1

Der Tod sitzt im Chemielabor, und Millionen von Menschen sitzen neben ihm und kümmern sich nicht darum. Sie vergessen, dass er da ist.

Louis Brade, Chemiker und Universitätslehrer in der Position eines assistierenden Professors, würde es jedoch in Zukunft nie wieder vergessen. Er saß zusammengesunken auf dem Stuhl im Durcheinander des Studentenlabors und war sich der Gegenwart des Todes deutlich bewusst. Er war sich ihrer jetzt, wo die Polizeibeamten gegangen und die Korridore menschenleer waren, sogar noch deutlicher bewusst. Jetzt, wo der physische Beweis der Sterblichkeit in Gestalt der Leiche von Ralph Neufeld aus dem Labor hinausgeschafft worden war. Aber der Tod war noch da. Unberührt. Ungerührt. Brade setzte die Brille ab und wischte die Gläser blank mit einem sauberen Taschentuch, das er stets nur zu diesem Zweck bei sich trug. Dann betrachtete er die Zwillingsspiegelbilder, die beide infolge der Krümmung des Glases in der Mitte auseinandergezogen waren, so dass sein hageres Gesicht voller wirkte und sein breiter, schmallippiger Mund noch breiter.

Keine sichtbaren Veränderungen? Haar noch so dunkel wie vor drei Stunden, Gesicht um die Augen herum etwas faltig (wie es sich für einen Zweiundvierzigjährigen gehört) - gar nicht zerfurchter als vor dieser Sache?

Man konnte nicht mit dem Tod so nahe in Berührung kommen, ohne irgendwie gezeichnet zu werden - oder doch?

Er setzte die Brille wieder auf und blickte sich noch mal im Labor um. Warum sollte er davon gezeichnet sein, dass er dem Tod einmal näher gekommen war als sonst? Er begegnete ihm schließlich jeden Tag, jeden Augenblick.

Er konnte ihn dort drüben lauern sehen, in einem halben Hundert Flaschen aus braunem Glas auf den Regalen. Jede Flasche war deutlich etikettiert, jede mit einer speziellen Art von feinen, reinen Kristallen angefüllt. Die meisten sahen wie Salz aus. Salz konnte natürlich töten. In der nötigen Menge eingenommen, bringt es einen Menschen um. Aber die meisten Kristalle in diesen Flaschen besorgten das noch viel rascher. Einige brauchten dazu, in der richtigen Dosierung, noch nicht einmal eine Minute.

Schnell, langsam, ob mit oder ohne Schmerzen - jede dieser Substanzen war ein ausgezeichnetes Heilmittel gegen irdisches Elend, und nach ihrem Gebrauch war ein Rückfall ins Leben unmöglich.

Brade seufzte. Für die Gedankenlosen unter denen, die mit ihnen umgingen, mochten sie sehr wohl Salz sein. Man ließ sie auf Wiegepapier rieseln oder in Kolben, löste sie in Wasser auf, verschüttete oder spritzte sie auf Arbeitstische, fegte sie zusammen oder wischte sie mit einem Papiertuch auf.

Alle diese Tropfen oder Krümel Tod wurden beiseite gestrichen, um vielleicht einem Frühstücksbrot Platz zu machen. Oder ein Becherglas, das vor kurzem noch den großen Gleichmacher enthalten hatte, wurde danach für Orangensaft benutzt.

In den Regalen war Bleiacetat, auch Bleizucker genannt, weil es süß schmeckte, während es einen tötete. Da waren noch Bariumnitrat, Kupfersulfat, Natriumdichromat und Dutzende weiterer Substanzen, die alle tödliche Gifte waren.

Und Zyankali natürlich. Brade hatte gedacht, die Polizei werde das Glas beschlagnahmen, aber die Beamten betrachteten es nur aus der Entfernung und ließen es samt seinem guten halben Pfund Tod stehen. In den Schränken unter der Arbeitsplatte waren die Fünf-Liter Flaschen mit starken Säuren - darunter Schwefelsäure: ein Spritzer konnte den Unachtsamen das Augenlicht kosten und anstelle des Gesichts eine einzige Narbe hinterlassen. In einer Ecke standen Zylinder mit komprimiertem Gas, einige dreißig Zentimeter lang, andere fast so groß wie ein ausgewachsener Mann. Jede von ihnen konnte eine grässliche Explosion auslösen, wenn man ein paar einfache Vorsichtsmaßregeln außer acht ließ, oder in anderen Fällen einen heimtückischen Giftmord herbeiführen. Tod auf die gewaltsame oder auf die verstohlene Art, durch den Mund, durch die Nase, oder sogar Schritt für Schritt über die Jahre hinweg wie im Falle der Quecksilberkügelchen, die gewiss in Dielenritzen und verborgenen Winkeln böse aufleuchten, wenn der Staub, der sie bedeckte, entfernt wurde.

Der Tod war da, in vielfältiger Gestalt, und keinen störte es. Und dann stand einer von denen, die mit ihm zusammensaßen, plötzlich nicht mehr auf.

Brade war vor drei Stunden in das Studentenlabor gegangen. Seine Sauerstoff-Reaktion machte gute Fortschritte, und die neue Sauerstoffflasche, die er gerade angeschlossen hatte, ließ langsam ihr Gas in das Reaktionssystem hineinströmen. Die Versuchsanlage war bis zum nächsten Morgen versorgt; noch einer letzten kleinen Pflicht musste er nachkommen, und dann würde er nach Hause fahren, wo er um fünf Uhr mit Cap Anson verabredet war.

Wie er später erläuterte, schaute er, ehe er das Gebäude verließ, kurz noch bei den Studenten herein, die noch in ihren Labors arbeiteten. Und außerdem hatte er sich eine geringe Menge titrierter Zehntel - MolSalzsäure ausleihen wollen, und Ralph Neufeld hatte, wie allgemein bekannt war, die sorgfältigst standardisierten Reagenzien im ganzen Haus.

Ralph Neufeld lag mit dem Oberkörper auf der Specksteinplatte innerhalb des Abzugs, das Gesicht von der Tür abgewandt. Brade runzelte die Stirn. Für einen so gewissenhaften Studenten wie Neufeld war das eine höchst ungewöhnliche Pose. Wenn ein Chemiker das Experiment innerhalb eines Abzugs durchführte, ließ er das Fenster aus Sicherheitsglas zwischen sich und den gärenden Chemikalien herunter. Er sorgte dafür, dass die brennbaren Dämpfe innerhalb des Abzugs blieben und durch den Ventilator hinaufbefördert wurden. Dass das Fenster hochgeschoben war und der Experimentator mit dem Kopf auf dem einen Ellenbogen im Abzug lag, war auf jeden Fall ungewöhnlich.

Brade sagte: »Ralph!« und trat näher. Man hörte seine Schritte kaum auf dem Korkfußboden. Neufeld fühlte sich steif an, als er ihn mit der Hand berührte. Jäh beunruhigt, drehte Brade den Kopf des Studenten herum, so dass er das Gesicht sehen konnte. Das kurzgeschnittene blonde Haar lag wie üblich in dichten Wellen. Neufelds Augen starrten ihn unter halbgeschlossenen Lidern glasig an.

Was unterscheidet das Gesicht eines Toten so unmissverständlich von dem eines Betrunkenen oder Schlafenden?

Ralph war tot. Brade fasste nach Neufelds Handgelenk, das merklich abgekühlt war und keinen Pulsschlag aufwies, und seine Chemikernase nahm schwache Spuren eines Geruchs nach Mandeln wahr. Brade musste schlucken und rief die drei Häuser weiter gelegene medizinische Fakultät an. Er verlangte Dr. Shulter und bekam ihn auch an den Apparat. Es gelang ihm, mit fast normaler Stimme zu sprechen. Dann verständigte er die Polizei.

Als nächstes ließ er sich mit der Institutsleitung verbinden, aber es stellte sich heraus, dass Professor Littleby seit dem Mittagessen nicht wieder zurückgekommen war, und so sagte er Littlebys Sekretärin, was geschehen war, was er inzwischen veranlasst hatte; er wies sie an, den Vorfall vorläufig geheimzuhalten. Dann ging er in sein eigenes Labor und stellte den Sauerstoff ab. Er musste den Versuch unterbrechen. Im Augenblick gab es wichtigere Dinge. Er starrte leeren Blicks den Druckmesser der großen Sauerstoffflasche an und versuchte die ihm bekannten Tatsachen auf einen Nenner zu bringen. Doch das gelang ihm nicht, und als er sich wie in der Mitte eines großen, hohlen Schweigens vorkam, ging er wieder ins Studentenlabor zurück, schloss die Tür und setzte sich hin und wartete.

Dr. Ivan Shulter von der medizinischen Fakultät klopfte leise an die Tür, und Brade ließ ihn ein. Die Untersuchung dauerte nicht lange. »Er ist seit etwa zwei Stunden tot«, sagte Shulter. »Zyanid!«

Brade nickte. »Das hatte ich mir gedacht.«

Shulter strich sich das graue Haar aus der Stirn und wandte Brade ein Gesicht zu, das offensichtlich leicht schwitzte. Seine Haut glänzte. Er sagte: »Ja, das wird einigen Ärger geben. Es musste natürlich ausgerechnet dieser Bursche hier sein.« »Kennen Sie - kannten Sie ihn?« fragte Brade.

»Ja, flüchtig. Er holt sich Bücher bei uns aus der medizinischen Bibliothek und bringt sie dann nicht zurück. Ich musste zwei, drei Bibliothekarinnen hinter ihm herschicken, weil ich ein bestimmtes Buch brauchte, und zu einer war er so hässlich, dass ihr die Tränen kamen. Aber das ist wohl jetzt nicht wichtig.« Er ging wieder. Der Arzt, den die Polizei mitbrachte, stimmte mit Dr. Shulters Diagnose überein, machte sich ein paar Notizen und verschwand. Ein Fotograf nahm den Toten von drei verschiedenen Seiten auf, und dann wurde er in ein Tuch gehüllt und hinausgetragen.

Ein untersetzter Kriminalbeamter blieb zurück. Er stellte sich vor, indem er seinen Ausweis vorzeigte. »Jack Doheny.« Er hatte Hängebacken, und seine Stimme war ein rauher Bass. »Ralph Neufeld.« Er notierte sich den Namen und zeigte dann Brade, was er geschrieben hatte. »So richtig? Hm - irgendwelche Angehörige, mit denen wir uns in Verbindung setzen können?« Brade hob den Kopf und dachte nach. »Ja, seine Mutter. Im Sekretariat wird man ihre Adresse haben.«

»Wir werden uns erkundigen. Tja, und wie ist das jetzt passiert?« »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn so gefunden.« »Hatte er Schwierigkeiten beim Studium?« »Nein, er war begabt. Denken Sie an Selbstmord?« »Selbstmörder benutzen manchmal Zyanid.« »Aber warum sollte er ein Experiment durchführen, wenn er sich nur das Leben nehmen wollte?«

Doheny sah sich misstrauisch im Labor um. »Das müssen Sie besser wissen als ich. Kann es ein Unfall, ein Versehen gewesen sein? Ich bin kein Chemiker.« Er machte mit der Hand eine Bewegung zu den Chemikalien hin.

»Theoretisch kann es natürlich ein Versehen gewesen sein«, sagte Brade. »Ralph war mit einer Reihe von Experimenten beschäftigt, bei denen er Natriumacetat in der Reaktionsmischung auflösen musste -« »Augenblick. Natrium - was?«

Brade buchstabierte das Wort, und Doheny notierte es ebenso sorgfältig. Brade fuhr fort: »Die Mischung wird auf dem Siedepunkt gehalten, und wenn das Acetat hinzugefügt worden ist, wird die Mischung in eine Säure verwandelt, so dass sich Essigsäure bildet.« »Ist Essigsäure giftig?«

»Nicht eigentlich. Sie ist im Essig enthalten. Sie verleiht ihm seinen besonderen Geruch. Die Sache ist jedoch die, dass Ralph Natriumzyanid verwandt haben muss - anstatt Natriumacetat.« »Wie ist das möglich? Sehen die gleich aus?«

»Überzeugen Sie sich selbst.« Brade holte die Flaschen mit Natriumzyanid und Natriumacetat von dem Regal herunter. Beide Flaschen waren aus braunem Glas, etwa zwanzig Zentimeter hoch, und beide waren auf die gleiche Weise etikettiert. Die Flasche mit Natriumzyanid hatte einen roten Zettel mit dem Wort GIFT. Brade schraubte die Plastikstöpsel beider Flaschen ab; Doheny sah vorsichtig hinein.

Er sagte: »Heißt das, dass diese Dinger immer so dicht nebeneinander auf dem Regal stehen?«

»Die Flaschen sind alphabetisch geordnet«, erwiderte Brade. »Halten Sie das Zyanid nicht unter Verschluss?«

»Nein.« Auf Brade lastete immer mehr das Bewusstsein, dass er sich seine Antworten überlegen musste, um nicht einen falschen Eindruck zu erwecken.

Doheny runzelte die Stirn. »Oh, da werden Sie aber Ärger kriegen. Wenn die Angehörigen des Jungen Ihnen wegen Fahrlässigkeit kommen, werden die Anwälte der Universität ins Schwitzen geraten.« Brade schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Von den Chemikalien, die Sie dort sehen, ist die Hälfte giftig. Chemiker wissen das. Sie sehen sich vor. Sie wissen, dass Ihre Pistole geladen ist, nicht wahr? Sie schießen sich damit ja auch keine Kugel in den Leib.« »Das mag für Chemiker gelten; aber der junge Mann hier war doch erst Student.« »Er war nicht erst Student. Ralph hatte vor vier Jahren sein erstes naturwissenschaftliches Examen gemacht - mit dem Abgang vom College. Und seitdem hat er sich auf sein Abschlussexamen und seinen Doktor vorbereitet. Er war durchaus dafür qualifiziert, ohne Überwachung zu arbeiten, völlig selbständig. Das gilt für alle unsere Doktoranden. Sie helfen sogar bei der Aufsicht in den Labors für die jüngeren Semester.« »Hat er hier ganz allein gearbeitet?«

»Nein, das nicht. Wir haben immer zwei Kandidaten für ein Labor. Zur Zeit teilt er sich das Labor mit Gregory Simpson.« »War der heute hier?« »Nein. Der Donnerstag ist Simpsons großer Vorlesungstag, da kommt er überhaupt nicht. Nicht in dieses Labor, zumindest.« »Dann war dieser Ralph Neufeld also ganz allein?« »Ja.»

»War er ein guter Student?«

»Er war sehr begabt, das sagte ich ja schon.«

»Wie konnte ihm das dann passieren? Ich meine, wenn er Zyanid genommen hat, hätte er doch merken müssen, dass der Essiggeruch fehlt, nicht wahr, und schleunigst den Kopf zurückziehen müssen?« Das Gesicht des Kriminalisten sah so rund und unschuldig aus wie zuvor, aber Brade zog die Brauen zusammen. Er sagte: »Wenn Natriumzyanid in eine Säure übergeht, bildet sich Wasserstoffzyanid. Das ist ein Gas von der Temperatur kochenden Wassers und strömt mit dem Dampf aus. Es ist äußerst giftig.«

Doheny sah Brade fragend an. »Das ist das Zeug, das sie im Westen in der Gaskammer verwenden, ja?«

»Ganz recht. Man verwandelt ein Zyanid in eine Säure, und dabei entsteht das Gas. Ralph hat zwar in einem Abzug mit einem eingebauten Ventilator gearbeitet, der die Dämpfe, die sich entwickeln, zum größten Teil nach oben reißt, aber auch so hätte er den Essiggeruch wahrnehmen können, wenn er vorhanden gewesen wäre. Diesmal hat er ihn nicht wahrgenommen, und da hat er sich wohl gedacht, dass da etwas nicht stimmt, wie Sie ganz richtig gesagt haben.« »Ja, ja.«

»Aber anstatt nun den Kopf zurückzuziehen und sich in Sicherheit zu bringen, war seine erste Reaktion wahrscheinlich die, dass er noch etwas näher gekommen ist, um sich zu vergewissern. Das könnte sein tödlicher Fehler gewesen sein.«

»Sie meinen, er hat sich gefragt, wo der Essiggeruch bleibt, hat sich vorgebeugt und eine richtige Ladung eingeatmet?« »Ja, so ungefähr. Er hatte den Kopf ziemlich weit im Abzug drin, als ich ihn fand.«

»Und aus war's mit ihm.« »Ja, wahrscheinlich.«

»Hm - ach, sagen Sie, darf ich hier rauchen - oder fliegt dann Ihre Bude in die Luft?«

»Im Augenblick besteht keine Gefahr.«

Doheny zündete sich eine Zigarre an - man sah ihm an, dass er lange auf diesen Augenblick gewartet hatte - und sagte: »Also fassen wir das noch einmal zusammen. Da ist ein junger Mann, der Natriumacetat verwenden will, aber dabei die falsche Flasche vom Regal greift - etwa so.«

Doheny nahm die Zyanidflasche vom Regal und hielt sie vorsichtig in der Hand. »Er trägt sie hier herüber und schüttet etwas davon heraus. Ja? Schüttet man das einfach so heraus?« »Nein, er hat sicher mit einem Spatel eine geringe Menge herausgenommen und sie in einem kleinen Behälter gewogen.« »Na schön. Also das tut er.« Er bewegte die Flasche hin und her und stellte sie auf die Arbeitsplatte neben den Abzug. Er starrte die Flasche an und dann Brade. »Und das wär's?«

»Ich nehme an - ja.«

»Und das stimmt mit der Situation überein, wie Sie sie beim Betreten des Labors angetroffen haben. Sie haben nichts entdeckt, was Ihnen merkwürdig vorkam, nein?«

Brade hatte den Eindruck, dass die Augen des Kriminalbeamten gespannt aufleuchteten, aber er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein -Sie?«

Doheny zuckte die Achseln. Er kratzte sich das schon schütter gewordene Haar mit dem Zeigefinger und sagte: »Unfälle gibt's ja überall, und besonders an einem Ort wie diesem hier, wo man sie direkt herausfordert.« Er klappte das kleine Notizbuch zu und steckte es in seine innere Rocktasche.

Er sagte: »Sie sind doch immer hier erreichbar, falls noch die eine oder andere Frage geklärt werden muss?« »Ja, natürlich.«

»Na schön. Und wenn ich Ihnen als Außenstehender einen Rat geben darf - als Laie -, dann halten Sie das Zyanid unter Verschluss.« »Ich werde es mir überlegen«, erwiderte Brade diplomatisch. »Ach, noch etwas, Ralph hatte einen Schlüssel für dieses Labor. Könnten Sie mir den schenken, wenn Sie keine Verwendung dafür haben?« »Natürlich. Also passen Sie gut auf sich auf, Professor. Lesen Sie die Etiketten auf diesen Flaschen da genau. Verwechseln Sie sie nicht!« »Ich will's versuchen«, sagte Brade.

Und nun stand Brade wieder allein im Labor. Er dachte an seine Frau. Doris würde sich zweifellos Sorgen machen. Er hatte früh nach Hause kommen wollen, da er um fünf Uhr schon Cap Anson zu Besuch erwartete. (Du liebe Güte, der pünktliche Cap wird beleidigt sein, dachte Brade. Er wird das als persönlichen Affront betrachten, wo es ihm doch um sein Buchmanuskript geht. Aber was hätte ich tun sollen?) Brade sah auf seine Uhr. Fast sieben, und er konnte noch nicht weg. Er musste noch etwas erledigen.

Er schloss die schmutzigen Jalousien und knipste zu der Lampe am Arbeitstisch noch das Neon-Deckenlicht an. Die Kurse der Abendhochschule hatten noch nicht begonnen, und das Gebäude war praktisch leer. Die Gruppen von Studenten und anderen Personen, die sich beim Eintreffen der Polizei versammelt hatten, hatten sich aufgelöst, als die Beamten gegangen waren. Er war dankbar für die Ruhe.

Er musste rasch etwas erledigen; und dabei konnte er niemanden gebrauchen.

2

Es wurde ein langer Heimweg; die ungewohnte Dunkelheit ließ die Umgebung fremd und kalt erscheinen. Der Verkehr floss anders als sonst, und die vielfarbigen Lichtreflexe auf dem Fluss, die die Leuchtreklamen der Stadt in das Wasser warfen, ließen alles seltsam unwirklich erscheinen.

Unwirklich wie sein ganzes Leben, dachte Brade. Sein Leben, das nicht viel mehr war als eine einzige lange Flucht. Vier Jahre College mit staatlicher Unterstützung während der langsam abklingenden Depression.

Als die vier Jahre dann vorbei waren, hatte er trotz der schönen und bewegenden Abschiedsrede und der salbungsvollen Segenswünsche des Präsidenten den heiligen Hallen nicht den Rücken gekehrt, sondern lediglich den Platz gewechselt; er hatte das Versteck gewechselt. Schritt für Schritt ging es weiter: zuerst Master's Degree, dann Habilitation bei Cap Anson, daraufhin Anstellung an der Universität als wissenschaftlicher Assistent - und später dann als assistierender Professor.

Aber all das war nicht »das Leben«. (Er kurvte durch einen Verkehrskreisel mit der gedankenlosen Selbstverständlichkeit dessen, der schon so lange Auto fährt, dass sein Wagen den Weg nach Hause allein findet und schneller rollt, wenn er schon von weitem die Garage wittert.)

Eine Universität war etwa ebenso Teil des Lebens, wie ein Strudel Teil des Stroms war. Die Studenten bewegten sich im großen Strom; sie kamen von den entfernten Bächen und Flüsschen der Kindheit herangeschwommen, trieben vorbei und folgten der Strömung in ein Land, das Brade nie erforscht hatte. Er selbst aber blieb zurück im ewig gleichen Strudel.

Und unterdessen wurden die Studenten immer jünger. In den ersten Jahren seiner Assistentenzeit waren sie fast gleichaltrig gewesen, und er hatte die Würde seiner Position mit einem gewissen Unbehagen empfunden. Jetzt, nach siebzehn Jahren, brauchte er sich nicht mehr um Würde zu bemühen- sie war mit Falten in sein Gesicht geschrieben, mit Adern auf seine Handrücken. Die Studenten sprachen in respektvollem Ton mit ihm, und er war für sie nur der Professor. Das stand ihm, der langsam älter wurde, in der Welt fortwährender Jugend eben zu. Dennoch gab es auch in diesem Strudel des Universitätslebens wieder Dinge, denen bei all ihrem künstlichen und nach innen gekehrten Rang mehr oder weniger Bedeutung zugemessen war.

So gab es zum Beispiel eine magische Trennungslinie zwischen dem Rang des assistierenden Professors, den Brade seit elf Jahren einnahm, und dem des außerordentlichen Professors, den man ihm jetzt schon mindestens drei Jahre lang vorenthielt.

Sein Fuß drückte automatisch auf das Gaspedal, als die Ampel wieder grün wurde.

Ein »assistierender Professor« konnte jederzeit mit oder ohne Grund entlassen werden. Sein Vertrag brauchte nur nicht mehr erneuert zu werden. So einfach war das. Einem »außerordentlichen Professor« konnte nur aus ganz bestimmten Gründen gekündigt werden; solche Gründe gab es nicht viele. Er konnte sich für den Rest seines Lebens finanziell sicher fühlen. Jetzt aber, nachdem einem seiner Studenten das zugestoßen war, würde die Trennungslinie zurückweichen; von »Sicherheit« konnte schon gar keine Rede sein bei ihm. Er presste die Lippen zusammen und bog in seine Straße ein. Er konnte schon von weitem durch die Zweige der Platane im Vorgarten das Licht in seinem Haus erkennen.

Doris' Sorge würde natürlich nur seiner Beförderung gelten. Er stellte sich schon vor, wie er ihr versicherte, dass man ihn für das Geschehene nicht verantwortlich machen könnte. Wenn es doch nur wahr wäre, dachte er.

Doris kam ihm schon an der Tür entgegen. Sie hatte auf ihn gewartet. Ich hätte sie anrufen sollen, dachte er etwas schuldbewusst. Er kam zwar oft später, aber trotzdem...

Tatsache war, dass er versuchte (und zwar ganz bewusst), einer Aussprache mit ihr aus dem Weg zu gehen. Was sollte er nur jetzt sagen, verdammt noch mal?

Sich entschuldigen, dass er nicht angerufen hatte? Hektisch über unverfängliche Dinge reden? Nach Anson fragen? Es war wie damals, als sie in frostiger Stimmung von einem Institutsfest nach Hause gefahren waren, weil er etwas zu aufmerksam zu der Frau eines der Studenten gewesen war, die sich offenbar vorgenommen hatte, mit Grübchen und tiefem Ausschnitt die Chancen ihres Mannes zu verbessern. Damals hatte er, als sie das Haus betraten, in heller Verzweiflung ausgerufen: »Oh, verdammt, jetzt wollen wir erst mal einen Schluck trinken!«

Es hatte geklappt. Sie hatte kein Wort mehr darüber verloren. Weder an diesem Abend-noch am andern Morgen oder später. Ob er das auch jetzt wieder versuchen sollte?

Doch jede weitere Überlegung erübrigte sich, denn Doris trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Sie sagte: »Ich habe schon davon gehört. Wie entsetzlich!«

Sie war fast so groß wie er. Ihr Gesicht, das etwas dunkler getönt war als seins, zeigte jedoch noch nicht die feinen Falten um Augen und Mundwinkel, die bei ihm die mittleren Jahre ankündigten; ihre Haut war so glatt wie damals, als sie sich auf dem College kennengelernt hatten. Die Konturen waren nur ein wenig schärfer geworden; härter, straffer. Brade sah sie an. »Du hast davon gehört? Wieso? Sag bloß nicht, es wäre im Fernsehen gewesen.« Er kam sich idiotisch vor, noch während er das fragte.

Sie schloss die Tür und sagte: »Die Sekretärin hat angerufen.« »Jean Makris?«

»Ja. Sie hat mir gesagt, was passiert ist. Dass Ralph tot ist. Sie sagte, du würdest wahrscheinlich später kommen und wolltest sicher nichts essen. Sie schien sehr darum besorgt zu sein, dass du auch gut und verständnisvoll behandelt wirst. Hat ihr vielleicht jemand gesagt, dass das bei mir manchmal zu wünschen übrig lässt?« Brade überhörte ihre Ironie. »Lass gut sein, Doris. Sie ist nun mal so.« Er ließ sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen und warf den Mantel über die Armlehne, so dass ein Ärmel am Boden schleifte. Normalerweise war er fast übertrieben ordentlich (eine Angewohnheit, die er als notwendiges Übel bei der chemischen Forschungsarbeit ansah, die Doris aber seiner herrschsüchtigen Mutter zuschrieb). Er sagte: »Ist Ginny schon im Bett?« »Aber ja.« »Sie weiß es doch wohl noch nicht, oder?«

»Nein, noch nicht.« Sie nahm seinen Mantel und ging damit hinaus in den Flur, um ihn in den Schrank zu hängen. Ihre Stimme klang etwas dumpf, als sie rief: »Willst du denn?« »Will ich was?« »Etwas essen.«

»Nein. Ich darf gar nicht daran denken. Vorerst nicht, jedenfalls.« »Aber du trinkst doch sicher etwas.« Das sollte keine Frage sein. Und ausnahmsweise nahm Brade, der kein großer Trinker war, den Vorschlag dankbar an. (Plötzlich wünschte er, Ginny wäre nicht so ungewöhnlich früh zu Bett geschickt worden. Sie wenigstens hätte ihm die Illusion geben können, dass alles so war wie sonst.) Doris war zu dem eingebauten Wandschrank in der Essecke gegangen, wo sie ihren bescheidenen Getränkevorrat aufbewahrten. Brade beobachtete sie; er fragte sich, warum wohl so vieles im Leben verkehrt lief. Seit sie geheiratet hatten, wurde die Welt von der Atombombe bedroht. Während seiner Kindheit hatte ihn und seine Eltern die Depression bedroht. Hatte er sein ganzes Leben in einer Welt auf Abbruch zugebracht, ohne es zu merken, weil er gar nichts anderes kannte?

Doris verschwand in der Küche, um Eis und Soda zu holen; sie kam gleich darauf mit einem Drink in jeder Hand zurück. Sie setzte sich auf ein Sitzkissen dicht neben seinem Sessel und sah ihn mit ihren weit auseinanderstehenden braunen Augen an.

»Wie ist es denn eigentlich passiert?« fragte sie. »Ich weiß bis jetzt nur, dass es ein Unfall war.« Brade trank mit einem Zug das halbe Glas aus. Er musste husten, fühlte sich aber schon bedeutend wohler. »Offenbar hat er Natriumzyanid mit Natriumacetat verwechselt.« Er machte sich nicht die Mühe, es ihr näher zu erklären. Sie hatte schließlich lange genug mit ihm zusammengelebt, um einige chemische Fachausdrucke zu kennen.

»Oh!« sagte sie. Dann fuhr sie fort, und ihr Kinn hob sich dabei deutlich und scharf im Lampenlicht ab: »Das ist natürlich sehr traurig, Lou, aber dich trifft doch wohl nicht die geringste Schuld, oder?« Brade starrte in sein Glas. »Nein, natürlich nicht.« Dann fragte er: »Was hat denn Cap Anson gesagt? Ich nehme an, er war ärgerlich.« Doris machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe ihn überhaupt nicht gesehen. Er hat draußen mit Ginny gesprochen.« »Zu wütend, um hereinzukommen. Hm.«

Doris sagte: »Jetzt lass mal Cap aus dem Spiel. Was hat Professor Littleby dazu gesagt?«

»Gar nichts, Schatz. Er war nicht da.«

»Na ja, das wird nicht so bleiben. Wir sehen ihn spätestens Samstag abend.«

Brade legte seine Stirn in Falten und sah an ihr vorbei. »Du meinst also, wir sollten hingehen?«

»Natürlich gehen wir hin. So wie jedes Jahr. Mein Gott, Lou, das ist zwar eine sehr traurige Sache, aber wir können doch deshalb keine Trauer tragen, oder?« Sie gab einen ärgerlichen Laut von sich. »Dieser Junge hat doch allen nur Ungelegenheiten gebracht.« »Aber, Doris -«

»Das hat dir Otto Ranke ja gleich gesagt, als du Ralph angenommen hast.«

»Ich glaube nicht, dass Ranke so etwas vorausgesehen hat«, sagte Brade ruhig.

Ranke war derjenige gewesen, den sich Ralph Neufeld zuerst als Doktorvater ausgesucht hatte. Die Studenten wählten sich gewöhnlich unter den verschiedenen Mitgliedern der Fakultät den Professor, dessen Forschungsgebiet ihnen am interessantesten erschien. Oder der die meisten Stipendien zu vergeben hatte. Und Neufeld hatte Ranke gewählt.

Ranke aber war eine etwas unglückliche Wahl gewesen. Normalerweise hielt ein Professor zu seinem Studenten, wenn er ihn einmal angenommen hatte, selbst wenn er es hinterher bereute, sah er es doch als seine Pflicht an, ihn bis zur Promotion zu bringen, es sei denn, er versagte völlig.

Professor Otto Ranke fühlte sich an diese ungeschriebene Regel nicht gebunden. Wenn er einen Studenten nicht leiden konnte, jagte er ihn einfach davon.

Er war der Professor für physikalische Chemie; ein untersetzter, dicklicher Mann mit weißen Haarbüscheln um die Ohren herum und einer rosa Einöde dazwischen; er war reich an Ehren und Auszeichnungen. Außerdem war er aussichtsreicher Kandidat für einen späteren Nobelpreis.

Seine kurz angebundene und bissige Art, seine Schroffheit waren sprichwörtlich, aber Brade kam es oft so vor, als läge hinter seinem Hohn und seinen Wutanfällen immer eine gewisse Absicht. Es war natürlich einfach, das temperamentvolle Genie zu spielen, und diese Maske mochte sich besonders für diejenigen empfehlen, die insgeheim gewisse Zweifel an der eigenen Genialität hegten.

Jedenfalls hatte sich Neufeld, dessen mürrisches Wesen jedem ein

Ärgernis war, bereits nach einem Monat mit seinem mindestens ebenso schwierigen Professor entzweit. Sofort wandte er sich an Brade und sagte ihm, dass er zu ihm überwechseln wollte. Daraufhin hatte Brade bei Gelegenheit Ranke wegen des jungen Mannes angesprochen.

Ranke hatte ärgerlich geknurrt: »Dieser Junge ist einfach unmöglich. Es ist nicht mit ihm zu arbeiten. Überall gibt es Ärger mit ihm.«

Brade lächelte. »Mit Ihnen ist auch nicht gerade leicht arbeiten, Otto.«

»Das hat gar nichts mit mir zu tun«, sagte Ranke heftig. »Er hat sich sogar mit August Winfield geprügelt, richtig mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen.«

»Weshalb denn?«

»Wegen nichts und wieder nichts. Winfield hatte ein Becherglas benutzt, das Neufeld gerade erst gereinigt hatte. Ich habe noch nie Schwierigkeiten mit Winfield gehabt- er ist ein recht vielversprechender Junge. Und ich denke nicht daran, mir meine Arbeitsgruppe von einem Psychopathen durcheinanderbringen zu lassen. Wenn Sie ihn annehmen, Lou, wird er Ihnen nur Ärger machen.« Aber Brade hatte nicht auf ihn gehört. Zunächst hatte er Neufeld eine Zeitlang ein eigenes Labor zugewiesen, war ihm freundlich, aber zurückhaltend begegnet. Er hatte erst mal abgewartet. Er wusste sehr wohl, dass man über ihn redete, weil er diesen schwierigen Studenten übernommen hatte, vor dem sich die anderen Professoren drückten, und er war sogar ein wenig stolz darauf gewesen.

Zeitweise vergaß er tatsächlich fast, dass er sowieso nur die weniger guten bekam, weil er keine Stipendien zu vergeben hatte.

Trotzdem waren auch seine Studenten erstklassige Wissenschaftler geworden. So arbeitete Spencer James, Brades Musterbeispiel, heute für die Manning - Chemiewerke - und zwar in einer besseren Position als die meisten von Rankes ordentlichen, geschmeidigen Dressurpudeln. Nach einer langen Anlaufzeit hatte sich Neufeld gefangen und schien auf dem besten Weg zu sein, selbst ein Meisterschüler zu werden. In letzter Zeit hatte er verblüffende und erstaunliche Leistungen vollbracht, und wahrscheinlich wäre er schon in einem halben Jahr imstande gewesen, unter Brades Obhut eine beachtliche wissenschaftliche Arbeit zu schreiben. Aber der kurze Tagtraum, den Doris' Bemerkung ausgelöst hatte, zerrann in Sekundenschnelle. Es würde keine Dissertation geben.

Den Gedanken laut weiterspinnend, sagte Brade: »Eigentlich hätte ich allen Grund, Trauer zu tragen. Ralph Neufeld war ein mathematisches Genie - er war weit besser als ich. Wir hätten eine Arbeit für das Journal of Chemical Physics hinlegen können eine richtig schöne, hochmathematische Arbeit, dass Littleby der Kopf nur so geraucht hätte.«

»Lass sie doch von einem anderen schreiben«, sagte Doris prompt. »Ich könnte vielleicht den neuen Studenten, diesen Simpson dazu überreden, bei Ranke Kinetik zu belegen, aber ich bezweifle, dass er das schafft. Ganz abgesehen davon kann Simpson mit den letzten Strichen an einer fremden Arbeit keinen Doktor machen, und ich bin dafür verantwortlich, dass er ihn macht.« »Du bist aber auch für dich selbst verantwortlich, Lou. Und für deine Familie - vergiss das nicht.« Brade schwenkte den Rest der Flüssigkeit auf dem Boden seines Glases herum. Wie sollte er es ihr nur beibringen? Das scharrende Geräusch nackter Füße auf dem Teppich im oberen Stock lenkte ihn ab. Eine helle Mädchenstimme rief: »Pa! Bist du da? Papi?«

Doris ging entschlossen an die Treppe und rief etwas ärgerlich hinauf: »Virginia -«

Aber Brade schaltete sich ein. »Ich möchte mit ihr sprechen.« Doris antwortete: »Cap Anson hat ihr ein paar Kapitel für dich zum Lesen gegeben. Das ist alles, was sie dir sagen will.«

»Na ja, ich werde trotzdem mit ihr reden.« Er stieg die Treppe hinauf. »Was gibt's denn, Ginny?«

Er beugte sich hinab und nahm sie in die Arme. Sie würde bald zwölf Jahre alt werden.

Ginny sagte: »Ich dachte, ich hätte dich heimkommen hören, aber dann bist du nicht heraufgekommen, um mir gute Nacht zu sagen, und Mutter hat doch darauf bestanden, dass ich gleich nach dem Abendessen ins Bett ging. Da bin ich eben herausgekommen, um nachzusehen.«

»Ich bin froh, dass du das getan hast, Ginny.«

»Ich hab auch eine Nachricht für dich, Pa.« In wenigen Jahren würde sie so groß sein wie ihre Mutter, und schon jetzt hatte sie das gleiche dunkle Haar und die gleichen weit auseinanderstehenden braunen Augen. Aber ihre Haut war hell wie die ihres Vaters. Ginny sagte: »Cap Anson kam gerade, als ich draußen war -« »Punkt fünf Uhr.« (Brade konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er kannte die übertriebene Pünktlichkeit des alten Mannes und schämte sich bei dem Gedanken, dass er ihn versetzt hatte. Aber es war nicht seine Schuld gewesen; wirklich nicht.)

»Ja«, sagte Ginny, »er hat mir einen Umschlag gegeben und gesagt, ich soll ihn dir geben, wenn du heimkommst.« »Und er schien sehr ärgerlich zu sein, nicht?«

»Er hat so - ich weiß nicht, ganz steif gestanden. Und er hat auch nicht gelächelt oder so.«

»Hast du den Umschlag da?«

»Da ist er.« Sie rannte fort und kam gleich darauf mit einem dicken, großen Umschlag zurück. »Hier.«

»Ich danke dir, Ginny. Und jetzt gehst du besser wieder ins Bett. Und mach die Tür zu.«

»In Ordnung«, sagte Ginny und spielte an einem Bändchen herum, das ihr linkes Handgelenk zierte. »Habt ihr etwas zu besprechen, du und Mutti?«

»Wir möchten dich nicht stören, deshalb sollst du deine Tür zumachen.« Er richtete sich wieder auf und merkte, wie es leise in seinen Kniegelenken knackte. Mit Cap Ansons Manuskript unter dem Arm wollte er sich zurückziehen, aber Ginny starrte ihn mit aufmerksamen glänzenden Augen an. »Hast du Ärger an der Uni, Paps?« Brade wurde etwas verlegen. Hatte sie gelauscht? »Warum fragst du, Ginny?«

Sie war offensichtlich beunruhigt und aufgeregt. »Hat dich Professor Littleby hinausgeworfen?«

Brade hielt die Luft an. Dann sagte er scharf: »Das war wirklich eine dumme Frage. Und nun verschwindest du in deinem Zimmer! Niemand wirft deinen Vater hinaus. So, und jetzt ab mit dir!«

Ginny zog sich zurück. Ihre Tür ging zu, aber nicht ganz, und Brade ging schnell hin, um sie zuzuwerfen. »Und jetzt keinen Ton mehr, verstanden?«

Als er die Treppe wieder hinunterging, kochte er innerlich. Aber es hatte keinen Zweck, auf Ginny ärgerlich zu sein. Im Gegenteil - er hätte sie trösten und beruhigen müssen. Wenn sie die Unsicherheit ihrer Eltern gespürt hatte, wenn sie davon angesteckt worden war, dann hatten sie, die Eltern, die Schuld daran.

Das bestimmte ihn, Doris die Neuigkeiten nicht schonend beizubringen. Soll sie es doch erfahren, dachte er ärgerlich.

Er sah sie fest an und sagte: »Das Schlimme ist nur, Doris, dass Ralph Neufelds Tod kein Unfall war.«

Sie schien erschrocken. »Willst du damit sagen, dass er es absichtlich getan hat? Dass er sich das Leben genommen hat?« »Nein. Warum sollte er einen komplizierten Versuch vorbereiten, nur um sich das Leben zu nehmen? Nein - ein anderer hat ihn getötet. Er wurde ermordet.«

3

Doris Brade starrte ihren Mann an, dann lachte sie ärgerlich auf und sagte: »Du bist verrückt, Lou -« Sie brach mitten im Satz ab, und ihre Augen weiteten sich. »War denn die Polizei da? Hat sie das gesagt?« »Natürlich war die Polizei da. Es war ja kein natürlicher Tod. Aber gesagt haben sie es nicht. Sie glauben, es sei ein Unfall gewesen.« »Dann solltest du es doch lieber ihnen überlassen.« »Sie wissen noch nicht alles, Doris. Sie sind schließlich keine Chemiker.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

Brade sah auf seine Fingerspitzen, dann beugte er sich zur Lampe hinüber und knipste das Licht aus: Sein Kopf begann zu schmerzen; das Licht störte ihn. Jetzt fiel nur noch ein sanfter Lichtschein von der Küche herein - das war viel angenehmer.

Er sagte: »Das Natriumacetat und das Natriumzyanid hätten in gleichen Flaschen gewesen sein können, so dass Ralph nach der falschen gegriffen hätte, ohne es zu merken. Das wäre möglich. Trotzdem hätte es ihm nachher auffallen müssen.« »Wieso?«

»Wenn du es ausprobieren würdest, wüsstest du gleich, was ich meine. Für den Beamten waren beide Chemikalien einfach weiße Kristalle, und das genügte ihm. Aber das ist eben doch nicht alles - nur habe ich ihn nicht gerade aufgefordert, sie näher zu untersuchen, weiß Gott nicht. Sie sind sich nämlich durchaus nicht gleich. Natriumacetat zieht zum Beispiel die Luftfeuchtigkeit stärker an, so dass sich die Kristalle leicht zusammenklumpen.

Ein Chemiker, der gewöhnt ist, das Acetat mit dem Spatel herauszunehmen, hätte sogar mit verbundenen Augen sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte.«

Doris saß ihm gegenüber auf der Couch; starr und irgendwie drohend im Dämmerlicht, und ihre Hände bildeten einen hellen Fleck auf dem dunklen Kleid. Sie sagte: »Hast du mit jemandem darüber gesprochen?« »Nein.«

»Das hätte mich nämlich nicht gewundert. Du hast so deine sonderbaren Momente, und diesmal bist du mehr als sonderbar. Du musst verrückt sein.« »Wieso das denn?«

»Na hör mal- Littleby hat dir so gut wie versprochen, dass du dieses Jahr deine feste Anstellung bekommst. Das hast du selbst gesagt.« »Ganz so habe ich das nicht gesagt, Doris. Er meinte nur, eine Wartezeit von elf Jahren sei lang genug. Wie ich den Laden kenne, kann das genauso gut geheißen haben, dass er meine Entlassung betreiben will-oder mich hinauswerfen, wie Ginny es nennt. Ich nehme an, du weißt, dass sie gedacht hat, ich sei hinausgeworfen worden.« Doris antwortete unbewegt: »Ich habe es gehört.« »Wie kommt sie denn überhaupt darauf?«

»Ich nehme an, weil sie uns über diese Angelegenheit sprechen gehört hat. Sie ist schließlich nicht taub, und sie ist auch alt genug, um zu verstehen, was sie hört.«

»Glaubst du, dass es richtig ist, ihr das Gefühl der Sicherheit zu nehmen?«

»Jedenfalls nicht schlimmer, als sie in dem Gefühl einer falschen Sicherheit zu wiegen. Aber du kommst vom Thema ab, Lou. Du musst zusehen, dass du eine feste Anstellung bekommst.« Brades Stimme bebte leicht, wurde aber nicht lauter, als er antwortete: »Es handelt sich um einen Mord, Doris.«

»Es handelt sich um deine Anstellung, Lou. Littleby bringt es fertig, den Umstand, dass einer deiner Studenten vergiftet wurde, als Ausrede zu benutzen, um deine Beförderung hinauszuzögern. Und wenn du nun auch noch herumläufst und von Mord redest und einen Skandal heraufbeschwörst, dann ist die Angelegenheit endgültig erledigt.« »Ich habe nicht die Absicht -«, begann Brade.

»Ich weiß, dass du vorhast, alles möglichst geheimzuhalten, aber dann fühlst du dich auf einmal verpflichtet, etwas ganz und gar Lächerliches zu tun - Pflicht gegenüber der Universität, gegenüber der Gesellschaft -, deine verdammte Pflicht gegenüber allen außer deiner Familie.« »Ich glaube, du hast dir das noch gar nicht richtig überlegt, Doris«, sagte Brade. Wenn ihm heute abend etwas zuwider war, dann war es eine Moralpredigt. »Wenn es in unserem Campus einen Mörder gibt, dann kann ich diesen Umstand nicht einfach ignorieren. Ein chemisches Labor ist so ziemlich der gefährlichste Ort, um einen Mörder frei herumlaufen zu lassen. Zyanid ist nur ein tödliches Gift - aber wenn es ihm in den Sinn kommt, zum zweitenmal zu töten, dann gibt es hundert, nein tausend andere Möglichkeiten. Man kann diese Gefahren unmöglich alle ausschalten - selbst wenn man gewarnt ist. Ist es auch meine Pflicht gegenüber meiner Familie, mich als mögliches Opfer zu exponieren?«

»Warum denn ausgerechnet du?«

»Warum nicht? Warum Ralph? Warum also nicht ich?«

»Ach, mach das Licht an!« Gleich darauf knipste sie es selbst mit einer ungeduldigen Handbewegung an. »Du kannst einen wirklich zur Verzweiflung bringen. Es war kein Mord. Dein idiotischer Student hat einfach Zyanid genommen, ohne den Irrtum zu bemerken. Das ist eine Tatsache, und Tatsachen kann man nicht durch Worte beseitigen. Er war zerstreut und hat es nicht gemerkt. Du hast leicht sagen, kein Chemiker würde Zyanid mit Acetat verwechseln, aber das setzt ja voraus, dass ein Chemiker ein Automat ist, eine Maschine. Du vergisst, dass er auch mal unaufmerksam sein kann, in Gedanken, müde, über etwas verärgert. Er kann unzählige Fehler machen; er kann sogar die unmöglichsten Fehler machen. Und das ist genau das, was Ralph getan hat.«

»Es gibt Beweise.« Brade sprach langsam und überlegt, damit sie ihn verstand. »Ralph war ein methodischer Mensch; er legte sich sein Material vorher zurecht, soweit das möglich war, damit er nicht ein Experiment unterbrechen musste, um etwas zu holen, was er nicht zur Hand hatte. Er war darin von peinlicher Sorgfalt. So hat er zum Beispiel in zehn Erlenmeyer-Kolben je eine Zweigramm-Portion Natriumacetat vorbereitet, und das reichte ihm für eine ganze Serie von Experimenten. Als der Mann von der Polizei weg war, sah ich in seinen Schubladenfächern nach und fand noch sieben Erlenmeyer Kolben. Ihr Inhalt sah aus wie Natriumacetat, aber ich habe ihn mit Silbernitratlösung getestet, auf das Aussehen kann man sich da gar nicht verlassen. Wenn Zyanid auch nur in winzigen Mengen vorhanden war, musste es einen weißen Niederschlag von Silberzyanid geben, sowie der erste Tropfen Nitratlösung darauffiel. Aber es bildete sich kein Niederschlag.

Dann fand ich den Kolben, den Ralph bei seinem letzten Experiment benutzt hatte. Er stand im Abzug gleich hinter seiner Versuchsanordnung. Er war nicht völlig entleert. Das brauchte er auch nicht zu sein, da es bei der hinzugefügten Acetatmenge nicht auf ein bestimmtes Verhältnis ankam. Jedenfalls hingen noch einige Kristalle im Kolben. Ich löste sie auf, fügte das Silbernitrat hinzu - und bekam meinen Niederschlag.

Das Pulver hätte natürlich gewöhnliches Kochsalz, Natriumchlorid oder auch ein verwandter Stoff sein können. Auch Silberchlorid zeigt sich als weißer Niederschlag, aber es löst sich nicht wieder von neuem auf, wenn man das Glas schüttelt. Silberzyanid löst sich aber in dem Fall auf, und dieser Niederschlag hier tat es. Es ist reiner Zufall, dass sich Doheny nicht kompetent fühlte.« »Doheny?« »Der Detektiv.« »Ach so. Ja, wenn du nichts dagegen hast, würdest du mir dann erklären, was diese ganze Geschichte von Erlenmeyer-Kolben und Silbernitrat zu bedeuten hat?«

»Liebling, das müsste dir aber doch jetzt klar sein. Ralph hat mit einer Serie von zehn Kolben angefangen, die er vorher alle gleichzeitig vorbereitet hatte. Zwei davon hat er benutzt; einen gestern, den anderen vorgestern. Dabei ist ihm nichts passiert. Der dritte war es, der ihn getötet hat. Die sieben, die ich noch vorfand, waren völlig harmlos. Wenn aber Ralph nun Natriumzyanid für Natriumacetat gehalten hätte -sagen wir mal, war er erregt, war mit den Nerven herunter, wusste nicht, was er tat -, dann hätte er in alle Kolben Zyanid gefüllt. Er kann nicht nur einen damit gefüllt haben und dann wie ein Schwachkopf zum Regal zurückgegangen sein und für die anderen Acetat genommen haben. Auch hätte er bestimmt nicht neun mit Acetat gefüllt - und den zehnten dann plötzlich aus Versehen mit Zyanid. Das ist ganz unmöglich.« Doris dachte stirnrunzelnd nach. »Er könnte mit Zyanid angefangen und dann seinen Irrtum bemerkt haben.«

»Dann hätte er diesen einen Kolben entleert und ausgespült.« »Vielleicht hat er in mehr als einen Zyanid getan, vielleicht in alle zehn - und hat dann beim Ausleeren den einen übersehen.« »Das würde zwei höchst unwahrscheinliche Irrtümer und Nachlässigkeiten voraussetzen. Er hätte zuerst Zyanid für Acetat gehalten und dann vergessen, einen mit Zyanid gefüllten Kolben zu leeren. Herrgott, mit Zyanid spielt man nicht so einfach herum; das tut auch ein Chemiker nicht, der das Zeug öfter benutzt. Ein Chemiker kann einfach nicht so zerstreut sein. Das gibt es einfach nicht. Und Ralph ist immer äußerst vorsichtig vorgegangen.«

Doris schwieg, und Brade hing eine Weile seinen trüben Gedanken nach. Es war beängstigend; besonders wenn man daran dachte, welche Konsequenzen eine anscheinend ganz harmlose Sache haben konnte. Und dennoch - das kam in der täglichen Routine des wissenschaftlichen Experiments immer wieder vor. Warum scheute er sich, das logische System, das er, ohne zu zögern, auf Formeln und Atome anwandte, im Falle von Menschen anzuwenden? Wegen der Art der Schlussfolgerung vielleicht? Brade fuhr fort: »Die Folgerung ist, dass jemand absichtlich das Acetat in einem der Kolben mit Zyanid vertauscht hat.« »Aber warum?« fragte Doris. »Um Ralph zu töten.« »Aber warum?« »Keine Ahnung. Ich weiß nichts über sein Privatleben; woher sollte ich also ein mögliches Motiv kennen? Ich habe über einundeinhalbes Jahr mit ihm zusammengearbeitet, und doch weiß ich so gut wie nichts über ihn.«

»Machst du dir auch noch deshalb Gewissensbisse? Was hat denn Cap Anson schon von dir gewusst, als du mit ihm zusammengearbeitet hast?«

Brade musste wider Willen lächeln. Solange er oder irgend jemand sonst sich erinnern konnte, wurde Professor Anson »Cap« genannt, ohne dass man gewusst hätte, warum.

In seinen Studenten sah er nur eine Art erweitertes Ich, zusätzliche Arme, Nebenhirne.

»Cap ist ein Sonderfall«, sagte Brade.

»Momentan wünschte ich, du wärst ihm etwas ähnlicher«, erwiderte Doris. »Du hast mir immer erzählt, seine stärkste Seite wäre seine Begabung, nie auch nur einen Schritt zu weit zu gehen. Du dagegen rennst den Tatsachen ja förmlich voraus. Deine ganze Theorie geht von der Annahme aus, dass Ralph alle zehn Kolben auf einmal mit dem Acetat gefüllt hat. Aber woher willst du das wissen? Selbst wenn er das sonst immer so gemacht hat - wie willst du wissen, dass es diesmal keine Ausnahme von der Regel war?

Natürlich kannst du sagen, er sei immer peinlich genau gewesen, Lou, sehr zuverlässig und so, und dass er immer alles so und nicht anders gemacht hat. Aber Menschen sind eben keine Maschinen. Selbst wenn er eine Reihe von Kolben in seinem Schrank stehen hatte, kann er aus einem uns unbekannten Grund beabsichtigt haben, noch einen weiteren Kolben zu füllen. Vielleicht hatte er einen umgestoßen oder zu Anfang einen zuwenig vorbereitet. Wenn er aber noch einen zusätzlichen Kolben nahm, nur einen einzigen, und ihn auch benutzte, dann kann er doch sehr wohl bei diesem einen das Acetat mit dem Zyanid verwechselt haben.«

Brade nickte müde. »Er kann, er könnte, er hat vielleicht. Alles ist möglich. Wenn wir uns aber die Mühe sparen, Möglichkeiten zu erfinden und uns an die größte Wahrscheinlichkeit halten, dann bleibt nur noch Mord übrig.«

Doris sprach leise und beherrscht: »Du wirst nichts dergleichen sagen, Lou. Es ist mir ganz gleich, ob es Mord war oder nicht. Ich will nicht, dass du einen Skandal heraufbeschwörst. Du wirst deine Anstellung nicht aufs Spiel setzen. Verstehst du mich?«

Plötzlich klingelte das Telefon. Doris saß dicht daneben und nahm den Hörer ab. Dann blickte sie zu ihm hoch und bedeckte die Muschel mit der Hand. »Professor Littleby.« Brade flüsterte erstaunt: »Was ist denn los?«

Sie schüttelte den Kopf und legte warnend den Finger an die Lippen. »Vorsicht!«

Brade nahm den Hörer. »Hallo, Professor Littleby?« Als er die Stimme hörte, sah er im Geist das Gesicht vor sich, deutlich und in allen Einzelheiten - die frische rötliche Farbe, noch rosiger wirkend durch das weiße Haar darüber, dieses breite, weiche Gesicht mit dem runden, fast knolligen Kinn und der ebenso runden und knolligen Nase, die porzellanblauen Augen. Der Direktor des Chemischen Instituts sagte: »Hallo, Brade. Eine schreckliche Geschichte. Ich habe gerade eben davon gehört.« »Ja, Sir, sehr trauriger Vorfall.«

»Ich weiß ja nicht viel über den Jungen. Aber ich glaube, ich kann mich erinnern, dass hier Bedenken wegen seiner Zulassung zur Doktorprüfung bestanden - doch das ist ja jetzt unwichtig. Allerdings spielt die Persönlichkeit eine recht große Rolle, und ich habe immer wieder festgestellt, dass charakterliche Mängel und Unfallhäufigkeit im Labor Hand in Hand gehen. Ein Psychiater hätte wahrscheinlich die phantastischsten Erklärungen dafür, aber mir genügt es, die Tatsachen zu konstatieren. Ach, könnten Sie übrigens morgen früh vor Beginn der Vorlesungen bei mir vorbeikommen?«

»Selbstverständlich, Sir. Darf ich fragen, worum es sich handelt?« »Ach, es ist nur wegen einiger Probleme im Zusammenhang mit dieser Geschichte. Sie fangen doch um neun an, ja?« »ja, Sir.«

»Dann kommen Sie am besten um halb neun zu mir. Und nehmen Sie's nicht zu schwer, Brade. Schreckliche Geschichte - schrecklich. Wirklich schrecklich...«, und damit legte er auf.

»Er will dich sehen?« fragte Doris. »Weshalb denn?«

»Damit wollte er nicht herausrücken.« Brade griff nach seinem Glas, das schon längst leer war. Er stellte es wieder weg. Er sagte: »Ich glaube, wir essen jetzt erst mal. Oder hast du schon?« »Nein«, erwiderte sie kurz.

Während sie den Salat aßen, herrschte Stille. Brade war dankbar dafür. Schließlich sagte Doris: »Ich möchte, dass du eins weißt, Lou -« »ja, Doris?«

»- ich werde nicht mehr länger warten. Du musst noch dieses Jahr deine Berufung bekommen. Wenn du das jetzt verpatzt, ist es endgültig aus. Ich habe wirklich lange gewartet, Lou, und Jahr für Jahr habe ich gebangt, wenn es Juni wurde, ob sie dir das Kärtchen geben würden, auf dem steht, dass sie dich für ein weiteres Jahr verpflichten. Einen solchen Juni wird es für mich nicht mehr geben.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, sie würden meinen Vertrag nicht erneuern?«

»Darüber möchte ich überhaupt nicht mehr nachdenken müssen. Ich will keine Eventualitäten mehr, ich will Gewissheit. Wenn du zum außerordentlichen Professor berufen wirst, dann geschieht die Verlängerung des Vertrages doch automatisch, nicht? Das bedeutet doch wohl die Berufung, dass das ganz automatisch geschieht, oder?« »Wenn kein besonderer Anlass vorliegt, ja.«

»Schön. Ich will, dass der Juni für mich seine Bedeutung verliert. Ich will, dass das )fiskalische Jahr< mir nichts mehr sagt. Ich will die Berufung.« »Dafür kann ich dir aber doch nicht garantieren, Doris«, sagte Brade sanft.

»Wenn du Littleby oder sonst jemandem gegenüber etwas von deinen komischen Ideen von wegen Mord und so verlauten lässt, kannst du mir ganz bestimmt das Gegenteil garantieren. Und wenn das geschieht, Lou - wenn das geschieht, dann -«, sie blinzelte heftig, so als wollte sie die Tränen zurückhalten, »oh, Lou, ich halte das nicht länger aus.« Brade wusste, wie ihr zumute war. Ihm ging es ja genauso. Die Jahre der Depression hatten ihnen beiden Mut und Zuversicht geraubt - Jahre, in denen sie mit ansehen mussten, wie ihre Eltern krank waren vor Sorge, in denen sie etwas erfuhren, ohne recht zu verstehen -Sie wollten die »Berufung«, um diese Erinnerung auszulöschen, aber was sollte er tun?

Langsam und sorgfältig trennte Brade ein Salatblatt mit der Gabel auseinander, halbierte es, halbierte die beiden Teile noch einmal. »Ich kann die Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Wenn es ein Mord war, dann wird es die Polizei mit der Zeit auch herausfinden.« »Dann lass die doch. Solange du nur nichts damit zu tun hast.« Brade antwortete: »Wie sollte ich denn nichts damit zu tun haben?« Dann stand er auf. »Ich mache mir noch einen Drink.« »ja.«

Unbeholfen mixte er das Getränk und sagte dann: »Hast du darüber nachgedacht, wer der Mörder sein könnte, Doris?« »Nein. Will ich auch nicht.«

»Doch, tu's mal.« Er sah sie über sein Glas hinweg an, und es tat ihm leid, dass er ihr auch das noch sagen musste, aber er wusste nicht, wie er es hätte umgehen sollen. »Der Mörder muss jemand sein, der etwas von Chemie versteht. Jemand, der noch nie in einem Labor gearbeitet hat, würde es nicht wagen, in ein Experiment hineinzupfuschen, um das tödliche Zyanid einzuschmuggeln. Das würde er sich nicht zutrauen. Er würde zu einem weniger komplizierten Mittel greifen.« »Willst du jetzt auch noch sagen, dass du glaubst, der Mörder arbeite im Chemischen Institut?« »Es ist gar nicht anders denkbar. Jemand muss sich Zugang zum Labor verschafft und das Acetat in einem der Kolben mit Zyanid vertauscht haben. Während Ralph im Labor war, kann es ja wohl kaum passiert sein. Zum einen war Ralph ein außerordentlich argwöhnischer Mensch, der es niemandem gestattet hätte, sich seinen Geräten zu nähern; das war ja auch die Ursache für seine Differenzen mit Ranke. Der Tausch muss also in Ralphs Abwesenheit stattgefunden haben. Sobald Ralph aber das Labor verließ, schloss er ab - sogar wenn er nur hinunter in die Bibliothek ging, um etwas nachzuschlagen. Ich habe ihn das oft tun sehen. Der Mörder muss also einen Schlüssel gehabt haben.« »Oh, diese Schlussfolgerungen«, sagte Doris. »Dass du ihn mehrmals dabei beobachtet hast, bedeutet doch noch nicht, dass er das ausnahmslos getan hat. Vielleicht hat er es manchmal vergessen. Und selbst wenn er es nie vergaß - Schlüssel sind ja nicht das einzige Mittel, um. Türen zu öffnen.«

»Mag sein, wenn du die etwas weit hergeholten Möglichkeiten in Betracht ziehst. Aber fasse doch lieber die nächstliegende Erklärung ins Auge. Du musst so vorgehen wie die Polizei. Es müsste jemand sein, der einen Schlüssel hat; jemand, der die Art von Ralphs Experimenten kennt, der weiß, wo er sein Acetat aufbewahrt und seine Kolben und so weiter. Außerdem wurde auch nur einer der Kolben vertauscht.« »Warum?« fragte Doris, die jetzt endlich zu begreifen begann. »Weil der Mörder Ralphs übertrieben genaue Art kannte. Er muss sich darauf verlassen haben, dass Ralph die Kolben von links nach rechts herausnehmen und je ein Experiment pro Tag durchführen würde. Das würde also bedeuten, dass er an einem Donnerstag an das Gift kommen würde-an einem Tag also, an dem er allein war, weil sein Kollege in der Vorlesung saß. Und es würde kein Zyanid übrigbleiben und andere in Gefahr bringen. Der Mörder war also mit den Verhältnissen bestens vertraut.« »Worauf zielst du ab, Lou?«

»Nur darauf, dass die Polizei zu denselben Schlüssen kommen und den Mann finden wird, auf den das alles zutrifft.« »Auf wen, also?«

»Wen! Warum glaubst du denn wohl, bin ich so sehr darauf bedacht gewesen, der Polizei gegenüber nichts von alledem zu erwähnen?« Brade nippte an seinem Glas und leerte es dann plötzlich mit einem Ruck. Dann sagte er heiser: »Auf mich, mein Schatz. Auf mich. Ich bin derjenige, auf den dies alles zutrifft. Ich bin der einzig mögliche Verdächtige.«

4

Die Fahrt zur Universität am nächsten Morgen erschien ihm länger als die Heimfahrt am Abend vorher. Er hatte zum Abschluss des Abends ein drittes und dann noch ein viertes Glas getrunken, aber der Alkohol hatte ihn nicht in bessere Stimmung versetzt.

Doris hatte ein ominöses Schweigen bewahrt und bis zum Schluss vor dem Fernsehapparat gesessen. Brade hatte Cap Ansons Text aus dem Umschlag genommen und versucht, ihn dem alten Mann zuliebe zu überfliegen, aber die Buchstaben tanzten ihm wie verrückt vor den Augen, und nachdem er den einleitenden Absatz fünfmal gelesen hatte, gab er es auf. Sie schliefen danach beide nicht gut. Morgens war Ginny recht bedrückt mit einem angespannten, verstörten Zug auf dem schmalen Gesicht in die Schule gegangen. Kinder, das hatte Brade längst erkannt, besaßen unsichtbare Antennen, die die unvorhersehbaren Stimmungen und Launen der Erwachsenen auffingen.

Die Versuchsarbeiten für seine Dissertation bei Cap waren noch nicht ganz abgeschlossen gewesen, als ihm eine Assistentenstelle an der Universität angeboten wurde. Das war ein Geschenk des Himmels. In seinen kühnsten Träumen hatte er das nicht zu hoffen gewagt. Der Reiz - und die Unsicherheit - eines Daseins in der Industrie behagten ihm nicht. Er war kein Ellenbogenmensch, er machte nicht einmal beim Rennen um staatliche Forschungsmittel mit. Er wollte nur die ruhige, gesicherte Position. Sicherheit, nicht Abenteuer - das war seine Devise. Zu diesem Zeitpunkt heiratete er Doris. Sie wollte dasselbe; finanzielle Sicherheit für das nächste Jahr. Sie verzichteten auf den Raketenstart, um sicher zu sein, nicht früher oder später einen Absturz zu erleben. Ein Fakultätsposten an einer altehrwürdigen Universität war nicht schlecht. Da konnte eine Wirtschaftskrise kommen, die Gehälter mochten vorübergehend gekürzt werden - Mitglieder der Fakultät überlebten allemal bis in ihre alten Tage. Und selbst wenn man sich zurückzog, führte man als Professor emeritus ein angenehmes Leben bei halbem Gehalt. Die Zeit ging vorüber, zwei Jahre, und er war assistierender Professor. Seine Forschungsarbeit bezog sich auf ausgefallene Themen - interessant, aber nichts Aufregendes. Es ging dabei still zu, denn er wählte seine Themen schon dementsprechend aus. Die Forschungsmittel gingen freilich immer dorthin, wo »etwas los war«, und deshalb kam er dabei zu kurz. Das gleiche galt für die erhoffte Beförderung zum außerordentlichen Professor.

Er konnte Doris' Einstellung zu diesem Problem begreifen. Siebzehn Jahre versah er jetzt sein Amt, und jedes Jahr kam der weiße Zettel – nicht der rosa, sondern der weiße Zettel -, der die Verlängerung des Anstellungsverhältnisses bedeutete. Für ein Jahr. Doris strebte natürlich eine unkündbare Position an. Brade versuchte ihr zu erklären, dass »unkündbar« auch nur ein Wort war. Dass es hieß, dass man nicht vor die Tür gesetzt werden konnte, außer wenn ein Grund vorlag und der Universitätssenat (der sich aus Kollegen zusammensetzte) sein Votum dafür abgab, dass aber einem Professor nicht unbedingt gekündigt werden musste. Man konnte ihn auch dazu überreden, von selbst seinen Abschied zu nehmen, und ihm, wenn er nicht reagierte, das Leben so unmöglich machen, dass er, ob unkündbar angestellt oder nicht, früher oder später hinausgeekelt wurde. Doch das alles überzeugte Doris nicht. Sie wusste nur, dass ihr Mann von einem Jahr zum anderen entlassen werden konnte. Ohne feste, unkündbare Anstellung war kein Kündigungsgrund und kein Votum des Senats erforderlich.

Sie hatte ständig eine wirtschaftliche Krise vor Augen und wollte Sicherheit.

Und ich will sie auch, dachte Brade düster.

Er bog in den Fakultätsparkplatz ein und suchte sich ein freies Rechteck. Er nahm, was er kriegen konnte. Die reservierten Parkflächen an der Rückwand des Chemischen Instituts waren außerordentlichen und ordentlichen Professoren vorbehalten. Gewöhnlich achtete er nicht darauf, aber heute wurde er sich bewusst, dass auch dies ein Aspekt war, der mit der magischen Trennungslinie zwischen dem assistierenden und dem außerordentlichen Professor zu tun hatte. Er ging die Holztreppe hinauf, die um das Gebäude herum zum Haupteingang des Instituts führte. Zwei Studenten auf einer der steinernen Bänke an dem mit Backsteinen gepflasterten Weg quer über den Rasen sahen zu ihm auf. Der eine flüsterte dem anderen etwas zu, und sie folgten ihm mit ihren Blicken.

Brade zog die Schultern hoch und ging weiter. Er hatte sich keine Morgenzeitung gekauft; sicher stand alles darin.

Aber machte ihn das zu einem Objekt der Neugierde, verdammt noch mal?

Er merkte, dass er viel zu schnell ging, und zwang sich zu einer langsameren Gangart, als er durch die breite Doppeltür schritt. Und indem er hier linksherum ging, begann der Tag für ihn unter ungünstigem Vorzeichen. Er hätte sich nach rechts wenden sollen, wo der Aufzug war, der ihn zum vierten Stock und zu seinem Arbeitszimmer gebracht hätte.

Aber er wandte sich nach links und öffnete eine Tür, auf der CHEMISCHES INSTITUT stand - und kam sich plötzlich wieder wie der Volksschüler vor, den ein strenger, zwei Meter großer Lehrer zum zweieinviertel Meter großen Rektor geschickt hatte. Er sah auf seine Uhr. Es war 8 Uhr 20, und er war zehn Minuten zu früh. Jean Makris fertigte einen Studenten ab; sie stand auf, als Brade sich gerade setzte.

»Er wird Sie sofort empfangen, Professor Brade«, sagte sie. »Er führt gerade ein Ferngespräch.«

»Schon gut«, sagte Brade. »Ich bin zu früh, ich weiß.«

Sie trat hinter dem Schreibtisch hervor und kam auf ihn zu. Brade unterdrückte den Impuls, ein Stück zurückzuweichen, denn er hatte bei solchen Gelegenheiten immer den Eindruck, sie wollte ihm die Krawatte geradeziehen.

Jean Makris hatte ein längliches Gesicht mit vorstehenden Zähnen und einem bekümmerten Ausdruck, der aber, davon war Brade überzeugt, nichts mit einem wirklichen Kummer zu tun hatte. Sie war tüchtig, verstand es geschickt, unangenehme Besucher abzuschütteln, erinnerte ihn, Brade, an Verabredungen und Termine und ersetzte ihm, so gut sie konnte, in ihren freien Augenblicken die Sekretärin, die die Universität ihm nicht zubilligen wollte.

Sie sagte in vertraulichem Ton: »Ich war ganz aufgeregt gestern, nachdem Sie mich angerufen hatten, Professor Brade. Für Sie muss das ja schlimm gewesen sein.« »Es war schon ein Schock, Miss Makris.«

Ihr Ton wurde noch vertraulicher. »Ich hoffe, Ihre Frau hat sich nicht gewundert, weil Sie später kamen. Ich habe es ihr zu erklären versucht.«

»Ja, vielen Dank, das war nett von Ihnen.«

»Ich dachte nur, wo Sie immer so pünktlich sind, denkt Ihre Frau vielleicht, na ja, Sie wissen - sie ist vielleicht beunruhigt und denkt, na ja -« Brade fragte sich einen verstörten Augenblick lang, ob Miss Makris damit meinte, seine Frau könnte ihn eines Seitensprungs verdächtigt haben. Er blickte sie entgeistert an.

Sie kam jedoch gleich auf ein anderes Thema zu sprechen. »Ich nehme an, die Sache geht Ihnen deshalb besonders nahe, weil er ja bei Ihnen seine Arbeit machen wollte.«

>Ja, das kann man wohl sagen.« »Nun, in diesem Zusammenhang -« Es summte leise auf Miss Makris' Schreibtisch, und sie sagte sofort: »Professor Littleby lässt Sie jetzt bitten - aber ich erzähle Ihnen das noch, wenn Sie herauskommen.« Sie nickte ihm vielsagend zu. Als Brade aufstand und auf die Tür zu Littlebys Büro zuging, sah er gerade noch, wie sie ihre Bluse zu rechtzupfte, die zweifellos so jungfräulich weiß war wie der unscheinbare Busen darunter. Professor Littleby legte den Hörer auf; er lächelte mechanisch. Es mag einmal eine Zeit gegeben haben, sagte sich Brade, als dieses Lächeln echt gewesen war, doch Menschen in hohen Verwaltungspositionen können sich nicht darauf verlassen, dass eine menschliche Motivierung bei allen passenden Gelegenheiten ein Lächeln auslöst. Sie müssen ganz sichergehen, also wird diese Mechanik eingebaut und geölt, bis das Lächeln unter Garantie über das Gesicht zuckt, wie wenig dem Lächler innerlich auch danach zumute ist.

Sein eigenes mechanisches Lächeln aufsetzend, sagte Brade: »Guten Morgen, Professor Littleby.«

Professor Littleby nickte, rieb sich das Ohr und sagte: »Schreckliche Sache, das. Ganz schreckliche Sache.«

Sein breites, rosigglänzend glattrasiertes Gesicht spiegelte den angemessenen Augenblick lang Besorgnis wider: Er trug natürlich ein Jackett, aber darunter noch eine Weste. Er war der einzige Angehörige der Fakultät, der zu allen Jahreszeiten eine Weste trug, ob aus Ehrerbietung vor seiner Verwaltungsposition oder aus Unkenntnis der Tatsache, dass Westen zur Zeit nicht modern waren, vermochte Brade nicht zu sagen.

Die Zeit war für Littleby in den letzten zwanzig Jahren stehengeblieben. Damals war sein Buch über Elektrochemie in der dritten Auflage das Standardwerk auf diesem Gebiet gewesen. Aber zu einer vierten Auflage war es nicht gekommen, und jetzt war das Buch vergriffen. Gelegentlich sprach Littleby von einer neuen Auflage, an der er zu arbeiten gedachte, wenn er die Zeit dazu fand, aber sogar er selbst glaubte nicht mehr recht daran.

Es tat auch nichts zur Sache. Das Buch hatte seinen Ruf begründet, und ein paar Patente, die mit dem Elektroplattieren von Chrom zu tun hatten, sicherten ihm ein bescheidenes, aber unabhängiges Einkommen und gewiss den Aufstieg zum Leiter des Chemischen Instituts, wenn der alte Bannermann gestorben war.

Brade nickte und pflichtete ihm darin bei, dass »das« eine schreckliche Sache war.

»Natürlich ist es irgendwie nicht überraschend«, sagte Littleby, »dass es gerade diesem Studenten passieren musste. Ein richtiger Außenseiter, wie ich Ihnen schon gestern bei unserem Telefongespräch sagte. Ich habe mir die Fakultätsberichte über ihn angesehen, und die sind durchweg nicht günstig, auch wenn Sie persönlich mehr von ihm zu halten schienen.«

»Er war in mancher Beziehung ein schwieriger Mensch«, sagte Brade, »aber er hatte auch seine guten Seiten.«

»Sicher«, erwiderte Littleby kalt. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich muss in erster Linie an die Universität, an unser Institut denken.«

Littleby schob die Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht, und Brade beobachtete ihn aufmerksam.

»Es darf uns niemand nachsagen können«, fuhr Littleby fort, »dass die Sicherheitsbestimmungen nicht beachtet wurden.« »Nein, natürlich nicht.«

»Wie ist es übrigens passiert? Es war Hydrogenzyanad, nicht wahr, aber wie ist es dazu gekommen, dass er das Zeug einatmete?«

Brade erläuterte die oberflächlichen Zusammenhänge.

Littleby sagte: »Nun, da sehen Sie es. Das System hätte nicht offen sein dürfen. An dem Gefäß hätte ein Rückflusskühler sein sollen. Dann hätte er seine törichte Nase nicht hineingehängt.«

Brade hatte Ralph mehr als einmal einen Rückflusskühler vorgeschlagen, erwähnte das aber jetzt nicht, weil es sonst so ausgesehen hätte, als verstecke er sich hinter einem Toten. So begnügte er sich mit der Feststellung: »Das hätte eine Spezialausrüstung erforderlich gemacht, und ich nehme an, Neufeld glaubte das Experiment besser unter Kontrolle halten zu können, wenn das Gefäß offen war. Ein Dampfverlust war nicht entscheidend, und er konnte Material auf weniger umständliche Weise hinzufügen.«

»Unsinn. Die Sache ist die, dass für die jungen Leute von heute die Sicherheit immer erst an letzter Stelle rangiert. Ich sage Ihnen, ich habe die Labors inspiziert, und ich war entsetzt, entsetzt darüber, was ich da alles gesehen habe. Ich habe gesehen, wie Lösungsmittel auf einer offenen Flamme gekocht wurden. Niemand scheint mehr einen Asbestring zu benutzen. Und die Abzüge sind in jämmerlichem Zustand. Ehrlich gesagt, ich hatte die Absicht, wegen dieses Problems eine Abteilungskonferenz einzuberufen, und dass ich es nicht vor diesem unglücklichen Ereignis jetzt getan habe, betrübt mich sehr.«

Brade rekelte sich unruhig in seinem Sessel. An den Sicherheitsvorkehrungen in den Studentenlabors war nichts auszusetzen. »Von einem Schnitt in den Finger oder einer Ätzwunde abgesehen, war das der erste Unfall in zehn Jahren.« »Genügt Ihnen denn einer nicht?«

Brade schwieg, und Littleby genoss seine in gewichtigem Ton vorgebrachte Erwiderung ein paar Augenblicke zu lange und fuhr dann fort: »Ich glaube, wir sollten einen Kurs über Sicherheitsbestimmungen einlegen; eine Reihe von Vorlesungen über die Ge- und Verbote im Labor, sozusagen. Wir können sie auf fünf Uhr nachmittags legen, und das Erscheinen wird für alle Studenten Pflicht sein, die irgendwelche Laborkurse besuchen. Was halten Sie davon?« »Wir können es einmal versuchen.« »Gut. Dann bitte ich Sie, Professor Brade, den Kurs zu organisieren, und ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn Sie auch Cap Anson dafür gewinnen könnten. Der alte Herr wird sich sicher freuen, wenn er wieder einmal aktiv bei uns mitmachen kann, und das wäre jetzt eine gute Gelegenheit.«

»Ja, Sir«, sagte Brade kalt. Ihm gefiel das gar nicht. Der Kurs schien als Strafe für ihn bestimmt zu sein, als ein Buß- und Reinigungsritual im danteschen Stil. Sein Student war leichtfertig gewesen, also musste er nun andere Studenten zwingen, weniger leichtfertig zu sein. Littleby sagte: »Eine Vorlesung wöchentlich, vielleicht, und ich würde noch diese Woche damit anfangen. Wenn die Presse -«Er räusperte sich. »Es kann nichts schaden, wenn wir sagen, wir hätten das schon seit einiger Zeit vorgehabt, als Teil unseres ständigen Sicherheitsprogramms. Und es würde durchaus der Wahrheit entsprechen, denn ich sagte Ihnen ja, das Problem liegt mir nicht erst seit heute auf der Seele. Ja.«

Er blickte plötzlich zur Wanduhr auf, die Viertel vor neun anzeigte. »Ihre Vorlesung beginnt um neun, nicht wahr, Professor Brade?« »Ja, ganz recht.«

»Fühlen Sie sich dazu denn überhaupt imstande? Ich könnte mir immerhin denken, dass diese Sache gestern Sie so sehr mitgenommen hat -«

»Nein, das hat sie nicht«, erwiderte Brade rasch. »Ich kann meine Vorlesung sehr wohl halten.«

»Schön, schön. Ach, um noch einmal auf meine kleine Gesellschaft morgen abend zu sprechen zu kommen - ich hoffe, Sie können kommen, Ihre Frau und Sie? Immerhin, wenn Sie in Anbetracht der Umstände das Gefühl haben sollten -«

Brade hatte Mühe, nicht in einen steifen Gesprächston zu verfallen. »Ich glaube, wir werden kommen. Wir freuen uns so sehr darauf, dass -« Und in einem Wirrwarr von unfertigen Sätzen gefangen, nickten beide sehr förmlich und lächelten sich mechanisch an mit einer Höflichkeit, aus der jede Liebenswürdigkeit geschwunden war.

Er will nicht, dass ich komme, dachte Brade. Ich bin vom Tod gezeichnet. Mache keine gute Reklame.

Wenn es nicht wegen Doris wäre, würden wir auch nicht kommen. Arme Doris. Hatte bis jetzt noch die Chance einer Beförderung bestanden, so sah es nun eher trostlos aus. In Littlebys kleinen Augen leuchtete keinerlei Großmut auf. Würde Doris sich damit abfinden können? Sie redete manchmal in verzweifeltem Ton, aber sie besaß verborgene Kräfte, auf die sie sicher auch jetzt zurückgreifen konnte. Ein ganz anderer Gedanke kam ihm, als er sich umwandte und ging, ein Gedanke, der mit Littlebys Bemerkung über die Fakultätsberichte zu tun hatte. Alle Angehörigen des Lehrkörpers beurteilten die Leistung eines Studenten nicht nur mit einer Buchstabenzensur, die veröffentlicht wurde, sondern berichteten auch, soweit es ihnen möglich war, über seinen Charakter und seine Persönlichkeit. Diese Berichte blieben geheim.

Sie waren natürlich den Fakultätsmitgliedern zugänglich, und Brade hatte die Berichte über Ralph flüchtig durchgelesen, ehe er ihn als Doktorand annahm. Aber es war auch nur ein flüchtiges Durchlesen gewesen. Er wusste damals, dass man auf Ralph nicht gut zu sprechen war; deshalb hatte er den Beurteilungen kein Gewicht beigemessen. Nun bekam die ganze Sache einen neuen Aspekt. Wer immer den jungen Mann getötet hatte, er musste ihn gehasst haben. Ranke konnte Neufeld nicht leiden, das war bekannt; und sogar Dr. Shulter von der medizinischen Fakultät, der ihn nur flüchtig kannte, war nicht von ihm angetan gewesen, und so ging es fast allen. Immerhin mochte sich in der Formulierung des einen oder anderen Berichts über ihn eine Stelle finden, die auf ein zusätzliches Element in den Gefühlsbeziehungen schließen ließ.

Auf jeden Fall konnte sich Brade mit großer Erleichterung sagen, dass er Ralph immer recht positiv beurteilt hatte. Er war so ziemlich das einzige Fakultätsmitglied, dessen Verhältnis zu Ralph frei von Abneigung war.

»Wie bitte?« Er fuhr zusammen, als sein Ohr endlich Laute registrierte. »Entschuldigen Sie, Miss Makris, ich habe leider nicht zugehört.« »Das hat man Ihnen angesehen«, sagte Jean Makris in spitzbübischem Ton. »Sie kamen völlig gedankenverloren aus dem Büro, und wenn ich Sie nicht am Arm gepackt hätte, wären Sie wahrscheinlich gegen die Tür gerannt.«

»Ja, ja. Aber jetzt bin ich wieder ganz da.«

»Professor Littleby war nicht-«, ihr Blick wanderte rasch zur Tür von Littlebys Büro, »- unangenehm oder so, nein?« »Nein, es war eine Routinebesprechung.«

»Schön. Nun, dann will ich es Ihnen schnell sagen, damit Sie beruhigt sind, wissen Sie, falls Sie sich wegen Ralph aufgeregt haben; ich meine, falls Ihnen sein Tod persönlich zu schaffen macht, ich meine -« Sie starrte ihn jetzt forschend an, das lange Gesicht ein wenig zur Seite geneigt, und ihre Stimme hatte etwas Lebhaftes, so als hätte sie dies einerseits schon lange sagen wollen, zögerte aber andererseits noch, den spannenden Augenblick durch eine zu schnelle Preisgabe der Pointe abzukürzen.

»Ich habe jetzt eine Vorlesung, Miss Makris«, sagte Brade. »Bitte, fassen Sie sich kurz.«

Ihr Gesicht war dem seinen auf einmal sehr nahe; ihre Augen leuchteten. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ralph nichts getaugt hat. Dass Sie sich seinen Tod nicht zu Herzen zu nehmen brauchen. Er hat Sie gehasst.«

5

Brade stürzte wortlos aus dem Vorzimmer und ging in automatisch schnellem Tempo die Treppe hinauf, um sein Büro aufzusuchen. Zwischen dem zweiten und dritten Stock fiel ihm seine Vorlesung wieder ein, und so machte er kehrt und eilte wieder hinunter. Als er das Halbrund des Hörsaals im ersten Stock betrat, war er etwas außer Atem. Die Studenten saßen auf ihren Plätzen.

Es war ein sehr großer Raum, und der altmodischste im ganzen altmodischen Institutsgebäude. Die Sitze stiegen nach hinten zu immer steiler an, so dass die beiden Gänge flache Stufen hatten. Die Sitze in den letzten Reihen zogen sich links und rechts nach vorn herum und bildeten eine Art Balkon.

Der Raum war insgesamt für 250 Personen eingerichtet, so dass er zumeist für Seminare benutzt wurde und für Prüfungen, bei denen man die Studenten relativ weit auseinander setzen konnte. Der Kursus in organischer Chemie für die ersten Semester umfasste jedoch nur vierundsechzig Studenten, die in ihrer Mehrzahl gewöhnlich in der Mitte vor dem Pult Platz nahmen und von dort nach allen Seiten ausfächerten. Es gab keine formelle Sitzordnung, so dass dieses spontane Ergebnis, wie sich Brade sagte, mathematisch als ein Fall von Diffusion betrachtet werden konnte.

Er hatte auch beobachtet, dass die weniger begabten Studenten im allgemeinen am weitesten hinten saßen. Wie kam das? Hofften sie, auf diese Weise nicht bemerkt zu werden? Erstrebten sie in unbewusster Bescheidenheit eine Trennung von ihren klügeren Kommilitonen? Fanden sie den Dozenten langweilig und aus der Ferne erträglicher als aus der Nähe?

Für Verhaltensforscher wäre das ein Thema für eine Untersuchung gewesen.

Natürlich unterschied sich heute die Sitzordnung deutlich von der anderer Tage. Es gab keine »Diffusion«. Die vierundsechzig Studenten hatten sich in einem dichten Knäuel vor dem Katheder versammelt, als hätte sie eine Riesenhand von hinten nach vorn zusammengedrückt. Louis Brade auf dem Kathederpodium rückte unwillkürlich an seiner Brille.

Sie wollen mich beobachten, dachte er. Sie wollen sehen, was ich für ein Gesicht mache, wo jetzt einer meiner Studenten gestorben ist. Oder war es nur die allgemeine Faszination des Todes? Er begann in dem nüchternen, gleichmäßigen Ton, den er immer bei solchen Gelegenheiten anschlug. »Wir kommen heute zu mehreren wichtigen chemischen Verbindungen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass in ihren Molekülen ein Kohlenstoff und ein Sauerstoffatom enthalten sind, die durch eine doppelte Bindung miteinander verknüpft sind.«

Er zeichnete die Karbonylgruppe auf die Tafel.

Seine Stimme klang ihm völlig normal im Ohr. Ausnahmsweise einmal war er für seinen Vortragsstil dankbar, der bewusst jede persönliche Note in der Modulation ausschaltete.

Dieser Stil war genau das Gegenteil des Stils, den beispielsweise Merrill Foster bevorzugte, der andere Vertreter der organischen Chemie in der Fakultät (sieben Jahre auf seinem Posten jetzt, assistierender Professor wie Brade, intelligent, ehrgeizig - und ein Angeber). Foster hielt die Vorlesung über synthetische organische Chemie für die fortgeschrittenen Semester. Wenn Brade daran dachte, fiel ihm immer wieder der Tag ein, an dem Foster mit dieser Vorlesung beauftragt worden war - und die Art, wie Doris darauf reagiert hatte. Doris hatte nicht begreifen wollen, dass der Anfängerkurs der schwierigere und mit mehr Verantwortung belastet war. Die Vorlesung für Fortgeschrittene besuchten nur fünfzehn Studenten und keine vierundsechzig. Foster las dreimal wöchentlich, während Brade sich seinem Anfängerkurs fünfmal widmen musste. Aber für Doris bedeutete weniger Vorlesungen und weniger Hörer nicht weniger Verantwortung, sondern ein leichteres Leben. Und gleichzeitig sah sie es als die wichtigere Position an, als ob der Status eines Dozenten bestimmt würde durch den vergleichsweisen Status der jeweiligen Studenten. Brade versuchte Doris zu erklären, dass es gerade die älteren und erfahreneren Mitglieder des Lehrkörpers waren, die mit der Ausbildung der Anfänger beauftragt wurden. Mit älteren Semestern konnte jeder frischgebackene Doktorand umgehen. Und dazu missbilligte Brade die Art, wie Foster seine Vorlesungen gestaltete. Foster schlug einen geistreichen, bewusst saloppen Ton an, der manchen Studenten gefiel, aber auch der Disziplin abträglich war. Foster bezeichnete das im Verlauf einer Synthese bei Nebenreaktionen anfallende nutzlose Material als »Schmier« oder »Mist«. Er fügte nie einfach Pyridin hinzu, sondern gab einer Reaktion »einen Spritzer Pyridin«.

Noch schlimmer schien Brade, dass Foster in seinen Vorlesungen immer wieder abschätzige Bemerkungen über Studenten im allgemeinen und gewöhnlich auch über einen bestimmten Studenten im besonderen fallen ließ - vorzugsweise über einen, der sich zu Erwiderungen und zu einem Rededuell zwischen Dozentenpult und Hinterbank hinreißen ließ, einem Duell, welches das Dozentenpult jederzeit gewinnen konnte.

Brade fuhr fort: »Das Kohlenstoffatom der Karbonylgruppe hat, wie Sie sehen, zwei freie Wertigkeitsbindungen, die am einfachsten durch zwei Wasserstoffatome ausgefüllt werden. In diesem Falle erhalten wir Formaldehyd.«

Eigenartig, wie er dozieren und gleichzeitig beobachten konnte, wie sein Denken untergründig weiterarbeitete. Das erinnerte ihn an den alten Witz von dem alten Professor, der zu einem Kollegen sagte: »Gestern nacht habe ich geträumt, ich stehe vor meinen Studenten am Vorlesungspult. Ich wachte plötzlich auf, und da war's auch tatsächlich so!«

Ralph Neufeld hatte Fosters Kurs nur mit der Note C abgeschlossen. Brade hatte versucht, darüber mit ihm zu sprechen, war aber auf hartnäckiges Schweigen gestoßen. Ralph Neufeld hatte nur zu erkennen gegeben, dass er gegen Foster eine persönliche Abneigung gefasst hatte.

Brade glaubte damals zu wissen, was passiert war. Ralph war genau der Typ, der Foster zu seinen spitzen Bemerkungen veranlasste, der die Ironie des Dozenten nicht still über sich ergehen lassen konnte. Falls Foster ihn zur Zielscheibe seines Spotts gemacht hatte, hatte Ralph es ihm vielleicht mit noch bissigeren Worten heimgezahlt. Es war schwer zu entscheiden, welchen Einfluss ein persönlicher Antagonismus auf die Note gehabt hatte, aber Brade beschloss, sich Fosters Formulierungen in den Fakultätsberichten über Ralph noch einmal genau anzusehen.

Er dozierte weiter und schrieb langsam die Gleichung an die Tafel, welche die Umwandlung von Methylalkohol in Formaldehyd darstellte, und fügte ihr die Gleichung für die Umwandlung von Äthylalkohol in Acetaldehyd hinzu. Er beschrieb sodann die dazu erforderlichen Bedingungen. Dies würde später zwangsläufig zu einer Diskussion über den zum Teil ionischen Charakter der Karbonylgruppe und ihre Resonanzformen führen.

Aber warum hatte jemand Ralph töten wollen? Wenn Professor Ranke mit ihm nicht zufrieden war, konnte er ihn aus seiner Laborgruppe hinauswerfen, wie er es ja auch getan hatte, und damit hatte er seinem Zorn gewiss genügend Ausdruck verliehen. Wenn Professor Foster mit ihm nicht zufrieden war, bedeutete eine Note C in den Papieren der Studenten ebenfalls Rache genug.

Und wenn sie wirklich ein Tatmotiv hatten, wie hatten sie dann bei dem Mord nach dieser speziellen Methode vorgehen können? Sie wussten doch nicht genau, wie Ralph seine Versuche durchführte. Aber er, Brade, wusste davon.

Und er hatte gleichsam schon den ersten Zipfel eines Tatmotivs.

Er konnte dem Gedanken nicht länger ausweichen. Er sah wieder Jean Makris' längliches Gesicht vor sich, spürte wieder die Wärme ihres Atems an seinem Kinn, als sie ihm das eben gesagt hatte.

Und sie hatte Ralph gehasst. Dieser Hass war ihr aus allen Poren gedrungen.

Aber warum sollte sie Ralph gehasst haben? Es gibt natürlich hundert Gründe, aus denen jemand einen anderen, vor allem ein Mädchen einen jungen Mann, hassen kann. Aber welcher Grund kam hier in Frage? Und warum sollte Ralph ihn, Brade, gehasst haben, verdammt noch mal? Er hatte dem Jungen geholfen; er hatte sich seiner angenommen, als andere ihn verstoßen hatten. Einen Augenblick lang verspürte Brade die nicht unangenehme Gefühlswallung des Selbstmitleids. »Die Leichtigkeit, mit der sich Aldehyde mit Sauerstoff verbinden, bedeutet natürlich, dass sie ausgezeichnete Reduktionsmittel sind. Diese Tatsache ist von Nutzen sowohl bei der Charakterisierung der Aldehyde wie auch ganz allgemein bei der organischen Synthese. Die ist auch von hervorragender Bedeutung bei der Zuckeranalyse. Früher wurde letztere zum Beispiel zur Entdeckung von Zucker im Urin angewandt, um festzustellen, ob Diabetes vorliegt. Heute benutzt man statt dessen eine enzymatische Methode.«

Aber was nun auch der Grund gewesen sein mochte, Ralphs Hass war gefährlich. Wenn die Polizei von diesem Hass erfuhr, würde sie forschen und bohren und brachte dabei vielleicht wirklich etwas zutage, aus dem sich ein Tatmotiv für ihn, Brade, konstruieren ließ. Der Gegenstand des Hasses mochte Grund gewesen sein, den Hasser zu töten. Und wenn sowohl Gelegenheit wie Motiv auf ihn, Brade, deutete, dann war er in einer schwierigen Lage.

Das Mädchen konnte gelogen haben. Aber warum? »Abgesehen vom Formalin, das ja, wie ich sagte, nur eine Lösung von Formaldehyd in Wasser ist, lässt sich Formaldehyd noch auf eine andere Art leicht handhaben, und zwar in der Form von Paraformaldehyd, einem Polymer, das entsteht durch die Einwirkung von -« Seine Stimme blieb ruhig bis zum Schluss.

Vielleicht konnte er sich um so leichter beherrschen, als er mit seinen Studenten eine Art Duell ausfocht. Sie beobachteten ihn; sie warteten nur darauf, dass seine Stimme versagte, dass seine Gedanken vom Thema fortwanderten, dass er durch irgendein Zeichen zu erkennen gab, wie tief ihn die Ereignisse des Vortags erschüttert hatten. Sie warteten nur darauf, und Brade fühlte sich verpflichtet, ihnen den Gefallen nicht zu tun.

Endlich kam das Klingelzeichen, und Brade legte die Kreide aus der Hand. »Über die einzelnen Zusatzprodukte der Karbonylverbindungen sprechen wir dann am Montag«, sagte er und ging zur Tür. Er wartete diesmal nicht auf die unvermeidlichen fünf, sechs Studenten, die immer noch Fragen hatten. Das war ein weiteres Thema für einen Soziologen. Es waren praktisch immer dieselben Studenten, die zu ihm kamen. Einige wollten sich zweifellos einfach beliebt machen. Einige mochten sich dabei wichtig vorkommen. Wieder andere wollten ihn vielleicht ärgern und mit Fragen aufs Glatteis führen. Und ein paar schließlich (und ihretwegen nahm Brade die andern geduldig mit in Kauf) wollten wirklich etwas näher erklärt haben oder ihren Wissensdurst befriedigen.

Diesmal aber ließ er sie alle stehen und ging sofort hinaus - sein einziges Zugeständnis an den besonderen Charakter des Tages. Cap Anson wartete schon in seinem Arbeitszimmer und blätterte in seinem neuen Buch über heterozyklische Chemie, das Brade vor drei Tagen erhalten hatte. Es war der erste Band eines auf zehn Bände bemessenen Werkes.

Anson blickte auf, als Brade eintrat (früher war dies einmal Ansons Arbeitszimmer gewesen), und sein altes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

»Ah, Brade! Fein!« Anson setzte sich an eine Schmalseite des Konferenztischs. (An dem Tisch hatten zehn Personen Platz, und er wurde gelegentlich benutzt, wenn Brade für seine älteren Studenten ein formloses Seminar abhielt.) Anson breitete ein Bündel Manuskriptseiten aus und sah ihn erwartungsvoll an. »Haben Sie die revidierte Form des 5. Kapitels gelesen?«

Brade hätte vor Erleichterung fast gelacht. Es war Erleichterung, was er verspürte. Es war, als hätte sich in ihm mit einem leisen Knacks eine Feder entspannt. Da mochten Studenten sterben und Polizeibeamte Fragen stellen und alle andern ihn, Brade, ansehen, als könnten sie es mit dem Tod persönlich zu tun haben - Anson, der gute alte, stur seinen Gewohnheiten treu bleibende Cap Anson dachte nur an sein Buch. Brade sagte: »Es tut mir leid, Cap. Ich bin noch nicht dazu gekommen.« Der Schatten der Enttäuschung lag plötzlich schwer auf dem kleinen Mann. (Er war natürlich nur körperlich klein und ging noch immer sehr sorgfältig gekleidet, das Jackett ordentlich zugeknöpft. Seit einigen Jahren trug er einen Spazierstock bei sich, aber mit ihm berührte er gewiss nur dann den Boden, wenn niemand hinsah.) Er sagte: »Ich dachte, gestern abend -« »Ich weiß, ich hatte das Problem Berzelius mit Ihnen besprochen und die revidierte Fassung lesen wollen. Es tut mir leid, dass ich unsere Verabredung nicht einhalten konnte.« Es lag ihm auf der Zunge, hinzuzufügen, dass dies das erstemal war, dass ihm dies passierte, aber er unterließ es.

»Nun, lassen wir das, aber abends zu Hause hatten Sie doch sicher Zeit, einen Blick hineinzuwerfen.« Seine noch immer sehr lebhaften blauen Augen flehten ihn gleichsam an, als müsse er, Brade, wenn er es nur versuchte, sich daran erinnern, dass er das Kapitel doch gelesen hatte.

»Ich war gestern abend etwas durcheinander, Cap, Sie müssen schon entschuldigen. Ich lese es jetzt schnell zusammen mit Ihnen durch, wenn Sie wollen.«

»Nein.« Mit leicht bebenden Händen raffte Cap Anson seine Papiere zusammen. »Ich möchte, dass Sie es sich in Ruhe ansehen. Es ist ein wichtiges Kapitel. Ich behandele die organische Chemie in diesem Kapitel als eine moderne, systematische Wissenschaft, und der Übergang ist nicht einfach. Ich komme morgen früh bei Ihnen zu Hause vorbei.«

»Tja, morgen ist Samstag, und ich habe Doris versprochen, dass ich mit meiner Tochter in den Zoo gehe, wenn schönes Wetter ist. « Das schien Anson an etwas zu erinnern. Er sagte in etwas scharfem Ton: »Ihre Tochter hat Ihnen doch das Manuskript gegeben, das sie von mir bekommen hat, ja?« »Ja, natürlich.«

»Na, gut, wir sehen uns dann morgen früh.«

Er stand auf. Er ging nicht auf Brades Bemerkung über den geplanten Zoobesuch ein. Das war nicht seine Art, und Brade hatte es auch nicht anders erwartet. Anson schrieb an einem Buch, und da interessierte ihn sonst gar nichts.

Das Buch! Es war, als hätte Brade aus seinen eigenen Sorgen heraus ein neues Mitleidsvermögen entdeckt. Anson hatte sein tiefstes Mitgefühl. Er war ein bekannter, großer, vielgeehrter Mann gewesen -und er hatte zu lange gelebt.

Seine wirklich große Zeit, als er in der organischen Chemie unumstritten herrschte, als eine gegenteilige Bemerkung von ihm eine neue hoffnungsvolle Hypothese im Keim ersticken konnte, als die Vorträge, die er auf Tagungen hielt, ein gespannt lauschendes Publikum fanden -diese Zeit lag zwei Jahrzehnte zurück.

Als Brade seinen Doktor machte, war Anson schon ein Veteran, und die organische Chemie begann sich seinem Zugriff zu entziehen. Eine neue Zeit war heraufgedämmert. Das Chemielabor war elektronisch geworden. Brade musste sich eingestehen, dass er dagegen ankämpfte, aber es war nun einmal so. Aus Chemie waren Instrumentierung und Mathematik, Reaktionsmechanismen und Kinetik geworden. Die altmodische Chemie, die eine Kunst und eine Sache des Gefühls gewesen war, gab es nicht mehr.

Anson war allein mit seiner Kunst zurückgeblieben, und die Chemiker sprachen von ihm wie von einem großen Mann, der nicht mehr lebte. Nur dass man seltsamerweise eine kleine Gestalt, die an Anson in seinen späteren Jahren erinnerte, gelegentlich bei Chemikertagungen noch immer Hotelflure entlanggehen sehen konnte. Und so wandte sich Anson als Emeritus seinem großen Ruhestandsprojekt zu - einer abschließenden Geschichte der organischen Chemie, einer Beschreibung jener Zeit, als Giganten aus Luft, Wasser und Kohle Substanzen gebildet hatte, die es in der Natur nicht gab. Aber war das denn, fragte sich Brade plötzlich, etwas anderes als Flucht vor der Wirklichkeit? Vor der Wirklichkeit dessen, was die physikalische Chemie mit Ansons geliebten Reaktionen machte, ein Rückzug in jene Zeit, als Anson eine maßgebliche Persönlichkeit gewesen war? Cap Anson war schon an der Tür, als Brade einfiel, dass er etwas vergessen hatte. »Ach, übrigens, Cap -« Anson wandte sich um. »Ja?«

»Ich werde ab nächste Woche eine Reihe von Vorlesungen über die Sicherheitsmaßregeln im Labor halten, und es wäre fein, wenn Sie Zeit hätten und mir ein oder zwei Vorlesungen abnehmen könnten. Schließlich haben Sie von uns allen hier die längste Laborerfahrung.« Anson runzelte die Stirn. »Sicherheitsregeln im Labor? Ach so, ja - Ihr Student, Neufeld. Er hatte diesen tödlichen Unfall.« Brade dachte: Dann weiß er es also doch.

Laut sagte er: »Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns zu diesem Kurs entschlossen haben, ja.«

Aber Ansons Gesicht hatte sich in jähem Zorn verzerrt, und er hob seinen Stock und ließ ihn dann auf die Tischplatte knallen, dass es krachte wie ein Pistolenschuss. »Ihr Student ist ums Leben gekommen, und Sie sind schuld daran, Brade! Sie sind schuld!«

6

Der Knall, aber noch mehr die mit aller Schärfe vorgebrachten Worte Ansons hatten Brade erstarren lassen. Er griff hinter sich nach seinem Stuhl, bekam ihn aber nicht zu fassen. Anson sagte etwas ruhiger: »Sie können die Verantwortung nicht leugnen, Brade.« Brade sagte: »Cap, ich - ich -«

»Sie waren sein Doktorvater. Was er auch im Labor tat, fiel in Ihren Verantwortungsbereich. Sie hätten wissen müssen, was für ein Mensch er war. Sie hätten genau wissen müssen, was er tat, was er dachte. Sie hätten ihn entweder zur Vernunft bringen oder hinauswerfen müssen, wie Ranke das getan hat.«

»Sie sprechen von moralischer Verantwortung.« Brade fühlte sich schwach und erleichtert, als wäre die moralische Verantwortung für den Tod des jungen Mannes gar nichts. Seine Hand fand endlich den Stuhl, und er setzte sich. »Aber Cap, ein Professor kann und muss sich um seine Studenten kümmern, aber das geht doch nur bis zu einer gewissen Grenze.«

»Und die haben Sie noch nicht erreicht. Aber ich mache nicht nur Ihnen einen Vorwurf. Es ist die ganze allgemeine Einstellung heute. Das Forschungsexperiment ist zu einem Spiel geworden. Der Doktortitel ist ein Trostpreis, den man dafür bekommt, dass man sich zwei Jahre lang in einem Labor herumgedrückt hat, während der Professor seine Zeit im Büro mit dem Ausfüllen von Anträgen für Forschungsgelder verbringt. Zu meiner Zeit musste man sich den Doktortitel verdienen. Der Student wurde nicht dafür bezahlt. Nichts mindert eine echte Leistung so herab, als wenn man sie für Geld vollbringt. Meine Studenten haben sich für ihren Doktor abgeschuftet; sie haben dafür gehungert, und ein paar haben ihn trotzdem nicht bekommen. Aber die es geschafft haben, die besitzen auch etwas, von dem sie wissen, dass sie es sich nicht hätten kaufen oder erschwindeln können. Man musste dafür bluten. Und das war es ihnen wert. Lesen Sie nur unsere Arbeiten von damals, lesen Sie sie nur.«

Brade sagte mit aufrichtigem Respekt: »Sie wissen, dass ich sie gelesen habe, Cap. Die meisten sind heute Klassiker.«

»Hm.« Anson ließ sich ein wenig besänftigen. »Und was glauben Sie, weshalb? Weil ich die Leute angetrieben habe. Ich war sonntags im Labor, wenn es sein musste - und sie waren auch da, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe die Nacht durchgearbeitet, wenn es sein musste, und sie haben es auch getan. Ich habe sie ständig im Auge behalten. Ich kannte jeden einzelnen ihrer Gedanken. Jeder Student hat mir einmal in der Woche ein Duplikat seiner Aufzeichnungen gebracht, und das sind wir dann Seite für Seite und Wort für Wort zusammen durchgegangen. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie von Neufelds Duplikataufzeichnungen wissen.«

»Nicht genug«, murmelte Brade. Ihm war unbehaglich, Cap Anson vertrat zwar extreme Ansichten, aber manches von dem, was er gesagt hatte, war nur zu wahr. Schmerzhaft wahr. Anson hatte seinerzeit das Duplikat-Notizbuch an der Universität eingeführt, das aus weißen und gelben Doppelblättern bestand. Alle Messdaten, alle Einzelzeiten eines Experiments (im Idealfall alle Gedanken des experimentierenden Studenten) wurden eingetragen, und die gelben Duplikatseiten wurden mit dem Kohlepapier herausgetrennt und in regelmäßigen Abständen dem zuständigen Professor ausgehändigt.

Brade behielt, wie die meisten Lehrkräfte des chemischen Instituts, den Brauch bei, aber nicht mehr mit Ansons Strenge. Anson war schließlich ein Mann der Legende. Man erzählte sich Geschichten von ihm. Zum Teil waren es die gleichen Geschichten, die man sich von jedem exzentrischen Professor erzählte, aber einige mochten schon der Wahrheit entsprechen und illustrierten seine Leidenschaft für das Detail. Da war zum Beispiel die Geschichte von Weihnachten. Anson war einmal am Weihnachtstag heimlich durch die Labors gegangen und hatte die Arbeitsplätze seiner Studenten inspiziert. Nach den Weihnachtsferien präsentierte er den erstaunten und zerknirschten jungen Leuten eine Liste mit allen Chemikalien, die nicht alphabetisch eingeordnet waren, mit allen Flaschen, die Lösungen enthielten und nicht ordentlich verschlossen gewesen waren - gleichsam eine Aufzählung von Abweichungen von den strengen Maßstäben, die Anson für die Sicherheit und Sauberkeit im Labor aufstellte. Ausgeschmückt war das Ganze noch mit sarkastischen und höchst persönlichen Bemerkungen.

Einer der Studenten stahl die Liste, und als dann die darauf erwähnten Sünder schließlich nacheinander promovierten, wurde bei dem Festessen (unweigerlich organisiert von Anson) dem Betreffenden vorgelesen, was damals an seinem Verhalten auszusetzen gewesen war. Sogar Anson lächelte grimmig und setzte noch ein paar bissige Bemerkungen hinzu.

Und seine Studenten vergötterten ihn, und Brade war damals einer von ihnen gewesen.

Jetzt war wenig von dem alten Anson übrig; er war nach so vielen Jahren ein alter Mann, den alle mit Rücksicht auf seine Legende behutsam behandelten. Brade sagte: »Haben Sie Ralph gekannt?«

»Wie? Nein. Ich bin ihm auf dem Flur ein paar Mal begegnet. Für mich war er nichts weiter als einer dieser Physikochemiker, die in einem organischen Labor herumwursteln.«

»Wussten Sie, woran er arbeitete?«

»Ich weiß nur, dass es mit Kinetik zu tun hatte.«

Brade war enttäuscht. Er hatte plötzlich daran denken müssen, dass Anson sich noch immer mit den Studenten unterhielt, sich nach ihrer Arbeit erkundigte, Ratschläge gab. Er mochte auch mit Ralph gesprochen haben, mochte mehr über ihn wissen als er, Brade. Aber offensichtlich war es auch Cap Anson nicht gelungen, den Panzer der Unfreundlichkeit zu durchdringen, den Ralph um sich gelegt hatte. Doch das ganze Gespräch hatte ein wenig die Atmosphäre jener vergangenen Zeit heraufbeschworen, als man schließlich mit allen seinen Sorgen und Nöten zu Cap ging. Brade sagte: »Mir ist etwas Merkwürdiges zu Ohren gekommen, Cap. Das beunruhigt mich schon den ganzen Morgen. Man hat mir gesagt, Ralph Neufeld habe mich gehasst.«

Cap Anson setzte sich wieder, streckte sein etwas arthritisches Bein unter dem Tisch aus und legte seinen Stock behutsam auf die Tischplatte. Er sagte ganz ruhig: »Durchaus möglich.« »Dass er mich hasste? Aber warum?«

»Seinen Doktorvater zu hassen fällt nicht schwer. Er hat seinen Titel, man selbst hat ihn noch nicht. Er teilt einem die Forschungsaufgaben zu. Man selbst arbeitet daran. Man macht seine Experimente. Er zuckt die Achseln und schlägt neue vor. Man hat seine Theorien. Er durchlöchert sie. Ein Doktorvater - wenn er etwas taugt - ist der Alpdruck seiner Studenten. Wenn in einem Studenten auch nur ein bisschen Mumm steckt, hasst er seinen Professor, bis er später erkennt, was er dem Alpdruck alles verdankt.« Anson seufzte wehmütig. »Glauben Sie denn, meine Studenten hätten mich geliebt?«

»Das würde ich doch annehmen.«

»Irrtum. Im Rückblick bilden sie sich das vielleicht ein, aber damals haben sie mich nicht geliebt. Ich habe auch nicht Liebe verlangt. Sondern Arbeit. Und sie haben gearbeitet. Sie können sich nicht an Kinsky erinnern, das war vor Ihrer Zeit.«

»Ich weiß von Kinsky«, sagte Brade in behutsamem Ton. »Ich habe ihn sprechen hören.«

Oh, er kannte Kinsky. Von allen Studenten Ansons hatte es Kinsky am weitesten gebracht. Er gehörte jetzt zur Wisconsin Gruppe und war bekannt geworden durch seine Tetrazyklin Synthese. Anson verzerrte das Gesicht zu einem Lächeln. »Er war der beste, der absolut beste meiner Schüler.«

Er sprach gern von Kinsky. Brade erinnerte sich noch gut an ein Fakultätsessen, bei dem der forsche Foster gesagt hatte: »Na, Cap, macht Ihnen das nichts aus, dass Kinsky berühmter geworden ist als Sie?«

Foster, der gewöhnlich nicht viel trank, musste ein paar Cocktails gekippt haben, sonst hätte er das nicht so frech gesagt und nicht so albern grinsend dagestanden. Brade war zusammengezuckt und hatte Foster einen feindseligen Blick zugeworfen. Foster wollte den alten Mann ganz offensichtlich kränken.

Doch der alte Mann konnte es mit seinem Gegner aufnehmen. Einen halben Kopf kleiner als er, überragte er ihn durch seine innere Größe. Er sagte: »Foster, in zwei Fällen dürfte es kaum zu einer Eifersucht kommen. Ein Vater ist nicht eifersüchtig auf seinen Sohn, und ein Lehrer ist nicht eifersüchtig auf seinen Schüler. Wenn die Leute, die ich ausbilde, besser sind als ich, so haben sie vielleicht den besseren Lehrer gehabt. Alle ihre Leistungen strahlen auf mich zurück. Was ich als Chemiker tue, vermittelt der Menschheit die Leistungen eines einzelnen Menschen. Was ich als Lehrer vollbringe, vermittelt der Menschheit die Leistungen von vielen. Wenn ich etwas bedauere, so nicht, dass mich Kinsky übertroffen hat, sondern dass nicht jeder meiner Studenten mich übertroffen hat.«

Er hatte nicht lauter gesprochen als gewöhnlich, aber auf Fosters Bemerkung hin war es im Raum still geworden, so dass man Ansons Antwort deutlich hören konnte. Es wurde sogar ganz leise geklatscht, und zu Brades Befriedigung hatte Foster ein sehr belämmertes Gesicht gemacht.

Dachte Anson jetzt auch daran? Wahrscheinlich nicht. Anson sagte: »Glauben Sie, Kinsky hätte mich nicht gehasst? Es gab Zeiten, da hätte er mich umbringen können. Wir standen fast immer auf dem Kriegsfuß. Herrgott, Brade, ich wünschte, Sie hätten mich ein wenig mehr gehasst.«

»Ich habe Sie überhaupt nicht gehasst, Cap.«

»Ja, ich war inzwischen schon zu schlapp geworden, und deshalb sind wahrscheinlich auch neue Jungens so schlapp geworden. Ich hatte große Hoffnungen in Sie gesetzt.«

Das »hatte« traf Brade schmerzlich. Er hatte diese Hoffnungen jetzt also nicht mehr. Er würde nie von ihm, Brade, so sprechen, wie er von Kinsky sprach. Aber konnte ihn das überraschen? Was hatte er denn erwartet? Anson sagte ganz unvermittelt: »Kinsky wird uns übrigens besuchen. Hab ich Ihnen das schon gesagt?« »Nein.«

»Ich habe gestern einen Brief von ihm bekommen, aber gestern habe ich Sie ja wohl nicht gesehen, nein?« Anson zog den Brief aus der Tasche und funkelte Brade an.

Brade lächelte verlegen und griff nach dem Brief. Er war ganz kurz. Kinsky teilte nur mit, dass er geschäftlich in der Stadt zu tun hatte und hoffte, am nächsten Montag in der Universität sein zu können. Bei dieser Gelegenheit könne man dann auch über Ansons Buch sprechen, obwohl er, Kinsky, sicher sei, dass er Ansons Erfahrung und Wissen kaum noch etwas hinzufügen könne. Der Brief schloss mit den üblichen Grüßen und Wünschen. Brade sagte: »Das heißt also jetzt am Montag.« »Ganz recht. Und ich möchte, dass Sie ihn kennenlernen. Als Kommilitonen sozusagen.« Anson erhob sich ein wenig mühsam, steckte den Brief wieder ein und nahm seinen Stock in die Hand. »Ich sehe Sie dann morgen früh, Brade.«

»Ja, gut, Cap, aber vergessen Sie das nicht mit diesen Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen.«

Als Anson gegangen war, machten Brade wieder die Gedanken zu schaffen. Cap Anson mochte vom Hass eines Studenten sprechen, als sei er ein Beweis für die Tüchtigkeit des Lehrers, aber das traf alles auf ihn nicht zu. Brade hatte Ralph nicht angetrieben; er hatte ihn eher vor den Folgen der Zurückhaltung durch Ranke gerettet. Er hatte Ralph geholfen; er hatte ihn behutsam behandelt, hatte seine Eigenheiten ignoriert und ihm freie Hand gelassen. Warum hätte Ralph ihn hassen sollen?

Oder log Jean Makris? Hatte sie sich vielleicht getäuscht? Wie ließ sich ihre Aussage nachprüfen? Wer kannte den eigenbrötlerischen, empfindlichen Ralph gut genug, um Jean Makris' Ansicht zu bestätigen oder zu widerlegen?

Brade wusste es nicht. Aber es gab doch Menschen, die schon durch die Arbeit mit ihm in Berührung gekommen waren. Seine Kommilitonen. Er sah auf die Uhr an der Wand. Noch nicht ganz elf. Er hatte vor dem Mittagessen nichts mehr zu erledigen. Jedenfalls nichts, was wichtiger gewesen wäre als dies jetzt.

Er ging den Flur entlang und warf einen Blick in Charles Emmetts Labor. Er war da, Roberta dagegen nicht. »Ach, Charlie, könnte ich Sie mal einen Augenblick sprechen?«

Emmett stellte seinen Scheidetrichter hin, und die beiden darin enthaltenen Flüssigkeiten trennten sich in einem Wirbel von Blasen. Er nahm den Glaspfropfen ab, um die Dämpfe abziehen zu lassen. Dann steckte er ihn wieder darauf. »Natürlich, Professor Brade«, sagte er.

Brade setzte sich auf den Drehsessel hinter seinem Schreibtisch, während sich Emmett einen gradlehnigen Stuhl vom Konferenztisch herbeizog.

Er sagte: »Schrecklich, was Ralph da passiert ist, Sir.« »Ja, allerdings. Auch für das Chemische Institut; für uns; für mich. Gerade deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen.« Machte Emmett bei diesen Worten ein argwöhnisches Gesicht? Brade versuchte, ihn nicht zu scharf zu beobachten. Von seinen Studenten war Emmett am längsten bei ihm; er war in gewisser Hinsicht der am wenigsten begabte. Er war fleißig und gewissenhaft und hätte damit Ansons Beifall gefunden, aber ein brillanter Schüler war er gewiss nicht.

Er saß jetzt vor ihm auf seinem Stuhl, etwas untersetzt, mit rötlichem Haar und großen, breiten Händen an den sommersprossigen Armen. Er trug eine randlose Brille, die für sein Gesicht ein wenig zu klein war. Brade schätzte ihn wegen seines Gleichmuts. Manchmal sagte er sich, dass ein Student nicht unbedingt ein Genie sein musste, wenn er nur beim Scheitern eines Experiments nicht gleich von Verzweiflung gepackt wurde. Wenn Emmett ein Experiment nicht gelang, unternahm er ein anderes unter leicht veränderten Bedingungen. Den genialen Einfall hatte er vielleicht nicht, aber wahrscheinlich kam er letztlich auch ans Ziel. Und auf jeden Fall war Emmetts Ruhe im Vergleich zu der emotionellen Unausgeglichenheit des durchschnittlichen, unter innerer Spannung stehenden Studenten für Brade ein wahrer Trost. Brade sagte: »Ich fühle mich ein wenig schuldig, nach dieser Sache jetzt. Ich mache mir den Vorwurf- dass ich ihn nicht besser gekannt habe. Ich hätte ihm vielleicht noch mehr helfen können. Und das gilt natürlich auch für meine anderen Doktoranden. Für Sie. Ich müsste Sie besser kennenlernen.«

Emmett war etwas verlegen. »Ach, Professor Brade, ich kann mich nicht beklagen. Wir kommen gut miteinander aus.«

»Es freut mich, das zu hören. Aber ich mache mir dennoch Sorgen. Wir haben zum Beispiel seit fast einem Monat nicht mehr über Ihre Arbeiten gesprochen. Hat etwas nicht geklappt?« »Nein, Sir. Im nächsten Frühjahr bin ich soweit. Der historische Teil meiner Dissertation ist fertig, und die vorläufigen Versuchsergebnisse habe ich ermittelt. Ich brauche jetzt nur noch ein paar mehr Derivate.«

Brade nickte. Emmetts Thema hatte mit der Synthese gewisser Thiazolidone zu tun, die bis jetzt noch nicht nach den üblichen Methoden des Ringschlusses dargestellt worden waren. Eine solche Aufgabe hatte ihre Vor- und ihre Nachteile.

Zu einer derartigen Synthese brauchte der Student keine ausgefallenen mathematischen Kenntnisse und keine atemberaubenden Quantifikationen. Er brauchte nur Geduld und ein bisschen Glück. Andererseits kam es auf dieses bisschen Glück auch an. Manchmal ließ sich eine Synthese mit keiner der Methoden durchführen, die Student oder Professor zufällig einfielen. Oder man führte sie erfolgreich durch, um zu entdecken, dass einem ein anderer um ein paar Tage zuvorgekommen war. Im einen wie im anderen Falle war diese Dissertation wertlos, und man musste ein neues Thema stellen. So beiläufig wie möglich sagte Brade: »Dann werden Sie ja das Hassstadium bald hinter sich haben.« Emmett sah ihn verständnislos an. »Das was?«

»Cap Anson sagte mir gerade, dass ein Doktorand seinen Professor unweigerlich hassen muss.« »Ach, da hat er einen Witz gemacht. So redet er manchmal. Gott, ein Student regt sich mal über seinen Professor auf, aber das will nichts heißen.«

Brade wurde sich des ungezwungenen Tons bewusst, den Emmett ihm gegenüber anschlug. Bei ähnlichen Gelegenheiten war ihm das bisher gar nicht aufgefallen. Rankes Studenten machten immer den Eindruck, als stünden sie stramm, wenn sie mit ihm, Ranke, sprachen. (Nur, dachte Brade, was will ich eigentlich? Sollen sie vielleicht vor mir salutieren? Die Hacken zusammenschlagen?) Er sagte: »Und Ralph?«

Ein Schleier fiel über Emmetts Augen. »Wie meinen Sie, bitte?« »Was war mit Ralph, Charlie? Wie war er zu mir eingestellt?« »Tja.« Emmett räusperte sich lange. »Ich habe ihn nicht besonders gut gekannt. Keiner hat ihn gut gekannt. Er hat nie viel geredet.« »Aber er konnte mich nicht leiden, wie?«

Emmett dachte einen Augenblick nach. »Er konnte niemanden leiden. Na ja, jedenfalls -« Er machte Anstalten, aufzustehen. Brade hob die Hand. »Moment noch. Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Es ist zwar jetzt etwas zu spät dafür, aber es interessiert mich nun mal. Ich möchte das wissen. Er hat mich nicht gemocht, nicht wahr?« Sehr widerwillig antwortete Emmett: >Ja, wenn Sie so fragen, Professor - nein, wahrscheinlich hat er Sie nicht gemocht.« »Und warum nicht? Haben Sie eine Ahnung?« (Dass er einen Studenten über einen anderen ausfragte, hatte etwas Peinliches. Aber er musste es jetzt wissen.)

»Ja, eigentlich- eigentlich, weil er ein Idiot war.« Emmett machte plötzlich ein betroffenes Gesicht. »Entschuldigen Sie, das habe ich nicht sagen wollen.«

Brade erwiderte ein wenig gereizt: »Oh, wir wollen doch nicht abergläubisch sein wegen abfälliger Bemerkungen über einen Toten. Wenn über jemanden etwas Gutes zusagen ist, so soll man's ihm sagen, solange erlebt und sich darüber freuen kann. Ein Toter hat nichts mehr davon. Ich halte es für Unsinn, wenn immer verlangt wird: Lobt ihn, wenn er tot ist, aber keine Sekunde früher.«

»Na ja, er kam einmal abends zu uns, als wir so in einer kleinen Clique beisammen waren. Wir sprachen über unsere Professoren und so, Sie wissen ja.«

>ja, ich kann's mir vorstellen«, sagte Brade, der sich plötzlich ganz deutlich an seine eigene Studienzeit erinnern konnte. »Und da sagte jemand, Foster entwickelte sich zu einer Art Sklaventreiber, Sie wissen schon, und da schaltete sich auf einmal Neufeld ein und sagte, die andere Sorte sei viel schlimmer; die Sorte, die einen Studenten untergehen oder schwimmen lasse und sich nicht im geringsten darum kümmere. So wie Sie, sagte er.« Brade nickte. »Ich verstehe.« Hatte er-genau im Gegensatz zu Cap Ansons AuffassungRalphs Hass deshalb auf sich gezogen, weil er ihm zuviel Freiheit gelassen hatte?

»Aber ich muss Ihnen etwas sagen, Sir«, fuhr Emmett fort. »Ich glaube nicht, dass es eigentlich Hass war. Ich habe ihn manchmal im Seminar beobachtet, während Sie sprachen; da hat er Sie so merkwürdig angesehen, besonders in den letzten Monaten. Das war ganz komisch.« Er verstummte.

»Ja«, sagte Brade scharf, »ja?«

»Ich bin kein Psychologe, Professor Brade. Aber trotzdem - ich glaube nicht, dass er Sie hasste, so wie er sich benommen hat. Er sah ganz so aus, als hätte er Angst vor Ihnen. Richtige Angst!«

7

»Angst vor mir?« fragte Brade in heftigem Ton. »Aber warum denn, Charlie?«

»Ja, das weiß ich auch nicht, Professor.« Sie sahen sich an. Dann sagte Brade: »Sind Sie sicher, Charlie? Diese Sache lässt mir keine Ruhe, und ich muss es wissen. Gibt es einen Grund, weshalb er vor mir hätte Angst haben sollen?«

Brade verspürte ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber Ralphs Tod und allem, was damit zusammenhing. Die Sache schien nur einen Sinn zu ergeben, wenn er selbst der Mörder gewesen wäre? Aber was für ein Motiv hätte er gehabt haben sollen?

Emmett wurde plötzlich ganz rot. »Ich sage das jetzt nicht gern - aber wenn Sie es wissen müssen, wenn Sie niemandem sagen, wer es Ihnen gesagt hat -« »Erzählen Sie schon.«

»Ich selbst weiß eigentlich nichts. Aber ich weiß, wer Ihnen weiterhelfen kann, wenn es überhaupt jemanden gibt.« »Wer?« »Roberta, Sir.«

»Roberta Goodhue?« fragte Brade verwirrt, obwohl er gar keine andere Roberta kannte als diese Studentin, die ebenfalls zum Kreis seiner Doktoranden zählte.

»Ja. Ich habe mich gar nicht dafür interessiert - ich meine, eigentlich weiß es niemand, aber da ich das Labor mit Roberta teile, merke ich ab und zu einmal was oder höre was, ohne es zu wollen.« Seine Verlegenheit hatte ein geradezu schmerzhaftes Stadium erreicht. »Sie -sie kannte ihn wohl ganz gut.« »Wie meinen Sie das?« Brade war ein wenig erschüttert. Wusste er denn gar nichts von seinen Studenten?

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Professor Brade. Ich will damit nur sagen, dass sie zusammen ausgegangen sind; so zwei-, dreimal. Ob mehr dahinter war, weiß ich nicht. Aber auch zwei, drei Verabredungen sind schon etwas. Ich meine, einem Mädchen, das man zum Essen einlädt, erzählt man sicher mehr als einer Gruppe von Kommilitonen in der Mensa, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ja, natürlich.« Brade nickte nachdenklich. »Ist Roberta heute da?« »Ich habe sie noch nicht gesehen, Professor.« »Ich nehme an, sie weiß, was passiert ist.«

»Ich denke schon. Ich habe gehört, dass Jean Makris sie angerufen hat.« Eine merkwürdige Andeutung eines Lächelns war über seine Lippen gehuscht, ehe Brade noch sicher sein konnte, dass er sich nicht getäuscht hatte.

»Na ja, ich danke Ihnen, Charlie. Das war nett, dass Sie mir in der Sache geholfen haben.«

»Oh, bitte sehr. Aber Sie sagen Roberta nichts, Sir, nicht wahr? Dass Sie das von mir haben, meine ich.« »Nein. Seien Sie unbesorgt.«

Er stand auf, um Emmett die Tür aufzumachen; da sah er einen Studenten, der draußen auf dem Gang herumschlich. Er musste noch einmal hinsehen, und dann erkannte er ihn: es war Gregory Simpson, sein neuester Student, der junge Mann, der mit Ralph Neufeld das Labor geteilt hatte.

»Wollten Sie mich sprechen, Greg?«

»Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben, Professor Brade.« Simpson hatte eine Tenorstimme und helle Augenbrauen, die fast unsichtbar waren, so dass seine blassen Augen irgendwie nackt wirkten. Die runde Nase verlieh seinem Gesicht einen komischen, gutmütigen Ausdruck.

»ja, kommen Sie nur herein.«

Die zwei Studenten nickten sich kaum zu.

Simpson war ein fleißiger Student, aber kein markanter Typ. (Brade seufzte. Die markanten Typen gingen eben dorthin, wo die staatlichen Forschungsgelder flossen.)

Er sagte: »Nun, Greg, was haben Sie auf dem Herzen?« Simpson setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben Emmett gesessen hatte. Er sagte, ein wenig unsicher: »Ich frage mich, wo ich bleiben soll, Professor Brade.« »Wieso? Sind Sie nicht in einem der Schlafsäle untergebracht?« »Nein, ich meine hier. In den Labors.«

»Oh.« Brade wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Aber - was ist da?« »Na ja, das Labor. Ralph Neufeld ist tot - und -«

»Sie meinen, Sie können es jetzt nicht mehr benutzen.« »ja -« Brade sagte in scharfem Ton: »Diese Sache ist vorbei. Erledigt. Das Labor gehört Ihnen, Ihnen allein, bis ein neuer Student bestimmt wird, der es mit Ihnen teilt.«

Simpson blieb sitzen und machte nicht den Eindruck, als ob er seine Sorgen los wäre.

»Sind Sie damit nicht zufrieden, Greg?«

»Nein, eigentlich nicht, Professor. Ich hätte lieber ein anderes Labor, wenn das möglich wäre.«

»Halten Sie es etwa für - verhext?« »N - nein.«

»Fürchten Sie, Ralphs Geist kommt zurück und setzt Ihnen zu?« Brade bemühte sich, keinen zu sarkastischen Ton anzuschlagen, aber er hatte einen schweren Tag hinter sich und war mit den Nerven bald am Ende. Simpson rieb sich die unsichtbaren Augenbrauen. »Nein, nein. Ich wollte nur - ich dachte, wenn es möglich wäre, ein anderes Labor zu bekommen - wenn nicht, ist es auch gut.« Er war völlig zerknirscht. Brade bedauerte seine Heftigkeit. Der einzelne war schließlich nicht verantwortlich für seine irrationalen Ängste, die ihm eine irrationale Gesellschaft eingeimpft hatte, und wer konnte schon sagen, dass er frei davon war.

Er sagte: »Na schön, Greg, ich verstehe. Ich will Ihnen was sagen. Sie fangen mit Experimenten ja erst Ende des Semesters an; richten Sie sich bis dahin in Emmetts Labor ein. Dort brauchen Sie ja nur gelegentlich Ihre theoretischen Arbeiten zu erledigen, und Charlie wird Ihnen Platz machen, dass Sie Ihre Bücher und Sachen unterbringen können. Im nächsten Semester, wenn Sie mit Ihren Versuchen richtig anfangen, wird Charlie über seiner Dissertation sitzen, und dann können Sie seinen Platz einnehmen. Ihr derzeitiges Labor bekommt dann ein anderer, wenn es soweit ist.«

Simpsons Gesicht leuchtete auf. »Oh, danke, Professor Brade. Das ist fein, vielen Dank.«

Brade lächelte etwas verkrampft und sagte dann: »Aber warten Sie noch einen Augenblick!«

Simpson, der schon aufgestanden war, setzte sich wieder hin und machte ein beklommenes Gesicht. Brade hatte plötzlich daran denken müssen, dass Ralph unter den Studenten nicht der einzige war, der Zugang zu seinem Labor hatte. Simpson, der das Labor mit ihm teilte, hatte einen eigenen Schlüssel.

»Etwas ganz anderes jetzt, Greg - und ganz unter uns, ja? Im Institut hier sind kleinere Diebstähle vorgekommen.«

»Oh?« Der Student dämpfte die Stimme sofort zu einem Flüstern.

»Wir stellen da jetzt Nachforschungen an, und ich hätte gern gewusst, ob Sie das Gefühl haben, dass im Laufe der letzten Monate jemand in Ihrem Labor war, der dort nichts zu suchen hatte.« Simpson blickte vor sich hin und überlegte. Dann hob er den Kopf wieder und sah Brade direkt an. »Nein, Sir.«

»Haben Sie nichts bemerkt? Irgendein Gegenstand, der plötzlich woanders lag? Der nicht mehr da war?«

»Nein, Sir, ich habe nichts bemerkt.«

»Hat Ralph vielleicht etwas davon erwähnt?«

»O nein, Professor Brade.« Der junge Mann sagte das rasch und mit Nachdruck.

»Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher. Ralph hat nie ein Wort mit mir gesprochen. Nie. Ich habe ein paar Mal >Guten Tag( gesagt, wenn ich ins Labor kam, aber er hat nie geantwortet, und da habe ich es auch gelassen. Ich hatte den Eindruck, dass er etwas gegen meine Anwesenheit hatte, wissen Sie, so als ob es sein Labor gewesen wäre und ich nicht das Recht gehabt hätte, mich dort aufzuhalten. Einmal kam ich nur in die Nähe seines Arbeitsplatzes, als er gerade die Daten eines Experiments notierte, und da klappte er sein Notizbuch zu und drehte sich zu mir herum, als wollte er mich gleich umbringen. Ich bin ihm daraufhin immer zwei Meter vom Leib geblieben. Womit ich nicht sagen will, dass er nicht nett gewesen wäre.«

»Ich verstehe. Jetzt, wo er tot ist.« »Verzeihung?«

»Sie müssen sich über dieses Verhalten doch geärgert haben.«

Simpson sagte bedächtig: »Ich habe ihn einfach ignoriert. Man hatte mich auch vor ihm gewarnt.«

»Gewarnt? Wieso?«

»Dass er gern einen Streit anfing und so.« »Hatten Sie einmal einen Streit mit ihm?« »Ich habe mich einfach von ihm ferngehalten.« »Sie sind zweiundzwanzig Jahre alt, nicht wahr?« Simpson sah ihn erstaunt an. »Ja, Sir.«

Brade nickte. »Na schön, Greg. Ihr Problem ist jetzt gelöst, ja?« »Ja, Professor Brade. Und nochmals vielen Dank.« Brade saß jetzt allein in seinem Büro und überlegte, was er weiter tun sollte. Simpson, dessen war er nun ganz sicher, kam nicht in Frage; er war noch ein harmloser Junge. Er schien eher sanftmütig und passiv veranlagt zu sein, der Typ, der einem Streit aus dem Weg zu gehen suchte, wie er es ja auch selbst gesagt hatte. Freilich, wer die offene Auseinandersetzung scheute, hatte auch keine Gelegenheit, Dampf abzulassen. Der Druck konnte sich steigern und eines Tages gewaltsam nach außen drängen. Du liebe Güte, wie sollte er dieses Rätsel lösen? Er war doch kein Detektiv. Er wusste wirklich nicht, was er tun sollte.

Er hob den Hörer ab und rief zu Hause an. Doris meldete sich mit ihrem neutralen »Hallo«. Es ließ keinen Schluss auf ihre seelische Verfassung zu.

»Hallo, Doris. Alles in Ordnung?«

»Natürlich. Und bei dir? Was hat Littleby gewollt?«

Er erzählte es ihr in wenigen Worten. Sie hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Dann sagte sie: »Wie war er so ganz allgemein?« »Er schien nicht gerade erfreut zu sein.«

»Hat er angedeutet, dass es deine Schuld sei?«

»Nein, das nicht, aber der Todesfall ist natürlich keine Reklame für die Universität. Ralph war mein Student, und die Sache färbt deshalb auf mich ab. Diesen Eindruck hatte ich. Und ich glaube, er sähe es lieber, wenn wir morgen abend nicht bei ihm erscheinen.«

»Wir werden aber hingehen«, entgegnete Doris kategorisch. »Ja, ja, ich habe gesagt, wir würden kommen.«

Eine kurze Pause, dann fragte Doris: »Wie fühlst du dich?« »Etwas komisch. Ich bin eine Art Berühmtheit. Du hättest meine Studenten in der Vorlesung sehen sollen. Ich glaube, kein einziger hat richtig hingehört. Alle haben darauf gewartet, dass ich zusammenbreche oder eine Pistole ziehe und zu ballern anfange oder sonst etwas. Cap Anson war danach eine richtige Entspannung.« »Wieso? Was hat er denn gemacht?«

»Nichts, das ist es ja gerade. Er hat nach der Vorlesung auf mich gewartet und von seinem Buch angefangen. Das war das einzig Normale an diesem Tag heute.« Davon, dass Anson am nächsten Morgen kommen wollte, beschloss er nichts zu sagen, jedenfalls nicht am Telefon.

Doris sagte: »Na schön. Pass gut auf dich auf und spiel nicht den Detektiv, hörst du, Lou? Du weißt, was ich meine.« »Ich weiß, ja. Bis später.«

Er lächelte grimmig vor sich hin. Spiel nicht den Detektiv! Gott, wenn er nur gewusst hätte, wie man das macht!

Er hob den Hörer noch einmal ab und ließ sich mit Jean Makris verbinden.

»Jean Makris? Professor Brade.«

>Ja, Professor Brade? Kann ich etwas für Sie tun?«

»Können Sie mir Roberta Goodhues Telefonnummer sagen?« Er hatte sie irgendwo notiert, war aber jetzt nicht in der Stimmung, danach zu suchen.

Jean Makris' Stimme bekam einen lebhafteren Klang. »Selbstverständlich, Professor. Ist sie heute nicht im Hause?« »Ich glaube nicht.« »Na, ich hoffe nur, sie ist nicht krank.« Ihre Stimme tönte aber recht fröhlich dabei. »Soll ich für Sie anrufen?« »Nein, geben Sie mir nur die Nummer, bitte. Und - Miss Makris?« »Ja, Professor Brade?«

»Haben Sie Roberta angerufen und ihr von dem Unglück hierbei uns erzählt?«

»Ja, das habe ich. Hätte ich das nicht tun sollen? Ich dachte, man müsste es ihr sagen, wo sie doch auch zu Ihren Doktoranden gehört wie Ralph Neufeld, und - na ja -«

»Aha. Haben Sie auch Mr. Emmett und Mr. Simpson verständigt, die zwei anderen Doktoranden?«

Diesmal trat eine Pause ein, und als die Stimme der Sekretärin wieder zu hören war, klang sie ein wenig verlegen. »Nein, Professor Brade, das habe ich nicht. Sehen Sie -«

Aber Brade unterbrach sie. »Schon gut, nicht weiter wichtig. Geben Sie mir jetzt bitte Robertas Nummer.«

Er wählte die Nummer, und es läutete am andern Ende erst ein paar Mal, ehe der Hörer abgenommen wurde. »Ja?« meldete sich eine gedämpfte Stimme. »Roberta? Hier Professor Brade.«

»Oh, guten Tag, Professor. Sagen Sie nur nicht, heute morgen war ein Seminar, und ich habe es verschwitzt.«

»Nein, nichts dergleichen, Roberta. Ich wollte mich erkundigen, wie es Ihnen geht.«

»Oh.« Es trat eine Pause ein, und Brade malte sich aus, wie sie sich zusammennahm, damit man ihr nichts anmerkte. »Danke, es geht mir gut. Ich komme nachher zur Arbeit ins Labor.« »Fühlen Sie sich auch imstande dazu?« »Unbedingt.« »Na schön, Roberta, wenn es Ihnen nichts ausmacht, vielleicht -« Er hielt inne und sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor zwölf, und er wollte sie nicht drängen, aber andererseits wohnte sie nur fünf Minuten von der Universität entfernt. »Vielleicht könnten Sie schon um zwölf hier sein?« Wieder eine Pause. >Ja, das geht.«

»Gut. Und wenn es Ihnen recht ist, lade ich Sie zum Lunch ein.« Wieder eine Pause, dann fragte sie ein wenig zögernd: »Möchten Sie etwas mit mir besprechen, Professor Brade?«

Brade hielt eine ausweichende Antwort für sinnlos. »Ja.« »Hat es mit meinem Thema zu tun?«

»Nein, es ist etwas Persönliches.« »Gut, ich komme, Professor.« »Fein.« Er legte auf.

Brade sah sich den Unterrichtsplan für den Nachmittag an. Die Laborübungen würden sich mit den Aldehyden und Ketonen beschäftigen. Ferner war die Präparation eines Silberspiegels vorgesehen - eines jener nutzlosen, aber spektakulären Experimente, die das Interesse der Studenten wachhielten - sowie die Darstellung eines Sulfitzusatzprodukts, was keine Mühe machte, abgesehen vom Ausspülen des Niederschlags. Dabei wurde Äther gebraucht, der natürlich höchst feuergefährlich war. Doch war bei allen Nachmittagsexperimenten keine offene Flamme erforderlich, und dass sie nicht rauchen durften, war den Studenten ja oft genug eingeschärft worden - sie wussten, dass sie bei Verstößen gegen die Sicherheitsregeln vom Kurs ausgeschlossen wurden. Trotzdem, es durfte heute zu keinem Zwischenfall kommen. Er nahm sich vor, Charlie Emmett noch einmal darauf hinzuweisen. Brade wünschte, er hätte dieses eine Mal nicht ins Labor zu gehen brauchen. Sein Erscheinen war nicht unbedingt erforderlich, aber er pflegte zumindest für eine gewisse Zeit anwesend zu sein. Zum einen mochten Fragen auftauchen, die die Laborassistenten nicht beantworten konnten, und zum andern förderte sein Erscheinen die studentische Moral. Ein Laborkurs wirkte immer etwas uninteressant und zweitrangig, wenn der vorlesende Professor ihm ostentativ fernblieb. Andererseits war Charlie Emmett durchaus in der Lage, die Experimente zu überwachen. Er arbeitete jetzt im zweiten Jahr hier, und wenn ihm Roberta am Chemikalientisch half, konnte eigentlich nichts passieren. Roberta Goodhue klopfte leise an die Tür, und Brade griff nach Hut und Mantel, als sie eintrat.

Er lächelte und sagte recht förmlich: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir in die Riverside Inn gingen? Wir nehmen meinen Wagen, dann sind Sie um eins wieder hier.«

»Ja, gut.« Es schien ihr gleichgültig zu sein. Sie war klein, und ihre leichte Pummeligkeit wurde noch durch den Schnitt ihres lachsfarbenen Mantels unterstrichen. Sie war ein dunkler Typ und wahrscheinlich, so dachte Brade, über ihren starken Haarwuchs gar nicht glücklich. Sie hatte den Anflug eines Schnurrbarts, und eine Reihe dünner Haare zog sich an der Wange hinunter.

Sie war nicht eigentlich hässlich, aber auch gewiss nicht hübsch. Er sagte: »Warten Sie bitte am Haupteingang auf mich. Ich will nur noch schnell Charlie sagen, dass er heute wegen offener Flammen besonders vorsichtig sein soll.«

Die Riverside Inn war gut besucht, aber sie bekamen noch einen Tisch in einer Nische mit Blick auf den Fluss und die daran entlangführende Autostrasse. Die unverdorbene Natur wich jedes Jahr weiter zurück. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen der Unglücksfall gestern nahegegangen ist.«

Sie hatten ihre Bestellungen aufgegeben, und Roberta saß da, zerbröckelte ihr Brötchen und starrte zu den auf vier Fahrspuren dahineilenden Autos hinaus. Sie sagte flüsternd: »Ja.« »Ich - habe den Eindruck, dass Sie mit Ralph - befreundet waren.« Roberta sah zu ihm auf, plötzlich standen ihre Augen voll Tränen. »Wir wollten heiraten, sobald er seinen Doktor gemacht hatte.«

8

Die Kellnerin kam und brachte Brade ein Kalbskotelett, Roberta Eiersalat und Kaffee für beide. Dadurch trat eine willkommene Pause ein, und Brade hatte Zeit, sich zu fassen.

Er sagte: »Das tut mir schrecklich leid. Ich hatte keine Ahnung, dass die Sache so stand. Sie hätten zu Hause bleiben sollen, ich habe das ja nicht gewusst.«

»Ist schon gut. Wahrscheinlich ist es besser so.« Sie schien sich zusammenzunehmen, um ihn fest ansehen zu können. »Wollen Sie über Ralph mit mir sprechen?«

Brade suchte nach Worten. »Ich möchte nicht, dass das jetzt pietätlos klingt, aber da ist die Frage, was aus seiner Arbeit wird. Andererseits, unter diesen Umständen -«

Sie runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit weitermachen?« »Nein, darüber brauchen wir jetzt nicht zu sprechen.«

Das war töricht gewesen, ein Mädchen hierherzuschleppen, um es über seinen Verlobten auszufragen, der noch keine vierundzwanzig Stunden tot war. Aber wie hätte er das wissen sollen! Roberta beobachtete ihn aufmerksam. »Sie haben ihn wohl nicht gemocht, nicht wahr?« Brade zuckte ein wenig zusammen. Hatte sie das seinem verstörten Gesicht angesehen? »Doch«, sagte er, »ich hatte eine recht hohe Meinung von ihm.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie das sagen, aber ich glaube, Sie waren doch nicht sehr von ihm angetan. Ich weiß, dass nur ganz wenige Menschen ihn leiden konnten, und ich verstehe das durchaus.« Sie brockte wieder an ihrem Brötchen herum und hatte den Salat fast unberührt weggeschoben. »Er war ein merkwürdiger Mensch, fast immer in der Defensive. Man wurde nur langsam mit ihm warm, aber dann merkte man, dass er nett war. Empfindsam. Liebevoll.« Sie hielt inne. »Ich war gestern abend lange bei seiner Mutter. Arme Frau. Wie konnte das nur passieren? Ich kann es einfach nicht glauben, dass er so unachtsam gewesen sein soll.«

»Hatte er außer der Mutter noch Verwandte?« fragte Brade rasch. »Nein.« Sie sah ihn einen Augenblick lang an. »Sie wissen gar nichts von Ralph, Professor Brade, nicht wahr? Ich meine, über sein Privatleben.«

»Ich fürchte, nein, Roberta. Ich bin mir jetzt bewusst geworden, dass ich mich mehr und persönlicher um meine Studenten kümmern muss. Aber diese Unterhaltung muss Sie doch schmerzlich berühren.« »Von ihm zu sprechen, ist das einzige, was mir noch bleibt«, sagte Roberta. Sie blickte angestrengt vor sich auf ihren Teller, und ein paar Strähnen ihres widerspenstigen Haares, das etwas flüchtig zu einem Pferdeschwanz geschlungen war, fielen ihr in die Stirn. »Er war kein gebürtiger Amerikaner.« »Oh?«

Das hatte Brade immerhin gewusst.

»Seine Mutter und er waren die einzigen Überlebenden von - etwas sehr Unschönem. Er hat mir nie näher davon erzählt, aber das ist ja jetzt auch nicht wichtig. Sein Vater wurde erschossen, und er hatte noch eine ältere Schwester, die getötet wurde - irgendwie.

Er fürchtete sich vor der Welt. Das Leben war für ihn auch in Amerika nicht leicht. Ein fremdes Land, eine fremde Sprache. Und ich nehme an, er fürchtete sich zu sehr, um jemals einem anderen Menschen wirklich vertrauen, ihm ohne Argwohn begegnen zu können. Das entwickelte sich zu einer gewohnheitsmäßigen Reaktion. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich glaube, ja, Roberta.«

»Und damit geriet er in einen Teufelskreis. Weil er sich nicht gelöst geben und die anderen akzeptieren konnte, konnten sie ihn nicht leiden und verletzten ihn. Und dann war er gezwungen, mit einem törichten Verhalten darauf zu antworten. Es fiel ihm schwer, mit einem anderen Studenten zusammenzuarbeiten; er glaubte immer, ihm würde etwas fortgenommen; so wie ihm seine Familie, seine Kindheit genommen worden war. Wenn er den Eindruck hatte, dass ein anderer Student eines der Bechergläser nahm, die er selbst gespült hatte, wurde er wild. Das war keine Reaktion der Vernunft, aber er konnte einfach nicht richtig reagieren, wenn so etwas passierte. Aber Professor Ranke hat nicht einmal den Versuch gemacht, ihn zu verstehen. Er hat ihn einfach hinausgeworfen. Für Ralph war das einfach eine Zurückweisung mehr, eine von vielen. Er zog sich daraufhin noch mehr in sich selbst zurück.« »So, dass er dann auch mich hasste, nicht wahr, Roberta?« Sie blickte ihn an, und ihre Stimme klang schärfer. »Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Oh, das war nur eine Vermutung.« »Jean Makris hat Ihnen das gesagt, nicht?«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte Brade zurück, der etwas verwirrt war.

Robertas Nasenflügel bebten, und ihr Mund war zusammengekniffen. Dann holte sie tief Luft. »Es spielt ja keine Rolle mehr, Sie können es ruhig wissen. Ralph ist ein-, zweimal mit ihr ausgegangen, bevor - bevor wir uns näher kennenlernten. Es war weiter nichts. Aber das hat diese dumme Person nicht gemerkt.

Sie ließ und ließ ihm keine Ruhe, als es schon längst vorbei war. Und sie war rachsüchtig. Sie rief mich gestern abend an, und sie hat sich richtig gefreut, mir sagen zu können, dass er tot ist.« Sie sprach in mühsam beherrschtem Ton.

»Dann glauben Sie also nicht, dass Ralph Grund hatte, mich zu hassen?« fragte er.

»Nein. Ich habe ihn nie sagen hören, dass er Sie hasste. Natürlich, ganz am Anfang -«

»Ja?«

»Er war sehr unsicher wegen seines Forschungsthemas. Professor Ranke hatte ihn hinausgeworfen, und er kam sich als Versager vor. Deshalb wäre es denkbar, dass er zu Jean Makris etwas davon gesagt hat, wie er damals zu Ihnen stand. Ich nehme an, dass er das getan hat, denn sie rief ihn einmal an, als es zwischen ihnen schon aus war, und da hat sie offenbar durchblicken lassen, dass sie ihm Schwierigkeiten machen könnte, wenn sie Ihnen sagt, wie er über Sie denkt. Nun hat sie gewartet, bis er tot ist - aber selbst jetzt kann sie ihn nicht in Ruhe lassen.«

Sie schluckte und begann leise zu weinen.

Brade schob seinen Teller beiseite, trank seinen Kaffee aus und winkte der Kellnerin.

»Trinken Sie lieber noch Ihren Kaffee und machen Sie sich über Ralphs Verhältnis zu mir keine Sorgen. Wir kamen gut miteinander aus, und wenn er mich am Anfang nicht leiden konnte - nun, das haben Sie ja recht plausibel erklärt, und ich habe volles Verständnis dafür.« Er verspürte den Drang, ihr die Hand zu tätscheln, hielt sich aber zurück. Sie nippte an ihrem Kaffee, und die Kellnerin kam mit der Rechnung. Auf der Rückfahrt zur Universität fragte Brade: »Hat Ralph Ihnen einen Verlobungsring geschenkt, Roberta?«

Sie starrte mit schmerzvoller Konzentration voraus auf die Straße, ihr Blick ging aber offensichtlich ins Leere. »Nein, er konnte sich die Ausgabe nicht leisten. Seine Mutter ist arbeiten gegangen, damit er studieren konnte. Sie hatte diese europäische Einstellung, wissen Sie. Kein Opfer war zu groß, wenn sie aus ihrem Sohn einen Gelehrten machen konnte. Und was hat sie jetzt?«

»Hatten Sie schon einen Zeitpunkt für die Hochzeit in Aussicht genommen?« »Das Datum stand noch nicht fest. Aber wir wollten gleich nach seiner Promotion heiraten.«

»Wusste seine Mutter von diesen Plänen?«

»Sie wusste, dass wir befreundet waren. Und sie konnte mich gut leiden, glaube ich. Aber dass wir heiraten wollten, davon hatte er ihr wohl nichts gesagt. Ich könnte mir denken, dass sie nicht einverstanden gewesen wäre. Dass sie geglaubt hatte, mit seinem Doktortitel hätte er eine bessere Partie machen können. Europäische Mütter haben ihre eigenen Vorstellungen von dem Verkaufswert eines Doktortitels auf dem Heiratsmarkt.«

Sie fuhren durch das Tor auf das Gelände der Universität. Brade ließ sich während der Laborübungen sehen, aber nur kurz. Es verlief alles ruhig. Sogar Gerald Gorwin, der »unfallträchtige« Student, schien es vermieden zu haben, ein Stück Glas zu finden, an dem er sich in den Finger schneiden konnte. Er blickte höchst konzentriert auf sein Teströhrchen und freute sich, dass es von dem silbrigen Aldehydniederschlag glitzerte, der einen zylindrischen Spiegel daraus machte.

Dann verbrachte er einige Zeit im Sekretariat des Instituts mit der Durchsicht der Fakultätsberichte über Ralph Neufeld. Da er sich von Jean Makris beobachtet wusste, überflog er die Aufzeichnungen nur. Er fand aber ohnehin nichts von Bedeutung. Bedrückt ging er in sein Arbeitszimmer und begann, sich Aufzeichnungen für die geplanten Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen zu machen. Es gab Theman, die ins Auge sprangen. Die ordnungsmäßige Benutzung des Abzugs, Methoden der Verdampfung feuergefährlicher Lösungsmittel, der richtige Umgang mit Gasflaschen, Wasserbäder, Drahtgeflechtuntersätze, das Biegen von Röhren.

Und wie stand es mit der Handhabung von Pipetten? Man befand sich da in einer Übergangsperiode. Zu Brades Zeit war eine Pipette etwas, das man in den Mund steckte, um damit eine Lösung bis zu einem bestimmten Strich anzusaugen. Es war eine unappetitliche und außerdem nicht ungefährliche Beschäftigung, da durch unvorsichtiges Saugen ein wenig von der Lösung in den Mund gelangen konnte, und die Lösung war meistens ätzend oder giftig. Es verging kein Semester, ohne dass nicht wenigstens ein Student seinen Mundvoll Natriumhydroxydlösung abbekam.

Heutzutage verwandte man in den Labors der älteren Studenten fast durchweg Gummiballons. Sie ersetzten bei den Pipetten das Ansaugen durch den Mund und hatten besondere Ventile, mit deren Hilfe sich der Saugprozess willkürlich abbrechen ließ. Das Dumme war nur, dass das Institut zögerte, die etwa hundert noch für die Labors der Anfänger benötigten Gummiballons anzuschaffen. Vielleicht ließen sich jetzt, wo es allgemein um die Sicherheit ging, die finanziellen Bedenken überwinden. Brade machte sich eine Notiz dazu. Und während er noch weiter überlegte, wanderten seine Gedanken davon, und er starrte auf einmal geradeaus vor sich hin, den Kugelschreiber in der Schwebe haltend.

Der so bemerkenswert abweisende Ralph hatte offenbar die Zuneigung zweier junger Damen errungen, zumindest in einem Masse, das heftige eifersüchtige Gefühle ausgelöst hatte. Eigenartig! Das wies der Suche nach dem Tatmotiv ganz neue Wege. Es genügte nicht mehr, nur den Ärger von Kommilitonen und Fakultätsmitgliedern auf einen jungen Mann mit scharfer Zunge und streitsüchtiger Veranlagung in Betracht zu ziehen und sich zu fragen, wie dieses Gefühl zu einem kaltblütigen Mord hatte führen können. Es galt jetzt auch enttäuschte Liebe als Motiv zu untersuchen, und aus enttäuschter Liebe hatte sich schon manche Gewalttat entwickelt. Wiederum eigenartig! Weder Jean Makris noch Roberta Goodhue konnte man als hübsch bezeichnen.

Das war töricht! Frauen jeden Aussehens heirateten, und Männer auch. Wenn nur Schönheitsideale ä la Hollywood zu Leidenschaft führten, würde die Menschheit bald aussterben.

Es spielte eben nicht nur das Aussehen eine Rolle. Freundliche, mitfühlende Art mochte einem jungen Mann mehr bedeuten als ein System von Kurven. Ein Gesicht, aus dessen Augen Wärme und Zuneigung sprach, mochte die Tatsache vergessen lassen, dass auf den Wangen Haare wuchsen. Warum nicht?

Und ein junger Mann wie Ralph, der die Welt hasste und fürchtete, mochte sich unwiderstehlich zu dem eher hässlichen Mädchen hingezogen fühlen.

Wie konnte er es wagen, um ein hübsches zu werben? Wie konnte er mit anderen Männern in Wettbewerb treten und eine neue Form der Zurückweisung riskieren, die ihn vielleicht noch tiefer traf als alles, was er vorher eingesteckt hatte? Würde er dieser Möglichkeit nicht aus dem Wege gehen, indem er sich einen Menschen suchte, der ihn mit Bestimmtheit akzeptierte? Würde er nicht, vielleicht ohne es eigentlich zu wollen, das Mädchen zu erringen trachten, das seinerseits nach Liebe hungerte und dankbar für jede Aufmerksamkeit war? Brade lächelte bitter vor sich hin. Der Zwang machte ihn nicht nur zum Detektiv, sondern auch noch zum Psychologen.

Und wenn so ein Mädchen um eines anderen ähnlich veranlagten Mädchens willen verschmäht wurde - entfesselte man da nicht alle Furien der Hölle?

Da hatte sie sich Hoffnungen gemacht, als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, und nun machte ihr eine andere das alles zunichte!

Noch schmerzlicher musste es natürlich sein, wenn die andere auch nicht besser aussah als sie selbst; wenn sie sich nicht damit trösten konnte, dass sie gegen die andere ja sowieso keine Chance gehabt hätte.

Er hatte Jean Makris' Hass gespürt. Die Frage lautete: War dieser Hass so heftig gewesen, dass er zu einem Mord hätte führen können? Und wenn ja: Wäre sie geistig gerade zu diesem speziellen Verbrechen fähig gewesen? Traute sie sich soviel Chemieke vitaisse zu, um es zu riskieren, eine Chemikalie gegen eine andere auszutauschen? Wusste sie genug von Ralphs Versuchsanordnung, um dabei richtig zu Werke zu gehen? Er mochte mit ihr darüber gesprochen haben. Sie hatte vielleicht einen College Kurs in Chemie besucht. (Hatte sie überhaupt das College besucht? Das musste er feststellen.) Und wie stand es mit Roberta?

Der junge Mann hatte das eine Mädchen verlassen, vielleicht wollte er es mit dem anderen genauso machen. Und Roberta wusste besser mit Chemikalien Bescheid.

Konnte ein junger Mann, der der Welt so argwöhnisch gegenüberstand und in solchem Masse zum Verfolgungswahn neigte, auf die Dauer bei ein und demselben Mädchen bleiben, wie lieb und nett es auch zu ihm war? Musste es nicht früher oder später kleine Verstimmungen oder Missverständnisse geben, die sich mit der Zeit summierten und in seinem düsteren, einsamen Herzen den Hass nährten? Ralph hatte Roberta keinen Ring geschenkt. Er hatte niemandem von seinen Hochzeitsplänen erzählt. Charlie Emmett zum Beispiel hatte nichts davon gewusst. Offensichtlich hatte Ralph auch seiner Mutter nichts gesagt. Es gab keinen greifbaren Beweis dafür, dass er Roberta tatsächlich hatte heiraten wollen, nur seine Angaben gegenüber Roberta.

Wenn sie nun das Gefühl hatte, dass seine Liebe abkühlte oder nie mehr als lauwarm gewesen war? Wenn sie ihn nun drängte, wenn sie forderte, dass der Hochzeitstermin festgesetzt wurde, wenn sie einen Ring, eine öffentliche Ankündigung verlangte? Und wenn er sich dann drückte?

Oder wenn - das war doch möglich! - ein drittes Mädchen auftauchte? Roberta besaß genug Chemiekenntnisse, um ihn zu töten, und wenn sie es getan hatte, dann brauchte ihr jetziges Verhalten nicht gespielt zu sein. Ihr Kummer hatte verzweifelt aufrichtig gewirkt, aber sie konnte Ralph mit einem Teil ihrer Seele noch immer lieben, auch wenn sie ihn aus Rache getötet hatte. Sie mochte noch um ihr Opfer weinen und untröstlich sein.

Und sie kannte die Einzelheiten seiner Experimente, wusste besser darüber Bescheid als irgendein anderer. Besser wahrscheinlich, als selbst Emmett vermutet hatte. Doktoranden sprachen immer von ihren Versuchen, und wenn Ralph da anders war und sich aus pathologischem Argwohn zurückhielt, so gab er diese Verschlossenheit doch gewiss gegenüber dem einzigen Menschen auf, den er liebte und dem er Vertrauen schenkte.

Aber wie wollte er damit irgend etwas beweisen? Theorien waren schön und gut, er konnte ein Dutzend aufstellen. Theorien aufstellen war gewissermaßen sein Beruf. Aber in der Chemie wusste er, wie man eine Theorie nachprüfte. Auf dem Gebiet der Kriminalistik wusste er nicht, wie er sich dabei verhalten musste.

Er drehte sich mit seinen Überlegungen im Kreis und gab es auf. Er sah auf die Uhr. Kurz nach vier.

Vor etwa vierundzwanzig Stunden hatte er daran gedacht, nach Hause zu fahren, damit er zu seiner Fünf-Uhr-Verabredung mit Cap Anson zurechtkam. Er hätte sich dann das Manuskript angesehen, mit dem alten Mann einen Aperitif getrunken, ein, zwei Punkte mit ihm durchgesprochen und ihn wahrscheinlich zum Abendessen eingeladen. Aber dann war er in Ralphs Labor gegangen, weil er sich wie üblich verabschieden wollte (auch eine jener kleinen Gewohnheiten, die er von Cap Anson übernommen hatte) - und damit hatte alles angefangen. Jetzt dachte er wieder daran, nach Hause zu fahren, aber ohne jede Freude oder Erleichterung. Ansons Manuskript steckte noch immer ungelesen in seiner Mappe. Die Apparatur für den letzten Sauerstoffversuch in seinem Privatlabor war noch immer nicht abgebaut und verharzte langsam. Alles war ein Chaos.

Nun stand ein Wochenende bevor. Er blickte sich müde nach Dingen um, die er nützlicherweise mitnahm. Doris missbilligte seine Angewohnheit, Papiere, Zeitschriften und dergleichen mit nach Hause zu nehmen, aber es war nun einmal so, dass ein Fakultätsangehöriger, der seine Arbeit allein in der offiziellen Arbeitszeit erledigen musste, es einfach nicht schaffte.

Er seufzte. Er war absolut nicht in der Stimmung, Arbeiten von Studenten oder Versuchsaufzeichnungen mitzunehmen. Ansons Manuskript hatte er schon bei sich, und das musste er heute abend lesen. Morgen, am Samstag, würde Anson kommen, Ginny rechnete mit einem Besuch im Zoo, und am Abend gab Littleby seine kleine Gesellschaft. Und am Sonntag ruhte er sich am besten aus. Er hatte eine anstrengende Woche vor sich.

So nahm er außer dem Manuskript nichts mit. Er ließ die Mappe zuschnappen, warf den Mantel über den Arm und griff nach seinem Hut.

Er wandte sich der Tür zu und sah zu seiner Verblüffung eine verschwommene Silhouette durch den Milchglasausschnitt. Gleich darauf klopfte es.

Es war keiner seiner Studenten, auch niemand von seinen Kollegen. Im allgemeinen konnte er schon nach dem vagen Umriss sagen, wer es war.

Er öffnete ein wenig beunruhigt die Tür, und ein dickwangiger Mann trat ein, der breit lächelte und fröhlich sagte: »Hallo, Professor. Na, kennen Sie mich nicht mehr?«

Brade erkannte ihn sofort wieder. Es war der Kriminalbeamte von gestern abend. Jack Doheny.

9

Brade ließ seinen Hut fallen und bückte sich, um ihn aufzuheben. Er spürte, wie sich sein Gesicht rötete, aber Doheny lächelte ihn weiter an. Der Beamte kaute eifrig auf einem Kaugummi herum. »Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Doheny?« fragte Brade. »Nein - ich wollte etwas für Sie tun. « Doheny griff in seine innere Jackentasche und zog einen Schlüssel heraus. »Sie haben mich um diesen Schlüssel gebeten. Dachte, ich bringe ihn persönlich vorbei. Ralph Neufelds Laborschlüssel.«

»Oh.« Eine Welle der Erleichterung durchflutete Brade. Natürlich. Er hatte um den Schlüssel gebeten, und es war ganz natürlich, dass der Beamte ihn zurückbrachte. »Vielen Dank, Sir.«

»Der Junge hat außer seiner Mutter keine Angehörigen, wissen Sie.« Sein Blick wanderte kühl durch Brades Arbeitszimmer. Brade, der noch immer seinen Hut in der Hand hielt, stand da und wartete etwas ungeduldig darauf, dass Doheny die Tür freigab. Er sagte: »Ja, das habe ich inzwischen erfahren.«

»Ich bin gestern abend zu ihr gegangen, um sie zu verständigen. Das gehört leider auch zu meinem Job. Sie war ziemlich erschüttert. Hatte es schon vorher erfahren.« »Ach?«

»Ein Mädchen war bei ihr. Eine Ihrer Studentinnen.«

»Roberta Goodhue?« Sie hatte gesagt, dass sie bei Ralphs Mutter gewesen war. Von Doheny hatte sie aber nichts erwähnt.

»Ja. Die hatte es ihr erzählt. Ich fragte sie, wie sie es erfahren hatte. Sie sagte, jemand von der Universität hätte sie angerufen.« »Die Sekretärin der Institutsleitung. Ich hatte es ihr gesagt, und sie hatte geglaubt, Roberta benachrichtigen zu müssen. Roberta war mit dem jungen Mann befreundet.« »Ein schwerer Schlag für sie.« Doheny schüttelte den Kopf, machte aber noch keine Anstalten, den Weg freizugeben. »Ist das Ihr Zimmer, Professor?« »ja.«

»Sehr hübsch. Feinen Tisch haben Sie da. Könnte so was für meine Werkstatt im Souterrain gebrauchen. Sind Sie ein Do-ityourself-Mann?« »Nein, leider nicht.«

»Wie ich höre, ist das bei Professoren und so heutzutage groß im Schwange. Sie wissen, eigene Möbelfabrikation, Camping und so weiter.«

Brade nickte und versuchte seine Ungeduld zu verbergen. »Sagen Sie«, fragte Doheny, »halte ich Sie über Ihre Zeit hinaus auf? Gehen Sie sonst um diese Zeit?«

»Ich kann über meine Zeit frei verfügen. Manchmal bleibe ich bis Mitternacht, manchmal gehe ich schon mittags. Das kommt auf meinen Vorlesungsplan an und darauf, wie ich mich fühle.« »Tadellos«, sagte der Kriminalbeamte; man merkte, es war ihm ehrlich damit, »so müsste es bei jedem Job sein. Sind Sie gestern länger geblieben?« »Ich hatte es nicht vor. Ich hatte vielmehr vor, in ein paar Minuten zu gehen, da entdeckte ich die Leiche.«

»Und heute sieht es so aus, als würde ich Sie aufhalten. Aber das habe ich nicht vor.« Er trat endlich ohne besondere Eile zur Seite. »Schon gut«, sagte Brade steif. Er folgte Doheny hinaus auf den Flur und schloss sein Arbeitszimmer ab. Er steckte Neufelds Schlüssel erst mal an seinen Schlüsselring.

Doheny sah ihm dabei zu. »Das ist ein Hauptschlüssel, den Sie da am Ring haben, wie?«

Brade ärgerte sich über diese Frage. Er steckte die Schlüssel schnell weg. »Ich muss jederzeit in das Gebäude kommen können.« »Ja, klar. Passt er für alle Labors?«

»Für alle, die keine Spezialschlösser haben. Die meisten Fakultätsangehörigen dürften Hauptschlüssel besitzen.« »Ja, klar.« Doheny lächelte und nickte.

Brade führte während der Heimfahrt eine stumme Diskussion mit sich selbst. Da war Doheny also wiedergekommen. Der Anlass war ein durchaus plausibler gewesen. Er, Brade, hatte mit seinem Verlangen nach dem Schlüssel selbst dafür gesorgt. Und der Mann hatte durchaus normale Fragen gestellt, er hatte keine Feindseligkeit, keinen Argwohn gezeigt. Warum hätte er das auch tun sollen?

Und doch - warum hatte er wissen wollen, wann er nach Hause fuhr? Wozu das Interesse an dem Hauptschlüssel? Wieso war ihm der übrigens so schnell aufgefallen? Hatte er darauf besonders geachtet? Und warum sich unnütz Sorgen machen, hm? Brade zwang seine Gedanken in eine andere Bahn.

Das Abendessen verlief sehr ruhig. Ginny hatte inzwischen von dem Vorfall erfahren. (Die Nachrichten hatten ihn tatsächlich erwähnt, und Freundinnen hatten Doris angerufen, um mit ihr darüber zu sprechen. Und Ginny hatte dabei aufmerksam zugehört.)

Sie durfte natürlich nicht selbst darüber sprechen, und alle ihre Bemühungen in dieser Richtung wurden von beiden Eltern entschieden abgebogen. Die Aufregung hielt sie jedoch während des ganzen Abendessens gefangen und sorgte dafür, dass sie mit kräftigem Appetit aß.

Dies hatte seine guten Auswirkungen, da der Anblick der ausnahmsweise anstandslos essenden Tochter Doris in gute Laune versetzte, die ihrerseits zur Folge hatte, dass sich einige der Sorgen auflösten, die Brade bedrückten.

Die angenehme Stimmung hielt vor bis zum Nachtisch und der an Ginny ergehenden Aufforderung, ihr Betätigungsfeld nach oben zu verlegen und ihre Wochenendhausaufgaben zu machen, ein Bad zu nehmen und sich dann schlafen zu legen.

»Und ich möchte, dass um neun Uhr der Fernsehapparat ausgeschaltet wird, Virginia«, sagte Doris.

Ginny beugte sich über das Treppengeländer, und ihre dunklen Augen funkelten lebhaft. »He, Pa, vergiss nicht, dass wir morgen in den Zoo gehen.«

»Sprich deinen Vater nicht mit >he< an«, sagte Doris, »und das kommt ganz darauf an, wie du dich heute abend aufführst. Gibt's Ärger, geht's morgen nirgendwohin.«

»Ach, ich mach schon keinen Ärger. Wir gehen morgen, Pa, nicht wahr?«

Und Brade blieb nichts anderes übrig, als zuzusagen. »Wenn es nicht regnet«, fügte er hinzu.

»Eigentlich weiß ich noch gar nicht, ob ich morgen kann, Doris«, sagte Brade nachher.

»Was?« rief Doris aus der Küche, als sie gerade die Geschirrspülmaschine eingeschaltet hatte. Sie kam ins Wohnzimmer zurück. »Was hast du gesagt?«

»Ich sagte, ich weiß noch gar nicht, ob ich morgen in den Zoo gehen kann.«

»Warum nicht?«

»Cap Anson wird morgen vorbeikommen.«

Doris runzelte die Stirn und nahm die Schürze ab. »Wie kam es denn zu der Verabredung?«

»Ganz einfach. Er sagte, er kommt vorbei, und ich konnte nicht gut nein sagen.«

»Wieso nicht? Das ist doch leicht auszusprechen.«

»Ich konnte es nicht. Nicht Cap Anson gegenüber. Du weißt doch, wie er ist.«

»Ja, aber deshalb billige ich das noch lange nicht. Es ist sein Buch, nicht deins. Warum sollst du dich dafür abrackern?«

»Weil es ein interessantes Buch sein wird, wenn es fertig ist; ein wichtiges Buch. Ich bin sogar stolz darauf, dass ich ihm behilflich sein kann.«

»Nun, dann kommt er eben ein andermal.« »Ich habe ihn jetzt schon zweimal versetzt, Doris.« »Zweimal?« »Zuerst gestern abend. Ich war mit ihm um fünf Uhr verabredet, und du weißt, wie sehr er auf Pünktlichkeit achtet. Und ich war nicht da.« Doris zuckte die Achseln und begann in der Fernsehzeitung zu blättern. »Das war keine Tragödie. Er hat Virginia ja den Text gegeben.« »Ich weiß. Aber er war sicher sehr enttäuscht. Er betrachtet Unpünktlichkeit als einen persönlichen Affront.«

»Er machte einen ganz normalen Eindruck«, sagte Doris ungerührt. »Ich habe ihn durch die Fliegendrahttür beobachtet, wie er Ginny den Umschlag gab, und da sah er gar nicht verärgert aus oder so.« »Nun, er war gekränkt, ob man's ihm angemerkt hat oder nicht. Und dann war er heute morgen um zehn in meinem Arbeitszimmer, gleich nach meiner Vorlesung, und ich hatte den Text nicht gelesen, und da hat man ihm deutlich angesehen, dass er gekränkt war.« »Hältst du es nicht für etwas verständnislos von ihm, dass er erwartet, alles ginge so weiter wie früher, nachdem einer deiner Studenten einen tödlichen Unfall gehabt hat?«

»Natürlich ist es verständnislos von ihm, aber er ist ein alter Mann, und die Chemie ist sein Lebensinhalt. Was Ralph passiert ist, war ihm gleichgültig, und deshalb konnte ich nicht ablehnen, als er sagte, er kommt morgen früh vorbei.«

»Trotzdem wirst du Virginia mitnehmen müssen. Sie freut sich schon die ganze Woche darauf. Und sag nicht, ich soll mit ihr hingehen. Ich habe einen Berg Wäsche, mit dem ich wahrscheinlich sowieso nicht fertig werde.«

»Na schön«, sagte Brade, »ich rufe Cap heute abend noch an und sage ihm, er soll um neun kommen. Vor elf mit Ginny zum Zoo gehen, hat keinen Sinn, es ist wahrscheinlich noch viel zu kalt, und dann hätte ich zwei Stunden Zeit für Cap.«

Doris ging nicht direkt darauf ein. Sie wandte sich dem Fernsehapparat zu und sagte mit einem Seufzer: »Es ist eine lahme Show, und ich bin gar nicht in der Stimmung dazu, aber ich muss irgend etwas sehen.« »Was bringen denn die anderen Programme?«

»Oh - ein Korbballspiel und einen Erweckungsprediger. Und einen alten Film, den ich schon gesehen habe.«

Sie setzte sich mit einem Strickkörbchen in den Sessel und starrte abwesenden Blicks zum Bildschirm. Sie strickte nicht. Brade war überzeugt, dass sie auch das Programm nicht sah. »Gibt es etwas Neues mit Ralph?« fragte sie schließlich. Sie war offensichtlich über sich selbst verärgert, weil sie das Thema doch nicht hatte ignorieren können.

Brade blickte von Cap Ansons Manuskript auf. Er wäre in seinen Arbeitsraum im Souterrain hinuntergegangen, wenn er nicht Gesellschaft gebraucht hätte, auch wenn es nur die unglückliche, unzufriedene Doris war.

»Der Kriminalbeamte war wieder bei mir«, sagte er.

Sie sah sofort auf, die schönen Augen weit aufgerissen. »Was?« »Nur um mir den Laborschlüssel zurückzubringen; Ralphs Schlüssel; aber wie er sich in meinem Zimmer umgesehen hat, das hat mich nervös gemacht.«

»Hat er etwas gesagt?«

»Du meinst, über den Mord direkt? Nein.«

»Nun, dann denk doch nicht mehr daran. Lass die Sache ruhen.« »Auch wenn es Mord war?«

»Es ist nun mal passiert. Ein ziemlich unangenehmer junger Mann ist tot. Du machst ihn auch nicht mehr lebendig.«

»Die Sache ist keineswegs erledigt. Da ist ein Mädchen, das ihn offenbar geliebt hat und ihn heiraten wollte. Und da ist eine Mutter, die in ihrem Leben viel mitgemacht zu haben scheint und sich krummgelegt hat, damit er Chemiker werden konnte. Nein, die Sache ist noch gar nicht erledigt.«

»Ihnen nützt es aber auch nichts, wenn du in Teufels Küche gerätst.«

»Ich bin schon längst in Teufels Küche. Ich frage mich den ganzen Tag, wie ich wieder herauskomme.«

»Außer dir vermutet niemand, dass es Mord war.«

»Und wie lange wird das so bleiben? Heute hat mich jemand gefragt, wie Ralph nur Natriumzyanid für Natriumacetat halten konnte. Die Betreffende war noch ziemlich erschüttert, aber sie wird zu sich kommen und diese Frage dann noch mal stellen. Andere Chemiker bei uns könnten argwöhnisch werden. Jemand wird schließlich zur Polizei gehen. Wäre dir dieses Damoklesschwert über unseren Köpfen so angenehm?«

»Wer ist diese >sie<, von der du da sprichst?«

»Roberta Goodhue. Sie ist das Mädchen, das Ralph heiraten wollte.«

Verzweifelt, intuitiv sagte Doris sofort: »Vielleicht hat sie es getan. Vielleicht wollte er nichts mehr von ihr wissen.« »Genau daran habe ich auch gedacht«, erwiderte Brade. »Ich habe an viele Möglichkeiten gedacht.« Er legte das Manuskriptblatt, das er gerade in der Hand hielt, auf den Tisch. »Hör mal zu, Doris.«

»Ja?«

»Wir gehen das mal gemeinsam durch. Warum soll ich es allein mit mir herumtragen? Vielleicht fällt dir etwas auf, das mir entgangen ist. Herrgott, vielleicht siehst du einen Ausweg.« Doris neigte den Kopf über ihre unberührte Strickarbeit. »Na schön. Wenn du darüber reden musst, dann rede.«

»Ich dachte, ich könnte alles schriftlich machen. Das war mein erster Gedanke. Eine Liste aufstellen. System hineinbringen. Aber dann sagte ich mir: Was, wenn nun jemand den Zettel findet, die Schnitzel im Papierkorb oder Asche, und sich fragt, was ich da wohl verbrannt habe. Mit dieser Unsicherheit quäle ich mich jetzt herum. Es ist einfach -einfach unerträglich.«

Er fuhr fort: »Zunächst einmal - wenn wir von Mord ausgehen, müssen wir uns überlegen, wer es gewesen sein kann. Ich habe dir gestern abend gesagt, es müsste jemand gewesen sein, der chemische Kenntnisse besitzt und über Ralphs Experimente Bescheid wusste. Das macht mich zum Hauptverdächtigen, aber wenn wir mich einmal aus dem Spiel lassen, wer kommt dann in Frage? Es gibt jemanden, der Zugang zu Ralphs Labor hatte und auch Gelegenheit hatte, Ralph bei seiner Arbeit zu beobachten.« »Wer?«

»Gregory Simpson, Ralphs Laborpartner. Er sagt, Ralph hätte nie ein Wort mit ihm gesprochen, und vielleicht stimmt das, aber er konnte trotzdem Ralph bei der Arbeit beobachten. Er konnte sehen, wie Ralph Kolben mit Acetat vorbereitete und sie dann in seinem Schrank verwahrte.

Eine so gute Gelegenheit hatte sonst niemand, aber andere, Charlie Emmett oder irgendeiner der Studenten oder auch Cap Anson, wenn man so will, die dort in der Nähe zu tun hatten, hätten die gleiche Beobachtung machen können. Theoretisch ist es auch möglich, dass jemand in Ralphs Labor gegangen ist, als er nicht da war, und seine Notizbücher durchgelesen und dabei so viel erfahren hat, dass er den Mord planen konnte. Wie gesagt, das ist alles möglich, aber wenig wahrscheinlich. Was die Mordmethode angeht, gerate ich unbedingt in den stärksten Verdacht. An zweiter Stelle, aber mit großem Abstand, steht Simpson. Die anderen auf dem Flur kommen erst lange danach in Betracht. Alle übrigen scheiden praktisch aus.«

»Warum sagst du, Simpson komme erst mit großem Abstand?« fragte Doris. »Mir scheint, er hatte die gleichen Möglichkeiten wie du.«

»Er ist erst zweiundzwanzig, und er hat kein Tatmotiv.«

»Du kennst keines, aber du bist nicht allwissend. In deinem Fall gibt es

übrigens auch kein Motiv.«

»In diesem Zusammenhang gibt es noch etwas, das mir Sorgen macht. Jetzt, wo er tot ist und ich ein bisschen herumgefragt habe.« Doris zog sofort die Brauen zusammen. »Warum hast du herumgefragt, Lou? Das ist das Schlimmste, was du tun konntest.« »Ich war sehr vorsichtig. Und die Leute haben mir auch von selbst erzählt, ohne dass ich Fragen stellen musste. Jedenfalls - Ralph hat mich offenbar nicht gemocht oder gefürchtet - oder beides zusammen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher.«

»Warum sollte er dich nicht gemocht haben?«

»Er konnte, wie es scheint, kaum einen Menschen leiden. Ich weiß nicht, was er gegen mich hatte oder warum er sich vor mir hätte fürchten sollen. Das ist auch gleichgültig. Welches auch immer der Grund war, die Polizei könnte daraus ein Tatmotiv konstruieren. Sie könnte sagen, ich hätte sehr viel für den jungen Mann getan oder mir das zumindest eingebildet, und er hätte darauf mit Undankbarkeit reagiert. Also hätte ich ihn in einem Wutanfall umgebracht.« »Das ist doch verrückt.«

»Vielleicht glaubt die Polizei, ich bin verrückt. Ich habe bisweilen die Beherrschung verloren. Es ist bekannt, dass ich meine Studenten schon mal anbrülle, wenn sie sich ganz besonders dumm anstellen. Ich hätte Ralph ganz schön zusammengestaucht, wenn das mit dem Zyanid ein Unglücksfall gewesen - und er mit dem Leben davongekommen wäre. Man weiß, dass ich wütend werden kann.«

»Das kann jeder werden«, sagte Doris. »Es muss doch jemand mit einem besseren Motiv geben als dem, dass er ab und zu mal wütend wird.«

»Diese Person gibt es auch. Jean Makris.« »Ach! Wieso?« Brade erklärte es ihr.

»Da scheinst du ja an der Universität ein kleines Liebesnest zu haben«, sagte Doris.

Brade zuckte die Achseln. »Sieht so aus, wie? Jedenfalls - Jean Makris hatte ein Tatmotiv, aber ihr fehlen die elementaren Kenntnisse.« »Wieviel muss man schon wissen, um zwei Pulver zu vertauschen!« »Es ist nicht nur das Wissen, es ist auch das Selbstvertrauen. Ich könnte mir denken, dass sich ein chemischer Laie scheut, mit Zyanid umzugehen; dass er fürchtet, das Gift könnte ihm durch die Fingerspitzen dringen. Roberta dagegen besaß sowohl ein Motiv wie die nötigen Kenntnisse, wenn sie sich von Ralph verlassen fühlte. Wir haben jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass er sie verlassen wollte.

Natürlich mag es Motive geben, die wir nicht kennen, da hast du recht. Ranke hatte eine heftige Abneigung gegen Ralph. Die Frage ist nur: kann sie zu einem Mord geführt haben? War an diesem Streit zwischen ihm und Ralph mehr dran, als wir wissen? Foster hat ihm nur die Note C gegeben. War das etwas, wovon wir nichts erfahren haben?« Doris hatte zu stricken begonnen. Sie sagte: »Um das Tatmotiv würde ich mich an deiner Stelle nicht kümmern. Keiner hat ihn gemocht. Wenn du genau hinsiehst, wirst du bei vielen ein Motiv finden.« »Ja, aber auch eins, das zur Tat ausgereicht hätte? Du lieber Gott, wenn wir alle Leute umbrächten, die wir nicht leiden können, dann wäre die Erde aber bald entvölkert. Nein, so geringfügige Gründe dürfen wir nicht in Betracht ziehen.«

»Unsinn«, sagte Doris. »Du darfst Verdächtige nicht so leicht von der Liste streichen, sonst bist du zum Schluss der einzige, der noch übrigbleibt. Die meisten Morde werden wahrscheinlich aus geringfügigen Motiven begangen.« »Na ja.«

»Lou, ich weiß, was ich sage.« Sie zog an der Wolle und strickte jetzt sehr schnell. »Du hättest zu der Liste derjenigen, die Ralph Neufeld nicht leiden konnten, noch eine Person hinzufügen können; eine Person mit einer geringfügigen Abneigung gegen Ralph Neufeld wegen eines geringfügigen Vorfalls, die ihn dennoch deswegen mit Freuden hätte umbringen können.«

Brade sah sie entgeistert an. »Wer soll denn das sein?« Doris riss wild an der Wolle, die sich verfangen hatte. »Ich.«

10

Natürlich hätte Brade im ersten Augenblick am liebsten gelacht, aber er unterließ es und beschränkte sich auf ein ungläubiges, explosives »Du?«

Doris entgegnete sofort: »Lach nicht, ich meine es ernst.« »Ich lache nicht, und du kannst es unmöglich ernst meinen.« »Du erinnerst dich, dass Ralph an Weihnachten letztes Jahr hier war, ja?«

»Zusammen mit den anderen Studenten, ja«, sagte er. »Wir hatten sie ja alle eingeladen. Damals ging deine Vase kaputt.«

»So, daran erinnerst du dich noch? Dann weißt du vielleicht auch noch wie?«

Brade zuckte die Achseln. »Ralph hat sie zerbrochen.« Das war halb geraten, denn es war die Antwort, die in den Zusammenhang des Gesprächs passte.

Doris blickte ihn düster an, als übertrüge sie die Erinnerung an dieses schreckliche Ereignis auf ihn. »Es war die Art, wie er sie zerbrochen hat. Und es war meine eigene Vase. Ich hatte sie in meiner Keramikklasse selbst gemacht.«

»Ich weiß, Doris.«

»Es war der einzige hübsche Gegenstand, der mir damals gelungen ist. Die Form war genau richtig, und die Farben waren richtig glasiert, und sie war mein. Ich hatte sie nicht gekauft, ich hatte sie selbst gemacht.« Sie hatte wieder aufgehört zu stricken. »Und ich hatte sie ihnen gezeigt und davon erzählt. Ich hatte ihnen meine Initialen daran gezeigt.« »Ja, ich erinnere mich«, sagte Brade, der sich nicht recht getraute, seine Ungeduld zu zeigen. Diese Vase war fast ein Jahr im Hause gewesen; immer wenn Besuch kam, war die Rede auf sie gekommen. Doris hatte sich immer ein wenig geziert und sich über die leichte Asymmetrie der Vase lustig gemacht, aber sie war doch ungeheuer stolz auf ihr »Kunstwerk« gewesen, gerade weil sie zu den im Grunde nicht schöpferischen Menschen gehörte. »Ralph Neufeld stand neben diesem Tisch dort.« Sie deutete auf das Tischchen neben dem breiten Lehnsessel. Jetzt stand nichts mehr darauf, und Brade wurde sich bewusst, dass das Deuten eine Geste der Trauer war. »Er stand da, und sein Ellenbogen bewegte sich ein kleines bisschen, und hinunter fiel sie und ging in tausend Stücke.« Sie starrte auf die Stelle auf dem Fußboden. »Tagelang habe ich versucht, sie wieder zusammenzusetzen und zu leimen. Es ging nicht. Es waren einfach zu viele Stücke.«

Brade lächelte etwas steif. »Unglücksfälle passieren eben.« »Es war kein Unglücksfall, und es wird Zeit, dass du das erfährst. Ich habe nichts gesagt, weil ich dein Verhältnis zu ihm auf der Universität nicht belasten wollte. Aber jetzt ist er tot, und jetzt kann ich es sagen. Es war kein Versehen. Ich habe ihn zufällig die ganze Zeit beobachtet. Ich sah, wie sich sein Ellenbogen bewegte. Es gab keinen Grund für diese Bewegung. Er wollte nicht nach etwas greifen, und er war auch nicht durch etwas erschreckt worden. Sein Ellenbogen ging gerade so weit zurück, bis er an die Vase stieß.

Und er fuhr auch nicht zusammen. Alle anderen erschraken und schrien auf. Er nicht. Er wusste ja, was kam. Er sah sich nur ganz ruhig um und blickte dann hinunter zur Vase und trat zur Seite. Und er sagte nicht, dass es ihm leid tue, weder in dem Augenblick noch später. Er lächelte ein wenig; ja, er lächelte sogar, es hatte ihm Spaß gemacht, mir diesen Schmerz zuzufügen.«

Brade schüttelte den Kopf. »Du machst dir da jetzt was -« »Ich erzähle dir ganz genau, wie es geschehen ist.« Ihre Augen waren erregt, aber trocken. »Und das sage ich dir, Lou: für manche Leute mag das einfach eine zerbrochene Vase gewesen sein, aber für mich war es ein Grund zum Mord. Wenn ich ein Messer in der Hand gehabt hätte in diesem Augenblick, dann hätte ich ihn eiskalt erstochen.«

Brade versuchte mit ganz ruhiger Stimme zu sprechen. »Das hast du vielleicht geglaubt. Aber wenn du das Messer tatsächlich gehabt hättest, hättest du es nicht getan.«

»O doch. Mach dir nichts vor, Lou. Ich hätte es getan.«

»Es gab anderes, was du hättest tun können, Doris. Du hättest schreien, hättest ihn schlagen können. Aber das hast du nicht getan. Soviel ich mich erinnern kann, hast du dich zu gar nichts hinreißen lassen und bist die vollkommene Gastgeberin geblieben. Du hast dich von allen höflich verabschiedet, und erst nachher -«

»Ihm habe ich nicht auf Wiedersehen gesagt.«

»Schön, aber du hast nicht die Beherrschung verloren. Und da du nicht schreiend auf ihn losgegangen bist, wärst du sicher auch nicht mit dem Messer auf ihn losgegangen.«

»Schreien hätte doch keinen Sinn gehabt. Schreien wollte ich gar nicht. Ich will dir sagen, wie mir jetzt zumute ist. Als ich hörte, dass er tot ist, war ich froh. Ich machte mir Sorgen, weil sein Tod bedeutete, dass wir in die Sache verwickelt waren, aber das ist auch alles. Es ist jetzt fast ein Jahr her, aber ich habe es ihm nicht verziehen, und ich glaube noch immer, dass er den Tod verdient hat. Wer das fertigbringt, was er mir damals angetan hat, der hat wahrscheinlich schon vielen Menschen das Leben mit seiner Bosheit schwergemacht.«

»Schön und gut, Doris«, sagte Brade, der dieses Thema abschließen wollte. »Damit hast du aber weiter nichts bewiesen.« »Nein? Ich wollte dir zeigen, dass du keine Ahnung hast von Tatmotiven. Du weißt nicht, was den einen zum Mörder machen kann und den andern nicht. Warum solltest du das auch wissen? Es ist nicht dein Fach. Du würdest dich kranklachen, wenn ein Kriminalbeamter, und wäre es ein ganz schlauer, in deinem Labor erschiene und dir beibringen wollte, wie du deine Experimente durchführen musst. Warum glaubst du dann, du könntest den Detektiv spielen, nur weil du Chemiker bist? Du hast nicht die Ausbildung dazu und nicht die Erfahrung, und du bringst dich nur in Schwierigkeiten. Also hör auf. Hör auf.« Brade schwieg.

»Lass es einen Unfall gewesen sein, Lou«, fuhr Doris fort, »und wenn ihn jemand umgebracht hat, auch gut. Du bist nicht der liebe Gott. Das Strafen ist nicht deine Sache.«

Brade wandte sich ab. »Ich muss Cap anrufen«, murmelte er. Brade saß zwei lustlose Stunden über Ansons Manuskript. Dieser Abschnitt handelte von den früheren Jahren des Wirkens des schwedischen Chemikers J. J. Berzelius, der zu seiner Zeit der absolute Tyrann der Chemie war. Er leistete grundlegende Beiträge zu einem halben Dutzend Unterabteilungen der Wissenschaft, entdeckte mehrere Elemente, erfand den Terminus »Katalyse«, führte die noch heute gebräuchlichste Zeichensprache ein und so weiter. Er war Ansons großer Held, und Brade fragte sich beim Lesen, bis zu welchem Grade sich Anson unbewusst mit Berzelius identifizierte. Natürlich konnte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts niemand mehr eine solche Macht ausüben, wie Berzelius dies im neunzehnten Jahrhundert getan hatte. Die Wissenschaft war zu umfangreich geworden.

Und doch - auch Berzelius hatte noch seine Zeit zu Ende gehen sehen, ehe er starb. Er hatte die radikale Theorie von der organischen Chemie erfunden und hatte sie mit Inbrunst verfochten, bis sie sich angesichts der sich mehrenden sie widerlegenden Untersuchungsergebnisse gleichsam nur noch auf sein Wort stützen konnte. Die exakteren Vorstellungen von der organischen Chemie gewannen jedoch noch zu Berzelius' Lebzeiten an Raum und traten mit seinem Tod unbestritten ihren Siegeszug an.

Erkannte sich Anson auch darin wieder? Sah er sich als den letzten grossen Vertreter der »guten alten« Chemie, bevor die pragmatischen, kühlen Computer-Überwacher das Zepter in die Hand nahmen? Brade legte das Manuskript schließlich beiseite und fühlte sich sehr niedergeschlagen und erschöpft. Doris kam zu ihm herüber, um noch einige Haushaltsfragen zu besprechen-unter anderem ging es darum, dass der Milchmann am nächsten Morgen noch eine zusätzliche Flasche Milch lieferte. Dann vergewisserte sich Brade, dass alle Türen und Fenster verschlossen und die verschiedenen Haushaltsgeräte abgestellt waren. Dann ging er ins Schlafzimmer. Er konnte ohne weiteres einschlafen, aber es war ein unruhiger Schlaf voll wirrer Träume.

Dann starrte er auf einmal in sein Kissen hinein, und die Stille und die Dunkelheit sagten ihm, dass der Morgen noch weit entfernt war. Er hob den Kopf ein wenig- der kleine Leuchtzifferblattwecker auf dem Nachttisch zeigte auf zehn Minuten nach drei.

Er drehte das Kissen um und legte den Kopf behutsam auf die kühle Seite. Dann brachte er Arme und Beine in eine gelockerte, entspannte Lage und schloss langsam die Augen. Es nützte nichts. Er war wach.

Vor einem solchen Wachsein fürchtete er sich. Es kam gelegentlich vor, wenn ihn etwas beschäftigte, und in den letzten Jahren war es häufiger aufgetreten. Eine Geringfügigkeit, eine leicht unbequeme Schlafposition, ein leises Geräusch von draußen konnte ihn dann zwischen zwei und vier Uhr aufwecken. Und dann lag er wach im Bett, und seine Sorgen wuchsen und erschienen ihm riesengroß.

Manchmal konnte er dagegen ankämpfen; er wusste, wie blödsinnig dieses Wachliegen war. Er wusste, dass mit dem Morgen und der Sonnenhelle die schrecklichsten Ängste zusammenschrumpften und sich auflösten. Hin und wieder gelang es ihm, seine Gedanken bewusst der Anordnung eines Experiments oder der Gliederung einer Vorlesung zuzuwenden. Bisweilen nützte es auch etwas, wenn er mit einem Buch ins Badezimmer ging und las, bis er müde war.

Doch manchmal hatte er einfach nicht die Energie, sich zur Wehr zu setzen, und lag dann da, allen grauen Gedanken ausgeliefert. Doris lag in tiefem Schlaf. Das Laternenlicht, das durch die Spalten der Jalousie und den Vorhang hereinfiel, erhellte ihr Gesicht gerade so viel, dass es mehr als ein beliebiger Fleck im Zimmer war, aber noch keine erkennbaren Züge hatte.

Sie schlief immer auf der Seite, er dagegen auf dem Bauch, und er fragte sich, wie es wohl kam, dass jeder Mensch seine besondere Schlaflage hatte. Warum war eine bestimmte Lage dem einen angenehm, dem andern unbequem? War es eine Angewohnheit aus der frühen Kindheit oder bestand ein physischer Unterschied in der Verteilung der Blutgefässe und Nervenenden?

Eine Weile klammerte er sich an dieses Problem, versuchte sich Experimente auszumalen, Theorien aufzustellen, die ihn in Schlaf lullen sollten - so wie ein anderer Schafe zählte -, aber es entglitt ihm alles wieder.

Plötzlich fiel ihn ein Gedanke an: Ich frage mich, ob sie von der Vase träumt.

Die Vase und der Ellenbogen. Warum hätte Ralph das getan haben sollen? Wenn er absichtlich die Vase zerbrochen hatte, hatte er es dann getan, weil er wusste, dass sie Doris viel bedeutete und unersetzlich war? Wollte er ihr stellvertretend für ihn, Brade, einen Schmerz zufügen? War es ein Ausdruck von Ralphs Hass auf seinen Professor?

Wie lange war Ralph damals schon sein Doktorand? Es war Weihnachten letztes Jahr gewesen, und damals arbeitete Ralph seit etwa einem halben Jahr unter Brades Obhut. Doris kannte er nicht, er hatte sie nie zuvor gesehen. Sie konnte es nicht gewesen sein, die er treffen wollte.

Sie nicht, sondern ihn, Brade, hatte er damit treffen wollen. Ihn, Brade, den er gehasst hatte. Und Jean Makris hatte recht. Aber weshalb hatte Ralph ihn gehasst?

Aber weshalb hatte Ralph ihn gehasst?

Man sprach so ungeniert von Motiven, als handelte es sich da um leicht definierbare mathematische Kräfte, die entweder in dieser oder in jener Richtung wirkten, vorhersehbar waren und sich analysieren ließen.

So einfach war das aber nicht. Es war vielmehr so, wie Doris gesagt und zu beweisen versucht hatte. Motive waren dunkle, verborgene Kräfte und komplex dazu. Was für den einen ein Tatmotiv war, ließ den anderen kalt, geradeso wie der eine auf dem Bauch herrlich einschlafen konnte - und der andere nicht. Wie sollte er sich da zurechtfinden? Er konnte nicht einmal die einzelnen Beweggründe seiner Frau erkennen, die er Tag für Tag sah. Er erkannte ihr Streben nach Sicherheit und verstand einige der Handlungen, zu denen sie dadurch getrieben wurde. Aber der Zusammenhang zwischen einer zerbrochenen Vase und einer fast hemmungslosen Mordlust war ihm entgangen. Übrigens-was bestimmte ihn selbst zu seinen Handlungen? Was drehte in seinem Innern die Rädchen? Wenn die Polizei nun kam und sagte: Brade, Sie sind ein Mörder. Sie haben ein Tatmotiv - was dann? Wie konnte er sich dagegen verteidigen? Kannte er seine eigenen Motive? Wenn die Polizei nun sagte, er habe es wegen Doris' Vase getan? Wie konnte er da nein sagen? Doris hatte gesagt, sie hätte Ralph dafür umbringen können, und die Polizei würde sagen, sie habe ihn zur Tat angestiftet.

Um sieben, bevor der Wecker klingeln konnte, war er wieder wach. Er erinnerte sich, im Laufe der Nacht aufgewacht zu sein, wusste aber nicht mehr, welche Gedanken ihn beunruhigt hatten.

Nur dass es um die zerbrochene Vase gegangen war.

Er hatte von ihr geträumt; ein Traum, der jetzt im Augenblick des Aufwachens abgerissen war. Sie hatte wie damals auf dem Tisch gestanden, nur dass ganz dünne, feine Linien zeigten, wo die einzelnen Bruchstücke aneinander stießen, und Doris rief ihm zu, er solle sie nicht anfassen, der Leim sei noch nicht getrocknet. Nur dass die Linien zwischen den Bruchstücken rot waren-wie Blut. Und dann war er aufgewacht.

Erst unter der Dusche ging ihm die Vase aus dem Sinn.

Auf Brades Anruf vom Vorabend hin traf Cap Anson pünktlich um neun Uhr ein, und Brade, der schon gefrühstückt hatte, ließ ihn durch die Tür ein, die direkt in sein Arbeitszimmer im Souterrain führte.

Anson legte seinen Stock hin und nahm auf einem der beiden Stühle Platz. »Na, wie sind Sie mit dem alten Berzelius zurechtgekommen, Brade?«

Brade zwang sich zu einem Lächeln. »Sehr selbstbewusster Mann.« »Er hatte auch Grund dazu. Er wurde in den Freiherrenstand erhoben.« »Oh, ja?«

»Ich komme in einem späteren Kapitel darauf zu sprechen. Es war an seinem Hochzeitstag. Er heiratete gegen Ende seines Lebens eine Frau, die dreißig Jahre jünger war als er, und der König von Schweden machte ihn zum Freiherrn, das war sein Hochzeitsgeschenk. Ich behandle das ausführlich. Weshalb soll eine Geschichte der organischen Chemie nicht auch eine Geschichte der organischen Chemiker sein?«

Brade wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Anson hatte jedenfalls zwischen Chemie und Chemiker immer einen Strich gezogen und sein Privatleben nie Einfluss auf seine Arbeit nehmen lassen. Man wusste, dass es einmal eine Mrs. Anson gegeben hatte, dass sie jetzt tot war. Anson lebte allein und wurde von seiner Haushälterin versorgt. Man wusste, dass er eine verheiratete Tochter hatte, die irgendwo im Mittelwesten lebte und Kinder hatte. Er sprach nie von seinen Angehörigen. Auf Entfremdung deutete nichts hin. Er sprach nur einfach nicht von ihnen, weil sie nichts mit Chemie zu tun hatten.

Brade sagte: »Wo persönliche Dinge in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der organischen Chemie stehen, sollten sie zur Sprache kommen. Zum Beispiel ist die Erhebung in den Freiherrenstand ein Ausdruck dafür, wie die damalige Gesellschaft Berzelius' Verdienste einschätzte. Die organische Chemie erwies sich als so wichtig für das tägliche Leben, dass es gerechtfertigt erschien, einen ihrer Vertreter zu adeln.«

Anson nickte langsam. »Ein gutes Argument. Vielen Dank. Jetzt habe ich einige Abschnitte über die Entdeckung des Selens gestrichen. Die ist natürlich, wie auch die ganze Sache mit der Lötrohranalyse, sehr interessant, gehört aber nicht zur organischen Chemie.« »Ganz richtig«, sagte Brade. »Das Buch wird ohnehin ziemlich umfangreich werden.«

»Na schön. Würden Sie sich jetzt einmal die Seite 82 ansehen. Ich bin noch nicht bis zur radikalen Theorie gekommen, aber das scheint mir die Stelle zu sein, wo sie hingehören müsste.« So machten sie weiter, die Köpfe zusammengesteckt, hoben Manuskriptblätter hoch, legten sie wieder hin, schoben sie zur Seite, holten sie wieder aus dem Stoss hervor, bis Doris' Stimme sie schließlich in die Alltagswelt zurückrief. »Lou, ich glaube, Virginia ist jetzt soweit.« Doris hatte, weil Anson da war, einen absichtlich sanften Ton angeschlagen. Brade blickte auf. »Gut, Doris. Ja, Cap, ich glaube, wir haben so ziemlich alles geschafft, was wir uns vorgenommen hatten. Wollen wir für heute Schluss machen?« »Haben Sie jetzt etwas vor?«

»Ja, ich gehe mit Ginny in den Zoo. Sie muss nächste Woche in Englisch irgendeinen Aufsatz schreiben, und da bekommt sie durch den Zoobesuch Stoff für ein Thema, sie hat ihren Spaß, und Doris ist uns ein paar Stunden los. Drei Fliegen mit einer Klappe.« Er lächelte kurz, stand auf, schob die Seiten des Kapitels zusammen und legte zum Beschweren die Heftmaschine darauf.

Anson sammelte seine Aufzeichnungen ein. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitkomme? Es gibt noch mehr zu besprechen.« »Hm.« Brade zögerte. Er wusste nicht, wie er die so behutsam vorgetragene Bitte ablehnen sollte. »Es dürfte für Sie langweilig werden.«

Anson lächelte traurig. »In meinem Alter sind die meisten Dinge langweilig.« Er griff nach seinem Spazierstock.

Es war ein milder, sonniger, für die Jahreszeit sehr warmer Tag, fast ein Sommertag, aber ohne das sommerliche Besuchergedränge, und Brade dachte mit einer gewissen verbissenen Befriedigung daran, dass wenigstens in diesem Zusammentreffen etwas Positives zu erblicken war. Ginny inspizierte das Affenhaus, während er und Anson draußen auf einer Bank saßen.

Brade starrte abwesenden Blickes zu dem Goldadler in dem Käfig auf dem Pfahl inmitten eines kreisrunden Rosenbeets hin. In den kleinen gelben Augen des Vogels wohnte noch eine schläfrige Wildheit, und er fragte sich, wie lange das Tier wohl schon eingesperrt war und womit es, an irgendeinem kosmischen Maßstab von Schuld und Sühne gemessen, seine Gefangenschaft verdient hatte.

Anson hatte sich eine Tüte Popcorn gekauft und knabberte, den Stock quer über die Beine gelegt, mit offensichtlichem Vergnügen. Er sagte: »Ich habe gestern nachmittag mit Littleby gesprochen, Brade.« »Ja?«

»Er hat mir von den Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen erzählt, die er im Auge hat. Der alte Schwindler glaubt natürlich inzwischen selbst daran, dass er sie die ganze Zeit schon geplant hatte.«

»Ja, ich weiß.« Diese Sache interessierte Brade kaum. »Und dann hat er mich nach Ihnen gefragt.«

Brade setzte sich unwillkürlich gerade auf. »Nach mir?« »Deshalb habe ich Sie ja hier herausgeschleppt. Fort von Ihrer Frau, verstehen Sie!« »Was hat er gesagt?«

»Er hat darum herumgeredet. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass Ihre Anstellung beim nächsten Termin nur noch um ein letztes Jahr verlängert wird. Sie werden ein Jahr Kündigungsfrist bekommen, um sich nach einer neuen Stelle umzusehen.«

11

Es war, als wäre die Temperatur plötzlich gefallen. Als wärmte die Sonne nicht mehr.

Cap Ansons Stimme kam von weit her, und der fröhliche Lärm der anderen Zoobesucher rückte in den Hintergrund. Brades erster Gedanke galt nicht dem Umstand, dass er sich ein neues Auskommen suchen musste, dass eine altgewohnte Lebensweise zu Ende ging - sein erster Gedanke galt Doris.

Sie hatte diesen Augenblick prophezeit. Solange er keine unkündbare Professur bekleidete, war er Littleby oder dem, der ihm als Leiter des Chemischen Instituts nachfolgen mochte, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.

Brade hatte starrsinnig behauptet, dass man ihn nicht vor die Tür setzen würde. Seine Stellung in der Familie hing davon ab. Wie konnte er jetzt Doris gegenübertreten?

Es kam ihm nicht in den Sinn, dass Anson unrecht haben, dass er sich bei der Deutung von Littlebys Gebaren getäuscht haben könnte. Ansons Ansicht stimmte zu gut mit seiner, Brades, Interpretation von Littlebys Kühle am Morgen des Vortags überein.

»War das wegen M -« Er hielt inne - beinahe hätte er »Mord« gesagt. Er versuchte es noch einmal. »Wegen der Sache, die Ralph Neufeld passiert ist?«

Anson machte ein verwirrtes Gesicht. »Sie meinen Ralphs Unglücksfall?« »Ja.«

»Davon hat er nichts gesagt. Warum sollte da ein Zusammenhang bestehen?«

Brade zuckte die Achseln und blickte zur Seite.

»Es ist eine Frage der Forschungsergebnisse«, sagte Anson. »Sie veröffentlichen zuwenig.«

»Veröffentliche oder stirb«, erwiderte Brade grimmig. »Na, Sie kennen das doch, Brade. Eine ganz alte Geschichte. Der wissenschaftliche Ruf macht einen für die Universität interessant. Und dieser Ruf stützt sich auf die Beiträge, die man zur wissenschaftlichen Forschung leistet. Und die Beiträge werden an der Anzahl der Artikel und so weiter gemessen, die man veröffentlicht.« »Wenn ich also meine Forschungsergebnisse zusammenkratze«, meinte Brade, »wenn ich sie in kleinen Portionen dieser und jener Zeitschrift anbiete, wenn ich aus jeder Arbeit ein Dutzend Veröffentlichungen mache, dann wäre ich wohl ein großer Mann. Mir scheint, man kann den Ruf eines Mannes an der Anzahl der Scheibchen messen, in die er seine Forschungsergebnisse einteilt.«

»Brade, Brade.« Der alte Chemiker klopfte Brade mit seiner knotigen Hand beruhigend aufs Knie. »Streiten wir nicht über Qualität und Quantität. Die Dissertationen, die in den letzten zehn Jahren unter Ihrer Obhut entstanden, waren sorgfältig ausgearbeitete, aber kaum hervorragende Beiträge.« Er wiederholte: »Kaum hervorragende Beiträge.« Er musste fast kichern, so sehr gefiel ihm diese Formulierung.

»Ich hatte auch kaum hervorragende Studenten«, entgegnete Brade gereizt und schämte sich dieser Erwiderung sofort. Es nützte ihm nichts. Aber Anson sagte: »Das stimmt. Wessen Schuld ist das?« »Was soll ich denn tun? Um Forschungszuschüsse betteln, damit ich mir Studenten kaufen kann? Das tue ich nicht. Das steht für mich seit langem fest, Cap, dass ich nicht mit dem Hut in der Hand nach Washington pilgere mit irgendeinem Projekt, um Regierungsgelder herauszuschlagen. Ich passe meine Forschungen nicht der Mode an. Ich untersuche das, was mich interessiert, und damit basta. Wenn das einen öffentlichen Zuschuss wert ist, dann nehme ich ihn an, aber ohne Bedingungen. Wenn nicht, ist es mir auch recht.« Zorn klang in seinen Worten mit, während er sich vor sich selbst zu rechtfertigen suchte und im Geist wieder die Argumente hörte, die ihn einen Narren schalten, der Armut mit Tugend gleichsetzte und Wohlhabenheit für eine Sünde hielt. »Nun kommen Sie«, sagte Anson. »Sie wissen, was ich von diesem Zuschusswirbel halte, in dem wir uns befinden. Darauf will ich nicht hinaus. Aber warum sind Sie so erregt? Können Sie keine andere Stelle finden?« Er sah Brade mit festem, unbeweglichem Blick an. Brade hatte Mühe, ihm standzuhalten. Was sollte er sagen? Sollte er sagen, dass da eine negative Auswirkung vorlag - dass das Ausbleiben dieser Beförderung eben diese Beförderung in im mer weitere Fernen rückte -, dass man sich wegen dieses Ausbleibens bei jedem Vorschlag zu einer Beförderung die Frage stellte: Warum ist der Mann schon so lange nur assistierender Professor? Und die Beförderung wartete dann auf die Beantwortung dieser Frage. Und nach jedem Jahr ohne Beförderung werden die Fragen lauter vorgebracht und sind schwerer zu beantworten. Nach einer gewissen Zeit gibt es einfach keine Antwort mehr darauf.

Bei der Suche nach einer neuen Stelle würden die gleichen Fragen wiederauftauchen. Er war nicht zu alt, um sich nach einer neuen Position umzusehen, er war auch kein schlechter Chemiker - er war einfach zu lange in seiner derzeitigen Stellung verblieben. Brade malte sich die höflichen Unterhaltungen aus, wenn er bei den verschiedenen Universitäten vorsprach, das höfliche Händeschütteln, die höflichen Hinweise auf meine Forschungen und deine Forschungen, den höflichen Austausch von Veröffentlichungen.

Und all diese Höflichkeit würde einzig auf die Tatsache hinauslaufen, dass keiner so unhöflich war, die eine Frage zu stellen, auf die es ankam: Warum sind Sie schon so lange nur assistierender Professor, Professor Brade? Warum lässt Ihre Universität Sie lieber gehen, als dass sie Sie befördert?

Kann man da antworten: Sie befördern mich nicht, weil sie mich bis jetzt noch nicht befördert haben? Sie lassen mich gehen, weil sie es müde sind, mich nicht zu befördern?

Er versuchte noch immer Ansons Blick standzuhalten.

Anson sagte: »Ich könnte meinen Einfluss geltend machen, um Ihnen zu helfen.«

Welchen Einfluss denn, dachte Brade in hilfloser Bitterkeit. Oh, Cap, Cap, welchen Einfluss denn? Du hast einen gewissen Einfluss hier an der Universität, weil du ein lebendes Fossil bist, dem niemand etwas tun will. Aber wo sonst? Anderswo hält man nur den wirklichen Anson in Ehren, den wirklichen, jetzt toten Anson, der einmal bedeutende Beiträge zur organischen Chemie leistete. Der alte Mann, der sich jetzt Anson nennt, ist ein Hochstapler, der mit dem wirklichen Anson nur eine körperliche Verbindung über die Jahre hin hat; die Seele, der Einfluss -das ist alles längst vorbei.

»Aber wenn Sie lieber an der Universität bleiben wollen«, fuhr Anson fort, »dann tun Sie etwas, dass man Sie behält. Sie haben noch bis Juni Zeit, erst dann wird man Ihnen für das nächste Jahr kündigen.« »Tun Sie etwas«, wiederholte Brade. »Was soll ich denn tun?« Anson schlug mit seinem Stock auf den Weg, dass einzelne Kieselsteine hochspritzten. »Wollen Sie denn aufgeben? Sie müssen kämpfen, Mann. Sie sind doch nicht auf der Universität, um nur so dahinzuvegetieren. Die Wissenschaft ist ein Kampf.« Er ballte seine alte Faust.

Es gibt Kämpfe genug auf der Welt, bei denen man fürs Kämpfen ganz hübsch bezahlt werden kann. Ich bin nicht zum Kämpfen hier. Ginny kam aus dem Affenhaus gerannt. Die zwei schwarzen Zöpfe flogen hinter ihr her, und ihre flachen Schuhe knirschten über den Kies. »Papi, kann ich noch ins Reptilienhaus gehen?« Brade blickte auf - den Bruchteil einer Sekunde lang erkannte er seine eigene Tochter nicht. »Ja, natürlich«, sagte er. »Wo ist das denn?« »Gleich da drüben. Siehst du das Schild?«

»Sollen wir mitkommen, Ginny?« Er streckte den Arm nach ihr aus, verspürte auf einmal das heftige Verlangen, sie an sich zu drücken, aus diesem körperlichen Kontakt neue Kraft zu schöpfen. Aber Ginny, die nach dem Reptilienhaus geblickt und seine Geste nicht gesehen hatte, war schon wieder einen Schritt zurückgetreten und sagte: »Ich kann allein hingehen. Ich komme dann wieder hierher.«

Und sie hüpfte davon, elf Jahr alt und absolut selbstsicher. »Was soll aus Ralphs Arbeit werden?« fragte Brade.

»Aus den kinetischen Untersuchungen?« Anson machte ein missvergnügtes Gesicht und schüttelte heftig den Kopf. »Die werfen Sie am besten in den Mülleimer.«

»In den Mülleimer? Aber es könnten sich da ganz neue Möglichkeiten auf dem Gebiet der organischen Reaktionen eröffnen. Wenn es mir gelänge, die abschließenden Bestätigungen zu finden, die letzten Akzente zu setzen« (er redete sich auf einmal in ein neues Gefühl der Hoffnung hinein), »könnte ich eine Arbeit vorlegen, die gehöriges Aufsehen erregen würde.«

Aber Anson schien sich für diese Idee nicht begeistern zu können. Er sagte: »Was wollen Sie mit diesem unfertigen Material anfangen? Ein neuer Student kann doch mit nur ein paar abschließenden Bestätigungen keine Doktorarbeit machen.« »Das natürlich nicht.«

»Wollen Sie sich selbst dransetzen, Brade?«

Brade gab keine Antwort. Er schob mit dem Schuh Kies fort, so dass ein Streifen Erde hervorsah.

»Dazu bringen Sie nicht die Voraussetzungen mit, das weiß ich genau«, sagte Anson. »Wenn Sie zu mir gekommen wären, ehe Sie mit dieser Sache anfingen, hätte ich Ihnen davon abgeraten. Kein Professor sollte einem Studenten ein Thema geben, dem er nicht selbst gewachsen ist. Das war immer mein Grundsatz: genau zu wissen und zu verstehen, womit sich meine Studenten beschäftigen. Wäre einer von ihnen plötzlich verschwunden, hätte ich die Experimente jederzeit weiterführen können. In dieser Lage sind Sie nicht, wie ich vermute.« Brade errötete. Er hatte sich pflichtgemäß Duplikatsblätter angesehen, die Ralph ihm gegeben hatte, aber die darin angeführten Integrationen und Berechnungen konfigurationeller Entropie hatten sein Verständnis überstiegen.

»Ich könnte mir die Kenntnisse aneignen«, sagte er. »Ich bin nicht zu stolz, um noch dazuzulernen.«

»Es ist keine Frage des Stolzes. Sie haben einfach nicht die Zeit dazu. Ich will Ihnen einen Rat geben.« Anson legte Brade behutsam die Hand auf die Schulter, so dass Brade sich einen Augenblick lang deutlich bewusst war, dass sein Verhältnis zu diesem alten Mann dem seiner eigenen Studenten zu ihm, Brade, entsprach. »An Ihrer Stelle würde ich ein ganz neues Gebiet erschließen. Ich würde mir ein Gebiet suchen, das noch so neu, so dünn besetzt ist, dass man einfach aufsehenerregende Entdeckungen machen muss; ein Gebiet, das die Chemiker mit Forschungszuschüssen noch nicht mit Beschlag belegt haben. Sehen Sie mal den Adler da! «

Brade blickte verwirrt auf. Der Vogel hatte die Augen geschlossen, die Flügel angelegt. Der Schnabel ging langsam auf und zu, wie bei einem alten Mann, der im Schlaf vor sich hin murmelt. »Was ist mit ihm?« fragte Brade.

»Na ja, er ist ein Fleischfresser, zunächst einmal. Die Affen in dem Haus da drüben mögen auch Insekten fressen, aber sie leben hauptsächlich von Früchten und anderer pflanzlicher Nahrung. Und doch sind die vegetarischen Affen mit dem Fleischfresser Mensch verwandt, während es der Fleischfresser Adler nicht ist. Wie spiegelt sich das in der Chemie der drei Lebewesen wieder?« »Was soll das?« fragte Brade.

»Ich spreche von vergleichender Biochemie. Die chemischen Unterschiede zwischen den einzelnen Organismen. Die wenigen Leute, die sich damit befassen, verstehen kaum etwas von organischer Chemie. Sie, Brade, würden da Spezialkenntnisse mitbringen, mit deren Hilfe Sie es sehr weit bringen könnten, finde ich. Und ich könnte mir das sehr interessant vorstellen.« Er deutete auf das Reptilienhaus. »Welches sind, chemisch gesehen, die Anpassungsweisen des Verdauungsapparats der Pythonschlange, die ein ganzes Tier verschlingt, ohne es zu kauen, dann mehrere Tage damit verbringt, es zu verdauen, und vielleicht erst in Monaten wieder etwas zu sich nimmt?«

»Du liebe Güte, Cap«, sagte Brade. Er musste unwillkürlich lächeln. »Da wüsste ich ja nicht, wo ich anfangen sollte.«

»Das ist es ja gerade. Bahnen Sie sich Ihren eigenen Weg durch den Dschungel.«

»Nein, Cap. Nein. Das ist gar nicht mein Fall. Mit Tieren arbeiten - nein.«

Anson runzelte die Stirn. »Wenn Sie sich mit diesem Problem befassen, Brade, könnte ich Littleby sicher dazu bringen, dass er die Frage Ihrer weiteren Anstellung in günstigerem Licht sieht; er würde Ihnen zumindest eine Chance bei der Inangriffnahme eines neuen Projekts geben. Vielleicht würde er Sie daraufhin sogar zum außerordentlichen Professor machen. Ich halte das nicht für unmöglich.«

»Danke, Cap, aber selbst dann -«

»Haben Sie Angst davor, weil es ein neues Gebiet ist?«

»Nein, aber ich müsste doch daran interessiert sein, und ich glaube, im Augenblick gilt mein Interesse der Kinetik. Ich werde versuchen, Ralphs Untersuchungen zu Ende zu bringen. Ich werde es versuchen.«

Anson erhob sich. »Ich gehe jetzt, Brade. Sie machen einen Fehler.«

Brade sah der davongehenden Gestalt mit höchst gemischten Gefühlen nach.

Der Ärmste. Er war offensichtlich wütend. Er vergab noch immer Themen, teilte Forschungsgebiete zu. Natürlich hasste er die Kinetik und die Reaktionsmechanismen. Das waren ja die Wissenschaftsbereiche, deren Entwicklung ihn zum alten Eisen verdammt hatte. Vergleichende Biochemie?

Brade blickte zu dem Adler auf und dachte: Wie wär's? Er verspürte einen leisen Anreiz, doch der hing mit Cap Ansons Versprechen zusammen, sich für ihn einzusetzen. Und Brade wusste genau, dass Anson nicht den Einfluss besaß, Littleby im Ernstfall umzustimmen. Nur er selbst, Anson, glaubte noch an seinen Einfluss. Brade versuchte das leise Hoffnungsgefühl wieder einzufangen, das er Augenblicke zuvor empfunden hatte, aber es ließ sich nicht mehr bannen. Immerhin, wenn er Rankes Buch über Kinetik las, musste es ihm eigentlich – Aber er hatte das Buch oft genug in der Hand gehabt, um zu wissen, dass es ein schweres Stück Arbeit bedeutete; vielleicht überstieg es sogar seine Kräfte.

Er saß auf der Bank, wartete auf Ginny und kam sich sehr verlassen vor. Kurz vor vier Uhr kehrten sie nach Hause zurück. Doris hatte die Zeit dazu benutzt, überall staubzusaugen und aufzuräumen, so dass das Haus einen leicht unwirklichen Eindruck machte. Sie selbst befand sich in der Phase zunehmender Schlampigkeit, die ihren Abschluss erst kurz vor dem Aufbruch zu der Abendgesellschaft finden würde. »Klasse«, sagte Ginny, fünf abwechslungsreiche Stunden in einem einzigen Wort zusammenfassend. »Was hast du denn zu Mittag gegessen?«

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