stehen und sprang im letzten Moment zur Seite.
Der Stiermann jagte wie ein Güterzug an mir vorbei, dann brüllte er vor Frust auf und drehte sich um, diesmal aber nicht in meine Richtung, nun lief er auf meine Mutter zu, die Grover gerade ins Gras sinken ließ.
Wir hatten den Hügelkamm erreicht. Auf der anderen Seite konnte ich unter mir ein Tal sehen, wie meine Mutter gesagt hatte, und durch den Regen leuchteten die gelben Lampen eines Bauernhofes. Aber er war noch fast einen Kilometer entfernt. Das konnten wir niemals schaffen.
Der Stiermann knurrte und trat von einem Fuß auf den andern. Er starrte zu meiner Mutter hinüber, die langsam den Hügel hinunter zurückwich, zurück in Richtung Straße, um das Ungeheuer von Grover fortzulocken.
»Lauf, Percy«, rief sie mir zu. »Ich kann nicht weiter mitkommen. Lauf!«
Aber ich blieb einfach stehen, vor Angst erstarrt, als das Ungeheuer sie angriff. Sie versuchte auszuweichen, wie sie es mir geraten hatte, aber das Ungeheuer hatte den Trick jetzt kapiert. Seine Hand stieß hervor und packte ihren Nacken, als sie weglaufen wollte. Er hob sie hoch, während sie sich wehrte und in die Luft schlug und trat.
»Mom!«
Sie fing meinen Blick auf und konnte ein letztes Wort herauswürgen: »Lauf!«
Und dann schloss das Ungeheuer die Hand um den Hals meiner Mutter und sie löste sich vor meinen Augen auf, zerschmolz zu Licht, zu einer schimmernden goldenen Form, wie ein Hologramm. Ein blendendes Licht und dann war sie ganz einfach … verschwunden.
»Nein!«
Meine Angst wich meinem Zorn. Frisch gewonnene Kraft brannte in meinen Gliedern – es war dieselbe Energie, die mich erfüllt hatte, als Mrs Dodds die Krallen gewachsen waren.
Der Stiermann rannte jetzt auf den hilflos im Gras liegenden Grover zu. Er beugte sich über ihn und beschnupperte meinen besten Freund, als wollte er ihn ebenfalls hochheben und sich auflösen lassen.
Das konnte ich nicht zulassen.
Ich streifte meine rote Regenjacke ab.
»HE!«, schrie ich, schwenkte die Jacke und rannte seitlich auf das Monster zu. »He, du Trottel! Du Pfeffersteak!«
»Raaaarrrr!« Das Ungeheuer drehte sich zu mir um und schüttelte seine fleischigen Pranken.
Mir kam eine Idee – eine blöde Idee, aber besser als gar keine. Ich lehnte mich an die hohe Fichte, schwenkte meine rote Jacke vor dem Stiermann und wollte in letzter Sekunde beiseitespringen.
Aber dazu kam es nicht.
Der Stiermann wurde zu schnell und er streckte die Arme aus, um mich zu fangen, egal in welche Richtung ich zu entkommen versuchte.
Alles schien sich zu verlangsamen.
Meine Beine spannten sich. Ich konnte nicht zur Seite springen und deshalb sprang ich hoch, stieß mich mit den Füßen vom Kopf der Kreatur ab wie von einem Sprungbrett, drehte mich in der Luft um und landete in seinem Nacken.
Wie war mir das gelungen? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Eine Millisekunde später knallte der Kopf des Monsters gegen den Baum und von der Wucht des Aufpralls wären mir fast die Zähne aus dem Mund gefallen.
Der Stiermann torkelte herum und versuchte mich abzuschütteln. Ich schlang die Arme um seine Hörner, um nicht hinunterzufallen. Noch immer wüteten Blitz und Donner. Regen lief mir in die Augen. Der Gestank von faulem Fleisch ließ meine Nase brennen.
Das Ungeheuer schüttelte sich und sprang umher wie ein Bulle beim Rodeo. Es hätte sich rückwärts gegen den Baum pressen und mich dabei zerquetschen können, aber mir dämmerte, dass es bei diesem Oschi nur einen Gang gab: vorwärts.
Grover lag noch immer stöhnend im Gras. Ich hätte ihm gern zugeschrien, er solle die Klappe halten, aber so, wie ich herumgeschüttelt wurde, würde ich mir die Zunge abbeißen, wenn ich den Mund aufmachte.
»Essen!«, stöhnte Grover.
Der Stiermann fuhr zu ihm herum, trat wieder von einem Bein auf das andere und machte sich bereit zum Angriff. Ich dachte daran, wie er das Leben aus meiner Mutter herausgequetscht hatte, um sie dann in einem Blitz verschwinden zu lassen, und Wut erfüllte mich wie Hochoktantreibstoff. Ich hielt mich mit beiden Händen an einem Horn fest und zog mit aller Kraft daran. Das Monster erstarrte, grunzte überrascht und dann – knack!
Der Stiermann schrie und schleuderte mich durch die Luft. Ich landete auf dem Rücken im Gras. Mein Kopf schlug gegen einen Felsen. Als ich mich aufsetzte, konnte ich nur verschwommen sehen, aber ich hielt ein Horn in der Hand, eine messergroße spitze Waffe.
Das Ungeheuer griff an.
Ohne nachzudenken, drehte ich mich auf die Seite und kam auf die Knie. Als das Ungeheuer vorbeibretterte, bohrte ich ihm das abgebrochene Horn in die Seite, genau unter seinen zottigen Rippen.
Der Stiermann brüllte voller Qualen auf. Er schlug um sich, zerkratzte sich die Brust, dann fing er an, sich aufzulösen – nicht wie meine Mutter in einem goldenen Blitz, sondern wie zerkrümelnder Sand, der nach und nach vom Wind davongetragen wird, so ähnlich wie damals Mrs Dodds.
Das Monster war verschwunden.
Es regnete nicht mehr. Das Gewitter grollte zwar noch, war aber schon weitergezogen. Ich stank wie feuchtes Vieh und meine Knie schlotterten. Mein Kopf schien bersten zu wollen. Ich war schwach und verängstigt und zitterte vor Kummer. Ich hatte gerade gesehen, wie meine Mutter verschwunden war. Ich wollte mich hinlegen und weinen, aber da war Grover, der meine Hilfe brauchte, und ich schaffte es, ihn auf die Beine zu ziehen und ins Tal hinabzutaumeln, auf die Lichter des Bauernhofes zu. Ich weinte, ich rief nach meiner Mutter, aber ich hielt Grover fest – ich würde ihn nicht loslassen.
Das Letzte, woran ich mich noch erinnere, ist, dass ich auf einer Holzveranda zusammenbrach, dass ich zu einem Ventilator hochschaute, der sich über mir drehte, dass Motten um eine gelbe Lampe kreisten und dass ein mir bekannt vorkommender bärtiger Mann und ein hübsches Mädchen mit Locken wie Cinderella ernst auf mich herabblickten. Das Mädchen sagte: »Das ist er. Er muss es sein.«
»Sei still, Annabeth«, sagte der Mann. »Er ist noch bei Bewusstsein. Bring ihn ins Haus.«
Ich spiele Binokel mit einem Pferd
Ich hatte seltsame Träume, in denen viele Tiere vorkamen. Die meisten wollten mich umbringen. Alle anderen wollten etwas zu essen.
Sicher bin ich mehrere Male aufgewacht, aber was ich sah und hörte, ergab keinen Sinn und deshalb ließ ich mich einfach wieder wegsacken. Ich weiß noch, dass ich in einem weichen Bett lag und mit einem Löffel mit etwas gefüttert wurde, das wie gebuttertes Popcorn schmeckte, aber eine Art Pudding war. Das Mädchen mit den blonden Locken beugte sich über mich und grinste, als es mir mit dem Löffel Kleckse von der Wange kratzte.
Als sie sah, dass meine Augen offen waren, fragte sie: »Was wird zur Sommersonnenwende passieren?«
Ich konnte nur krächzen: »Was?«
Sie schaute sich um und schien von niemandem gehört werden zu wollen. »Was ist los? Was ist gestohlen worden? Wir haben nur noch ein paar Wochen!«
»Tut mir leid«, murmelte ich. »Ich weiß nicht …«
Jemand klopfte an die Tür und das Mädchen stopfte ganz schnell meinen Mund mit Pudding voll. Als ich das nächste Mal aufwachte, war sie verschwunden.
Ein großer kräftiger Typ, wie ein Surfer, stand in einer Zimmerecke und starrte mich an. Er hatte blaue Augen – mindestens ein Dutzend – auf den Wangen, auf der Stirn, auf den Handrücken.
Als ich endlich richtig zu Bewusstsein kam, erschien mir meine Umgebung absolut nicht seltsam, nur war alles hübscher, als ich es gewohnt war. Ich saß in einem Liegestuhl auf einer breiten Veranda und schaute über eine Wiese hinüber zu grünen Hügeln in der Ferne. Der leichte Wind duftete nach Erdbeeren. Über meinen Knien lag eine Decke, in meinem Nacken steckte ein Kissen. Das alles war wunderbar, aber mein Mund fühlte sich an, als ob ein Skorpion darin genistet hätte. Meine Zunge war trocken und rissig und mir tat jeder einzelne Zahn weh.
Auf dem Tisch neben mir stand ein hohes Glas. Es sah aus, als wäre es mit geeistem Apfelsaft gefüllt, mit einem grünen Trinkhalm und einem durch eine Cocktailkirsche gepiksten Sonnenschirmchen aus Papier.
Meine Hand war so schwach, dass mir das Glas fast hingefallen wäre, als sich meine Finger darum schlossen.
»Vorsicht«, sagte eine vertraute Stimme.
Grover lehnte am Verandageländer und sah aus, als ob er mindestens eine Woche lang kein Auge zugetan hätte. Unter dem Arm hielt er einen Schuhkarton. Er trug Jeans, ziemlich hohe Stiefel und ein knallorangefarbenes T-Shirt mit der Aufschrift CAMP HALF-BLOOD. Es war der alte Grover. Nicht der Ziegenknabe.
Vielleicht hatte ich also einen Albtraum gehabt. Vielleicht war meiner Mom nichts passiert. Wir machten noch immer Ferien und waren aus irgendeinem Grund in diesem großen Haus zu Besuch. Und …
»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Grover. »Ich … na ja, ich dachte, das sei das Mindeste, was ich tun könnte … Ich bin zurück zu dem Hügel gegangen. Ich dachte, du wolltest es vielleicht behalten.«
Ehrfürchtig stellte er mir den Schuhkarton auf die Knie.
Er enthielt ein schwarzweißes Stierhorn, unten gezackt, weil es abgebrochen worden war, und an der Spitze klebte geronnenes Blut. Es war kein Albtraum gewesen.
»Der Minotaurus«, sagte ich.
»Äh, Percy, es ist keine gute Idee …«
»So wird er in den griechischen Mythen doch genannt, oder nicht?«, fragte ich. »Der Minotaurus. Halb Mensch, halb Stier.«
Grover trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Du warst zwei Tage bewusstlos. Wie viel weißt du überhaupt noch?«
»Meine Mom. Ist sie wirklich …«
Er starrte zu Boden.
Ich schaute über die Wiese. Ich sah Baumgruppen, einen sich dahinschlängelnden Bach, viele Erdbeerbeete unter blauem Himmel. Sanfte Hügel umgaben das Tal, der höchste, gleich vor uns, war der, auf dem die hohe Fichte stand. Sogar die sah im Sonnenschein schön aus.
Meine Mutter war nicht mehr da. Die ganze Welt hätte schwarz und kalt sein müssen. Nichts dürfte schön aussehen.
»Tut mir leid«, sagte Grover und schniefte. »Ich bin ein Versager. Ich bin … ich bin der mieseste Satyr auf der ganzen Welt.«
Er stöhnte und trat so energisch mit dem Fuß auf, dass der herunterfiel. Ich meine, der Stiefel fiel herunter. Er war mit Styropor ausgestopft, in dem ein hufförmiges Loch zu sehen war.
»Oh, zum Styx!«, murmelte Grover.
Donner grollte über den klaren Himmel.
Als er sich damit abmühte, seinen Huf wieder im Stiefel zu verstauen, dachte ich, na, dann ist das immerhin klar.
Grover war ein Satyr. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass ich winzige Hörner auf seinem Kopf finden würde, wenn ich ihm die braunen Locken abrasierte. Aber ich fühlte mich zu elend, um es interessant zu finden, dass es Satyrn – oder auch Minotauren – wirklich gab. Das alles bedeutete, dass meine Mom wirklich ins Nichts gequetscht worden war, dass sie sich in gelbes Licht aufgelöst hatte.
Ich war allein. Ein Waisenkind. Ich würde bei … Gabe dem Stinker leben müssen? Nein. So weit würde es niemals kommen. Dann würde ich lieber auf der Straße hausen. Ich würde mich für siebzehn ausgeben und zur Armee gehen. Irgendetwas würde mir schon einfallen.
Grover schniefte noch immer. Der arme Junge – der arme Ziegenbock, der arme Satyr, was auch immer – sah aus, als rechne er mit Schlägen.
Ich sagte: »Es war nicht deine Schuld.«
»Doch, war es wohl. Ich sollte dich beschützen.«
»Hat meine Mutter dich darum gebeten?«
»Nein. Aber das ist meine Aufgabe. Ich bin ein Hüter. Das war ich zumindest.«
»Aber warum …?« Plötzlich war mir schwindlig, vor meinen Augen verschwamm alles.
»Überanstreng dich nicht«, sagte Grover. »Hier.«
Er half mir, das Glas zu halten, und schob den Trinkhalm zwischen meine Lippen.
Der Geschmack ließ mich zusammenzucken, ich hatte mit Apfelsaft gerechnet. Aber das war es nun wirklich nicht. Es schmeckte nach Schokoplätzchen. Nach flüssigen Schokoplätzchen. Und nicht nach irgendwelchen Schokoplätzchen – sondern nach den selbst gebackenen blauen Schokoplätzchen meiner Mutter, fett und heiß, in denen die Schokostückchen noch geschmolzen waren. Als ich trank, fühlte mein Körper sich warm und gut an und war voller Energie. Meine Trauer verflog nicht, aber ich hatte das Gefühl, als hätte meine Mom mir eben mit der Hand über die Wange gestrichen und mir ein Plätzchen gegeben, so wie damals, als ich klein war, und mir gesagt, alles würde schon wieder gut werden.
Noch ehe ich mich’s versah, hatte ich das Glas geleert. Ich starrte hinein und war sicher, dass ich soeben etwas Heißes getrunken hatte, aber die Eiswürfel waren noch nicht einmal geschmolzen.
»Hat es geschmeckt?«, fragte Grover.
Ich nickte.
»Wonach?« Diese Frage hörte sich so dringlich an, dass ich sofort ein schlechtes Gewissen hatte.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hätte dich probieren lassen sollen.«
Er riss die Augen auf. »Nein! So war das nicht gemeint. Ich wollte nur … ich wollte es eben wissen.«
»Schokokekse«, sagte ich. »Die von meiner Mom. Selbst gebacken.«
Er seufzte. »Und wie fühlst du dich jetzt?«
»Als ob ich Nancy Bobofit hundert Meter weit schleudern könnte.«
»Das ist gut«, sagte er. »Das ist gut. Ich glaube, du solltest jetzt nichts mehr davon trinken.«
»Wie meinst du das?«
Er nahm mir vorsichtig das leere Glas ab, als sei es aus Dynamit, und stellte es auf den Tisch. »Komm jetzt. Chiron und Mr D warten schon.«
Die Veranda zog sich um das ganze Haus herum.
Ich war wackelig auf den Beinen, als wir losgingen. Grover bot an, das Horn des Minotaurus zu tragen, aber ich klammerte mich daran. Ich hatte verdammt viel für dieses Andenken bezahlt. Ich wollte es nicht loslassen.
Als wir auf der Rückseite des Hauses ankamen, schnappte ich nach Luft. Dies musste die Nordküste von Long Island sein, denn auf dieser Seite zog sich das Tal bis zum Ozean hin, der etwa einen Kilometer entfernt glitzerte. Was ich hier sah, konnte ich einfach nicht sofort verarbeiten. Überall standen Gebäude, die nach altgriechischer Architektur aussahen – ein Pavillon ohne Dach, ein Amphitheater, eine runde Arena –, nur wirkten sie alle nagelneu, ihre weißen Marmorsäulen funkelten in der Sonne. In einer Sandgrube in der Nähe spielte ein Dutzend Leute im High-School-Alter zusammen mit Satyrn Volleyball. Kanus glitten über einen kleinen See. Jugendliche in leuchtend orangefarbenen T-Shirts, so wie Grover eins trug, jagten einander um eine Hüttensiedlung zwischen Bäumen. Einige andere übten auf einem Bogenschießgelände Zielen. Wieder andere ritten auf Pferden über einen Waldweg, und falls das keine Halluzination war, hatten manche von diesen Pferden Flügel.
Am Ende der Veranda saßen zwei Männer an einem Kartentisch. Die Blonde, die mich mit dem Popcornpudding gefüttert hatte, lehnte neben ihnen am Geländer.
Der Mann mir gegenüber war klein und pummelig. Er hatte eine rote Nase, große wässrige Augen und so schwarze Locken, dass sie fast lila waren. Er sah aus wie ein kleiner Engel auf einem Gemälde – wie heißt so was noch? Sirup? Nein, Cherub. Er sah aus wie ein Cherub mittleren Alters, der auf einem Parkplatz für LKWs arbeitete. Er trug ein Hawaiihemd mit Tigermuster und hätte gut in Gabes Pokerrunden gepasst, nur hatte ich das Gefühl, dass dieser Typ sogar meinen Stiefvater ausgetrickst hätte.
»Das ist Mr D«, murmelte Grover mir zu. »Der Campleiter. Zu dem musst du höflich sein. Das Mädchen, das ist Annabeth Chase. Sie lebt hier im Camp, und zwar schon länger als alle anderen. Und Chiron kennst du ja schon …«
Er zeigte auf den Mann, der mir den Rücken zugekehrt hatte.
Zuerst sah ich, dass er in einem Rollstuhl saß. Dann erkannte ich die Tweedjacke und das schüttere braune Haar und den struppigen Bart.
»Mr Brunner!«, rief ich.
Mein Lateinlehrer drehte sich um und lächelte mich an. Seine Augen funkelten boshaft, wie manchmal während des Unterrichts, wenn er ein Quiz veranstaltete und immer B die richtige Antwort war.
»Ah, gut, Percy«, sagte er. »Du bist unser vierter Mann fürs Binokel.«
Er bot mir den Stuhl rechts von Mr D an, der aus blutunterlaufenen Augen zu mir hochschaute und tief seufzte. »Na ja, dann muss ich es wohl sagen. Willkommen im Camp Half-Blood. So. Aber erwarte bloß nicht, dass ich mich über deinen Anblick freue.«
»Öh, danke.« Ich wich ein wenig von ihm zurück, denn wenn ich aus dem Leben mit Gabe eins gelernt hatte, dann, zu merken, wann ein Erwachsener zu tief ins Glas geschaut hatte. Wenn Mr D der Alkohol fremd war, dann war ich ein Satyr.
»Annabeth?«, rief Mr Brunner die Blonde.
Sie kam auf uns zu und Mr Brunner stellte uns vor. »Diese junge Dame hat dich gesund gepflegt, Percy. Annabeth, meine Liebe, kannst du dich um Percys Bett kümmern? Wir stecken ihn erst mal in Hütte 11.«
Annabeth sagte: »Natürlich, Chiron.«
Sie war vermutlich in meinem Alter, aber einige Zentimeter größer und sah überhaupt viel sportlicher aus. Mit ihrer tiefen Bräune und ihren blonden Locken entsprach sie so ziemlich meiner Vorstellung von einer typischen Kalifornierin, doch ihre Augen machten dies Klischee sofort zunichte. Sie waren von einem verwirrenden Grau, wie Sturmwolken, schön, aber auch einschüchternd, als ob sie gerade überlegte, wie sie mich bei einem Kampf am besten fertigmachen könnte.
Sie schaute das Minotaurushorn in meiner Hand an und dann mich. Ich stellte mir vor, wie sie sagte: Du hast einen Minotaurus getötet. Ich bewundere dich, oder so etwas.
Aber sie sagte: »Du sabberst im Schlaf.«
Dann rannte sie über den Rasen davon und ihre blonden Haare wehten hinter ihr her.
»So«, sagte ich, bemüht, rasch das Thema zu wechseln. »Sie, äh, arbeiten hier, Mr Brunner?«
»Nicht Mr Brunner«, sagte der ehemalige Mr Brunner. »Das war nur ein Pseudonym. Du kannst mich Chiron nennen.«
»Na gut.« Total verwirrt sah ich den Campleiter an. »Und Mr D … bedeutet das irgendwas?«
Mr D hörte auf zu mischen. Er sah mich an, als ob ich lauthals gerülpst hätte. »Junger Mann, Namen sind mächtige Dinge. Man darf sie nicht einfach ohne Grund verwenden.«
»Ach so. Tut mir leid.«
»Ich muss schon sagen, Percy«, schaltete sich Chiron-Brunner ein. »Es freut mich, dass du am Leben bist. Ich habe schon lange keinen Hausbesuch mehr bei einem potentiellen Campbewohner gemacht. Es wäre schrecklich für mich, denken zu müssen, dass ich meine Zeit verschwendet habe.«
»Hausbesuch?«
»Mein Jahr in der Yancy Academy. Ich habe dich unterrichtet. Wir haben natürlich in den meisten Schulen Satyrn, die die Augen offen halten. Und Grover hat mir Bescheid gesagt, sowie du ihm begegnet warst. Er hat gespürt, dass du etwas Besonderes bist, und deshalb habe ich beschlossen, mir die Sache mal anzusehen, und ich habe den anderen Lateinlehrer überredet … äh, sich eine Zeit lang beurlauben zu lassen.«
Ich versuchte mich an den Beginn des Schuljahres zu erinnern. Es schien sehr lange her zu sein, aber ich hatte eine vage Erinnerung daran, dass es in meiner ersten Woche in Yancy einen anderen Lateinlehrer gegeben hatte. Ohne irgendeine Erklärung war er dann verschwunden und Mr Brunner war an seine Stelle getreten.
»Sie sind nach Yancy gekommen, nur um mich zu unterrichten?«, fragte ich.
Chiron nickte. »Anfangs wusste ich nicht so recht, was ich von dir halten sollte. Wir haben deine Mutter informiert, ihr gesagt, dass wir dich im Auge behielten, für den Fall, dass du reif für Camp Half-Blood wärst. Aber du musstest noch so viel lernen. Immerhin bist du lebend hier angekommen und das ist immer der erste Test.«
»Grover«, sagte Mr D ungeduldig. »Spielst du, oder was?«
»Ja, Sir!« Zitternd ließ Grover sich auf dem vierten Stuhl nieder und ich verstand nicht, warum er solche Angst vor einem dicken kleinen Mann in einem Hawaiihemd mit Tigermuster hatte.
»Kannst du überhaupt Binokel spielen?« Mr D musterte mich misstrauisch.
»Ich fürchte, nein«, sagte ich.
»Ich fürchte, nein, Sir«, sagte er.
»Sir«, wiederholte ich. Der Campleiter gefiel mir immer weniger.
»Na«, sagte er. »Zusammen mit Gladiatorenkampf und Pacman gehört das zu den größten Spielen, die die Menschheit jemals erfunden hat. Ich hätte gedacht, dass jeder zivilisierte junge Mann die Regeln kennt.«
»Bestimmt kann der Junge die noch lernen«, sagte Chiron.
»Bitte«, sagte ich. »Wo bin ich hier? Was mache ich hier? Mr Brun… Chiron, warum sind Sie nach Yancy gekommen? Nur um mich zu unterrichten?«
Mr D schnaubte. »Das möchte ich auch gern mal wissen.«
Der Campleiter gab Karten aus. Grover zuckte jedes Mal zusammen, wenn eine vor ihm landete.
Chiron lächelte mich mitfühlend an, wie sonst im Lateinunterricht, als wolle er mir klarmachen, dass ich sein Spitzenschüler sei, egal wie meine Noten aussehen mochten. Er erwartete, dass ich die Antwort wusste.
»Percy«, sagte er. »Hat deine Mutter dir denn nichts gesagt?«
»Sie hat gesagt …« Ich musste an ihre traurigen Augen denken, die immer wieder aufs Meer hinausgeschaut hatten. »Sie hat gesagt, sie habe Angst gehabt, mich herzuschicken, obwohl mein Vater das so gewollt hatte. Sie hat gesagt, wenn ich erst einmal hier wäre, würde ich vermutlich nicht mehr wegkönnen. Sie wollte mich in ihrer Nähe behalten.«
»Typisch«, sagte Mr D. »So kommen sie dann meistens ums Leben. Junger Mann, meldest du oder nicht?«
»Was?«, fragte ich.
Ungeduldig erklärte er, wie beim Binokel gemeldet wird. Ich meldete.
»Ich fürchte, wir haben sehr viel zu erzählen«, sagte Chiron. »Unser üblicher Einführungsfilm wird wohl nicht ausreichen.«
»Einführungsfilm?«, fragte ich.
»Nein«, entschied Chiron. »Also, Percy. Du weißt jetzt, dass dein Freund Grover ein Satyr ist. Du weißt«, er zeigte auf das Horn im Schuhkarton, »dass du einen Minotaurus getötet hast. Was durchaus keine geringe Leistung ist, mein Junge. Was du vielleicht nicht weißt, ist, dass große Mächte in deinem Leben am Werk sind. Gottheiten – die Mächte, die du als griechische Götter kennst – sind überaus lebendig.«
Ich starrte die anderen am Tisch an.
Ich wartete darauf, dass irgendwer »nein« schrie. Aber alles, was passierte, war, dass Mr D brüllte: »Oh, mein Stich! Eine königliche Hochzeit!« Er kicherte, als er seine Punkte notierte.
»Mr D«, fragte Grover schüchtern, »wenn Sie die nicht essen wollen, kann ich dann Ihre Coladose haben?«
»Hä? Na, von mir aus.«
Grover biss eine tiefe Zacke in die leere Aluminiumdose und kaute mit trauriger Miene darauf herum.
»Halt mal«, sagte ich zu Chiron. »Sie wollen mir also weismachen, dass es Gott gibt.«
»Na ja«, sagte Chiron. »Gott, klarer Singular, einfach nur Gott. Das ist eine ganz andere Frage. Mit metaphysischen Dingen wollen wir uns hier nicht befassen.«
»Metaphysisch? Aber eben haben Sie doch …«
»Ja, Götter, Plural, also machtvolle Wesen, die die Kräfte der Natur und die menschlichen Bemühungen kontrollieren: die unsterblichen Götter des Olymps. Das ist eine viel kleinere Angelegenheit.«
»Kleiner!«
»Ja, um einiges. Es geht hier um die Gottheiten, über die wir im Lateinunterricht gesprochen haben.«
»Zeus«, sagte ich. »Hera. Apollo. Die meinen Sie also.«
Und da war er wieder – ferner Donner an einem wolkenlosen Tag.
»Junger Mann«, sagte Mr D. »Ich an deiner Stelle würde wirklich nicht so achtlos mit diesen Namen um mich werfen.«
»Aber das sind Geschichten«, sagte ich. »Das sind – Mythen, sie sollen Gewitter und die Jahreszeiten und so was erklären. Das haben die Leute geglaubt, bevor es Wissenschaft gab.«
»Wissenschaft«, schnaubte Mr D. »Sag mir doch mal, Perseus Jackson …«
Ich zuckte zusammen, als er meinen richtigen Namen nannte, den ich niemals irgendwem verraten hatte.
»… was werden die Leute in zweitausend Jahren wohl von deiner ›Wissenschaft‹ halten?« Mr D geriet in Fahrt. »Hmmm? Sie werden sie primitiven Hokuspokus nennen. Jawoll. Ach, ich liebe die Sterblichen – sie haben einfach kein Gefühl für die Zukunft. Sie glauben, dass sie soooo weit gekommen sind. Aber sind sie das, Chiron? Sieh dir diesen Knaben an und sag es mir!«
Ich fand Mr D nicht gerade sympathisch. Aber dass er mich als Sterblichen bezeichnete, schien anzudeuten, dass er … keiner war. Und das reichte, damit ich einen Kloß im Hals hatte und Grover pflichtbewusst in seine Karten starrte, auf seiner Blechdose herumkaute und den Mund hielt.
»Percy«, sagte Chiron. »Ob du es nun glaubst oder nicht, Tatsache ist, dass unsterblich eben unsterblich bedeutet. Kannst du dir für einen Moment vorstellen, niemals zu sterben? Niemals zu vergehen? Weiterzuexistieren, so wie du bist, für alle Zeit?«
Ich wollte schon antworten, so ganz locker, dass das doch recht nett klinge, aber Chirons Tonfall ließ mich zögern.
»Sie meinen, egal ob die Leute an Sie glauben oder nicht?«, fragte ich.
»Genau«, sagte Chiron. »Wenn du ein Gott wärst, wie würde es dir dann gefallen, als Mythos bezeichnet zu werden, als alte Geschichte, mit der Gewitter erklärt werden sollen? Und was, wenn ich dir jetzt erzählte, Percy Jackson, dass auch du irgendwann als Mythos bezeichnet werden wirst, der nur ersonnen wurde, um kleinen Jungen beizubringen, wie sie mit dem Verlust ihrer Mutter fertig werden können?«
Mein Herz hämmerte. Er wollte mich aus irgendeinem Grund wütend machen, aber das konnte ich nicht zulassen. Ich sagte: »Das würde mir nicht gefallen. Aber ich glaube nicht an Götter.«
»Dann fang lieber schnell damit an«, murmelte Mr D. »Ehe einer von ihnen dich einäschert.«
Grover sagte: »B-bitte, Sir. Er hat gerade erst seine Mutter verloren. Er steht unter Schock.«
»Und das ist sein Glück«, knurrte Mr D und spielte eine Karte aus. »Schlimm genug, dass ich auf diesen blöden Job angewiesen bin und mich mit Jungs rumschlagen muss, die nicht mal glauben.«
Er machte eine Handbewegung und ein Kelch tauchte über dem Tisch auf, als habe das Sonnenlicht sich kurz gekrümmt und aus Luft ein Glas gewebt. Der Kelch füllte sich ganz von selbst mit Rotwein.
Mir fiel das Kinn herunter, doch Chiron nahm kaum Notiz davon.
»Mr D«, mahnte er. »Die Vorschriften.«
Mr D schaute den Wein an und spielte den Überraschten.
»Meine Güte.« Er sah zum Himmel auf und brüllte: »Alte Gewohnheit! War nicht so gemeint!«
Noch mehr Donner.
Mr D machte eine weitere Handbewegung und der Wein verwandelte sich in eine neue Dose Cola light. Er seufzte traurig, öffnete die Dose und widmete sich wieder seinen Karten.
Chiron zwinkerte mir zu. »Mr D hat vor einiger Zeit seinen Vater beleidigt, als er sich in eine Waldnymphe verliebt hat, die für tabu erklärt worden war.«
»Eine Waldnymphe«, wiederholte ich und starrte noch immer die Coladose an, als sei sie aus dem Weltraum geplumpst.
»Ja«, gab Mr D zu. »Mein Vater findet es toll, mich zu bestrafen. Das erste Mal: Alkoholverbot. Grauenhaft. Entsetzliche zehn Jahre. Das zweite Mal – na, sie war wirklich eine Schönheit und ich konnte es einfach nicht lassen –, das zweite Mal hat er mich hergeschickt. Nach Half-Blood Hill. Sommercamp für Gören wie dich. Kannst einen guten Einfluss ausüben, hat er gesagt. Was für Jugendliche tun, statt sie zu ruinieren. Ha! Total unfair!«
Mr D hörte sich an wie ein Sechsjähriger, wie ein schmollender kleiner Bengel.
»Und …«, stotterte ich. »Ihr Vater ist …«
»Bei den Göttern, Chiron«, sagte Mr D. »Ich dachte, du hättest dem Jungen etwas Grundwissen beigebracht. Mein Vater ist Zeus, wer sonst?«
Ich ging die Namen aus der griechischen Mythologie durch, die mit D anfingen. Wein. Tigerfell. Die vielen Satyrn, die hier zu arbeiten schienen. Grover, der sich wand, als sei Mr D sein Herr.
»Sie sind Dionysos«, sagte ich. »Der Gott des Weines.«
Mr D verdrehte die Augen. »Was sagt man heute, Grover? Sagen junge Leute noch ›meine Fresse‹?«
»J-ja, Mr D.«
»Dann also: Meine Fresse, Percy Jackson! Hättest du mich vielleicht für Aphrodite gehalten?«
»Sie sind ein Gott.«
»Ja, Kind.«
»Ein Gott. Sie.«
Er drehte sich zu mir um und starrte mir in die Augen, und ich sah in ihnen eine Art lila Feuer, ein Hinweis darauf, dass dieser selbstmitleidige, dicke kleine Mann mir nur einen winzigen Fetzen seines wahren Wesens zeigte. Ich hatte Visionen von Weinranken, die Ungläubige erwürgten, von betrunkenen Kriegern, die vor wahnsinniger Kampfesgier außer sich gerieten, von Seeleuten, die schrien, als ihre Hände sich in Flossen, ihre Gesichter sich in Delfinschnauzen verwandelten. Ich wusste, wenn ich ihn bedrängte, dann würde Mr D mir noch schlimmere Dinge zeigen. Mir eine Krankheit ins Gehirn pflanzen, die mich für den Rest meines Lebens in einer Zwangsjacke in eine gepolsterte Zelle bringen würde.
»Möchtest du mich auf die Probe stellen, Kind?«, fragte er gelassen.
»Nein. Nein, Sir.«
Das Feuer nahm ab. Er wandte sich wieder den Karten zu. »Ich glaube, ich gewinne.«
»Abwarten, Mr D«, sagte Chiron. Er machte einen Stich, zählte die Punkte und sagte: »Die Partie geht an mich.«
Ich dachte schon, Mr D werde Chiron aus dem Rollstuhl heraus in Dampf aufgehen lassen, aber er seufzte nur, als sei er daran gewöhnt, von Lateinlehrern besiegt zu werden. Er stand auf und Grover erhob sich ebenfalls.
»Ich bin müde«, sagte Mr D. »Ich glaube, vor dem Rundgesang heute Abend mach ich noch ein Nickerchen. Aber zuerst, Grover, müssen wir mal wieder über deine alles andere als perfekte Leistung bei diesem Einsatz reden.«
Grovers Gesicht überzog sich mit Schweiß. »J-ja, Sir.«
Mr D drehte sich zu mir um. »Hütte 11, Percy Jackson. Und benimm dich ordentlich.«
Er stolzierte ins Haus. Grover trottete niedergeschlagen hinterher.
»Wird das schlimm für Grover?«, fragte ich Chiron.
Chiron schüttelte den Kopf, sah aber doch besorgt aus. »Der alte Dionysos ist nicht richtig verrückt. Er hasst nur diesen Job. Er ist … er ist degradiert worden, könnte man sagen, und er findet die Vorstellung grauenhaft, noch ein Jahrhundert warten zu müssen, bis er auf den Olymp zurückkehren kann.«
»Der Olymp«, sagte ich. »Soll das heißen, dass auf dem Berg Olymp wirklich ein Schloss steht?«
»Na ja, in Griechenland gibt es einen Berg namens Olymp. Und dann gibt es die Wohnstatt der Götter, den Ort, wo ihre gesamte Macht zusammenfließt, und der lag früher wirklich auf dem Berg Olymp. Wir reden immer noch vom Olymp, aus Respekt vor den alten Zeiten, aber der Palast wird immer wieder verlegt, Percy, weil auch die Götter sich bewegen.«
»Sie meinen, die griechischen Götter sind hier? Also hier … in Amerika?«
»Ja, natürlich. Sie bewegen sich mit dem Herzen des Abendlandes.«
»Mit dem was?«
»Hör doch auf, Percy. Mit dem, was ›abendländische Zivilisation‹ genannt wird. Hast du das für eine abstrakte Vorstellung gehalten? Nein, das ist eine lebendige Kraft. Ein kollektives Bewusstsein, dessen Flamme nun schon seit Jahrtausenden lodert. Die Götter gehören dazu. Du könntest sogar sagen, sie sind die Grundlage, oder auf jeden Fall sind sie so eng damit verbunden, dass sie einfach nicht vergehen können, wenn nicht zugleich die gesamte abendländische Zivilisation vernichtet wird. Das Feuer wurde in Griechenland entzündet. Und dann, wie du natürlich weißt – oder wie du hoffentlich weißt, weil du schließlich an meinem Unterricht teilgenommen hast –, wanderte das Herz des Feuers nach Rom und die Götter folgten. Sie mochten andere Namen annehmen – Jupiter statt Zeus, Venus statt Aphrodite und so weiter –, aber es waren dieselben Mächte, dieselben Götter.«
»Und dann sind sie gestorben.«
»Gestorben? Nein. Ist das Abendland gestorben? Die Götter sind einfach weitergezogen, nach Deutschland, nach Frankreich, nach Spanien, immer für eine Weile. Dort, wo die Flamme am hellsten loderte, waren auch die Götter. Sie haben mehrere Jahrhunderte in England verbracht. Du brauchst dir nur die Architektur anzusehen. Die Menschen vergessen die Götter nicht. An jedem Ort, an dem sie in den vergangenen dreitausend Jahren geherrscht haben, kannst du sie an den wichtigsten Gebäuden, auf Gemälden oder als Statuen sehen. Und ja, Percy, natürlich halten sie sich jetzt in den Vereinigten Staaten auf. Sieh dir doch das Wappen an, den Adler des Zeus. Sieh dir die Prometheusstatue im Rockefeller Center an oder die griechischen Fassaden der Regierungsgebäude in Washington. Nenn mir auch nur eine einzige Stadt in den USA, in der die Götter nicht an vielen Orten deutlich dargestellt sind. Ob es einem nun passt oder nicht – und ich kann dir sagen, viele Leute haben auch Rom nicht gerade geliebt –, jetzt sind die USA das Herz der Flamme. Sie sind die große abendländische Macht. Und deshalb ist der Olymp hier. Und wir sind ebenfalls hier.«
Das war zu viel, vor allem die Tatsache, dass Chiron mich in sein »wir« einzuschließen schien, als gehörte ich zu irgendeinem Verein.
»Wer sind Sie, Chiron? Wer … wer bin ich?«
Chiron lächelte. Er bewegte sich, als wollte er seinen Rollstuhl verlassen, aber ich wusste, dass das unmöglich war. Er war von der Hüfte abwärts gelähmt.
»Wer du bist?« Er überlegte. »Na ja, das ist die Frage, auf die wir alle gern eine Antwort hätten, weißt du. Aber fürs Erste sollten wir dir in Hütte 11 ein Bett sichern. Da findest du neue Freunde. Und morgen hast du jede Menge Zeit für den Unterricht. Außerdem gibt es heute Abend eine gesellige Runde am Lagerfeuer und die Marshmallows mit Schokolade esse ich einfach zu gern.«
Und dann erhob er sich aus seinem Rollstuhl. Wie er das machte, war überaus seltsam. Seine Decke fiel von seinen Beinen, aber seine Beine bewegten sich nicht. Seine Taille wurde immer länger und dehnte sich über seinem Gürtel aus. Zuerst dachte ich, er trage sehr lange weiße Samtunterwäsche, aber als er sich immer weiter aus seinem Stuhl erhob und dabei größer wurde, als irgendein Mensch das sein kann, ging mir auf, dass es sich bei der Samtunterwäsche nicht um Unterwäsche handelte, sondern um die Vorderseite eines Tieres, Muskeln und Sehnen unter weißem Fell. Und der Rollstuhl war kein Rollstuhl. Es war eine Art Container, eine riesige Box auf Rädern, und sicher war irgendein Zaubertrick dabei im Spiel, denn sie konnte unmöglich Platz für dieses riesige Wesen geboten haben. Ein Bein kam zum Vorschein, lang und mit knochigen Knien und einem großen polierten Huf. Dann noch ein Vorderbein, dann ein Hinterteil und dann war die Box leer, sie war nur noch eine Metallhülse, an der zwei künstliche Menschenbeine befestigt waren.
Ich starrte das Pferd an, das soeben aus dem Rollstuhl gesprungen war; einen riesigen weißen Hengst. Aber dort, wo ich seinen Hals erwartet hatte, sah ich den Oberkörper meines Lateinlehrers, der nahtlos in den Pferderumpf überging.
»Was für eine Erlösung«, sagte der Zentaur. »Ich hab so lange da drin gesteckt, mir waren schon die Fesseln eingeschlafen. Und jetzt los, Percy Jackson. Jetzt lernst du deine Campgefährten kennen.«
Ich werde Alleinherrscher über das Badezimmer
Als ich mich mit der Tatsache abgefunden hatte, dass mein Lateinlehrer ein Pferd war, drehten wir eine nette Runde durch das Camp, wobei ich mir alle Mühe gab, ihn nie vor mir hergehen zu lassen. Ich hatte einige Male bei der Parade zu Thanksgiving die Pferdeäpfel auflesen müssen und ich muss gestehen, ich hatte zu Chirons Hinterteil nicht dasselbe Vertrauen wie zu seiner Vorderseite.
Wir kamen am Volleyballplatz vorbei. Einige der Spieler dort stießen sich gegenseitig in die Rippen. Einer zeigte auf das Minotaurushorn in meiner Hand. Jemand anderes sagte: »Das ist er.«
Die meisten im Lager waren älter als ich. Die Satyrn waren größer als Grover und trotteten in orangefarbenen CAMP HALF-BLOOD-T-Shirts herum, die ihre zottigen Hinterteile nackt ließen. Ich war eigentlich nicht schüchtern, aber mir war es doch unangenehm, wie sie mich anstarrten. Ich hatte das Gefühl, dass sie von mir einen Salto oder irgendwas erwarteten.
Ich schaute mich zum Haus um. Es war viel größer, als ich angenommen hatte – vier Stockwerke hoch, himmelblau mit weißen Gesimsen, wie ein teures Appartementhotel am Strand. Ich musterte gerade den Wetteradler aus Messing oben auf dem Dach, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte, ein Schatten hinter dem obersten Mansardenfenster. Der Vorhang hatte sich bewegt, nur für eine Sekunde, und ich hatte das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden.
»Was ist das da oben?«, fragte ich Chiron.
Er schaute in die Richtung, in die ich zeigte, und sein Lächeln verschwand. »Nur die Mansarde.«
»Wohnt da irgendwer?«
»Nein«, sagte er entschieden. »Da gibt’s nicht ein einziges lebendes Wesen.«
Ich hatte das Gefühl, dass er die Wahrheit sagte. Aber ich war auch sicher, dass etwas diesen Vorhang bewegt hatte.
»Na los, Percy«, sagte Chiron und sein Tonfall klang jetzt etwas gezwungen. »Hier gibt’s jede Menge zu sehen.«
Wir gingen durch die Erdbeerfelder, wo Campbewohner eimerweise Erdbeeren pflückten, während ein Satyr auf einer Rohrflöte eine Melodie spielte.
Chiron erzählte, dass das Camp den Olymp und Restaurants in New York mit Früchten versorgte. »Damit bezahlen wir unsere laufenden Kosten«, erklärte er. »Und die Erdbeeren wachsen fast von selbst.«
Er sagte, Mr D habe diese Wirkung auf Obstpflanzen; sie wuchsen wie verrückt, wenn er in der Nähe war. Am besten funktioniere das mit Trauben, aber die dürfe Mr D nicht anbauen und deshalb würden hier eben Erdbeeren gezüchtet.
Ich betrachtete den Flöte spielenden Satyrn. Seine Musik vertrieb Blattläuse aus den Erdbeerbeeten, sie zogen in langen Reihen in alle Richtungen davon, wie Flüchtlinge, die vor einem Feuer fliehen. Ich hätte gern gewusst, ob auch Grover solche magische Musik machen konnte. Ich hätte auch gern gewusst, ob er noch immer im Haus von Mr D zur Schnecke gemacht wurde.
»Grover wird nicht allzu viel Ärger bekommen, oder?«, fragte ich Chiron. »Ich meine … er war ein guter Beschützer. Wirklich.«
Chiron seufzte. Er zog seine Tweedjacke aus und legte sie wie einen Sattel über seinen Pferderücken. »Grover hat große Träume, Percy. Vielleicht größer, als es vernünftig wäre. Um sein Ziel zu erreichen, muss er sehr viel Mut beweisen. Er muss als Hüter Erfolg haben, einen neuen Campbewohner finden und ihn sicher nach Half-Blood Hill bringen.«
»Aber das hat er doch!«
»Mag sein, dass du Recht hast«, sagte Chiron. »Aber das kann nicht ich beurteilen. Das haben Dionysos und der Rat der behuften Älteren zu entscheiden. Ich fürchte, sie werden diesen Einsatz nicht als Erfolg betrachten. Schließlich hat Grover dich in New York aus den Augen verloren. Und dann ist da das unglückselige … äh … Schicksal deiner Mutter. Und die Tatsache, dass Grover bewusstlos war, als du ihn über die Grundstücksgrenze gezogen hast. Der Rat könnte bezweifeln, dass das alles ein Beweis für Grovers Mut ist.«
Ich hätte gern widersprochen. An allem, was passiert war, trug Grover schließlich keine Schuld. Und ich hatte ein rabenschwarzes Gewissen. Wenn ich Grover am Busbahnhof nicht ausgetrickst hätte, dann hätte er vielleicht jetzt nicht diesen Ärger.
»Er bekommt doch eine zweite Chance, oder?«
Chiron zögerte. »Leider war das hier schon Grovers zweite Chance, Percy. Der Rat hatte keine große Lust, ihm noch eine zu geben, nach allem, was beim ersten Mal, vor fünf Jahren, passiert ist. Beim Olymp, ich habe ihm geraten, mit seinem nächsten Versuch etwas zu warten. Er ist noch immer so klein für sein Alter …«
»Wie alt ist er?«
»Achtundzwanzig.«
»Was! Und dann geht er in die sechste Klasse?«
»Satyrn reifen nur halb so schnell wie menschliche Wesen, Percy. Grover ist seit etwa sechs Jahren ungefähr so weit wie ein Schüler aus der Mittelstufe.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Allerdings«, stimmte Chiron zu. »Grover ist sogar für einen Satyrn ein ziemlicher Spätentwickler und auch in Waldmagie bringt er noch keine überzeugenden Leistungen. Leider wollte er um jeden Preis seinen Traum verfolgen. Aber vielleicht sucht er sich jetzt eine andere Laufbahn …«
»Das ist nicht fair«, sagte ich. »Was ist denn beim ersten Mal passiert? War das wirklich so schlimm?«
Chiron wandte sich schnell ab. »Gehen wir weiter, ja?«
Aber ich war noch nicht bereit, das Thema fallen zu lassen. Als Chiron das Schicksal meiner Mutter erwähnt und dabei offenbar das Wort »Tod« vermieden hatte, war mir etwas durch den Kopf geschossen. Die Spur einer Idee – ein winziges, hoffnungsvolles Feuerchen – nahm in meinen Gedanken Form an.
»Chiron«, sagte ich. »Wenn die Götter und der Olymp und das alles wirklich sind …«
»Ja, Kind?«
»Bedeutet das, dass auch die Unterwelt wirklich ist?«
Chirons Miene verdüsterte sich.
»Ja, Kind.« Er hielt inne und schien seine weiteren Worte sorgfältig zu wählen. »Es gibt einen Ort, wo der Geist nach dem Tod hingeht. Aber bis auf Weiteres … bis wir mehr wissen … schlage ich dir vor, nicht mehr daran zu denken.«
»Was soll das heißen, bis wir mehr wissen?«
»Komm jetzt, Percy. Ich zeige dir den Wald.«
Als wir näher kamen, ging mir auf, wie riesig der Wald war. Er nahm fast ein Viertel des Tales ein, und die Bäume waren so hoch und so dicht, dass man sich leicht vorstellen konnte, dass er zuletzt von der amerikanischen Urbevölkerung betreten worden war.
Chiron sagte: »Der Wald ist bewohnt. Du kannst dein Glück versuchen, wenn du willst, aber dann solltest du bewaffnet sein.«
»Bewohnt von wem?«, fragte ich. »Bewaffnet mit was?«
»Du wirst schon sehen. Am Freitagabend wird die Flagge erobert. Hast du schon Schwert und Schild?«
»Schwert und …«
»Nein«, sagte Chiron. »Wohl nicht. Ich glaube, Größe 5 müsste richtig sein. Ich sehe später im Zeughaus nach.«
Ich hätte gern gefragt, warum ein Sommercamp denn ein Zeughaus brauchte, aber ich hatte ohnehin schon genug nachzudenken. Wir gingen weiter. Wir sahen das Bogenschießgelände, den See zum Rudern, die Speerwurfbahn, das Amphitheater, wo auch gesungen wurde, und die Arena, in der, wie Chiron sagte, Schwert-und Speerkämpfe ausgetragen wurden.
»Schwert-und Speerkämpfe?«, fragte ich.
»Wettkämpfe zwischen den einzelnen Hütten, solche Sachen«, erklärte er. »Nicht tödlich. Normalerweise nicht. Ach ja, und dann gibt es noch die Mensa.«
Chiron zeigte auf einen Pavillon mit weißen griechischen Säulen auf einem Hügel mit Blick auf das Meer. Dort stand ein Dutzend steinerner Picknicktische. Es gab kein Dach. Und keine Wände.
»Was macht ihr, wenn es regnet?«, fragte ich.
Chiron schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Dann müssen wir doch wohl trotzdem essen, oder?« Ich beschloss, das Thema fallen zu lassen.
Zum Schluss zeigte er mir die Hütten. Es waren zwölf, sie standen am Seeufer zwischen den Bäumen wie zu einem Hufeisen aufgestellt, zwei am Ende, dann fünf auf jeder Seite. Und zweifellos handelte es sich dabei um die seltsamste Ansammlung von Behausungen, die ich je gesehen hatte.
Abgesehen von der Tatsache, dass über jeder Tür eine große Messingnummer angebracht war (ungerade Zahlen links, gerade rechts), sahen sie einfach unglaublich aus. Nr. 9 hatte einen Schlot wie eine kleine Fabrik. An den Wänden von Nr. 4 rankten sich Tomaten hoch und das Dach war aus echtem Glas. Haus 7 schien aus purem Gold zu bestehen, es funkelte dermaßen im Sonnenlicht, dass ich fast nicht hinsehen konnte. Alle waren auf einen Platz von der Größe eines Fußballfeldes ausgerichtet, auf dem überall griechische Statuen, Springbrunnen, Blumenbeete und etliche Basketballnetze aufgestellt waren (Letzteres war schon eher nach meinem Geschmack).
Mitten auf dem Feld befand sich eine große, von Steinen umgebene Feuerstelle. Obwohl es ein warmer Nachmittag war, glimmte dort ein Feuer. Ein Mädchen von vielleicht neun Jahren schürte die Flammen und drehte die Kohlenstücke mit einem Stock um.
Die beiden Hütten am Feldrand, die Nr. 1 und die Nr. 2, sahen aus wie die Mausoleen eines Ehepaars, große weiße Marmorkästen, vor denen schwere Säulen standen. Hütte 1 war die größere und klobigere von beiden. Die polierten Bronzetüren leuchteten wie ein Hologramm, so dass immer wieder Blitze darüber hinwegzujagen schienen. Nr. 2 wirkte eleganter, mit dünneren Säulen, die mit Granatäpfeln und Blumen verziert waren. In die Wände waren Bilder von Pfauen eingeritzt.
»Zeus und Hera?«, tippte ich.
»Richtig«, sagte Chiron.
»Die Hütten scheinen aber leer zu sein.«
»Das sind mehrere der Hütten hier. So ist es. In 1 oder 2 wohnt niemals jemand.«
Na gut. Jede Hütte hatte also einen anderen Gott oder eine andere Göttin als Maskottchen. Zwölf Hütten für die zwölf olympischen Gottheiten. Aber warum standen einige leer?
Ich blieb vor der ersten Hütte auf der linken Seite stehen, vor Hütte 3.
Sie war nicht so hoch und mächtig wie Nr. 1, sondern lang und niedrig und solide gebaut. Die Außenwände waren aus grobem grauem Stein, in den Muschel-und Korallenstücke eingelassen waren, so, als seien die Quader aus dem Meeresboden herausgehauen worden. Ich schaute durch die Türöffnung, aber Chiron sagte: »Also, das würde ich lieber lassen.«
Ehe er mich zurückziehen konnte, nahm ich den salzigen Geruch des Hütteninneren wahr, es roch wie der Wind am Strand von Montauk. Die Innenwände leuchteten wie das Perlmutt von Meeresschnecken. Ich sah sechs leere Etagenbetten mit seidenen Decken. Aber es machte nicht den Eindruck, als übernachte dort jemals irgendwer. Die Hütte kam mir so traurig und einsam vor, dass ich froh war, als Chiron mir die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Komm jetzt weiter, Percy.«
In den meisten anderen Hütten wimmelte es nur so von Bewohnern.
Nr. 5 war hellrot, aber schrecklich schlampig angestrichen, die Farbe schien aus Eimern und mit den Händen an die Wände geschleudert worden zu sein. Das Dach war mit Stacheldraht überzogen. Über dem Eingang hing der ausgestopfte Kopf eines wilden Ebers, der mich nicht aus den Augen zu lassen schien. Ich konnte eine Bande von übel aussehenden Jugendlichen sehen, Mädchen und Jungen, die Armdrücken machten und laut miteinander stritten, während im Hintergrund ohrenbetäubende Rockmusik lief. Die Lauteste war ein Mädchen von vielleicht dreizehn oder vierzehn. Sie trug unter einer Tarnjacke ein CAMP HALF-BLOOD-T-Shirt in Größe XXXL. Sie starrte mich an und feixte hämisch. Sie erinnerte mich an Nancy Bobofit, nur war sie viel größer und sah noch viel gemeiner aus, außerdem waren ihre langen, strähnigen Haare nicht rot, sondern braun.
Ich ging weiter und versuchte, Chirons Hufen auszuweichen. »Wir haben noch gar keine anderen Zentauren gesehen«, fiel mir auf.
»Nein«, sagte Chiron traurig. »Meine Verwandten sind leider wild und barbarisch. Du kannst ihnen in der Wildnis oder bei wichtigen Sportereignissen begegnen, hier aber nicht.«
»Sie haben gesagt, dass Sie Chiron heißen. Sind Sie wirklich …«
Er lächelte auf mich herab. »Der Chiron aus den Geschichten? Der Trainer des Herkules und so weiter? Ja, Percy, der bin ich.«
»Aber müssten Sie dann nicht tot sein?«
Chiron blieb stehen, als fände er diese Frage interessant. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich sein müsste. Tatsache ist, ich kann nicht tot sein. Verstehst du, vor Äonen haben die Götter mir meinen Wunsch gewährt, weiter die Arbeit leisten zu können, die ich liebe. So lange, wie die Menschheit mich braucht, darf ich Helden ausbilden. Dieser Wunsch hat mir so viel gebracht … und so viel genommen. Aber ich bin noch immer hier und daraus kann ich nur schließen, dass ich noch immer gebraucht werde.«
Ich stellte mir vor, wie es wäre, dreitausend Jahre lang als Lehrer zu arbeiten. In die Liste meiner zehn dringlichsten Wünsche hätte ich das nicht gerade aufgenommen.
»Ist das denn nie langweilig?«
»Nein, nein«, sagte er. »Manchmal ist es schrecklich deprimierend, aber langweilig nie.«
»Wieso deprimierend?«
Chiron schien wieder schwerhörig geworden zu sein.
»Ach, sieh mal«, sagte er. »Annabeth wartet schon auf uns.«
Die Blonde aus dem Wohnhaus saß vor der letzten Hütte links, Nr. 11, und las in einem Buch.
Als wir bei ihr ankamen, musterte sie mich kritisch, als müsse sie noch immer daran denken, dass ich im Schlaf sabberte.
Ich versuchte den Titel ihres Buches zu entziffern, aber das gelang mir nicht. Ich machte schon meine Legasthenie dafür verantwortlich, da ging mir auf, dass es gar kein englisches Buch war. Die Buchstaben kamen mir griechisch vor. Ich meine, wie griechische Schrift eben. In dem Buch waren Bilder von Tempeln und Statuen und allerlei Säulen, wie in einem Architekturbuch.
»Annabeth«, sagte Chiron. »Ich habe um zwölf eine Bogenschützenklasse. Würdest du Percy weiter umherführen?«
»Ja, Sir.«
»Hütte 11«, sagte Chiron zu mir und zeigte auf die Tür. »Fühl dich ganz wie zu Hause.«
Von allen Hütten sah 11 am ehesten aus wie eine ganz normale alte Hütte in einem Sommercamp. Betonung auf »alt«. Die Schwelle war abgetreten, die braune Farbe blätterte ab. Über der Tür befand sich ein Symbol, eine gefiederte Stange, um die sich zwei Schlangen wanden. Wie wurde dieser Heroldsstab noch gleich genannt? Genau, Caduceus.
Drinnen wimmelte es nur so von Leuten, Jungen und Mädchen, viel mehr, als Betten vorhanden waren. Überall auf dem Boden waren Schlafsäcke ausgebreitet. Es sah aus wie ein Turnsaal, in dem das Rote Kreuz Flüchtlinge untergebracht hat.
Chiron ging nicht hinein. Die Tür war zu niedrig für ihn. Aber als die Bewohner ihn entdeckten, sprangen alle auf und verbeugten sich achtungsvoll.
»Na dann«, sagte Chiron. »Viel Glück, Percy. Wir sehen uns beim Essen.«
Dann galoppierte er davon.
Ich blieb in der Tür stehen und sah mir die anderen an. Sie verbeugten sich nicht mehr. Sie starrten mich an und überlegten, was sie von mir halten sollten. Das kannte ich. Ich hatte es auf vielen Schulen erlebt.
»Na?«, drängte Annabeth. »Mach schon.«
Und natürlich stolperte ich, als ich über die Schwelle treten wollte, und machte mich total lächerlich. Ich hörte einige Bewohner kichern, aber niemand sagte etwas.
Annabeth verkündete: »Percy Jackson, hiermit stelle ich dir Hütte 11 vor.«
»Regulär oder nicht entschieden?«, fragte jemand.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, aber Annabeth sagte: »Nicht entschieden.«
Alles stöhnte.
Ein Junge, der ein wenig älter war als die anderen, trat vor. »Aber, aber, Leute. Deshalb sind wir doch hier. Willkommen, Percy. Du kannst dahinten auf dem Boden schlafen.«
Der Typ war um die neunzehn und sah ziemlich cool aus. Er war groß und muskulös, hatte kurz geschorene sandfarbene Haare und ein freundliches Lächeln. Er trug ein orangefarbenes ärmelloses Hemd, abgeschnittene Jeans, Sandalen und ein ledernes Halsband, an dem fünf unterschiedlich gefärbte Tonkugeln hingen. Das Einzige, was nicht zu diesem Aussehen passte, war eine dicke weiße Narbe, die sich von seinem rechten Auge bis zu seinem Kiefer zog, wie eine alte Schnittwunde.
»Das ist Luke«, sagte Annabeth und ihre Stimme klang irgendwie anders. Ich schaute sie an und hätte schwören können, dass sie rot wurde. Sie fing meinen Blick auf und riss sich zusammen. »Er ist bis auf Weiteres dein Tutor.«
»Bis auf Weiteres?«, fragte ich.
»Du bist nicht entschieden«, erklärte Luke geduldig. »Sie wissen nicht, in welche Hütte du gehörst, und deshalb bist du hier. In Hütte 11 kommen alle Neulinge und alle Gäste. Was ja nur natürlich ist. Hermes, unser Patron, ist der Gott der Reisenden.«
Ich schaute mir die winzige Stelle auf dem Fußboden an, die mir zugeteilt worden war. Ich hatte nichts, was ich hinlegen konnte, um sie als mein Territorium zu kennzeichnen, keine Kleider, kein Gepäck, keinen Schlafsack. Ich hatte nur das Minotaurushorn. Fast hätte ich es auf den Boden gelegt, aber dann fiel mir ein, dass Hermes ja auch der Gott der Diebe gewesen war.
Ich schaute mich zu den anderen um, einige sahen mürrisch und misstrauisch aus, andere grinsten albern, wieder andere starrten mich an und schienen auf eine Gelegenheit zu warten, meine Taschen zu durchsuchen.
»Wie lange muss ich hierbleiben?«, fragte ich.
»Gute Frage«, sagte Luke. »Bis du entschieden bist.«
»Wie lange wird das dauern?«
Die anderen lachten.
»Komm jetzt«, sagte Annabeth zu mir. »Ich zeig dir den Volleyballplatz.«
»Den hab ich schon gesehen.«
»Los, komm.«
Sie packte mich am Handgelenk und zog mich aus der Hütte. Ich konnte hören, wie alle in Nr. 11 hinter mir herlachten.
Als wir einige Meter gegangen waren, sagte Annabeth: »Jackson, das musst du besser hinkriegen.«
»Was denn?«
Sie verdrehte die Augen und murmelte: »Ich kann einfach nicht fassen, dass ich dich für den Richtigen gehalten habe.«
»Was ist eigentlich mit dir los?« Jetzt wurde ich langsam sauer. »Ich weiß nur, dass ich irgendeinen Stierkerl umgebracht habe …«
»Red bloß nicht so«, warnte mich Annabeth. »Weißt du, wie viele Leute hier im Lager sich wünschten, sie hätten diese Chance gehabt?«
»Umgebracht zu werden?«
»Gegen den Minotaurus zu kämpfen. Was glaubst du denn, wofür wir hier trainieren?«
Ich schüttelte den Kopf. »Hör mal, wenn dieses Dings, mit dem ich da gekämpft habe, wirklich der Minotaurus war, der aus den Geschichten …«
»Ja.«
»Es gibt nur einen.«
»Ja.«
»Und der ist tot, schon seit einer Billion von Jahren, oder? Theseus hat ihn im Labyrinth erschlagen. Also …«
»Ungeheuer sterben nicht, Percy. Sie können erschlagen werden. Aber sie sterben nicht.«
»Ach, danke. Das erklärt ja alles.«
»Sie haben keine Seele wie du und ich. Du kannst sie für eine Weile auflösen, vielleicht sogar für ein ganzes Leben, wenn du Glück hast. Aber sie sind Urkräfte. Chiron nennt sie Archetypen. Irgendwann nehmen sie wieder Form an.«
Ich dachte an Mrs Dodds. »Du meinst, wenn ich zum Beispiel aus Versehen eine mit einem Schwert erschlage …«
»Die Fu… ich meine, deine Mathelehrerin. Ja, richtig. Sie ist noch immer irgendwo da draußen. Du hast sie nur sehr, sehr wütend gemacht.«
»Woher weißt du von Mrs Dodds?«
»Du redest im Schlaf.«
»Du hättest sie fast irgendwie genannt. Furie? Das sind die Rachegöttinnen im Hades, nicht?«
Annabeth schaute nervös zu Boden, als könne der sich jeden Moment auftun und sie verschlingen. »Du solltest nicht ihren Namen nennen, nicht einmal hier. Wir bezeichnen sie als die Wohlgesinnten, wenn wir sie überhaupt erwähnen müssen.«
»Hör mal, können wir überhaupt irgendwas sagen, ohne dass gleich der Donner losbricht?« Ich hörte mich quengelig an, das merkte ich selbst, aber das war mir jetzt egal. »Warum muss ich überhaupt in Hütte 11 schlafen? Warum ist es da so überfüllt? Drüben wimmelt es doch nur so von leeren Betten.«
Ich zeigte auf die Hütten ganz vorn und Annabeth erbleichte. »Du kannst dir nicht einfach eine Hütte aussuchen, Percy. Es kommt darauf an, wer deine Eltern sind. Oder ein Elternteil eben.«
Sie starrte mich an und schien darauf zu warten, dass ich endlich kapierte.
»Meine Mutter ist Sally Jackson«, sagte ich. »Sie arbeitet in einem Süßigkeitenkiosk in der Grand Central Station. Das hat sie zumindest.«
»Das mit deiner Mutter tut mir leid, Percy. Aber die meine ich jetzt nicht. Ich rede über deinen anderen Elternteil. Deinen Vater.«
»Der ist tot. Ich habe ihn nie gekannt.«
Annabeth seufzte. Offenbar führte sie nicht zum ersten Mal so ein Gespräch. »Dein Vater ist nicht tot, Percy.«
»Woher willst du das wissen? Kennst du ihn?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wie kannst du dann behaupten …«
»Weil ich dich kenne. Du wärst nicht hier, wenn du nicht einer von uns wärst.«
»Du weißt doch gar nichts über mich.«
»Ach?« Sie hob eine Augenbraue. »Ich wette, du bist von einer Schule zur anderen geschickt worden. Ich wette, du bist ganz oft geflogen.«
»Wie …«
»Giltst als Legastheniker. Vermutlich auch als hyperaktiv.«
Ich versuchte meine Verlegenheit hinunterzuschlucken. »Was spielt das hier für eine Rolle?«
»Alles in allem ist das fast ein sicheres Anzeichen. Wenn du lesen willst, rutschen die Buchstaben von der Seite, nicht? Das liegt daran, dass dein Kopf auf Altgriechisch eingestellt ist. Und deine Hyperaktivität – du bist impulsiv, kannst im Klassenzimmer nicht stillsitzen. Das sind deine Schlachtfeldreflexe. Im Kampf würden sie dir das Leben retten. Was die Konzentrationsprobleme angeht, die haben damit zu tun, dass du zu viel siehst, Percy, nicht zu wenig. Deine Sinne sind besser als die von normalen Sterblichen. Natürlich möchten die Lehrer dir lieber Beruhigungsmittel geben. Die meisten sind einfach Idioten. Und sie wollen nicht, dass du sie so siehst, wie sie wirklich sind.«
»Das klingt so, als … als hättest du das auch durchgemacht?«
»Die meisten von uns hier haben das durchgemacht. Wenn du nicht wärst wie wir, hättest du den Minotaurus nicht überlebt und Nektar und Ambrosia erst recht nicht.«
»Nektar und Ambrosia.«
»Das, was du gegessen und getrunken hast, um wieder auf die Beine zu kommen. Das hätte ein normales Kind umgebracht. Es hätte dein Blut in Feuer und deine Knochen in Sand verwandelt und du wärst jetzt tot. Kapier es endlich. Du bist ein Halbblut.«
Ein Halbblut.
Mir wirbelten so viele Fragen durch den Kopf, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte.
Da rief eine heisere Stimme: »Haha! Ein Neuer!«
Ich sah mich um. Das dicke Mädchen aus der scheußlichen roten Hütte kam auf uns zu. Hinter ihr drei andere Mädchen, alle groß und hässlich und mit schadenfroher Miene. Alle trugen Tarnjacken.
»Clarisse.« Annabeth seufzte. »Warum gehst du nicht deinen Speer polieren oder so was?«
»Aber klar doch, Prinzessin«, sagte die andere. »Damit ich dich am Freitag damit durchbohren kann.«
»Errete es korakas«, sagte Annabeth und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass das Griechisch war und bedeutete: »Geht doch zu den Raben.« Aber ich hatte das Gefühl, dass es böser gemeint war, als es sich anhörte. »Du hast nicht die Spur einer Chance.«
»Wir werden Staub aus euch machen«, sagte Clarisse, aber ihre Augen zuckten. Vielleicht war sie nicht sicher, ob sie ihre Drohung auch in die Tat umsetzen könnte. Sie drehte sich zu mir. »Wer ist dieser kleine Dussel?«
»Percy Jackson«, sagte Annabeth, »hiermit stelle ich dir Clarisse, Tochter des Ares, vor.«
Ich riss die Augen auf. »Wie … der Kriegsgott?«
Clarisse feixte. »Stört dich das?«
»Nein«, sagte ich und fasste mich wieder. »Das erklärt den Gestank.«
Clarisse knurrte. »Wir haben ein Initiationsritual für Neue, Prissy.«
»Percy.«
»Von mir aus. Komm mit, dann zeig ich’s dir.«
»Clarisse«, schaltete Annabeth sich ein.
»Halt du dich da raus, du Superschlaue.«
Annabeth machte ein gequältes Gesicht, aber sie unternahm nichts weiter. Und ich wollte ihre Hilfe auch nicht. Ich war neu hier. Ich musste mir selbst Respekt verschaffen.
Ich reichte Annabeth mein Minotaurushorn und machte mich zum Kampf bereit, doch ehe ich mich’s versah, hatte Clarisse mich am Nacken gepackt und zog mich zu einem Gebäude aus Betonblöcken, von dem ich sofort wusste, dass dort die Duschräume waren.
Ich trat und schlug um mich. Ich war schon in viele Prügeleien verwickelt gewesen, aber diese Clarisse hatte Fäuste wie aus Eisen. Sie zog mich in den Waschraum der Mädchen. Auf der einen Seite war eine Reihe Toiletten, auf der anderen eine Reihe Duschkabinen. Es stank wie auf allen öffentlichen Klos und ich dachte – falls ich überhaupt denken konnte, während Clarisse mir die Haare ausriss –, wenn dieses Camp wirklich den Göttern gehörte, dann müssten sie sich eigentlich elegantere Klos leisten können.
Clarisse’ Freundinnen lachten und ich versuchte, die Kraft wiederzufinden, mit der ich gegen den Minotaurus gekämpft hatte, aber die war verflogen.
»Und der soll Material für die Großen Drei sein«, sagte Clarisse, als sie mich auf eine Toilette zustieß. »Na, von mir aus. Wahrscheinlich hat der Minotaurus sich totgelacht, so blöd, wie der aussieht.«
Ihre Freundinnen kicherten.
Annabeth stand in der Ecke und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Clarisse zwang mich auf die Knie und presste meinen Kopf zur Kloschüssel runter. Es stank nach rostigen Rohren und nach, na ja, nach dem, was eben in Toiletten ist. Ich gab mir alle Mühe, den Kopf hochzuhalten. Ich starrte das schäumende Wasser an und dachte, da kriegt sie mich nicht rein. Das nicht.
Dann passierte etwas. Ich spürte, wie etwas an meinem Magen zerrte. Ich hörte die Rohre grollen, dann bebte die Spülung. Clarisse ließ meine Haare los. Wasser schoss aus der Toilette, jagte in hohem Bogen über meinen Kopf, und das Nächste, was ich mitbekam, war, dass ich auf dem Boden lag und Clarisse hinter mir schrie.
Ich fuhr herum. Wasser schoss aus der Toilette und traf Clarisse so hart mitten im Gesicht, dass sie auf ihren Hintern fiel. Das Wasser richtete sich auf sie wie ein Strahl aus einem Feuerwehrschlauch und schleuderte sie rückwärts in eine Duschkabine.
Sie schlug um sich, schnappte nach Luft und ihre Freundinnen wollten ihr zu Hilfe kommen. Doch dann explodierten auch die übrigen Toiletten und sechs weitere Wasserfontänen warfen die Mädchen um. Die Duschen schlossen sich an und sie schwemmten die Mädels aus dem Waschraum und ließen sie dabei wie Abfall im Kreis wirbeln.
Kaum waren sie durch die Tür gespült worden, da spürte ich, wie der Druck in meinem Unterleib nachließ, und das Wasser versiegte so rasch, wie es gekommen war.
Der gesamte Waschraum war überflutet. Annabeth war nicht verschont geblieben. Sie triefte vor Nässe, war aber nicht nach draußen geschwemmt worden. Sie stand noch an derselben Stelle wie zuvor und starrte mich geschockt an.
Ich sah zu Boden und stellte fest, dass dort, wo ich saß, die einzige trockene Stelle im ganzen Raum war. Mich umgab ein Kreis trockener Boden. Kein Tropfen Wasser hatte meine Kleidung getroffen. Rein gar keiner.
Zitternd kam ich auf die Beine.
Annabeth fragte: »Wie hast du …«
»Ich weiß nicht.«
Wir gingen zur Tür. Draußen lagen Clarisse und ihre Freundinnen im Schlamm. Etliche Campbewohner waren herbeigerannt und machten sich über sie lustig. Clarisse’ Haare klebten an ihrem Gesicht. Ihre Tarnjacke triefte und stank wie eine Kloake. Sie starrte mich voller Hass an. »Du bist tot, Neuer. Tot wie nur was.«
Ich hätte vermutlich die Klappe halten sollen, aber ich fragte: »Möchtest du noch mal mit Toilettenwasser gurgeln, Clarisse? Halt lieber die Klappe.«
Ihre Freundinnen mussten sie zurückhalten. Sie zerrten sie zu Hütte 5 und die anderen wichen aus, um sich vor ihren strampelnden Beinen in Sicherheit zu bringen.
Annabeth starrte mich an. Ich wusste nicht, ob sie einfach sprachlos war oder sauer, weil ich sie auch nass gespritzt hatte.
»Was ist?«, fragte ich. »Woran denkst du?«
»Ich denke«, sagte sie, »dass ich dich beim Flaggenerobern in meinem Team haben will.«
Mein Abendessen löst sich in Rauch auf
Die Sache mit dem Zwischenfall im Waschraum sprach sich sofort herum. Wo immer ich auftauchte, zeigte irgendwer auf mich und murmelte etwas über Klowasser. Vielleicht starrten sie aber auch nur die noch immer ziemlich triefende Annabeth an.
Sie führte mich weiter herum: zur Schmiede (wo die Campbewohner ihre eigenen Schwerter schmiedeten), zum Haus des Kunsthandwerks (wo Satyrn mit einem Sandstrahlgebläse die riesige Marmorstatue eines Ziegenmannes vollendeten) und zur Kletterwand, die eigentlich aus zwei einander gegenüberliegenden Mauern bestand, die heftig bebten, Steinquader fallen ließen, Lava spien und gegeneinanderschlugen, wenn man nicht rasch genug nach oben kletterte.
Endlich kehrten wir zum See zurück, von dem ein Weg zurück zu den Hütten führte.
»Ich muss zum Training«, sagte Annabeth leise. »Abendessen gibt’s um halb acht. Geh einfach mit den Leuten aus deiner Hütte zur Mensa.«
»Annabeth, das mit den Toiletten tut mir leid.«
»Macht nichts.«
»Das war nicht meine Schuld.«
Sie musterte mich skeptisch und mir ging auf, dass es doch meine Schuld war. Ich hatte Wasser aus Duschen und Toiletten schießen lassen. Ich wusste nicht, wie. Aber die Toiletten hatten auf mich reagiert.
»Du musst mit dem Orakel sprechen«, sagte Annabeth.
»Mit wem?«
»Nicht mit wem. Mit was. Mit dem Orakel. Ich werde Chiron fragen.«
Ich starrte in den See und wünschte, irgendwer gäbe mir ausnahmsweise einmal eine klare Antwort.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass vom Grund des Sees her jemand meinen Blick erwidern würde, deshalb setzte mein Herz einen Schlag aus, als ich zwei Teenies sah, die ungefähr sechs Meter unter mir mit übereinandergeschlagenen Beinen vor dem Anlegesteg saßen. Sie trugen Jeans und schimmernde grüne T-Shirts und ihre braunen Haare trieben lose um ihre Schultern. Kleine Fische schnellten vor ihnen hin und her. Sie lächelten und winkten mir zu wie einem sehnsüchtig erwarteten Freund.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Deshalb winkte ich zurück.
»Ermutige sie bloß nicht«, mahnte Annabeth. »Najaden haben nichts als Flirten im Kopf.«
»Najaden«, wiederholte ich und fühlte mich restlos überwältigt. »Das reicht. Ich will jetzt nach Hause.«
Annabeth runzelte die Stirn. »Kapierst du nicht, Percy? Du bist hier zu Hause. Das hier ist für Kinder wie uns der einzig sichere Ort auf der ganzen Erde.«
»Du meinst, geistig gestörte Kinder?«
»Ich meine, nicht menschliche. Nicht nur menschliche jedenfalls. Halb menschliche.«
»Halb menschlich und halb was?«
»Das musst du doch wohl langsam wissen.«
Ich mochte es nicht zugeben, aber ich hatte Angst, dass sie Recht haben könnte. Ich spürte ein Zittern in meinen Gliedern, ein Gefühl, das ich manchmal gehabt hatte, wenn meine Mutter über meinen Vater sprach.
»Gott«, sagte ich. »Halbgott.«
Annabeth nickte. »Dein Vater ist nicht tot, Percy. Er gehört zu den olympischen Gottheiten.«
»Das ist doch … verrückt.«
»Wirklich? Was haben die Götter in den alten Geschichten denn vor allem gemacht? Sie haben sich in Menschen verliebt und Kinder mit ihnen gezeugt. Meinst du, sie haben in den letzten paar Jahrtausenden ihre Gewohnheiten geändert?«
»Aber das sind doch bloß …« Fast hätte ich schon wieder Mythen gesagt. Dann fiel mir Chirons Warnung ein, dass ich in zweitausend Jahren vielleicht auch als Mythos gelten würde. »Aber wenn alle hier Halbgötter sind …«
»Demigottheiten«, sagte Annabeth. »Das ist die offizielle Bezeichnung. Oder Halbblut.«
»Aber wer ist dann dein Vater?«
Ihre Hände umklammerten das Geländer des Anlegestegs. Ich hatte den Eindruck, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Mein Vater ist Professor in West Point«, sagte sie. »Ich habe ihn als kleines Kind zuletzt gesehen. Er lehrt amerikanische Geschichte.«
»Er ist ein Mensch?«
»Was soll das denn heißen? Glaubst du denn, nur männliche Gottheiten können irdische Wesen attraktiv finden? Das ist aber ganz schön sexistisch.«
»Wer ist dann deine Mutter?«
»Hütte 6.«
»Soll heißen?«
Annabeth reckte sich. »Athene. Die Göttin der Weisheit und des Krieges.«
Na gut, dachte ich. Warum auch nicht?
»Und mein Vater?«
»Nicht entschieden«, sagte Annabeth. »Hab ich dir doch schon gesagt. Das weiß niemand.«
»Außer meiner Mutter. Sie weiß es.«
»Nicht unbedingt, Percy. Götter geben nicht immer ihre Identität preis.«
»Mein Vater hat das bestimmt getan. Er hat sie geliebt.«
Annabeth schaute mich forschend an. Sie wollte meine Illusion nicht zerstören. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht wird er dir ein Zeichen geben. Nur dann kannst du es mit Sicherheit wissen: Dein Vater muss dir ein Zeichen geben, durch das er dich als seinen Sohn anerkennt. Manchmal kommt das vor.«
»Du meinst, manchmal auch nicht?«
Annabeth fuhr mit der Handfläche über das Geländer. »Die Gottheiten haben viel zu tun. Sie haben viele Kinder und manchmal … na ja, manchmal interessieren sie sich nicht für uns, Percy. Wir sind ihnen egal.«
Ich dachte an einige der Kinder, die ich in der Hermeshütte gesehen hatte, Teenager, die mürrisch und deprimiert aussahen, als warteten sie auf einen Anruf, der niemals kommen würde. Ich hatte solche Kinder auch auf der Yancy Academy gekannt, sie wurden von reichen Eltern, die keine Zeit für sie hatten, in Internate abgeschoben. Aber von Göttern hätte man ja wohl mehr erwarten können.
»Also sitze ich hier fest«, sagte ich. »Ist das so? Für den Rest meines Lebens?«
»Das kommt darauf an«, sagte Annabeth. »Manche sind nur den Sommer über hier. Wenn du ein Kind von Aphrodite oder Demeter bist, dann bist du wahrscheinlich nicht besonders mächtig. Also ignorieren dich die Ungeheuer vielleicht und dann reichen ein paar Monate Training im Sommer aus und du kannst den Rest des Jahres in der Welt der Sterblichen leben. Aber für einige von uns wäre es zu gefährlich, hier wegzugehen. Wir sind das ganze Jahr über hier. In der Welt der Sterblichen ziehen wir die Ungeheuer an. Sie spüren uns. Sie greifen uns an. Meistens ignorieren sie uns, bis wir alt genug sind, um Ärger zu machen – so zehn oder elf Jahre alt –, aber danach müssen die meisten Demigottheiten sich hierher retten oder sie kommen ums Leben. Einige wenige können draußen überleben und berühmt werden. Glaub mir, ich könnte dir Namen nennen, die du längst kennst. Manche wissen nicht einmal, dass sie Demigottheiten sind. Aber das ist nur bei sehr, sehr wenigen der Fall.«
»Ungeheuer kommen hier also nicht herein?«
Annabeth schüttelte den Kopf. »Nur wenn sie zu irgendeinem Zweck im Wald ausgesetzt worden sind oder wenn jemand hier sie herbeigerufen hat.«
»Aber wieso sollte irgendwer ein Ungeheuer herbeirufen?«
»Zu Trainingskämpfen. Oder um anderen eins auszuwischen.«
»Eins auszuwischen?«
»Das Entscheidende ist, dass die Grenzen versiegelt sind, um Ungeheuer und Sterbliche auszusperren. Von außen sehen Sterbliche ins Tal und können nichts Außergewöhnliches entdecken, sie sehen nur die Erdbeerpflanzungen.«
»Und du … du bist das ganze Jahr über hier?«
Annabeth nickte. Sie zog unter ihrem T-Shirt ein Lederhalsband mit fünf unterschiedlich gefärbten Tonperlen hervor. Es sah aus wie Lukes, nur hatte Annabeth auf ihres auch einen großen goldenen Ring gezogen, eine Art Collegering.
»Ich bin mit sieben Jahren hergekommen«, sagte sie. »Jeden August, am letzten Tag des Schuljahres, bekommen wir eine Perle als Zeichen dafür, dass wir wieder ein Jahr überlebt haben. Ich bin länger hier als die meisten Tutoren und die gehen schon aufs College.«
»Warum bist du schon so früh gekommen?«
Sie spielte an dem Ring an ihrem Halsband herum. »Das geht dich nichts an.«
»Ach.« Ich schwieg einen Moment lang betroffen. »Also … wenn ich wollte, könnte ich auch ganz einfach wieder von hier weggehen?«
»Das wäre Selbstmord, aber es wäre möglich, wenn Chiron oder Mr D es erlaubt. Was sie aber vor Ende des Schuljahres niemals tun würden, es sei denn …«
»Es sei denn?«
»Dir wird eine Aufgabe zugeteilt. Aber das kommt fast nie vor. Letztes Mal …«
Ihre Stimme versagte. Ich konnte ihr anhören, dass es beim letzten Mal nicht gut gegangen war.
»Als ich krank war«, sagte ich. »Als du mich mit diesem Kram gefüttert hast …«
»Ambrosia.«
»Ja. Da hast du mich nach der Sommersonnenwende gefragt.«
Annabeths Schultern spannten sich an. »Du weißt also doch etwas?«
»Na ja … nein. Auf meiner alten Schule hab ich Chiron und Grover einmal darüber reden hören. Da hat Grover die Sommersonnenwende erwähnt. Er hat so ungefähr gesagt, wir hätten wegen des Stichtages nicht viel Zeit. Was hat er damit gemeint?«
Sie ballte die Fäuste. »Wenn ich das wüsste. Chiron und die Satyrn wissen es, aber sie wollen es mir nicht verraten. Irgendwas ist auf dem Olymp passiert, irgendwas Großes. Als ich zuletzt da war, wirkte alles noch total normal.«
»Du warst auf dem Olymp?«
»Einige von uns Ganzjährigen – Luke und Clarisse und ich und noch ein paar andere – haben zur Wintersonnenwende eine Exkursion dorthin gemacht. Dann halten die Gottheiten ihren großen jährlichen Rat.«
»Aber … wie seid ihr hingekommen?«
»Mit der Long-Island-Bahn natürlich. Du steigst an der Penn Station aus. Empire State Building, Sonderfahrstuhl in den sechshundertsten Stock.« Sie sah mich an, als sei sie sicher, dass ich das alles längst wüsste. »Du bist doch aus New York, oder?«
»Aber sicher.« Meines Wissens hatte das Empire State Building nur hundertzwei Stockwerke, aber ich beschloss, das nicht weiter zu erwähnen.
»Gleich nach unserem Besuch«, sagte Annabeth, »wurde das Wetter ganz komisch, als wären die Gottheiten in Streit geraten. Seitdem hab ich einige Male aufgeschnappt, was die Satyrn sich so erzählen. Und ich kann mir eigentlich nur vorstellen, dass etwas gestohlen worden ist. Und wenn es bis zur Sommersonnenwende nicht wieder auftaucht, wird es Ärger geben. Als du gekommen bist, habe ich gehofft … Ich meine, Athene kommt mit fast allen gut aus, abgesehen von Ares. Und natürlich hat sie ihre Rivalität mit Poseidon. Aber davon mal ganz abgesehen, ich dachte, wir könnten zusammenarbeiten. Ich dachte, du wüsstest vielleicht etwas.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte ihr gern helfen, aber ich war zu hungrig und zu müde und einfach zu überfordert, um irgendwelche weiteren Fragen zu stellen.
»Ich brauche eine Aufgabe«, murmelte Annabeth. »Ich bin überhaupt nicht zu jung. Wenn sie mir nur sagen könnten, was los ist …«
Ich roch Barbecuerauch, der von irgendwo aus der Nähe kam. Annabeth hatte sicher meinen Magen knurren gehört. Sie sagte, ich solle vorgehen, sie werde mich später schon einholen. Ich ließ sie auf dem Anlegesteg stehen und sie fuhr mit ihren Fingern über das Geländer, als ob sie einen Schlachtplan entwarf.
In Hütte 11 redeten alle, rissen Witze und warteten auf das Abendessen. Mir fiel auf, dass viele dort einander ähnlich sahen: scharfe Nasen, geschwungene Augenbrauen, boshaftes Lächeln. Sie waren die Sorte Typen, die Lehrer sofort als Unruhestifter ausmachen. Glücklicherweise achtete niemand besonders auf mich, als ich zu meinem Platz ging und mich mit meinem Minotaurushorn dort auf den Boden fallen ließ.
Luke, mein Tutor, kam herüber. Auch er wies diese Hermes-Familienähnlichkeit auf. Sie wurde zwar von der Narbe auf seiner rechten Wange gestört, aber sein Lächeln war unverkennbar.
»Ich hab einen Schlafsack für dich«, sagte er. »Und ich hab dir aus dem Campkiosk ein paar Toilettensachen geklaut.«
Ich wusste nicht, ob das mit dem Klauen ein Scherz war, und sagte: »Danke.«
»Keine Ursache.« Luke setzte sich neben mich und lehnte sich an die Wand. »Harten ersten Tag gehabt?«
»Ich hab hier nichts zu suchen«, sagte ich. »Ich glaub ja nicht mal an Götter.«
»Ja«, sagte er. »So haben wir alle angefangen. Und wenn du erst an sie glaubst? Dann wird es auch nicht leichter.«
Die Verbitterung in seiner Stimme überraschte mich, weil Luke mir bisher ziemlich lässig vorgekommen war. Er sah aus, als könnte er so ungefähr mit allem fertig werden.
»Dein Vater ist also Hermes?«, fragte ich.
Er zog ein Springmesser aus der Hosentasche und eine Sekunde lang dachte ich, er wollte mich damit aufschlitzen, aber er kratzte nur den Lehm von seiner Sandalensohle. »Ja. Hermes.«
»Der Bote mit den Flügelschuhen?«
»Genau. Der. Boten, Ärzte, Reisende, Händler, Diebe. Alle, die auf den Straßen unterwegs sind. Deshalb bist du hier und kannst die Gastfreundschaft von Hütte 11 genießen. Hermes nimmt es nicht so genau mit seinen Schützlingen.«
Ich ging davon aus, dass Luke mich damit nicht als Niemand bezeichnen wollte. Er hatte nur so vieles andere im Kopf.
»Hast du deinen Dad mal getroffen?«, fragte ich.
»Einmal.«
Ich wartete und dachte, wenn er es mir erzählen wollte, dann würde er es mir erzählen. Offenbar wollte er nicht. Ich hätte gern gewusst, ob diese Geschichte irgendetwas mit seiner Narbe zu tun hatte.
Luke schaute auf und brachte ein Lächeln zu Stande. »Mach dir keine Sorgen, Percy. Die Leute hier sind fast alle in Ordnung. Schließlich gehören alle zur Verwandtschaft, oder? Wir kümmern uns umeinander.«
Er schien zu begreifen, wie verloren ich mir vorkam, und dafür war ich dankbar, denn ein älterer Typ wie er – auch wenn er als Tutor fungierte – hätte doch eigentlich einen Bogen um einen uncoolen Mittelstufler wie mich machen müssen. Aber Luke hatte mich in der Hütte willkommen geheißen. Er hatte sogar Toilettensachen für mich gestohlen und das war das Netteste, was an diesem Tag irgendwer für mich gemacht hatte.
Ich beschloss, ihm meine letzte große Frage zu stellen, über die ich mir schon den ganzen Nachmittag Gedanken gemacht hatte. »Clarisse, die Tochter von Ares, hat darüber Witze gerissen, dass ich angeblich Material für die ›Großen Drei‹ bin. Und Annabeth hat … Zweimal hat sie gesagt, ich könnte der ›Richtige‹ sein. Sie hat gesagt, ich sollte mit dem Orakel sprechen. Wovon reden die alle?«
Luke ließ sein Messer zuschnappen. »Ich hasse Weissagungen.«
»Wie meinst du das?«
Sein Gesicht um die Narbe herum zuckte. »Sagen wir es so: Ich habe für alle anderen alles vermasselt. Seit zwei Jahren, seit mein Ausflug in die Gärten der Hesperiden schiefgegangen ist, hat mir Chiron keinen Auftrag mehr geben wollen. Und Annabeth will unbedingt in die Welt hinaus. Sie hat Chiron dermaßen zugesetzt, dass er ihr endlich erzählt hat, dass er ihr Schicksal bereits kennt. Es gibt da eine Weissagung des Orakels. Er will ihr nicht alles sagen, meint aber, dass für Annabeth jetzt noch kein Auftrag vorgesehen ist. Sie muss warten, bis … bis jemand ganz Besonderes ins Camp kommt.«
»Jemand ganz Besonderes.«
»Mach dir da keine Sorgen, Kleiner«, sagte Luke. »Annabeth möchte bei jedem Neuen, der hier reinschneit, glauben, dass er das Omen ist, auf das sie wartet. Und jetzt komm, wir gehen essen.«
Kaum hatte er das gesagt, als in der Ferne ein Horn erscholl. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es sich um ein Muschelhorn handelte, obwohl ich noch nie eins gehört hatte.
Luke schrie: »Elf, los geht’s!«
Alle aus der Hütte, wir waren an die zwanzig, marschierten im Gänsemarsch auf den Hof. Wir stellten uns in einer Reihe auf: Die am längsten im Camp waren, ganz vorn, ich als Letzter. Auch aus den anderen Hütten kamen Leute, abgesehen von den drei leeren ganz vorn und von Hütte 8, die bei Tageslicht normal ausgesehen hatte, aber jetzt im Sonnenuntergang silbern zu leuchten begann.
Wir marschierten den Hang hoch zum Speisepavillon. Von der Wiese her schlossen sich uns Satyrn an. Najaden tauchten aus dem See auf. Andere Mädchen kamen aus dem Wald – und wenn ich sage, aus dem Wald, dann meine ich, direkt aus dem Wald. Ich sah eine, die vielleicht neun oder zehn Jahre alt war, sich aus einem Ahornbaum lösen und dann den Hang hochspringen.
Insgesamt waren wir vielleicht hundert Campbewohner, einige Dutzend Satyrn und ein gemischtes Dutzend Waldnymphen und Najaden.
Im Pavillon loderten Fackeln an den Marmorsäulen. In der Mitte brannte in einem Bronzebecken von Badewannengröße ein Feuer. Jede Hütte hatte ihren eigenen Tisch, mit einer weißen, lila bestickten Decke. Vier Tische waren leer, der von Hütte 11 schrecklich überfüllt. Ich musste mich auf die Kante einer Bank quetschen und eine Hinterbacke hing runter.
Ich sah Grover. Er saß mit Mr D, einigen Satyrn und ein paar molligen Knaben am Tisch, die aussahen wie Mr D. Chiron stand daneben, der Picknicktisch war viel zu klein für einen Zentauren.
Annabeth teilte ihren Tisch mit einigen anderen ernsthaft aussehenden athletischen Kindern; alle hatten ihre grauen Augen und ihre honigblonden Haare.
Clarisse saß hinter mir an Ares’ Tisch. Sie hatte die Wasserspiele offenbar heil überstanden, denn sie lachte und rülpste mit ihren Freundinnen.
Endlich schlug Chiron mit einem Huf auf den Marmorboden des Pavillons und alles verstummte. Er hob ein Glas. »Auf die Gottheiten!«
Alle anderen hoben ebenfalls ihre Gläser. »Auf die Gottheiten.«
Waldnymphen brachten Schüsseln voller Trauben, Äpfel, Erdbeeren, Käse, frischem Brot und, ja, auch Grillfleisch. Mein Glas war leer, aber Luke sagte: »Sprich mit ihm. Sag, was immer du willst – solange es nicht alkoholisch ist, natürlich.«
Ich sagte: »Cherry Coke.«
Das Glas füllte sich mit einer brausenden braunen Flüssigkeit.
Dann kam mir eine Idee. »Blaue Cherry Coke.«
Sofort nahm das Getränk ein intensives Kobaltblau an.
Ich nippte vorsichtig daran. Perfekt.
Ich trank auf meine Mutter.
Sie hat mich nicht verlassen, dachte ich. Nicht für immer jedenfalls. Sie ist in der Unterwelt. Und wenn das ein echter Ort ist, dann, irgendwann …
»Bitte sehr, Percy«, sagte Luke und reichte mir eine Schüssel mit geräucherter Geflügelbrust.
Ich lud mir den Teller voll und wollte gerade einen großen Bissen nehmen, als alle aufstanden und mit ihren Tellern zum Feuer in der Mitte des Pavillons gingen. Es sah aus, als ob sie sich ein Dessert holen wollten.
»Na los«, sagte Luke zu mir.
Als ich näher kam, sah ich, dass alle etwas von ihrem Teller nahmen und ins Feuer warfen, die reifste Erdbeere, das saftigste Stück Fleisch, das wärmste, knusprigste Brötchen.
Luke murmelte mir ins Ohr: »Brandopfer für die Gottheiten. Der Geruch gefällt ihnen.«
»Du machst Witze.«
Sein Blick mahnte mich, die Sache ernst zu nehmen, aber ich fragte mich ernstlich, warum ein unsterbliches, allmächtiges Wesen sich über den Geruch verbrannten Essens freuen sollte.
Luke trat an das Feuer heran, senkte den Kopf und warf eine Dolde dicker roter Trauben hinein. »Hermes.«
Dann kam ich an die Reihe.
Ich hätte gern gewusst, welchen Gott ich nennen könnte.
In Gedanken betete ich ein Stoßgebet. Wer immer du bist, sag es mir. Bitte.
Ich warf eine dicke Scheibe Brustfleisch in die Flammen.
Als ich den Geruch wahrnahm, wurde mir nicht schlecht. Es roch überhaupt nicht wie verbranntes Essen. Es duftete nach heißem Kakao und frischen Plätzchen, nach gegrillten Hamburgern und Wiesenblumen und hundert anderen guten Dingen, die eigentlich nicht zueinander passten, hier aber harmonisch vereint waren. Ich konnte mir fast vorstellen, dass die Gottheiten sich von diesem Geruch ernährten.
Als alle wieder saßen und ihre Mahlzeit fast verzehrt hatten, klopfte Chiron abermals mit dem Huf auf den Boden, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen.
Mr D erhob sich mit tiefem Seufzen. »Ja, also, ich sollte euch Gören wohl allen guten Tag sagen. Also, guten Tag. Unser Animateur, Chiron, sagt, dass wir am Freitag wieder die Flagge erobern werden. Der Lorbeer gebührt derzeit Hütte 5.«
Ares’ Tisch brach in lautes Triumphgebrüll aus.
»Ich persönlich«, sagte Mr D darauf, »finde das ja total egal, aber meinen Glückwunsch. Und dann sollte ich wohl noch erwähnen, dass wir heute einen Neuen bekommen haben, Peter Johnson.«
Chiron murmelte etwas.
»Äh, Percy Jackson«, korrigierte Mr D sich. »Genau. Hurra und überhaupt. Und jetzt geht zu eurem blöden Lagerfeuer. Na los.«
Alles jubelte. Wir liefen hinunter zu dem großen Amphitheater, wo Apollos Hütte den Rundgesang leitete. Wir sangen Lagerfeuerlieder über die Gottheiten, aßen Marshmallows mit Schokolade und rissen Witze, und aus irgendeinem Grund hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass irgendwer mich anstarrte. Ich hatte das Gefühl, zu Hause zu sein.
Später am Abend, als die Funken des Lagerfeuers zum Sternenhimmel hochstiegen, wurde wieder das Muschelhorn geblasen und wir zogen im Gänsemarsch zurück zu unseren Hütten. Ich merkte erst, wie erschöpft ich war, als ich auf meinem geliehenen Schlafsack zusammensackte.
Meine Finger umschlossen das Minotaurushorn. Ich dachte an meine Mom, aber es waren gute Gedanken: ihr Lächeln, die Gutenachtgeschichten, die sie mir früher erzählt hatte, wie sie mir gesagt hatte, ich solle was Schönes träumen.
Als ich die Augen schloss, war ich sofort eingeschlafen.
Das war mein erster Tag im Camp Half-Blood.
Ich wünschte, ich hätte gewusst, wie kurz die Zeit sein würde, die ich mein neues Zuhause genießen durfte.
Wir erobern eine Flagge
In den nächsten Tagen bekam mein Leben eine Routine, die mir fast normal vorkam, wenn man von der Tatsache absieht, dass ich von Satyrn, Nymphen und einem Zentauren unterrichtet wurde.
Jeden Morgen lernte ich bei Annabeth Altgriechisch und wir sprachen im Präsens über Göttinnen und Götter, was mir irgendwie seltsam vorkam. Ich stellte fest, dass Annabeth Recht gehabt hatte, was meine Legasthenie anging: Altgriechisch zu lesen fiel mir gar nicht so schwer. Jedenfalls nicht schwerer als Englisch. Nach einigen Tagen schaffte ich schon einige Zeilen Homer, ohne allzu große Kopfschmerzen zu bekommen.
Für den restlichen Tag war ich mit Freiluftaktivitäten beschäftigt. Ich suchte etwas, in dem ich gut war. Chiron versuchte mir Bogenschießen beizubringen, aber wir stellten sehr rasch fest, dass Pfeil und Bogen mir nicht lagen. Er beschwerte sich aber nicht einmal, als wir einen verirrten Pfeil aus seinem Schwanz herausknoten mussten.
Laufen? Auch kein Erfolg. Die Waldnymphen, die mich unterrichten sollten, sausten mir sofort davon. Sie meinten, ich solle mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Sie hätten Jahrhunderte Übung darin, vor liebeskranken Göttern wegzurennen. Aber trotzdem fand ich es ein wenig demütigend, langsamer zu sein als ein Baum.
Und Ringen? Vergesst es. Wann immer ich auf die Matte trat, wurde ich von Clarisse in meine Bestandteile zerlegt.
»Davon kannst du noch mehr haben, Mistkerl«, flüsterte sie mir ins Ohr.
Das Einzige, was ich gut machte, war Rudern, und das war nicht gerade die Art von Heldentat, die vom Bezwinger des Minotaurus erwartet wurde.
Ich wusste, dass die älteren Campbewohner und die Tutoren mich beobachteten, dass sie herausfinden wollten, wer mein Vater war, aber leicht machte ich ihnen das nicht. Ich war nicht so stark wie die Kinder des Ares, kein Bogenschütze wie die des Apollo. Ich besaß nicht Hephaistos’ Fähigkeiten als Schmied und – Gott sei Dank – nicht die von Dionysos, was den Weinbau anging. Luke meinte, ich könnte ein Kind des Hermes sein, eine Art Hansdampf in allen Gassen, aber nirgendwo der Meister. Doch ich hatte das Gefühl, dass er mich nur trösten wollte. In Wirklichkeit wusste er auch nicht, was er von mir halten sollte.
Trotz allem gefiel mir das Camp. Ich gewöhnte mich an den Morgendunst über dem Strand, an den Geruch der Erdbeerfelder an heißen Nachmittagen und sogar an die seltsamen nächtlichen Geräusche der Ungeheuer im Wald. Ich aß am Tisch von Hütte 11, warf etwas von meiner Mahlzeit ins Feuer und versuchte, Kontakt zu meinem Vater aufzunehmen. Nichts passierte. Ich verspürte nur dieses warme Gefühl, das ich immer schon gehabt hatte, die Erinnerung an sein Lächeln. Ich versuchte nicht zu sehr an meine Mom zu denken, aber immer wieder fragte ich mich: Wenn es wirklich Götter und Ungeheuer gab, wenn dieser ganze magische Kram möglich war, dann musste es doch einen Weg geben, sie zu retten, sie zurückzuholen …
Ich fing an, Lukes Verbitterung zu verstehen, ich begriff, warum er seinen Vater Hermes ablehnte. Okay, vielleicht hatten die Götter wichtige Aufgaben zu erledigen. Aber hätten sie nicht irgendwann zwischendurch mal anrufen können, donnern oder was auch immer? Dionysos konnte einfach so aus der Luft Cola auftauchen lassen. Warum konnte mein Vater, wer immer er sein mochte, nicht ein Telefon schicken?
Am Donnerstagnachmittag, drei Tage nach meinem Eintreffen im Camp Half-Blood, hatte ich meine erste Stunde im Schwertkampf. Alle aus Hütte 11 versammelten sich in der großen runden Arena, wo Luke uns unterrichten sollte.
Wir begannen einfach mit dem grundlegenden Hauen und Stechen, wozu wir Strohpuppen in griechischen Rüstungen benutzten. Ich glaube, ich war gar nicht schlecht. Ich tat jedenfalls wie mir geheißen und meine Reflexe funktionierten.
Das Problem war, dass ich kein Schwert fand, das sich in meiner Hand richtig anfühlte. Entweder waren die Schwerter zu schwer oder zu leicht oder zu lang. Luke gab sich alle Mühe, eins für mich zu finden, meinte dann aber, dass die Übungsschwerter alle nicht für mich passten.
Es ging weiter mit Zweikampf. Luke kündigte an, er werde mein Partner sein, da es mein erster Kampf sei.
»Viel Glück«, sagte jemand zu mir. »Luke ist der beste Schwertkämpfer der letzten dreihundert Jahre.«
»Vielleicht verschont er mich ja«, sagte ich.
Der andere schnaubte.
Luke machte mich ziemlich brutal mit allerlei Abwehrmanövern bekannt. Bei jedem Schlag wurde ich ein wenig mehr zerschunden. »Du musst dich schützen, Percy«, sagte er, dann schlug er mir die flache Seite der Klinge gegen die Rippen. »Nein, nicht so weit nach oben!« Wopp! »Ducken!« Wopp! »Und jetzt zurück!« Wopp.
Als er eine Pause ankündigte, triefte ich vor Schweiß. Alle rannten zu den Getränken. Luke goss sich Eiswasser auf den Kopf und das sah so gut aus, dass ich es auch machte.
Sofort fühlte ich mich besser. Neue Kraft jagte in meine Arme. Das Schwert kam mir nicht mehr so klobig vor.
»Na los, alle im Kreis aufstellen. Wenn Percy nichts dagegen hat, dann kommt jetzt eine kleine Vorführung.«
Klasse, dachte ich. Sollen alle sehen, wie Percy zusammengeschlagen wird.
Die Hermestypen versammelten sich um uns. Sie unterdrückten ihr Lächeln. Ich ging davon aus, dass sie auch schon mal in meiner Lage gewesen waren und schrecklich gern sehen wollten, wie Luke aus mir einen Punchingball machte. Er sagte, er wolle jetzt eine Entwaffnungstechnik vorführen: wie man die Klinge des Feindes mit der flachen Schwertseite abwehrt, worauf der andere seine Waffe einfach fallen lassen muss.
»Das ist schwierig«, betonte er. »Ich hab das auch schon zu spüren bekommen. Also lacht jetzt nicht über Percy. Die meisten Kämpfer brauchen Jahre, um diese Technik zu meistern.«
Er führte die Übung in Zeitlupe vor. Und richtig, das Schwert fiel mir klirrend aus der Hand.
»Und jetzt in Echtzeit«, sagte er, nachdem ich meine Waffe wieder an mich gebracht hatte. »Wir machen weiter, bis einer geschlagen ist. Fertig, Percy?«
Ich nickte und Luke ging auf mich los. Auf irgendeine Weise konnte ich verhindern, dass er meinen Schwertgriff traf. Und dann war ich voll dabei. Ich ahnte seine Angriffe voraus. Ich erwiderte. Ich sprang vor und schlug zu. Luke konnte den Schlag problemlos abwehren, aber ich sah, dass seine Miene sich veränderte. Er kniff die Augen zusammen und ging energischer auf mich los.
Das Schwert in meiner Hand wurde schwer. Es lag nicht mehr richtig im Gleichgewicht. Ich wusste, dass es nur eine Frage von Sekunden wäre, ehe Luke mich zu Boden gehen lassen würde, also dachte ich, jetzt oder nie.
Ich versuchte den Entwaffnungstrick.
Meine Klinge traf unten gegen die von Luke, ich fuhr herum und legte mein ganzes Gewicht in einen Stoß nach unten.
Klirr!
Lukes Schwert fiel auf die Steine. Meine Schwertspitze befand sich einen Daumenbreit von seiner ungeschützten Brust entfernt.
Die Zuschauer waren verstummt.
Ich ließ mein Schwert sinken. »Äh … tut mir leid.«
Luke war für einen Moment zu überwältigt, um etwas sagen zu können.
»Leid?« Sein narbiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Bei den Göttern, Percy, wieso tut dir das leid? Zeig es mir noch mal!«
Ich wollte nicht. Der kurze Ausbruch manischer Energie war restlos verflogen. Aber Luke ließ mir keine Ruhe.
Diesmal gab es keinen Kampf. Als unsere Schwerter einander begegneten, traf Luke meinen Griff und ließ meine Waffe über den Boden schlittern.
Nach langem Schweigen sagte jemand von den Zuschauern: »Anfängerglück?«
Luke wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er musterte mich mit einem ganz neuen Interesse. »Kann sein«, sagte er. »Aber ich frage mich, was Percy mit einem austarierten Schwert zu Stande bringen würde …«
Am Freitagnachmittag saß ich mit Grover am See und erholte mich von einem Nahtod-Erlebnis an der Klettermauer. Grover war wie eine Bergziege nach oben gesprungen, aber mich hätte die Lava fast erwischt. Mein Hemd wies Brandlöcher auf und die Haare an meinen Unterarmen waren abgesengt worden.
Wir saßen auf dem Steg und sahen zu, wie die Najaden unter Wasser Körbe flochten, dann fasste ich mir endlich ein Herz und fragte Grover, wie sein Gespräch mit Mr D gelaufen sei.
Sein Gesicht nahm einen kränklichen Gelbton an.
»Gut«, sagte er. »Einfach toll.«
»Also geht’s mit deiner Karriere doch noch weiter?«
Er schaute mich nervös an. »Hat Ch-Chiron dir gesagt, dass ich mir eine Suchlizenz wünsche?«
»Na ja … nein.« Unter einer Suchlizenz konnte ich mir nichts vorstellen, aber es war wohl auch nicht der richtige Moment, um danach zu fragen. »Er hat nur gesagt, du hättest große Pläne … und dass du Leistungen erbringen musst, um dich wirklich als Hüter zu qualifizieren. Hast du das jetzt geschafft?«
Grover schaute zu den Najaden hinunter. »Mr D hat die Entscheidung aufgeschoben. Er sagt, ich hätte bei dir bisher weder Erfolg gehabt noch versagt, und deshalb sind unsere Schicksale weiterhin miteinander verbunden. Wenn du einen Auftrag bekommst und ich als dein Hüter mit dir gehe und wenn wir dann beide lebend zurückkehren, dann wird er vielleicht der Meinung sein, dass ich meinen Job gemacht habe.«
Sofort war mir besser zu Mute. »Na, das ist aber gar nicht schlecht, oder?«
»Meck-meck-meck! Da hätte er mich auch gleich zum Ställesäubern abordnen können. Die Chancen, dass dir eine Aufgabe auferlegt wird … und selbst wenn, würdest du mich denn mitnehmen wollen?«
»Aber natürlich würde ich dich mitnehmen wollen.«
Grover starrte mit trübem Blick ins Wasser. »Körbe flechten … sicher nett, ein brauchbares Handwerk zu beherrschen.«
Ich versuchte ihm klarzumachen, dass er doch auch sehr viel konnte, aber er sah nur noch elender aus. Wir redeten eine Weile über Rudern und Schwertkämpfe, dann diskutierten wir die guten und die schlechten Seiten der verschiedenen Gottheiten. Und dann erkundigte ich mich endlich nach den vier leeren Hütten.
»Nummer 8, die silberne, gehört Artemis«, sagte er. »Sie hat ewige Jungfräulichkeit geschworen. Also gibt’s auch keine Kinder. Die Hütte ist sozusagen eine Ehrengabe. Wenn sie keine bekommen hätte, würde sie durchdrehen.«
»Verstehe. Aber die anderen drei, die ganz vorn. Sind das die Großen Drei?«
Grover wirkte sofort angespannt. Wir näherten uns also einem brisanten Thema. »Nein. Die eine, Nr. 2, gehört Hera«, sagte er. »Das ist auch so eine Ehrengabe. Sie ist die Göttin der Ehe, also kann sie keine Techtelmechtel mit Sterblichen anfangen. Dafür ist ihr Mann zuständig. Wenn wir von den Großen Drei reden, dann meinen wir die drei mächtigen Brüder, die Söhne des Kronos.«
»Zeus, Poseidon, Hades.«
»Genau. Du weißt schon, nach ihrem Kampf mit den Titanen haben sie von ihrem Alten die Weltherrschaft übernommen und ausgelost, wer wofür zuständig sein sollte.«
»Zeus hat den Himmel gekriegt.« Das wusste ich noch. »Poseidon fiel das Meer zu. Hades die Unterwelt.«
»Hmm.«
»Aber Hades hat hier keine Hütte.«
»Nein. Er hat auch keinen Thron auf dem Olymp. Er kümmert sich in der Unterwelt um seinen eigenen Kram. Wenn er hier eine Hütte hätte …« Grover schüttelte sich. »Das wäre gar nicht nett. Lassen wir es dabei.«
»Aber Zeus und Poseidon – die hatten in den Mythen doch Billionen von Kindern. Warum stehen ihre Hütten leer?«
Grover scharrte verlegen mit den Hufen. »Vor ungefähr sechzig Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben die Großen Drei abgemacht, dass sie keine Helden mehr zeugen würden. Ihre Kinder waren einfach zu mächtig. Sie beeinflussten den Verlauf der Weltgeschichte viel zu sehr, verursachten allzu großes Blutvergießen. Der Zweite Weltkrieg, weißt du, war im Grunde ein Kampf zwischen den Söhnen von Zeus und Poseidon auf der einen und denen von Hades auf der anderen Seite. Die Sieger, Zeus und Poseidon, haben Hades gezwungen, gemeinsam mit ihnen einen Eid abzulegen: keine Affären mit sterblichen Frauen mehr. Alle drei haben auf den Fluss Styx geschworen.«
Donner dröhnte los.
Ich sagte: »Einen schwerer wiegenden Eid kann man ja gar nicht ablegen.«
Grover nickte.
»Und die Brüder haben ihr Wort gehalten – keine Kinder?«
Grovers Gesicht verdüsterte sich. »Vor siebzehn Jahren ist Zeus rückfällig geworden. Es gab da so ein Fernsehsternchen mit einer plustrigen Achtziger-Jahre-Turmfrisur – dagegen war er einfach machtlos. Als ihr Kind geboren wurde, ein kleines Mädchen namens Thalia … na ja, der Styx nimmt Versprechen sehr ernst. Zeus ist ziemlich ungeschoren davongekommen, er ist ja schließlich unsterblich, aber seiner Tochter hat er ein grauenhaftes Schicksal beschert.«
»Das ist ja wohl nicht fair! Sie war doch gar nicht daran schuld!«
Grover zögerte. »Percy, Kinder der Großen Drei haben größere Kräfte als jedes andere Halbblut. Sie besitzen eine starke Aura, eine Art Geruch, der Ungeheuer anzieht. Als Hades von dieser Tochter hörte, fand er es nicht gerade lustig, dass Zeus seinen Schwur gebrochen hatte. Deshalb hat Hades die übelsten Monster aus dem Tartarus auf Thalia losgelassen. Als sie zwölf Jahre alt war, wurde ein Satyr zu ihrem Hüter bestellt, aber der war machtlos. Er versuchte sie herzubringen, zusammen mit zwei anderen Halbblutkindern, mit denen sie sich angefreundet hatte. Sie hätten es fast geschafft. Sie waren schon oben auf dem Hügel.«
Er zeigte über das Tal hinweg auf die Fichte, vor der ich gegen den Minotaurus gekämpft hatte. »Die drei Wohlgesinnten waren hinter ihnen her, zusammen mit einer Meute von Höllenhunden. Sie hatten sie fast schon überrannt, als Thalia ihrem Satyrn sagte, er solle die beiden anderen Halbblutkinder in Sicherheit bringen, während sie die Ungeheuer aufhielt. Sie war verletzt und erschöpft und sie wollte nicht leben wie ein gehetztes Tier. Der Satyr wollte sie nicht im Stich lassen, aber er konnte sie nicht davon abbringen und er musste auch die anderen beschützen. Also hat Thalia ihren letzten Kampf allein ausfechten müssen, oben auf dem Hügel. Und als sie starb, hat Zeus sich ihrer erbarmt. Er hat sie in diese Fichte verwandelt. Ihr Geist hilft noch immer, die Grenzen dieses Tales zu schützen. Deshalb wird der Hügel Half-Blood Hill genannt.«
Ich starrte die Fichte an.
Ich fühlte mich leer und schuldig, nachdem ich diese Geschichte gehört hatte. Ein Mädchen in meinem Alter hatte sich geopfert, um ihre Freunde zu retten. Sie hatte es mit einer ganzen Horde von Monstern aufgenommen. Im Vergleich dazu machte mein Sieg über den Minotaurus nicht mehr viel her. Ich hätte gern gewusst, ob ich meine Mutter hätte retten können, wenn ich mich anders verhalten hätte.
»Grover«, sagte ich. »Kommt es wirklich vor, dass Helden Aufträge in der Unterwelt erfüllen müssen?«
»Manchmal«, sagte er. »Orpheus. Herkules. Houdini.«
»Und haben sie jemals irgendwen von den Toten zurückkehren lassen?«
»Nein. Nie. Orpheus hätte es fast geschafft … Percy, du willst doch nicht im Ernst …«
»Nein«, log ich. »Hat mich bloß interessiert. Also … werden Satyrn immer zum Beschützer einer Demigottheit ernannt?«
Grover musterte mich misstrauisch. Ich hatte ihn nicht davon überzeugt, dass ich die Sache mit der Unterwelt schon aufgegeben hatte. »Nicht immer. Wir schleichen uns in eine Menge Schulen ein. Wir versuchen, die Halbblute ausfindig zu machen, die das Zeug zu großen Helden haben. Wenn wir eins mit einer sehr starken Aura finden, wie sie ein Kind der Großen Drei zum Beispiel hat, dann verständigen wir Chiron. Er versucht diese Kinder im Auge zu behalten, weil sie wirklich arge Probleme verursachen können.«
»Und du hast mich gefunden. Chiron sagt, du hast gedacht, ich könnte etwas Besonderes sein.«
Grover sah aus, als ob ich ihn soeben in eine Falle gelockt hätte. »Ich habe nicht … Also, hör mal, denk so was nicht. Wenn du – du weißt schon – wärst, dann würde dir niemals ein Auftrag erteilt werden und ich würde niemals meine Lizenz bekommen. Du bist vermutlich ein Kind von Hermes. Oder vielleicht von einer kleineren Gottheit, wie Nemesis, der Göttin der Rache. Mach dir keine Sorgen, ja?«
Ich hatte den Eindruck, dass er eher sich selbst überzeugen wollte als mich.
An diesem Abend ging es nach dem Essen viel aufregender zu als sonst.
Es war der Tag der Eroberung der Flagge.
Als die Tische abgeräumt worden waren, erklang das Muschelhorn und alle erhoben sich.
Die Campbewohner johlten und schrien, als Annabeth und zwei von ihren Geschwistern mit einem seidenen Banner in den Pavillon gerannt kamen. Das Banner war über drei Meter lang, es war hellgrau und mit dem Bild einer Eule über einem Olivenbaum geschmückt. Von der anderen Seite her kamen Clarisse und ihre Freundinnen mit einem anderen Banner in derselben Größe angerannt, es war knallrot und bemalt mit einem bluttriefenden Speer und einem Eberkopf.
Ich wandte mich an Luke und brüllte durch den Lärm hindurch: »Sind das die Flaggen?«
»Ja.«
»Führen immer Ares und Athene die Teams an?«
»Nicht immer«, sagte er. »Aber häufig.«
»Wenn eine andere Hütte eine erbeutet, was macht ihr dann – die Flagge neu bemalen?«
Er grinste. »Wirst du schon sehen. Erst müssen wir eine haben.«
»Auf wessen Seite stehen wir?«
Er bedachte mich mit einem listigen Blick und schien etwas zu wissen, was ich nicht wusste. Die Narbe auf seiner Wange ließ ihn im Fackelschein fast hinterhältig aussehen. »Wir haben uns vorübergehend mit Athene verbündet. Heute werden wir Ares die Flagge wegschnappen. Und du wirst uns dabei helfen.«
Die beiden Teams wurden vorgestellt. Athene hatte sich mit Apollo und Hermes verbündet, den beiden dichtestbevölkerten Hütten. Offenbar war mit Privilegien gehandelt worden – Duschzeiten, Arbeitsaufgaben, den besten Zeiten für sportliche Aktivitäten –, um sich Unterstützung zu verschaffen.
Ares hatte sich mit allen anderen zusammengetan: Dionysos, Demeter, Aphrodite und Hephaistos. Soviel ich bisher gesehen hatte, waren Dionysos’ Kinder absolut gute Sportler, aber es gab nur zwei davon. Die Sprösslinge der Demeter kannten sich mit Natur und dem Leben draußen aus, waren aber nicht gerade aggressiv. Wegen der Kinder der Aphrodite machte ich mir keine besonderen Sorgen. Sie saßen meistens herum, bewunderten ihr Spiegelbild im See, frisierten sich immer wieder neu und tratschten. Die Kinder des Hephaistos waren nicht besonders hübsch und es gab auch nur vier von ihnen, aber sie waren groß und kräftig, weil sie den ganzen Tag in der Schmiede arbeiteten. Sie könnten ein Problem darstellen. Blieb noch Ares’ Hütte: ein Dutzend der größten, gemeinsten, hässlichsten Kinder auf Long Island oder irgendwo sonst auf diesem Planeten.
Chiron schlug mit seinem Huf auf den Marmortisch.
»Helden und Heldinnen!«, rief er. »Ihr kennt die Regeln. Der Bach ist die Grenze. Der gesamte Wald ist zugelassen. Alle magischen Dinge sind erlaubt. Die Flagge muss offen gezeigt werden und darf von nicht mehr als zwei Personen bewacht werden. Gefangene dürfen entwaffnet, aber nicht gefesselt oder geknebelt werden. Töten oder Verstümmeln ist nicht gestattet. Ich werde als Schiedsrichter und Feldarzt fungieren. Bewaffnet euch!«
Er breitete die Hände aus und die Tische waren plötzlich übersät mit Ausrüstungsgegenständen: Helmen, Bronzeschwertern, Speeren, Schilden aus mit Metall überzogenem Rindsleder.
»Meine Güte«, sagte ich. »Sollen wir das wirklich benutzen?«
Luke sah mich an, als ob er mich für verrückt hielt. »Wenn du nicht von deinen Freunden aus Hütte 5 aufgespießt werden willst, ja. Hier. Chiron dachte, das könnte richtig für dich sein. Du kommst in die Grenzpatrouille.«
Mein Schild war so groß wie eine Reklametafel am Straßenrand und in der Mitte prangte ein großer Caduceus. Er wog ungefähr eine Million Pfund. Ich hätte ihn wunderbar als Snowboard benutzen können, aber ich hoffte, dass niemand erwartete, dass ich damit rennen würde. Mein Helm hatte, wie alle Helme auf Athenes Seite, eine blaue Helmzier aus Rosshaaren. Ares und seine Verbündeten hatten rote.
Annabeth schrie: »Blaues Team, vortreten!«
Wir jubelten und schüttelten unsere Schwerter und folgten ihr den Weg hinab in den südlichen Wald. Das rote Team schrie Verwünschungen hinter uns her, als es sich auf den Weg in den Norden machte.
Ich schaffte es, Annabeth einzuholen, ohne über meinen Schild zu stolpern. »He!«
Sie marschierte weiter.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich. »Kannst du mir irgendein magisches Werkzeug leihen?«
Ihre Hand griff nach ihrer Tasche, als fürchte sie, ich könnte ihr etwas gestohlen haben.
»Behalt einfach den Speer von Clarisse im Auge«, sagte sie. »Der darf dich um keinen Preis berühren. Mach dir ansonsten keine Sorgen. Wir werden Ares die Flagge abnehmen. Hat Luke dir gesagt, was du zu tun hast?«
»Grenzpatrouille, was immer das bedeuten mag.«
»Ganz einfach. Stell dich an den Bach und sorg dafür, dass die Roten nicht durchkommen. Den Rest kannst du mir überlassen. Athene hat immer einen Plan.«
Sie lief weiter und ich blieb im aufgewirbelten Staub stehen.
»Na schön«, murmelte ich. »Freut mich, dass du mich in deinem Team haben wolltest.«
Es war ein drückend warmer Abend. Der Wald war dunkel, immer neue Glühwürmchen tauchten auf und verschwanden wieder. Annabeth postierte mich an einem Bach, der über Felsen plätscherte, dann verschwanden sie und die Übrigen unseres Teams zwischen den Bäumen.
Als ich so allein dastand, mit meinem Helm mit dem blauen Rosshaarpuschel und dem riesigen Schild, kam ich mir vor wie ein Idiot. Das Bronzeschwert schien falsch austariert zu sein, wie alle Schwerter, die ich bisher ausprobiert hatte. Der Ledergriff zerrte an meiner Hand wie eine Bowlingkugel.
Aber mich würde doch niemand wirklich angreifen, oder? Ich meine, auch auf dem Olymp müsste doch dann Schadensersatz fällig werden, oder?
In der Ferne erscholl das Muschelhorn. Ich hörte im Wald Geschrei und Gebrüll, ich hörte Metall klirren, ich hörte Kampfgeräusche. Ein blau behelmter Apolloverbündeter rannte wie ein gehetztes Stück Wild an mir vorbei, sprang durch den Wald und verschwand im feindlichen Territorium.