Ich muss euch aber sagen, dass unsere Stadt um den sechsten August, zur Apfelweihe, wenn der Himmel sich vom Sommer zum Herbst hinüberneigt, gewöhnlich einem wahren Ansturm von Zikaden ausgesetzt ist, so dass man nachts nicht schlafen kann, und wenn man noch so müde ist – so laut schallt das Gezirpe von allen Seiten, die Sterne sinken tief herab, und der Mond hängt ohnehin so dicht über den Glockentürmen, dass er Ähnlichkeit gewinnt mit unserem berühmten Sauerrahmapfel, den die Kaufleutei der Stadt auch an den Zarenhof liefern und sogar auf europäischen Ausstellungen zeigen. Hätte jemand aus der Himmelssphären, von wo die nächtlichen Gestirne herab strahlten, einen Blick auf die Stadt Sawolshsk werfen können, so würde sich ihm wohl das Bild eines Zauberreichs geboten haben: der träge glitzernde Fluss, die blinkenden Dächer, das Flimmern der Gaslaternen, und über all dem vielgestaltigen Lichterspiel schwebt der silberne Klang des Zikadenchors.
Aber nun zu Bischof Mitrofani. Die Natur wurde soeben nur erwähnt, um zu erklären, warum es in solch einer Nacht nicht leicht war einzuschlafen, selbst für einen gewöhnlichen Menschen, dem weniger Sorgen aufgebürdet waren als dem Bischof. Nicht umsonst behaupteten Übelwoller, die jeder hat, den würdigen Seelenhirten nicht ausgenommen, dass nicht der Gouverneur Anton Antonowitsch von Gaggenau, sondern der Bischof der wahre Regent unserer ausgedehnten Region sei.
Nun ja, ausgedehnt ist sie, aber nicht eben dicht bevölkert. Die einzige richtige Stadt ist wohl Sawolshsk, und die übrigen, auch die Kreisstädte, präsentieren sich als ausladende Kirchdörfer mit einem Häuflein steinerner Amtsgebäude rund um den einzigen Platz, einer kleinen Kathedrale und hundert bis zweihundert Blockhäusern mit Blechdächern, die aus irgendwelchen Gründen bei uns von alters her grün gestrichen sind.
Aber auch die Gouvernementhauptstadt ist nicht gerade ein Babylon – in der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, hatte sie dreiundzwanzigtausendfünfhundertelf Bürger beiderlei Geschlechts. Allerdings würde die Einwohnerschaft in der Woche nach Christi Verklärung, falls bis dahin niemand verschied, um zwei weitere Seelen anwachsen, denn die Ehefrau des Leiters der Gouvernementkanzlei Stops sowie die Kleinbürgerin Safulina waren in anderen Umständen, die Letztere nach einhelliger Meinung sogar schon über die Zeit.
Die Gepflogenheit, die Bevölkerung genau zu registrieren, war erst vor kurzem von der jetzigen Macht eingeführt worden, und das auch nur in den Städten. Wie viele Leutchen in den Wäldern und Sümpfen hausten, mochte Gott allein wissen, wer sollte die schon zählen. Vom Fluss bis zum Uralgebirge zog sich über Hunderte Werst undurchdringliche Wildnis hin. Darin gab es Einsiedeleien von Altgläubigen sowie Salzsiedereien, und an den Ufern der tiefen dunklen Flüsse, die zumeist namenlos waren, lebte der Stamm der Syten, ein friedliches und folgsames Volk ugrischer Abstammung.
Die einzige Erwähnung der schon uralten Existenz unseres unbedeutenden Gebiets steht in dem »Nishni Nowgoroder Lesebuch«, einer Chronik aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Dort ist die Rede von einem Mann aus Nowgorod namens Ropscha, welchen in den hiesigen Wäldern »wilde kahlbäuchige Heiden weggefangen« und ihm als Opfergabe für ihren steinernen Götzen Schischiga den Kopf abgetrennt hatten, woraufhin, wie der Chronist zu erläutern für nötig hält, »selbiger Ropscha verstorben und verdorben und ohne Haupt beerdigt worden«.
Aber das war in fernen, mythischen Zeiten. Gegenwärtig ist es bei uns schön und still, an den Landstraßen wird niemand ausgeraubt, auch nicht totgeschlagen, und selbst die Wölfe in den hiesigen Wäldern sind wegen des Überflusses an Getier sichtbarlich dicker und träger als in den anderen Gouvernements. Uns geht es gut, Gott gebe das allen. Und was das Murren der Übelwoller betrifft, so wollen wir die Frage, wer der wahre Regent der Region Sawolshsk sei, der Bischof Mitrofani, der Gouverneur Anton von Gaggenau, die überaus klugen Berater des Gouverneurs oder gar seine Gattin Ljudmila Platonowna, lieber unbeantwortet lassen, da sie uns nichts angeht. Wir sagen nur, dass der Bischof in Sawolshsk erheblich mehr Verehrer und Verbündete hat als Feinde.
Im Übrigen haben diese Letzteren in jüngster Zeit im Zusammenhang mit gewissen Ereignissen Mut gefasst und das Haupt erhoben, was Mitrofani zusamt dem irrsinnigen Zikadengezirpe weitere Gründe für die Schlaflosigkeit lieferte. Und so furchte er die hohe Stirn in drei Längsfalten, so runzelte er die dichten schwarzen Augenbrauen.
Gut sah er aus, der Sawolshsker Bischof, sein Gesicht war nicht nur ebenmäßig, sondern richtig schön, wie es nicht einem Seelenhirten anstand, sondern eher einem altrussischen Fürsten oder einem byzantinischen Heerführer. Er hatte langes graues Haar, sein ebenfalls langer seidiger Vollbart war noch zur Hälfte schwarz, und sein Schnurrbart hatte kein einziges silbriges Haar. Sein Blick war scharf, zumeist sanft und klar, aber umso fürchterlicher, wenn er sich vor Zorn trübte oder Blitze schleuderte. In solchen bösen Momenten waren die strengen Falten längs der Backenknochen und die Krümmung der großen, rassigen Adlernase deutlicher ausgeprägt. Der Bischof hatte eine voll tönende Bassstimme, die für ein herzliches Gespräch ebenso taugte wie für eine flammende Predigt und für eine Staatsmännische Rede auf der Versammlung des Heiligen Synod.
In jungen Jahren hatte Mitrofani eine asketische Lebensweise gepflegt. Er hatte einen härenen Priesterrock getragen, sein Fleisch durch unablässiges Fasten abgetötet und soll sogar unterm Hemd eiserne Ketten geschleppt haben, aber von derart rauen Eigenarten hatte er sich längst abgewandt, denn er erachtete sie als eitel, unwesentlich und gar schädlich für die wahre Gottesliebe. Indes er in die Jahre kam und Weisheit gewann, fand er zu Nachsicht gegenüber seinem Fleisch und dem anderer, und in seiner Alltagsgewandung bevorzugte er nun Leibröcke aus dünnem Tuch von dunkelblauer oder schwarzer Farbe. Gelegentlich, wenn die bischöfliche Autorität es erforderte, hüllte er sich in eine lila Soutane aus kostbarstem Samt und ließ die Paradekutsche mit sechs Pferden bespannen, und auf dem hinteren Wagentritt mussten zwei stattliche bärtige Diener stehen, in betressten grünen Kutten, die wie Livreen aussahen.
Es fanden sich natürlich auch welche, die den Bischof insgeheim wegen seiner sybaritischen Neigungen und seiner Vorliebe für Prunk rügten, aber selbst sie verurteilten ihn nicht zu streng, eingedenk seiner hohen Abstammung, denn Mitrofani war von klein auf an Luxus gewöhnt und maß ihm daher keine große Bedeutung bei – er geruhte nicht, ihn wahrzunehmen, wie sein Schriftführer, Vater Serafim Usserdow, es ausdrückte.
Geboren war der Bischof von Sawolshsk in einer angesehenen Höflingsfamilie, er absolvierte das Pagenkorps und kam von dort zur Gardekavallerie (das war noch unter der Herrschaft von Zar Nikolaus Pawlowitsch). Er führte das für die jungen Leute seiner Kreise übliche Leben, und wenn er sich durch irgendetwas von seinen Altersgenossen unterschied, so allenfalls durch einen gewissen Hang zum Philosophieren, was übrigens bei gebildeten und feinsinnigen Jünglingen nicht gar so selten ist. Im Regiment galt der »Philosoph« als guter Kamerad und ordentlicher Kavallerist, die Vorgesetzten liebten und förderten ihn, und mit dreißig wäre er womöglich schon zum Oberst aufgerückt, doch da begann der Krimkrieg. Gott weiß, was für Erleuchtungen dem späteren Sawolshsker Bischof in seiner ersten Kampfhandlung, einem Reiterscharmützel bei Balaklawa, kamen, doch nachdem er von der Säbelwunde genesen war, mochte er keine Waffe mehr in die Hand nehmen. Er quittierte den Dienst, nahm Abschied von seinen Angehörigen und war alsbald auf Probezeit in einem weit abgelegenen Kloster. Doch auch jetzt noch, besonders wenn Mitrofani anlässlich eines der zwölf Hauptfeiertage in der Kirche eine Messe las oder wenn er einer Konsistorialversammlung präsidierte, war gut vorstellbar, wie er seinen Ulanen schallend zurief: »Schwadron, Säbel frei! Marsch, marsch!«
Ein außergewöhnlicher Mensch bewährt sich auf jedem Tätigkeitsfeld, und Mitrofani verblieb nicht lange in der Anonymität des weit abgelegenen Klosters. War er früher der jüngste Schwadronskommandeur einer leichten Kavalleriebrigade gewesen, so war er jetzt der jüngste orthodoxe Bischof. Er wurde zuerst als Vikar, dann als Oberpriester des Gouvernements zu uns nach Sawolshsk geschickt, und er legte so viel Weisheit und Eifer an den Tag, dass er alsbald auf einen hohen Kirchenposten in die Hauptstadt berufen wurde. Viele sagten ihm für die nahe Zukunft schon die hohe weiße Metropolitenkappe voraus, doch er verblüffte alle, indem er wieder von der glatt gefahrenen Straße abbog, um Rückkehr in unsere Einöde bat und nach langen Überredungsversuchen, zur Freude der Sawolshsker, in Frieden entlassen wurde, um nie wieder diesen bescheidenen Bischofssessel fern der Hauptstadt zu verlassen.
Aber was heißt schon fern. Es ist ja altbekannt: je ferner der Hauptstadt, desto näher zu Gott. Und die Hauptstadt, die hoch sitzt und weit sieht, sie reicht auch tausend Werst weit, wenn ihr solch ein Einfall in den Sinn kommt.
Und solch ein Einfall war schuld, dass der Bischof diese Nacht nicht schlief, sondern missvergnügt dem zuwideren Crescendo der Zikaden lauschte. Die hauptstädtische Phantasie hatte ein Gesicht und einen Namen: Synodalinspektor Bubenzow. Und Mitrofani, indes er erwog, wie diesem ränkesüchtigen Herrn beizukommen sei, wälzte sich auf dem weichen Bett aus Entendaunen zum hundertsten Mal von einer Seite auf die andere, ächzend, seufzend, auch stöhnend.
Die altertümliche Lagerstatt im bischöflichen Schlafgemach stammte noch aus Elisabeths Zeiten: Vier Säulen trugen einen Baldachin in Form des Sternenhimmels. In der erwähnten Zeit seiner Askese hatte Mitrofani auch auf Stroh und kahlen Brettern vorzüglich geschlafen, bis er zu dem Schluss gelangte, dass die Abtötung des Fleisches dumm und sinnlos sei, nicht dazu habe es der HERR nach SEINEM Bilde geschaffen, auch zieme es dem Bischof nicht, den ihm untergebenen Klerikern selbstquälerische Strenge aufzuzwingen, nach der die Seele das Bedürfnis nicht habe und zu der die Kirchenordnung nicht verpflichte. In seinen reifen Jahren neigte Mitrofani immer mehr zu der Ansicht, dass die wirklichen Prüfungen dem Menschen nicht im physiologischen, sondern im geistigen Bereich auferlegt würden und dass die Kasteiung des Körpers keineswegs immer die Rettung der Seele nach sich ziehe. Darum waren die bischöflichen Gemächer nicht schlechter ausgestattet als das Haus des Gouverneurs, die Tafel irrt Speisezimmer war unvergleichlich erlesener, und der Apfelgarten war der schönste in der ganzen Stadt, mit Lauben, Rotunden und sogar einem Springbrunnen. Friedlich war es da, schattig, inspirierend, und wenn auch die Übelwoller tuschelten – lass sie reden, sie reden über jeden.
Mit dem tückischen Spürhund Bubenzow müsste man es so machen, überlegte der Bischof. Als Erstes nach Petersburg schreiben, an Konstantin Petrowitsch, und ihm die Machenschaften seines bevollmächtigten Nuntius schildern, auch ihm ausmalen, welche Schäden der Kirche dadurch drohten. Der Oberprokuror war ein kluger Mann, vielleicht schenkte er dem Gehör. Aber ein Schreiben allein genügte nicht, man musste die Gouverneursgattin Ljudmila Platonowna zu einem Gespräch bitten, um ihr ins Gewissen zu reden. Sie war eine gutherzige, redliche Frau und würde sich gewiss besinnen.
So käme alles ins Lot. Ganz einfach.
Aber auch nachdem ihm leichter ums Herz geworden war, floh ihn der Schlaf weiterhin, und das lag nicht am Vollmond und nicht an den Zikaden.
Da Mitrofani seine Natur kannte und ihren Mechanismus bis ins Letzte zu ergründen gewohnt war, sann er nun darüber nach, was für ein Wurm an ihm nagte und den Verstand hinderte, sich in die Wolke des Schlafs zu hüllen. Woran lag das?
War es etwa das kürzliche Gespräch mit der wunderlichen Novizin von adligem Stand, der er die Einkleidung als Nonne verweigert hatte? Er hatte nicht drum herumgeredet, sondern ihr ins Gesicht gesagt: »Was Sie brauchen, meine Tochter, ist nicht der Süße Himmelsbräutigam, machen Sie sich nichts vor. Sie brauchen einen ganz gewöhnlichen Bräutigam, einen Beamten oder besser einen Offizier. Mit Schnurrbart.« Das hätte er natürlich nicht sagen sollen. Die Folge waren Hysterie und zermürbend lange Widerworte. Na gut, das war eine Lappalie. Was gab es noch?
Er musste einen unangenehmen Entschluss fassen, der den Vater Wirtschafter des Epiphanienklosters betraf. Der Missetäter war wegen Trunkenheit und wegen unzüchtiger Besuche bei Frauen liederlichen Wandels zur Entlassung aus dem Kloster und zur Rückstufung in den ursprünglichen Rang verurteilt worden. Jetzt war noch der Schreibkram zu erledigen – Briefe an Seine Eminenz den Metropoliten und an den Synod. Aber das war Routine und nicht der Grund für die innere Unruhe.
Mitrofani dachte weiter nach, spielte wie in der Kindheit »heiß« und »kalt« und erkannte plötzlich: Der Brief von seiner Tante, der Generalswitwe Tatistschewa, das war die wunde Stelle. Er wunderte sich, aber das Herz bestätigte sogleich – »heiß«, das war es. Eine Dummheit, so schien es, aber in der Seele war ein Ziehen. Ob er ihn noch einmal las?
Er setzte sich auf, zündete die Kerze an, klemmte den Kneifer auf die Nase. Wo war er, der Brief? Da, auf dem Tischchen.
»Mein lieber Mischenka«, schrieb die alte Marja Tatistschewa, die ihren Neffen nach alter Gewohnheit bei seinem längst vergessenen weltlichen Vornamen nannte, »bist du gesund? Hat dich die verfluchte Gicht losgelassen? Legst du auch immer Kohlblätter auf, wie ich dich geheißen? Mein Apollon Nikolajewitsch selig hat immer gesagt, dass . . .« Es folgte eine ausschweifende Beschreibung der Wunder wirkenden Eigenschaften des Gemüsekohls; der Bischof überflog ungeduldig die gleichmäßigen Zeilen. Seine Augen stießen auf einen unangenehmen Namen. »Wladimir Lwowitsch Bubenzow hat mich wieder besucht. Was wird nicht alles über ihn zusammengelogen: Er wäre ein Gauner oder gar ein Verbrecher. Dabei ist er ein prächtiger junger Mann, und er gefällt mir. Geradezu, ohne Dünkel, und versteht etwas von Hunden. Hast du gewusst, dass er durch die Strjochnins mit mir verwandt ist? Meine Oma Adelaida Sekandrowna war in zweiter Ehe . . .« Nein, das war’s nicht, weiter.
Aha, da: »Aber all das hat mit der Sache nichts zu tun, und ich schreibe es nur, weil ich aus Herzensschwäche zögere, zum Wichtigsten zu kommen. Sowie ich dazu ansetze, fließen die Tränen in zwei Bächlein, meine Hand zittert, und mir wird kalt in der Brust. Mischenka, ich schreibe dir nicht von ungefähr. Ich habe großen Kummer, und nur du wirst mich verstehen, die anderen werden höchstens ein Gelächter anstimmen und sagen, jetzt hat die dumme alte Gans vollends den Verstand verloren. Ich wollte schon selber zu dir kommen, aber die Kraft reicht nicht, obwohl es ja gar nicht weit ist. Ich liege darnieder und weine, weine. Du weißt, wie viele Jahre, wie viel Kraft und wie viel Mittel ich aufgewendet habe, um das Werk zu Ende zu führen, dem Apollon Nikolajewitsch sein Leben geweiht hatte.« (Hier schüttelte der Bischof den Kopf, denn zu dem Werk, dem sein Onkel sein Leben geweiht hatte, verhielt er sich skeptisch.) »So erfahre denn, mein Freund, was für eine Missetat sich auf meinem Gut Drosdowka zugetragen hat. Irgendein Widersacher, einer von meinen Leuten wohl, hat Saguljai und Sakidai Gift ins Futter gestreut. Sakidai ist jünger, den habe ich mit Brechweinstein kuriert, aber Saguljai ist gestorben. Die ganze Nacht hat er gelitten, sich hin und her geworfen, hat Tränen geweint wie ein Mensch und mich kläglich angeguckt, als ob er sagen wollte: Rette mich, Mütterchen, du bist meine ganze Hoffnung. Ich konnte ihn nicht retten. Gegen Morgen hat er jämmerlich aufgeschrien, ist auf die Seite gesunken und hat den Geist aufgegeben. Ich habe das Bewusstsein verloren und habe drei Stunden gelegen, dann kam der Doktor aus der Stadt. Jetzt liege ich im Bett und bin ganz schwach vor Angst. Denn das ist eine Verschwörung, Mischenka, eine bösartige Verschwörung. Jemand will meine Tierchen umbringen und damit auch mich alte Frau. Bei Gott dem Allerhalter flehe ich dich an, komm her. Nicht um mir als Seelenhirt Trost zu spenden, das brauche ich nicht, sondern zum Ermitteln. Alle sagen, du hast die Gabe, jeden Übeltäter zu durchschauen und jede verbrecherische Intrige aufzuklären. Gibt es eine schlimmere Untat als diese? Komm her und rette mich, und ich werde ewig deine Anbeterin sein und in meinem Testament ein reiches Vermächtnis aussetzen, für eine Kirche oder ein Kloster oder auch für die Waisenkinder.« Am Schluss des Briefes wechselte die Tante vom verwandtschaftlichen Ton ins Respektvolle, Offizielle: »Mich Ihrer väterlichen Aufmerksamkeit und Ihren bischöflichen Gebeten empfehlend und Ihren Segen erflehend, verbleibe ich Eurer Bischöflichen Gnaden ergebene Magd Marja Tatistschewa.«
An dieser Stelle scheint eine Erklärung zu der Gabe angebracht, von der die Generalswitwe schreibt und die einer geistlichen Person im Bischofsrang nicht so recht zu Gesicht steht. Nichtsdestoweniger besaß Mitrofani neben erhabenen Vorzügen auch das selten anzutreffende wertvolle Talent, komplizierte Rätsel zu entwirren, namentlich solche mit verbrecherischem Hintergrund. Man kann sogar sagen, er hatte eine richtige Leidenschaft für solche Akrobatik des Verstandes, und es war mehrmals vorgekommen, dass Polizeibehörden, sogar aus den angrenzenden Gouvernements, bei einer verwickelten Untersuchung respektvoll seinen Rat einholten. Auf diesen seinen Ruhm war der Bischof von Sawolshsk insgeheim sehr stolz, wenngleich nicht ohne Gewissensbisse – erstens weil dieser Stolz zweifellos zur Kategorie der eitlen Ruhmsucht zählte, und zweitens aus noch einem Grund, den nur er selbst kannte und noch eine Person, darum verschweigen wir ihn.
Die Bitte der Tante, zu ihr aufs Gut zu eilen, um die Umstände des Todes von Saguljai aufzuklären, hatte den Bischof am Abend, beim ersten Lesen des Briefes, belustigt. Auch jetzt, beim nochmaligen Lesen, dachte er: Mumpitz, die Grillen einer alten Frau. Sie wird ein paar Tage liegen bleiben und wieder aufstehen.
Er löschte die Kerze und legte sich hin, aber ihm war nicht wohl ums Herz. Er versuchte, für die Genesung der Tante zu beten, denn bekanntlich gelangt ein Gebet bei Nacht leichter zu Gott. Auch der heilige Slatoust (Slatoust – altrussische Sammlung von Texten moralisch-belehrenden Inhalts, hauptsächlich von Werken des Ioann Slatoust (347-407). D.Ü.) schreibt ja, dass Gott der Herr gnädiglich nächtliche Gebete erhört, »wenn du weinst, derweil die meisten Menschen schlummern«.
Aber sein Gebet kam nicht von Herzen, es war wie Papageiengeschwätz, und solche Gebete galten ihm nichts. Er auferlegte auch niemandem Gebete als Buße, das hielt er für Lästerung. Ein Gebet ist kein Gebet, wenn es nur aus dem Munde geht, ohne das Herz zu berühren.
Na schön, soll Pelagia hingehen, beschloss Mitrofani. Soll sie herausfinden, was da mit dem verwünschten Saguljai geschehen ist.
Sogleich wurde ihm leichter ums Herz, die Zikaden quälten ihn nicht mehr mit ihrem vielstimmigen Gesäge, sondern lullten ihn ein, und der Mond stach nicht mehr in die Augen, sondern wusch das Gesicht wie mit warmer Milch. Mitrofani schloss die Lider, die Stirn glättete sich. Er schlief ein.
Am Morgen wurden in der Hauskirche anlässlich des Festes der Verklärung Christi, das auch Apfelweihe genannt wird, die Früchte gesegnet. Dieses Kirchenfest, nicht das größte der zwölf, liebte Mitrofani für seine Frische und gottgefällige Leichtigkeit. Er selbst hielt keinen Gottesdienst ab, sondern stand hinten auf dem bischöflichen Podest, von wo er einen besseren Blick hatte auf die mit Äpfeln geschmückte Kirche, auf die zahlreichen Kirchenbesucher und auf die Priester und die Diakone in ihrem »Apfelornat« – hellblau mit Gold, bestickt mit Früchte-und Laubmotiven. Die Sänger des berühmten bischöflichen Chors gingen von zwei Seiten aufeinander zu und schmetterten ihren Gesang, und zwar so, dass der schwere Kristalllüster unter dem weißen Gewölbe mit seinen bunt schillernden Anhängern klingelnd erbebte. Vater Amfiteatrow begann die Äpfel zu weihen: »Herr unser Gott, du erlaubst denen, so an dich glauben, deine Schöpfungen zu nutzen, so segne denn die hier liegenden Früchte mit deinem Wort. . .«
Der Gottesdienst zum Apfelfest dauert nicht lange und stimmt freudig. Die Kirche duftet frisch und fruchtig, denn alle haben Körbe mitgebracht, um die Äpfel besprengen zu lassen. Neben Mitrofani stand auf einem Tischchen eine Silberschale mir großen roten Ananasäpfeln aus dem Garten des Bischofs – saftig, süß, aromatisch. Und es war eine besondere Auszeichnung und ein Zeichen der Gewogenheit, einen solchen Apfel von ihm geschenkt zu bekommen.
Mitrofani schickte einen Klosterdiener zum linkem Chor, wo sittsam in einer Reihe die Nonnen standen, denen auferlegt worden war, in der bischöflichen Mädchenschule zu unterrichten. Der Abgesandte flüsterte der Vorsteherin, der langen hageren Schwester Christina, ins Ohr, der Bischof wolle den Nonnen Äpfel schenken, worauf sie sich umdrehte und sich dankbar verneigte. Zu ihrer Rechten (von hinten nicht gleich zu erkennen) stand Schwester Emilia, die Arithmetik, Geographie und weitere Wissenschaften unterrichtete. Die nächste war die hüftlahme Schwester Olimpiada, zuständig für Religion. Dann folgten zwei gleich aussehende krummrückige Schwestern, Amwrossia und Apollinaria, die niemand auseinander halten konnte; die eine lehrte Grammatik und Geschichte, die andere Handarbeiten. Die letzte in der Reihe, schon an der Wand, war die kleine, zierliche Schwester Pelagia (Literatur und Gymnastik). Diese nun war mit niemandem verwechselbar: Ihr Schleier war ein wenig verrutscht, eine rötliche Haarsträhne schaute heraus, für eine Nonne schändlich und unzulässig, und schimmerte in einem Sonnenstrahl wie Bronze.
Mitrofani seufzte und fragte sich wieder einmal, ob er sich nicht geirrt hatte, als er Pelagia seinerzeit zur Nonnenweihe seinen Segen erteilt hatte. Er hatte gar nicht anders gekonnt, denn das Mädchen war hindurchgegangen durch großes Leid und schwere Prüfungen, denen nicht jede Seele standgehalten hätte, aber gar zu wenig nonnenhaft war ihr Benehmen: übermäßig lebhaft, quirlig, neugierig und nicht eben sittsam in ihren Bewegungen. Du alter Esel bist doch genauso, schalt sich der Bischof und seufzte wieder, noch betrübter.
Als die Nonnen sich aufstellten, um vom Bischof je einen Apfel zu empfangen, machte er feine Unterschiede: Der einen reichte er die Hand zum Kusse, der anderen strich er sacht über den Kopf, der dritten lächelte er einfach zu, doch mit der letzten, Pelagia, kam es zu einem Zwischenfall. Ungeschickt, wie sie war, trat sie dem Bischof auf den Fuß, prallte mit einer Entschuldigung zurück, warf dabei die Hand hoch und stieß mit dem Ellbogen gegen die Silberschale. Es polterte, die Schale klirrte gegen den Steinfußboden, die roten Äpfel kullerten erfreut nach allen Seiten, und die Bengels aus der geistlichen Schule, denen gar nichts zustand, weil sie Frechdachse und Wildfänge waren, schnappten sich die Ananasäpfel und ließen nichts übrig für die Würdigen, Verdienten, die hinter Pelagia warteten, dass sie an die Reihe kämen. So ging das immer mit ihr, sie war keine Nonne, sondern ein sommersprossiges Missverständnis.
Mitrofani mümmelte, verzichtete aber auf einen Verweis, denn es war im Gotteshaus und an einem Kirchenfest.
Er sagte nur, indes er sie segnete:
»Bedeck die Strähne, das gehört sich nicht. Und komm in die Bibliothek, ich will mit dir sprechen.«
»Ein Esel bildete sich ein, er wäre ein Traber – er blähte die Nüstern und schlug mit dem Huf die Erde.« (So begann der Bischof das Gespräch.) »›Ich überhole alle!‹, schrie er. ›Ich bin der Schnellste, der Feurigste!‹ Und er schrie es so überzeugend, dass alle ringsum ihm glaubten und sprachen: ›Unser Esel ist gar kein Esel, sondern ein Argamak, ein reinblütiger Traber. Wir müssen ihn zum Rennen schicken, damit er alle Preise gewinnt.‹ Fortan hatte der Esel kein Leben mehr, denn kaum gab es irgendwo ein Rennen, bekam er sogleich den Zügel um und musste laufen. ›Los, Langohr, lasse uns nicht im Stich!‹ So ein Leben hatte der Esel.«
Die Nonne, an die Gleichnisse des Bischofs längst gewohnt, hörte konzentriert zu. Sie war beim ersten Hinsehen einfach ein junges Mädchen mit einem reinen, hübschen ovalen Gesicht, das für sie einnahm und gar ein bisschen naiv wirkte, doch dieser Eindruck täuschte, er entstand durch ihre Stupsnase und die erstaunt gehobenen Augenbrauen, doch die runden braunen Augen hinter den ebenso runden Brillengläsern blickten prüfend, und es war ihnen anzusehen, dass die junge Frau einiges erlebt und erlitten und über das Durchlebte nachgesonnen hatte. Die jugendliche Frische kam von ihrer weißen Haut, wie Rothaarige sie haben, und von dem unausrottbaren rötlichen] Gesprenkel ihrer Sommersprossen. i
»Also, Pelagia, was will dieses Gleichnis besagen?«
Die Nonne überlegte. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Ihre kleinen weißen Hände griffen unwillkürlich nach dem Leinenbeutel, der an ihrem Gürtel hing. Der Bischof wusste, dass sie mit dem Strickzeug in der Hand leichter nachdenken konnte, und sagte:
»Du darfst gerne stricken.«
Die spitzen Stahlnadeln klapperten flink drauflos, und Mitrofani verzog das Gesicht, als er daran dachte, welch scheußliche Werke diese scheinbar geschickten Finger hervorbrachten. Zum Heiligen Osterfest hatte die Schwester ihm einen weißen Schal überreicht, auf dem die Buchstaben CE (Christ ist erstanden) so schief eingestickt waren, als hätten sie das Ende der Fasten schon tüchtig gefeiert.
»Für wen wird das?«, fragte er argwöhnisch.
»Für Schwester Emilia. Ein Gürtel. Darauf sticke ich ein Muster aus Schädeln und Knochen.«
»Ach so«, sagte er beruhigt. »Also, was bedeutet das Gleichnis?«
»Ich denke so.« Pelagia seufzte. »Es gilt mir armer Sünderin. Mit dieser Allegorie wollt Ihr sagen, Vater, dass aus mir solch eine Nonne wird wie aus dem Esel ein Rennpferd. Und dieses unbarmherzige Urteil sprecht Ihr über mich, weil ich in der Kirche die Äpfel runtergeworfen habe.«
»Hast du sie mit Absicht runtergeworfen? Um in der Kirche Unruhe zu stiften? Gestehe.« Mitrofani sah ihr in die Augen, schämte sich aber, als er darin den sanften Vorwurf las. »Schon gut, ich mein’s nicht so. Aber mein Gleichnis gilt nicht dir, du hast es nicht erkannt. Wie sind wir Menschen bloß eingerichtet, dass wir jedes Ereignis und jedes gesagte Wort erst mal auf uns selbst beziehen? Das ist Hoffart, meine Tochter. So bedeutsam bist du nicht, dass ich auf dich ein Gleichnis ersinne.«
Mit plötzlichem Verdruss stand er auf, verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging auf und ab in der Bibliothek, die es verdient, ihr einige Aufmerksamkeit zu schenken.
Die bischöfliche Bibliothek befand sich in idealer Ordnung, sie wurde geleitet von dem überaus fleißigen Sekretär Usserdow. In der Mitte der längsten Wand, die keine Fenster und Türen hatte, stand ein Schrank mit Arbeiten zur Theologie und Patristik, darin wurden Schriften in Kirchenslawisch, Latein, Griechisch und Althebräisch aufbewahrt. Links davon waren die Schränke der Hagiographie mit den Viten der Heiligen, und zwar sowohl der orthodoxen als auch der römisch-katholischen; rechts Arbeiten zur Kirchengeschichte, Liturgik und Kanonik. Einen besonderen Platz nahm ein geräumiger Schrank mit] Traktaten zur Asketik ein, eine Reminiszenz an die frühere Neigung des Bischofs. Dieser Schrank enthielt auch höchst kostbare Raritäten wie die Erstausgaben der »Seelenburg« der »Theresia von Avila« und der »Zierde der geistlichen Hochzeit« des Jan van Ruysbroeck des Verzückten. Auf einem langen Tisch quer durch den ganzen Raum stapelten sich gebundene Jahrgänge von russischen und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften, und den Ehrenplatz nahmen die »Sawolshsker Episkopatsnachrichten« ein, eine Gouvernementszeitung, die der Bischof persönlich redigierte.
Die nichtreligiöse Literatur der verschiedensten Richtungen, von Mathematik und Numismatik bis zu Botanik und Mechanik, stand in festen Eichenregalen, welche diel drei übrigen Wände des Bibliotheksraums füllten. Das Einzige, was zu lesen der Bischof vermied, weil er es für nutzlos hielt, war die Belletristik. Der himmlische Schöpfer habe hienieden hinlänglich Wunder, Rätsel und einzigartige Geschichten ersonnen, pflegte der Bischof zu sagen, und so stehe es einem Sterblichen nicht an, sich eigene Welten und Spielzeugmenschen auszudenken, denn gegen Gottes Erfindungen sei ohnehin alles ärmlich und langweilig. Schwester Pelagia freilich widersprach dem Bischof und berief sich darauf, dass Gott der Herr dem Menschen den Wunsch nach Schöpfertum in die Seele gesenkt habe, und ER wisse am besten, ob das Schreiben von Romanen sinnvoll und nützlich sei. Allein, dieser theologische Disput hatte schon lange vor Mitrofani und seiner geistlichen Tochter begonnen, würde auch nicht bei ihnen enden.
Der Bischof blieb vor Pelagia stehen, die demütig darauf wartete, dass die nicht ganz begreifliche Gereiztheit ihres geistlichen Lehrers schwände, und fragte plötzlich:
»Warum glänzt deine Nase? Hast du wieder deine Sommersprossen mit Löwenzahnauszug bekämpft? Ziemt es wohl einer Braut Christi, sich mit solchen Eitelkeiten abzugeben? Du bist doch eine kluge Frau. Der heilige Diadochos lehrt: ›Eine die ihr Fleisch schmückt ist schuldig der Körperliebe, welche ist ein Zeichen der Ungläubigkeit. ‹«
Aus dem scherzhaften Ton des Bischofs schloss Pelagia, dass das Wölkchen verflogen sei, und antwortete beherzt: »Euer Diadochos, Bischöfliche Gnaden, ist ein bekannter Dunkelmann. Er will sogar verbieten, sich zu waschen. Wie heißt es doch in einer seiner Schriften? ›Dem Bade bleibe man fern um der Enthaltsamkeit willen, denn unser Körper erschlafft wohlig in der Feuchte.‹«
Mitrofani zog die Brauen zusammen.
»Ich auferlege dir hundert Verneigungen bis zum Erdboden, damit du nicht wieder unehrerbietig über den alten Märtyrer sprichst. Und mit dem Schmücken des Fleisches hat er Recht.«
Pelagia, verlegen geworden, begann sich wortreich zu rechtfertigen: Sie bekämpfe die Sommersprossen, Gott behüte, nicht wegen der körperlichen Schönheit, sondern einzig aus Anstandsgründen – eine Nonne mit Sommersprossen auf der Nase, wie sehe denn das aus?
»Na, na.« Der Bischof schüttelte ungläubig den Kopf und zauderte noch immer, auf die Hauptsache zu kommen.
Der Übergang von Keckheit zu Demut und umgekehrt vollzog sich bei Schwester Pelagia stets blitzartig. So auch jetzt – mit funkelnden Augen fragte sie nun schon ganz kühn:
»Euer Bischöfliche Gnaden, Ihr habt mich doch wohl nicht wegen der Sommersprossen herbestellt?«
Und wieder konnte sich Mitrofani nicht entschließen, zur Sache zu kommen. Er räusperte sich, ging wieder auf und ab. Fragte nach den Mädchen in der Schule. Ob sie fleißig seien, ob sie gerne lernten, ob die Schwestern ihnen auch nichts Überflüssiges beibrächten, was ihnen im Leben nicht helfe, sondern nur hinderlich sei.
»Man hat mir erzählt, dass du sie das Schwimmen lehren willst. Wozu? Du sollst am Fluss ein Badehäuschen haben und mit ihnen im Wasser herumplätschern? Ist das wohl gut?«
»Das Schwimmen ist für sie notwendig, weil es erstens die Gesundheit kräftigt und die Glieder biegsam hält und weil es zweitens zum Ebenmaß beiträgt«, erwiderte die Schwester. »Sie kommen ja aus armen Familien und werden keine Mitgift erhalten. Wenn sie groß sind, müssen sie einen Bräutigam finden . . . Aber, Vater, Ihr habt mich doch auch nicht wegen der Schule herbestellt. Wir haben doch schon vor drei Tagen über die Schule und das Schwimmen gesprochen.«
Pelagia gehörte nicht zu denen, die sich lange an der Nase herumführen lassen, darum kam Mitrofani nun endlich auf das zu sprechen, was er sich letzte Nacht vor dem Ein schlafen ausgedacht hatte.
»Der Esel, von dem ich dir gesprochen habe, bin ich selbst. Deinen dringenden Bitten nachgebend, aber mehr noch meiner eigenen Eitelkeit, die sich für einen Seelenhirten überhaupt nicht schickt, halte ich vor aller Welt geheim, dass die wahre Größe im Enträtseln und Durchschauen von Verborgenem nicht ich alter Dummkopf bin, sondern du, die stille Nonne Pelagia. Von mir, wie von jenem ruhmsüchtigen Esel, erwarten alle Wunder und neue Einsichten. Jetzt würde mir niemand mehr glauben, wenn ich erklärte, dass alles durch deinen Scharfblick aufgeklärt wurde und ich es dir als Kirchenbuße auferlegt habe.«
Die Stricknadeln hörten auf zu klappern, in den runden braunen Augen blinkten Lichter.
»Was ist geschehen, Vater? Gewiss nicht in unserem Gouvernement, sonst wüsste ich davon. Ist wieder, wie letztes Jahr in der Fastnachtswoche, Kirchengeld geraubt worden?«, fragte die Schwester mit ungeduldiger Neugier. »Oder ist, Gott behüte, eine geistliche Person gemeuchelt worden? Was für eine Kirchenbuße wird Euer Bischöfliche Gnaden mir diesmal auferlegen?«
»Nein, ein Mensch wurde nicht ermordet.« Mitrofani wandte sich verlegen ab. »Hier geht es um etwas anderes. Nicht um ein Verbrechen. Jedenfalls ist das nichts für die Polizei. . . Ich erzähle es dir, höre mir erst mal zu. Hinterher kannst du sagen, was du dazu meinst. Stricke nur. Stricke und höre zu.«
Er trat ans Fenster, und während er sprach, blickte er in den Garten und trommelte ab und zu mit den Fingern gegen den Rahmen.
»Nicht weit von hier, acht Werst wohl, liegt das Gut meiner Tante Marja Afanassjewna Tatistschewa. Sie ist schon sehr alt, doch früher einmal galt sie als eine der schönsten Frauen von Petersburg. Ich erinnere mich, als ich ein Junge war, kam sie uns öfters besuchen. Sie war jung und lustig, spielte Dame mit mir . . . Sie heiratete einen Offizier, einen Regimentskommandeur, zog mit ihm in verschiedene entlegene Garnisonen, dann nahm er seinen Abschied, und sie ließen sich hier in Drosdowka nieder. Ihr Mann Apollon Nikolajewitsch, der inzwischen verstorben ist, war ein leidenschaftlicher Hundenarr. Er unterhielt den besten Hundezwinger im Gouvernement, hatte Barsois, Jagdhunde, Vorstehhunde. Einmal kaufte er einen Welpen für tausend Rubel, so verrückt war er. Aber all das dünkte ihn noch zu wenig, er träumte davon, eine ganz besondere, nie da gewesene Rasse zu züchten. Mit diesem Vorhaben gab er sich den Rest seines Lebens ab. Er nannte die Rasse ›weiße russische Bulldoggen Sie hat ein Fell, weiß wie Milch, ein besonders platt gedrücktes Profil (die Hundezüchter haben dafür einen bestimmten Namen, ich habe ihn vergessen) und lange Haare um die Hängelefzen. Die hauptsächliche Besonderheit aber, die den ganzen Reiz ausmacht, ist das braune rechte Ohr bei durchweg weißem Fell. Ich weiß nicht mehr, worin der Sinn besteht. . . Ich glaube, als Apollon Nikolajewitsch bei der Gardekavallerie diente, hatten sie in der Schwadron die Mode, den Helm etwas schief aufzusetzen. Daran soll das Ohr wohl erinnern. Ach ja, noch etwas: Die Hunde sollen reichlichen Speichelfluss haben, zu welchem praktischen Zweck, weiß ich nicht. Kurzum, grauenhaft hässliche Scheusale. Apollon Nikolajewitsch verfuhr folgendermaßen. Er ließ alle Herrenhäuser in ganz Russland, wo Bulldoggen gehalten wurden, wissen, dass sie Albinowelpen nicht wie üblich ersäufen, sondern an Generalmajor Tatistschew senden sollten, der die ausgemusterten Tiere für gutes Geld kaufen wolle. Weiße Welpen, noch dazu mit braunem rechtem Ohr, werden bei Bulldoggen sehr selten geboren. Ich weiß es nicht mehr, obwohl ich es viele Male vom Onkel und von der Tante hörte. Vielleicht einmal bei jedem hundertsten Wurf. Mein Onkel sammelte also diese Missgeburten, zog sie auf und kreuzte sie untereinander. Dabei kamen ganz gewöhnliche rötliche Welpen heraus, aber vereinzelt auch weiße mit braunem Ohr. Die suchte er wieder heraus und kreuzte sie, achtete auch darauf, dass sie Hängelefzen und starken Speichelfluss hatten. Die besondere Schwierigkeit war natürlich das verflixte Ohr. Er musste sehr viele aussondern. Und so ging es von Generation zu Generation. Als der Onkel verstarb, war er seinem Traum schon näher gekommen, befand sich aber noch immer auf halbem Wege. Auf dem Sterbebett trug er seiner Frau als Vermächtnis auf, das Begonnene zu Ende zu führen. Und Marja Afanassjewna war eine wahrhaft goldwerte Ehefrau. Aus der einstigen mondänen Verführerin war eine Kommandeursgattin und Mutter und dann auch eine Gutsbesitzerin geworden. Und das alles war sie von Herzen gern, brauchte sich nicht zu verstellen. Dieses Frauentalent hatte Gott ihr geschenkt. Hätte ihr Mann ihr nicht vor seinem Tod diesen Auftrag gegeben, so wäre sie wohl nicht mit ihrem Kummer fertig geworden. So aber kam sie darüber hinweg, ihre Witwenschaft währt nun schon zwanzig Jahre, sie ist stark und tätig und von munterem Wesen. Alle ihre Gespräche, alle ihre Vorhaben drehen sich nur um das Hundethema. Ich habe ihr schon vorgeworfen, ihre Hundeliebe sei übertrieben, aber sie hört nicht auf mich. Einmal habe ich sie im Scherz geneckt:
›Tantchen, und wenn nun Luzifer käme und um Ihre christliche Seele bäte, im Tausch gegen einen gänzlich weißen Welpen, würden Sie darauf eingehen?‹ – ›Gott bewahre, Mischa‹, hat sie gesagt, ›was redest du da?‹ Doch dann verstummte sie und dachte nach. Pelagia, ich sage dir, das ist kein Spaß mehr! Wie dem auch sei, sie hat das Werk ihres verstorbenen Mannes fortgeführt, hat sich der Züchtung der weißen russischen Bulldogge verschrieben und auch Erfolge erzielt. Besonders was die Hängelefzen, den Speichelfluss und die Plattmäuligkeit betrifft. Mit dem Ohr ist es schwieriger. An idealen Exemplaren hat sie es bis jetzt auf drei Rüden gebracht: den Großvater Saguljai, der ist schon alt, fast neun Jahre, ferner seinen Sohn Sakidai, vier Jahre, und schließlich Saguljais Enkel Sakussai, der zu ihrer Freude vor zwei oder drei Monaten geboren wurde. Der ist in jeder Beziehung makellos, darum hat die Tante alle übrigen, unvollkommenen Hunde ersäufen lassen, damit sie die Rasse nicht verderben, und zur Aufzucht nur die drei behalten. Oh, ich vergaß noch zwei wesentliche Merkmale: Sie müssen krummbeinig sein und schwarz gesprenkelte rosa Nasen haben. Sehr wichtig . . .«
Hier fühlte sich der Bischof in einer ganz dummen Lage, er stockte und warf einen Seitenblick auf die Nonne. Die bewegte die Lippen, zählte die Maschen, ließ kein Befremden erkennen.
»Hier hast du, kannst selber lesen. Der Brief ist gestern gekommen. Wenn du sagst, die alte Frau ist nicht mehr ganz richtig im Kopf, schreibe ich ihr was Beruhigendes, und die Sache hat sich.«
Mitrofani holte den Brief aus dem Ärmel des Untergewands und gab ihn Pelagia.
Die Schwester drückte mit der Fingerspitze den Brillensteg gegen die Nasenwurzel und begann zu lesen. Als sie fertig war, fragte sie beunruhigt:
»Wer hat ein Interesse daran, die Hunde zu vergiften? Und warum?«
Diese ernsthafte Frage ließ den Bischof erleichtert aufatmen, und seine Verlegenheit schwand.
»Ja, warum, das ist es eben. Urteile selbst. Marja Afanassjewna ist eine reiche alte Frau, und an Erben ist kein Mangel. Ihre Kinder sind verstorben, doch da sind Enkel und Enkelin, die jungen Fürsten Telianow. Außerdem gibt es eine weitläufige Verwandtschaft, alle möglichen Kostgänger, allerlei Freunde. Sie ist eine gutmütige Frau, aber zänkisch. Und sie hat eine starrsinnige Gepflogenheit: Nachgerade jede Woche bestellt sie den Advokaten aus der Stadt und setzt ein neues Testament auf. Hat sie sich über jemanden geärgert, so streicht sie ihn, und war ihr jemand gefällig, so erhöht sie seinen Anteil. Und hier setzt meine Überlegung an. Du müsstest herausfinden, Pelagia, wen sie das letzte Mal testamentarisch begünstigt oder, im Gegenteil, wem sie Enterbung angedroht hat. Einen anderen Sinn kann ich hinter dieser irren Hundevergifterei nicht erkennen, als dass jemand auf diese Weise die Frau ins Grab bringen will. Du hast gelesen, dass sie wegen des Hundes krank geworden ist. Wären beide krepiert, so würde es Marja Afanassjewna nicht überlebt haben. Wie findest du meine Theorie?«, fragte der Bischof besorgt seine scharfsinnige Schülerin. »Ist sie vielleicht zu unwahrscheinlich?«
»Die Befürchtung ist vernünftig und durchaus wahrscheinlich, andere Gründe sind kaum denkbar«, entgegnete die Nonne, fügte jedoch hinzu: »Aber man müsste sich schon an Ort und Stelle umsehen. Vielleicht findet sich ja noch ein anderer Grund. Hat Eure Tante denn ein großes Vermögen?«
»Ja. Das Gut ist ansehnlich und in mustergültiger Ordnung. Wälder, Wiesen, Mühlen, Flachs, Hafer, alles erstklassig. Dazu noch Kapital, Wertpapiere auf der Bank. Es würde mich nicht wundern, wenn alles zusammen auf eine Million hinausläuft.«
»Und kennt Ihr denn die Erben, Vater? Es bedarf schon großer Niedertracht, um so etwas zu tun. Direkter Mord wäre kaum eine schwerere Sünde.«
»Du urteilst von der göttlichen Position her, und du tust recht daran. Aber die menschlichen Gesetze sind von den göttlichen weit entfernt. Bei direktem Mord ermittelt die Polizei, wer es war und warum er es getan hat. Dafür setzt es Zwangsarbeit. Hunde vergiften aber, das ist im menschlichen Sinne eine lässliche Sünde und im juristischen Sinne gar keine, obwohl die alte Frau mit dieser Methode noch sicherer umzubringen ist als mit Messer oder Kugel.«
Pelagia warf die Hände hoch, so dass ihr Strickzeug zu Boden flog.
»Eine große Sünde ist es im menschlichen Sinne, eine sehr große! Selbst wenn Eure Marja Afanassjewna eine Ausgeburt der Hölle wäre und ein von ihr Gekränkter Rache nehmen wollte! Was können die unschuldigen Kreaturen dafür? Der Hund ist ein zutrauliches, anhängliches Wesen, und Gott der Herr hat ihn mit Treue und der Gabe der Liebe so reichlich ausgestattet, dass die Menschen davon lernen könnten. Ich finde, Vater, einen Hund zu töten ist noch schlimmer als einen Menschen.«
»Na, das lass mal, das ist ja gottlos!«, herrschte Mitrofani sie an. »So etwas will ich nie wieder hören! Eine lebendige Seele mit einem sprachlosen Tier zu vergleichen!«
»Mögen sie auch sprachlos sein!« Die eigensinnige Nonne gab nicht klein bei. »Habt Ihr mal einem Hund in die Augen gesehen? Wenigstens Shuk, Eurem Kettenhund am Tor? Tut es mal. Shuks Augen sind beseelter und lebendiger als die trüben Lichter von Eurem hochgeschätzten Usserdow!«
Der Bischof öffnete schon den Mund, um seinem gerechten Zorn freien Lauf zu lassen, aber er hielt sich zurück. In letzter Zeit führte er einen Kampf mit der Sünde des Herzenszorns, und manchmal gewann er.
»Ich habe nicht die Zeit, Hofhunden in die Augen zu gucken«, sagte er mürrisch, doch würdevoll. »Und Usserdow lass aus dem Spiel, er ist genau und zuverlässig, und dass man zu seiner Seele schwer Zugang findet, liegt an seinem Charakter. Ich will mit dir nicht streiten, schon gar nicht über Offenkundiges. Sage mir das eine: Erfüllst du mir meine Bitte?«
Die Nonne verneigte sich. »Ja, Vater.«
»Dann erlege ich dir diese Kirchenbuße auf: Gehe nach Drosdowka. Heute noch. Überbringe Marja Afanassjewna meinen Segen und den Brief, den ich dir geben werde. Beruhige die alte Frau. Und vor allem – finde heraus, was dort vorgeht. Wenn du einen bösen Plan erkennst, durchkreuze ihn. Wie, das wirst du selber wissen. Und bleibe dort, bis du Klarheit hast.«
Pelagia fuhr zusammen. »Vater, ich muss am Sonnabend unterrichten.«
»Zum Unterricht kommst du her, danach zurück nach Drosdowka. Genug, gehe jetzt. Aber lasse dich erst noch segnen.«
Bevor Schwester Pelagia sich auf das Gut der Generalswitwe Tatistschewa begibt, sind ein paar geographische Erläuterungen vonnöten, ohne die ein Mensch, der noch nie in Sawolshsk war, Mühe hätte, all das, was weiterhin geschieht, zu glauben oder auch nur zu begreifen.
Die wichtigste handelnde Person in dieser Geschichte ist der Fluss, der größte und ruhmreichste Fluss nicht nur in Russland, sondern auch in ganz Europa. Die Gouvernementhauptstadt ist am linken Ufer, dem Steilufer, errichtet worden. Hier wird die Strömung des Wassers auf beiden Seiten von Felsen eingeengt, dadurch verliert der für seine Erhabenheit berühmte Strom zeitweise seine Gutmütigkeit, wechselt von zerstreuter Gemächlichkeit zu raschen Lauf, bringt Gischtwellen und dunkle Strudel hervor und berennt und unterhöhlt wie seit Jahrhunderten das Sawolshker Steilufer mit tückischen Angriffen. Etwa fünf Werst stromab wird der linke Uferhang nach und nach flacher und sandiger, der Fluss wird freier und fließt, nach dem erzwungenen Sturmlauf verpustend, fast eine Werst breit dahin. Allein, die Atempause ist nur kurz – genau da, wo Drosdowka liegt, bäumt sich das trotzige Ufer wieder jäh auf; das Gutshaus mit dem Garten liegt hoch über dem Wasser, und der Blick, der sich von dort auftut, gilt zu Recht als der schönste im ganzen Kreis.
Der Weg, den Schwester Pelagia zu gehen hatte, lag also in südlicher Richtung, durch das Kasaner Tor auf die Astrachaner Landstraße, die sich am Fluss entlang zieht, allen seinen launischen Krümmungen folgt und sich nie weiter als fünf Werst von ihm entfernt.
Bevor Pelagia ihr Kämmerchen im bischöflichen Kloster, Zelle genannt, verließ, schlug sie nach alter abergläubischer Gewohnheit das Evangelium auf und stieß mit dem Finger auf die erstbeste Zeile. Ihr Auftrag war diesmal nicht erschreckend, man konnte sogar sagen, er war nichtig, doch die Nonne hatte nun mal diese Gewohnheit] Aber die Zeile war sichtlich kein Zufall, denn sie enthielt eine Einflüsterung oder Warnung: »Hütet euch vor den Hunden und hütet euch vor den bösen Menschen.«
Es war wohl doch eine Warnung, denn als sie die Stadt verließ und schon den Schlagbaum hinter sich hatte, gab es ein böses Vorzeichen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, holte sie aus der Gürteltasche, in der sie ihr Strickzeug verwahrte, ein Spiegelchen hervor und betrachtete darin ihre Nase, ob die Löwenzahnmilch die frechen Sommersprossen schon gebleicht hätte. Da raschelte es in den Büschen am Straßenrand, und heraus kamen zwei Weiber. Schwester Pelagia wollte die Hand hinterm Rücken verstecken, machte es aber so ungeschickt, dass ihr das Spiegelchen herunterfiel. Sie hob es auf – o weh, das Glas hatte zwei Sprünge über Kreuz, und jeder weiß, was für ein Zeichen das ist. Es verheißt nichts Gutes.
Pelagia nahm böse Vorzeichen trotz der Klostervorschriften sehr ernst, nicht aus Unwissenheit, nein, sie hatte sich viele Male überzeugen können, dass die Leute nicht von ungefähr seit Jahrhunderten an ihnen festhielten. Wie es in solchen Fällen üblich war, nahm sie eine Hand voll Erde auf, warf sie über die linke Schulter, schlug das Kreuzeszeichen (was sie nie ohne Grund tat), sprach ein Gebet an die Heilige Dreifaltigkeit und wanderte weiter.
An Beängstigendes mochte sie nicht denken, vor ihr lag ein wenn auch kleines, so doch interessantes Abenteuer, und ihre Stimmung, vorübergehend getrübt durch den Verlust des Spiegels, besserte sich rasch, zumal in dieser zauberhaften Sommerzeit, in der die Sonne der Luft einen goldenen Honigschimmer verleiht, der Himmel hoch und die Erde weit und alles ringsum prallvoll ist von reichem Leben und sanfter Mattigkeit. Aber wozu soll man das beschreiben, auch so weiß ja jeder, wie ein sonniger Augusttag aussieht, wenn es kurz nach Mittag ist.
Schon zu Beginn hatte Pelagia Glück – ein altes Bäuerlein nahm sie auf seinem Fuhrwerk mit. Die Wege in unserm Gouvernement sind neu und eben, man fährt, als glitte man über Eis, und Pelagia gelangte auf dem weichen Heu bequem bis zur Abzweigung nach Drosdowka.
An der Gabelung gab es noch ein Vorzeichen, eines, das sich schlimmer nicht denken lässt. Nachdem Pelagia abgestiegen war und das Bäuerlein gesegnet hatte, sah sie etwas abseits etliche Leute, die schweigend ein Fuhrwerk um standen. Aus angeborener Neugier konnte die Schwester daran nicht Vorbeigehen, also trat sie näher, um zu sehen was sich da zugetragen hatte. Sie drängte sich durch die Bauern und Pilger und spähte mit schmalen Augen durch die Brille: ein gewöhnlicher Vorfall auf einer Landstraße – eine Achse war gebrochen. Aber bei dem schief liegenden Fuhrwerk stand aus irgendwelchen Gründen der Kreispolizeichef, und zwei Polizisten versuchten ächzend, das Rad auf ein frisch gefälltes und notdürftig geglättetes Eichenstämmchen zu schieben. Den Polizeichef kannte Pelagia, es war Hauptmann Neruschailo aus dem benachbarten Kreis Tschernojar. In dem Fuhrwerk lag etwas Längliches, mit einer Persenning zugedeckt.
»Was ist das, Pachom Sergejewitsch, ein Ertrunkener?« fragte Pelagia, nachdem sie gegrüßt und die Persenning für alle Fälle bekreuzigt hatte.
»Nein, Mütterchen, schlimmer«, antwortete der Polizeichef mit undurchsichtiger Miene und wischte sich mit einem Tuch die himbeerrote Glatze. »Der Fluss hat zwei Tote an Land gespült. Ohne Kopf. Einen Mann und einen Knaben. Da auf dem Sand haben sie nebeneinander gelegen. So ist das. Es wird eine Untersuchung geben. Ich bringe die beiden jetzt ins Gouvernement zur Identifizierung. Bloß wie das gehen soll, weiß der Teufel. Bitte um Vergebung, es ist mir so rausgerutscht.«
Pelagia schüttelte den »Teufel« von der Schulter, damit er dort nicht kleben blieb, und bekreuzigte nunmehr sich selbst.
»Die sind nicht von hier«, sagte einer aus der Menge »Bei uns hat’s solche Untat noch nie gegeben.« |
»Ja«, bestätigte ein anderer. »Es muss sie wohl von Nischni Nowgorod her angeschwemmt haben, dort pas
siert alles Mögliche.«
Diese Meinung fand allgemeinen Beifall, denn die Sawolshsker mochten die Nishni Nowgoroder nicht, sie hielten sie für ein diebisches und nichtsnutziges Völkchen.
»Euer Wohlgeboren, lasse uns mal sie anschauen, vielleicht erkennen wir sie ja«, bat ein solid aussehender bärtiger Mann, der einen guten Rock trug, würdevoll, und man sah ihm an, dass er nicht aus müßiger Neugier fragte, nur um Leichen zu begaffen.
Seine Bitte wurde von mehreren unterstützt, und die Weiber ächzten zwar, doch wohl mehr aus Anstand.
Der Polizeichef setzte die Schirmmütze auf, überlegte und nickte Gewährung.
»Warum nicht, ich zeige sie euch. Womöglich wisst ihr wirklich was . . .«
Er zog die Persenning weg, und Pelagia wandte sich sofort ab, denn die Leichname waren splitternackt, und es schickte sich nicht für eine Nonne, so etwas anzuschauen. Sie hatte aber gerade noch gesehen, dass der linke Arm des Großen, Behaarten da, wo die Hand sein sollte, in einem Stumpf endete.
»O Gott, das Jungchen ist noch ganz klein«, wehklagte eines der Weiber. »So wie mein Afonka.«
Pelagia sah nicht mehr hin, denn Kirchenbuße ist Kirchenbuße, und schlug den Feldweg nach Drosdowka ein.
Es war schwül geworden, und von der Erde stieg ein Wabern auf wie an heißen Tagen, bevor es regnet. Pelagia beschleunigte den Schritt und blickte immer wieder zum Himmel auf, wo eine runde pralle Wolke dahinrollte und rasch anschwoll. Vorn kam die Parkmauer in Sicht, und über den Bäumen schimmerte grün das Dach eines großen Hauses, aber es war noch ein Stück bis dorthin.
Macht nichts, ich weiche schon nicht durch, sagte sich die Nonne, aber ihre gute Stimmung war verflogen. Ein unwürdiges Gefühl bemächtigte sich ihrer – Neid. Das ist ein richtiger Fall, dachte sie, wie gewichtig hat doch Pachom Sergejewitsch das saftige Wort »Untersuchung« ausgesprochen.
Der eine darf ein furchtbares Geheimnis aufklären, und der andere soll herausfinden, woran die Bulldogge der Tante verreckt ist. Eine schöne Kirchenbuße hatte ihr der Bischof auferlegt!
Während Schwester Pelagia unter dem rasch dunkelnden Himmel auf das Eisentor des Parks von Drosdowka zugeht, machen wir eine Abschweifung, um etliche Geheimnisse unserer Gouvernementpolitik zu erläutern und Personen vorzustellen, die in dieser dunklen und verworrenen Geschichte eine Schlüsselrolle zu spielen haben.
Wie schon gesagt, das Gouvernement Sawolshsk dehnt sich weit aus, liegt aber abseits der Zentralgewalt und wird seit alters mit sehr wenig Aufmerksamkeit seitens der höheren Sphären bedacht. Es gab in Sawolshsk nichts Wünschenswertes für diese Sphären, nur Wälder, Flüsse, Seen und insbesondere viele Sümpfe, so dass in den Jahren der Wirren (Dynastische Krise in Russland Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts, verbunden mit inneren Unruhen und außenpolitischen Bedrohungen. D.U) in den Morasten ein ganzer polnischer Wagentross versank, den der Thronräuber Dmitri ausgesandt hatte, um den Goldenen Berg zu suchen.
Einöde, Abgeschiedenheit, Bärenwinkel. Die hiesigen Bewohner ähnelten auch zum Teil Bären, plump und zottig, wie sie waren. Die gewandten Nishni Nowgoroder und die flinken Kostromaer haben sich einen dummen Spruch ausgedacht: Die Sawolshsker haben Blei in den Knochen. Nun, die Sawolshsker mögen in der Tat Hast und Hektik nicht, denken nicht eben flink und werden das Perpetuum mobile kaum erfinden. Obwohl, wer weiß. Vor etlichen Jahren hat im Kirchdorf Rytschalowka, hundertzwanzig Werst von Sawolshsk, ein Küster sich ein Hebezeug ausgedacht, um leichter auf den Glockenturm zu kommen. Er mochte nicht mehr tagaus, tagein achtzig steile Stufen rauf – und runtersteigen. Darum hängte er einen Stuhl mit Lehne an ein verlängertes Pferdegeschirr, verband es mit Hebeln und Antriebsrädern, und was meint ihr – er war in zwei Minuten oben. Der Bischof persönlich reiste an, um das Wunder zu bestaunen. Kopfschüttelnd fuhr er ein – oder zweimal mit dem Wunderstuhl auf und ab, dann befahl er, die Konstruktion wieder abzubauen, denn die Glocke müsse in Demut geläutet werden, unter ehrfürchtigem Keuchen, auch führe so et was die Kinder in Versuchung. Den Küster aber schickte Mitrofani nach Moskau, damit er dort Mechanik studiere, und setzte an dessen Stelle einen Mann mit schlichterem Gemüt. Doch dieses Aufblitzen eines urwüchsigen Genies ist eher die Ausnahme. Wir gestehen offen, dass die Sawolshsker insgesamt schwer von Begriff sind und gegen alles Neue Argwohn hegen.
Auch der derzeitige Gouverneur, Anton Antonowitsch von Gaggenau, wurde bei uns anfangs mit Misstrauen aufgenommen, da er, durchdrungen vom Geist segensreicher Reformen, das ihm anvertraute Gebiet von den Füßen auf den Kopf stellen wollte, jedoch versicherte, er werde es vom Kopf auf die Füße stellen. Doch Gott der Herr bewahrte die Sawolshsker vor übermäßigen Erschütterungen. Der junge Reformer geriet unter den Einfluss Mitrofanis, bezwang seine Hoffart und mäßigte sich, insbesondere nachdem er mit bischöflichem Segen die begeh-renswerteste der hiesigen Bräute geehelicht hatte. Dazu hatte er freilich vom lutheranischen zum orthodoxen Glauben übertreten müssen, und sein geistlicher Vater war niemand anders als der Bischof. Baron von Gaggenau hat sich bei uns so gut eingelebt, dass er, als er für seine beispielhafte Verwaltung des Gouvernements in ein hauptstädtisches Ministerium berufen wurde, dies ablehnte, weil es ihm hier besser gefiel. Er war ein Deutscher, aber ganz aus der Art geschlagen. Früher pflegte er abends aus einem Porzellantässchen Glühwein zu trinken und für sich selbst das Violoncello zu spielen, doch mittlerweile hat er am Moosbeerenschnaps Geschmack gefunden, badet am Dreikönigsfest in einem Eisloch und bleibt hinterher mindestens drei Stunden lang im Schwitzbad.
Und wie es sich für einen richtigen russischen Mann gehört, steht der Gouverneur unterm Pantoffel seiner Frau.
Aber bei einer Person wie Ljudmila Platonowna unterm Pantoffel zu stehen ist angenehm und erfreulich, eine solche Sklaverei erträumen viele. Sie ist eine geborene Tscheremissowa, entstammt also der allerersten Kaufmannsfamilie von Sawolshsk, der schon von Peter dem Großen die Grafenwürde verliehen wurde. Als junges Mädchen war Ljudmila schlank und rank gewesen, doch nachdem sie vier kleine Barone zur Welt gebracht hatte, änderte sich ihre Gestalt und gewann eine dem Blick wohltuende Üppigkeit, die ihre Schönheit noch deutlicher zur Geltung brachte. Mit ihren hellen Augen, rosigen Wangen und vollen Armen wurde die Baronin jenseits der dreißig zum Ideal russischer Frauenschönheit, zu der sich hagere und kahlköpfige Deutsche (Anton von Gaggenau war solch einer) von alters her seelisch und körperlich hingezogen fühlen. Ljudmila erkannte ihre Macht über ihren Gatten sehr bald und machte nach Gutdünken davon Gebrauch, aber dem Gouvernement hat das bislang in keiner Weise geschadet, weil die herzensgute und feinfühlige Frau alle ihre Kräfte für wohltätige und gottgefällige Werke einsetzte, so dass selbst der Bischof ihren Einfluss auf den Gatten als nützlich empfand. Im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen freilich sah sich Mitrofani genötigt, sein Urteil über die weibliche Vorherrschaft zu revidieren, aber davon später.
Der wohl einzige Mensch (natürlich mit Ausnahme des Bischofs, dessen Autorität Ljudmila nie in Frage stellte), dessen Einfluss sie trotz aller Bemühungen nicht eindämmen konnte, war der bevollmächtigte Berater des Barons, Matwej Benzionowitsch Berditschewski, der das Amt des stellvertretenden Staatsanwalts beim Gerichtshof bekleidete. Die Geschichte dieses Beamten ist ungewöhnlich und verdient es, etwas ausführlicher erzählt zu werden.
Der einstige Jude Matwej Berditschewski war, wie der Gouverneur, ein Taufsohn Mitrofanis. Bis zu seinem Übertritt zur rechtgläubigen Kirche hatte er den missklingenden Vornamen Mordechai getragen, welchen noch immer schadenfroh seine Feinde benutzen, natürlich nur hinter seinem Rücken, denn seine Nähe zur Macht ist allen wohl bewusst. Der spätere Liebling des Gouverneurs entstammte einer heruntergekommenen Familie, war aber schon als Kind verwaist und, wie seit einiger Zeit bei uns üblich, auf Staatskosten zunächst in die Vierklassenschule und dann wegen seiner außerordentlichen Fähigkeiten ins Gymnasium aufgenommen worden. Mitrofani war schon früh auf den begabten Jungen aufmerksam geworden und schickte ihn nach Abschluss des Gymnasiums auf die Universität Sankt Petersburg. Berditschewski behauptete sich auch in der Metropole, er schloss das Studium in kürzester Zeit mit einem ausgezeichneten Diplom ab und erhielt das Recht, seine Dienststelle frei zu wählen, und sei es im Ministerium der Justiz, doch er gab Sawolshsk den Vorzug. Und wirklich, der kluge Mann hatte recht gehandelt. Was wäre er in Petersburg gewesen? Ein Provinzler, ein Plebejer jüdischer Herkunft, was bekanntlich noch schlimmer ist als ganz ohne Herkunft zu sein. Bei uns aber wurde er freundlich aufgenommen. Er bekam eine gute Stelle und wurde mit einer fabelhaften Braut verheiratet. Mitrofani pflegte zu sagen, die Ehefrau mache den Mann, und erklärte seinen Gedanken anschaulich mit Hilfe einer mathematischen Allegorie: Der Mann sei eine Eins, die Frau eine Null. Wenn jedes für sich lebe, sei der Wert des Mannes gering, und die Frau habe gar keinen, doch wenn sie die Ehe eingingen, entstehe eine neue Zahl. Eine gute Frau stelle sich hinter die Eins und verzehnfache ihre Kraft. Eine schlechte aber dränge sich vor die Eins und schwäche entsprechend den Mann, indem sie ein Zehntel daraus mache.
Für Matwej Berditschewski hatte der Bischof ein gutes und häusliches Mädchen aus der Familie eines Offiziers ausgesucht. Sie lebten in Liebe und Eintracht, und sie waren so fruchtbar, dass sie in den ersten zehn Jahren ihrer Ehe, die zum Zeitpunkt unserer Erzählung gerade herum waren, schon zwölf Nachfahren beiderlei (doch überwiegend weiblichen) Geschlechts zur Welt gebracht hatten.
Wenn es Berditschewkis Wunsch gewesen wäre, hätte er auch ein anderes, angeseheneres Amt bekleiden können, und sei es das des Vorsitzenden des Gerichtshofs, aber sein Charakter und seine angeborene Schüchternheit ließen ihn lieber im Schatten bleiben; die Macht beriet er nicht in der Behörde und nicht im Areopag, sondern lieber privatim, beim Tee oder bei einem Preferencespiel, das er sehr liebte. Als Ankläger in Prozessen trat er auch nicht gern in Erscheinung, er berief sich auf seine näselnde Stimme und sein unglückliches Aussehen. Schön war er in der Tat nicht – krumme Nase, zappelig, die eine Schulter deutlich höher als die andere. Sein nomineller Vorgesetzter, der Gouvernementstaatsanwalt Silesius, ein äußerlich repräsentabler, aber stockdummer Mann, trug vor Gericht die von Berditschewski ausgearbeiteten Plädoyers vor und erntete nicht selten stürmischen Beifall, während Berditschewski nur seufzte und ihn beneidete.
Seine Stellung als graue Eminenz beruhte auf den beiden Sawolshsker Säulen – dem Bischof und dem Gouverneur. Die dritte Säule, die schöne Ljudmila, konnte den spitzfindigen Juden nicht leiden. Aber die Spannung zwischen Berditschewski und der Baronin war keine wütende Feindschaft, sondern eher eine eifersüchtige Rivalität, so dass am Vergebungssonntag beide Seiten einander ihre Reue aussprachen und einander reinen Herzens vergaben, was ein Fortbestehen der Rivalität nach Ostern keineswegs ausschloss.
Doch o weh, diese idyllische Konstellation ging zu Ende, als am friedlichen Sawolshsker Horizont eine drohende Gewitterwolke erschien. Ein kalter Westwind trieb sie von dem heimtückischen, bösartigen Petersburg heran.
Eines Abends vor drei Wochen hatte der Polizist, der ordnungshalber bei der Einfahrt in die Stadt wacht und nach alter Gewohnheit bei uns »Wächter« genannt wird, eine Vision. Am fernen Ende der Moskauer Heerstraße zeigte sich ein Staubwölkchen, das ungewöhnlich schnell auf Sawolshsk zukam. Bald darauf vernahm der Wächter abgerissene kehlige Laute von unchristlichem Klang und wollte sich schon bekreuzigen, ließ es aber aus Trägheit. Alsbald löste sich aus der Staubkugel, welche auf der Chaussee heranraste, ein Paar schaumbedeckter Rappen mit herausquellenden irren Augen. Über ihnen schwang ein schwarzbärtiger Räuber die pfeifende Peitsche, er trug eine zottige Papacha und einen geflickten Tscherkessenrock, stieß Adlerschreie aus und rollte wild mit den Augen, die so blutunterlaufen waren wie die der Pferde. Bei diesem Anblick riss der Wächter den Mund auf und fragte nicht einmal nach dem Reiseschein. Durch das Fensterchen der Kutsche sah er einen würdigen grauhaarigen Mann, der ihm gnädig zunickte, und im Hintergrund des Wagens undeutlich einen zweiten mit spitznasigem Profil und beängstigend funkelnden Augen. Die Kutsche polterte dröhnend über das Pflaster, überquerte den Kirchplatz und bog in den Torweg des ersten Hauses am Platze, des Hotels »Zum Großfürsten«, ein. Des weiteren wird erzählt, dass in dem Moment, da die Kutsche an der bischöflichen Klosterkirche vorbeisauste, eine Erscheinung zu sehen war: Ein Rabenschwarm kam geflogen und verscheuchte von den Kreuzen der Kirche die Tauben, die diesen erhöhten Punkt seit undenklichen Zeiten als ihren althergebrachten Besitz ansahen. Aber dieser Rabenüberfall war sicherlich frei erfunden, denn in unserer Stadt lügt man gern und einfallsreich.
Tags darauf hatte sich herumgesprochen, dass ein Revisor vom Synod in der Stadt eingetroffen sei, ein Beamter für Sonderaufträge beim Oberprokuror Pobedin, der im russischen Imperium nur beim Vor – und Vatersnamen benannt wurde. Es hieß: »Konstantin Petrowitsch hat gestern dem Zaren Hinweise gegeben« oder etwa: »Konstantin Petrowitsch ist auf dem Wege der Besserung«, und niemand fragte, wer dieser Konstantin Petrowitsch sei – es war auch so klar.
Politisch wohl unterrichtete Leute erklärten sogleich im Brustton der Überzeugung, Konstantin Petrowitsch sei mit dem Gouvernement unzufrieden, und dem Bischof wie auch dem Gouverneur Anton von Gaggenau drohten große Unannehmlichkeiten. Sie wussten auch den Grund: Die Sawolshsker Regenten seien nicht eifrig genug bei der Ausrottung anderer Glaubensrichtungen und bei der Verbreitung der Orthodoxie.
Auch über die Person des Revisors wurde einiges bekannt. Unsere Stadt liegt zwar weit entfernt von den Hauptstädten, dennoch leben wir nicht hinter dem Mond. Wir haben eine vornehme Gesellschaft, unsere Aristokratie bringt ihre Töchter in der Ballsaison nach Petersburg, und sie korrespondiert mit Bekannten. Somit erfahren wir in Sawolshsk von allen bemerkenswerten und interessanten Ereignissen in der großen Welt.
Wladimir Lwowitsch Bubenzow entpuppte sich als eine höchst interessante Figur. Bis zum Skandal des vorigen Jahres, der nicht nur in Privatbriefen aus Petersburg, sondern auch in der Presse aufs eingehendste beschrieben wurde, hatte er in der Garde gedient und im Ruf eines liederlichen und gefährlichen Menschen gestanden, keine Seltenheit bei unseren glänzenden Gardisten. Er hatte früh sein Erbe angetreten, hatte es früh mit Gelagen durchgebracht, war dann abermals reich geworden, und zwar im Kartenspiel, mit dem er so erfolgreich war, dass es sogar auf Duelle hinauslief, jedoch ohne Folgen. Unsere Oberen üben ja Nachsicht gegenüber Offiziersduellen, wenn die nicht tödlich enden und keine schweren Verletzungen zur Folge haben, sie fördern sie sogar in gewissem Grade, da sie darin eine Festigung des ritterlichen Geistes und der militärischen Ehre sehen. Aber der Krug geht bekanntlich so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Außer den Karten hatte Bubenzow eine weitere Leidenschaft – die Frauen, er galt als einer der verwegensten Schürzenjäger der Hauptstadt. Aber nun hatte er ein Mädchen aus einer zwar nicht vornehmen, doch angesehenen Familie verführt und war zudem so grausam mit ihr umgegangen, dass die Ärmste versucht hatte, sich aufzuhängen. Solche Geschichten wurden Bubenzow reichlich nachgesagt, doch diesmal kam er nicht so ohne weiteres davon. Das Mädchen hatte zwei Brüder, der eine Offizier, der andere Student. Von Bubenzow wussten alle, dass er ein begnadeter, genauer, ein teuflischer Schütze war und Duelle nicht fürchtete, denn er konnte seinem Gegner mit einer Kugel die Waffe aus der Hand schießen und hatte das schon mehr als einmal getan. Für einen Raufbold, der vom Kartenspiel lebt, ist solch eine Reputation unumgänglich, denn sie schützt ihn zuverlässig vor dem Verdacht des Falschspiels und vor überflüssigen Skandalen.
Die Brüder des Mädchens wussten, dass nur mit einer Herausforderung keine Satisfaktion zu bekommen war, und beschlossen, auf ihre Weise mit dem Beleidiger abzurechnen. Beide waren kühne junge Männer von hünenhaftem Körperbau, die mit dem Jagdspieß auf den Bären losgingen. Eines Morgens lauerten sie Bubenzow vor seiner Haustür auf, als er wieder einmal vom Kartenspiel kam. Sie hatten sich vorher vergewissert, dass er in Zivil war, sonst wären sie nicht um eine Anklage wegen Beleidigung der Uniform herumgekommen. Der eine Bruder, der Student, umklammerte Bubenzow von hinten und hob ihn hoch, und der andere, der Dragoner, schlug ihn mit der Reitpeitsche mehrmals ins Gesicht. Und all das auf offener Straße, vor den Augen der Passanten. Bubenzow setzte sich anfangs zur Wehr, wollte sich losreißen, trat um sich, doch als er die Vergeblichkeit erkannte, kniff er nur noch die Augen zu, damit die nicht verletzt würden. Als die Brüder ihr Mütchen gekühlt hatten, schleuderten sie ihn zu Boden, da sagte der Verprügelte leise, aber es wurde gehört: »Ich schwöre beim Teufel, dass ich euer ganzes Geschlecht auslöschen werde.« Genau so sagte er.
Tags darauf im Morgengrauen duellierte er sich gleich mit beiden, was bei uns in Russland unüblich ist, doch dies war ein besonderer Fall, und die Sekundanten stimmten zu.
Die Bedingungen besagten, dass Bubenzow sich zuerst mit dem älteren Bruder schießen sollte. Dreißig Schritte Distanz, mit Vorgehen zur Barriere. Bubenzow ließ seinen Gegner keinen Fußbreit näher kommen, er schoss sofort. Die Kugel traf eine Stelle, die man gar nicht benennen mag. Der Dragoner war kein Jammerlappen, aber er wälzte sich brüllend und tränenüberströmt auf der Erde. Und es war klar, dass die Kugel genau dort getroffen hatte, wohin Bubenzow mit teuflischer Treffsicherheit gezielt hatte.
Nun war der jüngere Bruder an der Reihe. Er zitterte und war bleich wie Leinwand, denn der Bruder schrie und ließ den Arzt nicht an sich heran. Nervös schoss der Student als Erster, ohne richtig zu zielen, und fehlte natürlich. Und nun trieb Bubenzow mit ihm ein böses Spiel. Er ließ ihn bis zur Barriere vorgehen und zielte lange auf zehn Schritt Distanz. Die Sekundanten glaubten schon, er wolle den Jungen schonen, ihn ein wenig einschüchtern und dann in die Luft schießen. Aber Bubenzow führte Eigenes im Schilde.
Der Student kehrte ihm die Seite zu und hielt noch für alle Fälle die Pistole vor die Leibesmitte. Seine Knie zitterten, über sein Gesicht rann kalter Schweiß. Sein Kopf ruckte hin und her, er blickte mal in die schwarze Mündung, mal zur Seite auf den verwundeten Bruder. Bubenzow passte einen Moment ab, da der junge Mann ihm das Profil zukehrte, und schoss ihm mit einer schweren Kugel das Kinn weg.
Getötet hatte er die Brüder nicht, aber, wie angedroht, ihr Geschlecht ausgelöscht. Der Ältere konnte keine Nachkommen mehr haben, und den Jüngeren würde keine Frau nehmen – seine untere Gesichtshälfte war mit einem Tuch verdeckt, hinter dem der Speichel in ein Gefäß lief, und er sprach so undeutlich, dass man ihn ohne Übung nicht verstehen konnte.
Die Geschichte mit dem Doppelduell wirbelte viel Staub auf, und Bubenzow wurde hart bestraft – zehn Jahre Festung. Dort wäre der grausame Rächer in seinem steinernen Loch verfault, aber irgendwas an ihm interessierte den Oberprokuror Konstantin Petrowitsch. Nicht ein-, nicht zwei – und nicht zehnmal, sondern viel öfter besuchte er den Häftling in seiner Kasematte und führte leise, gefühlvolle Gespräche mit ihm über die menschliche Seele, über den wahren Sinn des rechten Glaubens und über den Kreuzweg Russlands. Diese Gespräche hatten auf Bubenzow eine solche Wirkung, dass er sein sündiges Leben in ganz anderem Licht zu sehen begann und erschrak. Wie erzählt wurde, brachte ihm diese Erleuchtung die Gabe des Weinens, und es geschah nicht selten, dass er und Konstantin Petrowitsch sich gar nicht unterhielten, sondern nur weinten und beteten. Der Arrestant neigte schon dazu, das Mönchsgewand anzustreben und später wohl auch das Bußkleid der strengsten Klosterregel, aber davon wollte Konstantin Petrowitsch nichts wissen. Das sei noch zu früh, Bubenzow sei nicht würdig, dem Himmlischen Herrscher zu dienen, ehe er seine Schuld vor der irdischen Macht gesühnt habe. Er solle erst mal einen unauffälligen, bescheidenen, uneigennützigen Dienst leisten, solle sich üben in Demut und Frömmigkeit. Bubenzow war auch dazu bereit, wenn er es nur seinem Lehrvater recht machte. Und siehe da, der Oberprokuror erwirkte beim Zaren einen Allerhöchsten Gnadenerlass für den Verurteilten und übernahm ihn als Beamten in seine Dienste.
Bekanntlich sind uns nicht diejenigen die liebsten Menschen, die uns Gutes getan, sondern diejenigen, denen wir Wohltaten erwiesen haben und von denen wir dafür – unser ewiger Irrtum – unendliche Dankbarkeit erwarten. Offenbar war das der Grund dafür, dass Konstantin Petrowitsch den Sünder, den er gerettet hatte, von ganzem Herzen lieb gewann und große Hoffnungen auf ihn setzte, zumal Bubenzow, wie allgemein anerkannt wurde, sich als talentierte und unermüdliche Arbeitskraft erwies. Es wurde erzählt, dass er tatsächlich ein anderer geworden sei, der Rauflust gänzlich entsagt habe und dem weiblichen Geschlecht gegenüber äußerste Vorsicht walten lasse. Seine erste verantwortungsvolle Mission, die Ausrottung der Skopzensekte (Skopzen – Selbstverstümmler, religiöse Sekte in Russland. D.Ü.) in einem der nördlichen Gouvernements, habe er so entschlossen und energisch bewältigt, dass er von seinem Wohltäter größtes Lob erntete und sogar einer Allerhöchsten Audienz gewürdigt wurde. Selbstredend finden sich für jeden Liebling Fortunas böse Zungen. Von dem neuen Günstling des Oberprokurors hieß es, er sei weniger um die große Zukunft Russlands besorgt als um seine eigene Zukunft in diesem zukünftigen Russland, aber erheben wir diesen Vorwurf nicht gegen jeden Staatsmann mit ganz wenigen Ausnahmen?
Einen so ungewöhnlichen Abgesandten also hatte die oberste Kirchenbehörde in das verschlafene Sawolshsker Reich geschickt, um daselbst Verwirrung und einen Umschwung herbeizuführen. Die Methode, deren sich Bubenzow bediente, um seine noch nicht ganz klaren Ziele zu erreichen, war so originell, dass sie verdient, ausführlich beschrieben zu werden.
Als Erstes machte der Emissär des Heiligen Synods eine Reihe von Besuchen. Er begann mit dem Gouverneur, das verlangten die Höflichkeit und der offizielle Charakter seiner Reise.
Anton von Gaggenau, der das bislang Geschilderte über den Gast aus der Hauptstadt bereits wusste, war gefasst auf einen Neophyten, einen Zöllner Matthäus, eine besonders gefährliche Abart von Glaubenshüter, und wappnete sich mit größter Vorsicht. Dafür war seine Frau Ljudmila, deren Phantasie weniger die geistige Wiedergeburt dieses Kudejar (Kudejar - legendärer Räuberhauptmann des 16. Jahrhunderts. D.Ü.) entflammte als vielmehr dessen früheres Sündenleben, unversöhnlich gestimmt, obwohl sie ein wenig Herzklopfen hatte. Die Gouverneursgattin malte sich aus, wie in ihrem gemütlichen Salon ein infernalisch schöner Mann erschien, ein Verderber unschuldiger Jungfrauen, ein Wolf im Schafpelz, und hielt sich bereit, einerseits nicht seinem satanischen Zauber zu erliegen und andererseits den Unhold in seine Schranken zu weisen, denn Sawolshsk, das ist nicht das lasterhafte Sankt Petersburg, wo die Frauen leicht zugänglich und sittenlos sind.
Es ist ja so, dass mit einer Reputation wie der Bubenzows, noch dazu in der Provinz, wo es wenig Auswahl gab, jeder Mann von leidlichem Aussehen alle Chancen gehabt hätte, als »interessanter Typ« zu erscheinen.
Gleichwohl war die Gouverneursgattin im ersten Moment tief enttäuscht. Den Salon betrat, sich verbeugend, ein feingliedriger, um nicht zu sagen, schwächlicher Herr um die dreißig, ganz außerordentlich beweglich in den Gelenken (»schlenkrig« nannte es Ljudmila Petrowna, die sich gern anschaulich ausdrückte). Um der Gerechtigkeit willen räumte sie ein, dass der Besucher gut gebaut war. Seine schmale Figur hatte die federnde Geschmeidigkeit einer Rapierklinge, aber das verlieh ihm eine unvorteilhafte Ähnlichkeit mit dem Stutzer Dudeval, dem Tanzlehrer am Sawolshsker Pensionat für adlige Fräulein. Auch das Gesicht Bubenzows war nicht schön: scharfe räuberische Züge, Hakennase und helle starre Augen, die etwas Eulenhaftes hatten. Das einzig Attraktive an dieser Physiognomie waren die geschwungenen Brauen und die dichten Wimpern. Ljudmila mutmaßte sogleich, dass er damit seine unglücklichen Opfer verführt hatte. Um aber der Hausherrin der Gouverneursvilla zu gefallen, bedurfte es wesentlicherer Vorzüge, was sie ihm auch zu verstehen gab, indem sie ihm die Hand zum Kuss verweigerte.
Zu Beginn des Gesprächs erregte der Petersburger Fant noch mehr ihr Missfallen. Seine Stimme war leise, träge, und er dehnte die Vokale lässig in die Länge. Auf seinem Gesicht spielte ein gelangweiltes liebenswürdiges Lächeln.
In der Folgezeit, als die Sawolshsker Bubenzow besser] kennen lernen konnten, wurde deutlich, dass er sich beim ersten Gespräch mit Unbekannten immer so gab, es sei denn, er hielt es für notwendig, auf seinen Partner einen besonderen Eindruck zu machen. Umso stärker war der Effekt plötzlicher Metamorphosen, wenn sein Geschwätz unvermutet in Angriffslust umschlug. Diese Methode beherrschte Bubenzow perfekt.
Mit dem Baron und der Baronin unterhielt er sich über allerlei Unwichtiges, das mit dem Ziel seiner Reise nichts zu tun hatte: über die zermürbende Fahrt, über die letzte Mode, über die Vorzüge der englischen Pferde vor denarabischen. Anton von Gaggenau hörte aufmerksam zu, pflichtete bei und überlegte, wie gefährlich dieser Schwätzer sein mochte. Dabei spielte er den wohlmeinenden Einfaltspinsel, was ihm, nebenbei bemerkt, hervorragend gelang. Seine Schlussfolgerung war wenig tröstlich: Bubenzow ist gefährlich, äußerst gefährlich sogar.
Ljudmila beteiligte sich prinzipiell nicht an solchem Geplauder, sie saß finster da, betrachtete feindselig die erstaunlich kleinen, gepflegten Hände des gefährlichen Beamten, die mit einem Spitzenfächer spielten (der Abend war schwül), und dachte: ein schöner Graf Nulin (Graf Nulin - Held des gleichnamigen Poems von Alexander Puschkin. D.Ü.)!
Der Besucher hatte binnen fünf Minuten erkannt, wer von den beiden die Hauptperson war, und sah den Gouverneur kaum noch an, sondern wandte sich im Gespräch nur noch an dessen Gattin. Sie gewann den Eindruck, dass er es darauf anlegte, sie zu ärgern mit seinem herablassenden Blick unter dichten Wimpern. Das empörende Angestarrtwerden schaffte ihr großes Unbehagen, als wäre sie nicht ganz angezogen.
Gegen Ende der halbstündigen Visite geschah Folgendes: Der Sekretär schaute herein, der Baron entschuldigte sich und ging zum Schreibtisch, um ein wichtiges Papier zu unterschreiben (man weiß sogar, was für eines – Freistellung des Buchhandels von der Akzise). Da fragte Bubenzow, ohne den Ton noch den Gesichtsausdruck zu ändern, so träge wie zuvor:
»Ich habe gehört, liebenswürdige Ljudmila Petrowna, Sie widmen sich mit großem Eifer der Wohltätigkeit? Löblich, löblich.«
Die Gouverneursgattin, unangenehm berührt von seinem Ton, antwortete abweisend, ja, giftig:
»Gibt es denn einen würdigeren Zeitvertreib für eine Frau in meiner Stellung?«
Die eine fein gezeichnete Braue hob sich verwundert, das eine Auge bohrte sich in Ljudmilas Seele, das andere wurde ganz schmal und war kaum noch zu sehen.
»Was für eine Frage! Man sieht sogleich, dass Sie noch nie geliebt haben und wohl gar nicht wissen, was Liebe ist.«
Die Dame des Hauses lief rot an, fand keine Antwort und glaubte sogar, sich verhört zu haben, denn die sonderbare Bemerkung war ohne jeden Ausdruck gefallen. Und da kam schon der Gouverneur zurück, so dass die Gelegenheit einer Abfuhr verpasst war.
Danach schwatzte der Besucher noch ein paar Minuten über allerlei Unsinn, aber Ljudmila betrachtete ihn schon mit anderen Augen – ängstlich und zugleich irgendwie erwartungsvoll.
Beim Abschied beugte sich der Inspektor über ihre Hand, die sie ihm diesmal nicht verweigerte, und raunte:
»So zerrinnt das Leben. Schade.«
Der Mann war geschickt – er nutzte aus, dass der Gouverneur gerade selbstvergessen, kieferknackend gähnte, dabei taktvoll die Hand vor den Mund hielt und so die frechen Worte nicht hören konnte.
Das war alles gewesen. Aber zur allgemeinen Verwunderung, am meisten derjenigen ihres Gatten, begann Ljudmila Platonowna von diesem Tag an, den Petersburger Abgesandten auszuzeichnen, man kann sagen, sie nahm ihn unter ihre Fittiche. Er besuchte sie häufig in ihren Gemächern, einfach so, ohne besonderes Anliegen. Dann hörte man im Hause Klavierspiel, zweistimmigen Gesang und fröhliches Gelächter. Der Gouverneur hatte anfangs versucht, an dem Frohsinn teilzuhaben, doch er wurde sich alsbald leidvoll bewusst, überflüssig zu sein, entfernte sich unter dem Vorwand unaufschiebbarer Pflichten und litt dann noch mehr in der Stille seines Kabinetts. Es gab auch Picknickausflüge im kleinen Kreis und Bootsfahrten und sonstige schickliche Zerstreuungen. Bubenzow hegte möglicherweise aufrichtige Sympathien für die Baronin, die, wie schon erwähnt, mit Schönheit und mit seelischen Qualitäten gesegnet war, doch ihn leitete zweifellos auch etwas anderes: die enge Freundschaft mit der einflussreichsten Frau des Gouvernements, die der Kommissar des Synods für seine Pläne brauchte.
Von dem Ehepaar von Gaggenau führte den Neuankömmling die nächste Visite direkt zur Frau des Postmeisters, Olimpiada Saweljewna Schestago, deren Salon in Konkurrenz zu dem der Gouverneursgattin stand. Die Gesellschaft von Sawolshsk war damals in zwei heimliche Parteien gespalten, die man als konservativ und progressiv bezeichnen könnte (letztere wurde manchmal noch aus alter Gewohnheit liberal genannt, dabei kommt dieses Wort im heutigen Russland immer mehr aus der Mode). Beide Lager wurden von Frauen angeführt. Die konservative Partei war, wie es sich gehört, die herrschende, und ihre wahre Führerin war Ljudmila von Gaggenau. Die meisten Beamten und ihre Frauen scharten sich entsprechend ihrer Stellung, Tätigkeit und natürlicher Überzeugung um diese Standarte.
Zur Oppositionspartei gehörten vorwiegend aufmüpfige junge Leute wie Lehrer, Ingenieure und Angestellte von Post und Telegraph; die politische Färbung der Letzteren erklärte sich aus ihrer Zugehörigkeit zu dem Postamt, dessen Leiter seiner besseren Hälfte Olimpiada in völliger Sklaverei verfallen war. Frau Schestago galt in der Stadt als Schönheit, doch ganz anderer Art als die Gouverneursgattin: Sie war nicht stattlich und nicht gutherzig, sondern hager und scharfzüngig, anders ausgedrückt, graziös und intellektuell, wie sie selbst diese Vorzüge definierte. Sie entstammte einem millionenschweren Kaufmannsgeschlecht und hatte ihrem Gatten als Mitgift dreihunderttausend zugebracht, was sie ihm bei der kleinsten Verfinsterung des familiären Himmels, der größtenteils wolkenlos war, unter die Nase rieb. In ihrem reichen, gastlichen Haus wurden solche für Sawolshsk exotischen Bräuche gepflegt wie Gottlosigkeit, Lektüre verbotener Zeitungen und freie Diskussionen über den Parlamentarismus. Frau Schestago empfing donnerstags, jeder konnte kommen, und es kamen sehr viele, denn ihre Tafel war üppig gedeckt und die Unterhaltung nach provinziellen Maßstäben zuweilen interessant.
Da Bubenzows erste Visiten gerade auf einen Donnerstag fielen, präsentierte er sich dem progressiven Lager unbesorgt ob der fehlenden Einladung, was auf gründliche Kenntnis der Sitten und der Kräfteverteilung im Gouvernement hindeutete.
Sein Besuch bei der Postmeistersgattin machte unter den Liberalen regelrecht Furore, denn sie waren schon zu dem Schluss gelangt, dass der Agent der Reaktion ihretwegen ausgesandt worden sei, um in der Sawolshsker Gesellschaft die Freidenkerei und den Geist des Aufruhrs auszurotten. Das war einerseits Besorgnis erregend, andererseits auch angenehm (seht an, der Oberprokuror persönlich ist beunruhigt über die hiesigen Karbonari), doch wohl hauptsächlich Besorgnis erregend.
Aber der »Agent der Reaktion« war gar nicht so Furcht einflößend. Er gab sich aufgeklärt und sprach ganz frei über die neuere Literatur – über den Grafen Tolstoi und über die französischen Naturalisten, die man in der Stadt nur vom Hörensagen kannte. Einen vortrefflichen Eindruck machte auch die rasiermesserscharfe Zunge des Gastes. Als der Inspektor der Volksschulen Ilja Nikolajewitsch Fedjakin, der bei den Progressiven als unübertroffener Spötter galt, dem so überaus selbstsicheren Schwätzer einen Dämpfer verpassen wollte, erwies sich, dass der einheimische Lästerer dem Petersburger Abgesandten nicht im Geringsten gewachsen war.
»Es ist nett, solch kühne Urteile aus dem Mund eines Dieners der Gottesfurcht zu hören«, sagte Fedjakin mit ironisch eingekniffenen Augen und strich seinen Spitzbart, was bei ihm auf ernstliche Gereiztheit deutete. »Sie plaudern mit dem Oberprokuror wohl oft über die physiologische Liebe bei Maupassant?«
»›Physiologische Liebe‹, das ist ja doppelt gemoppelt wie ein weißer Schimmel«, schnitt ihm Bubenzow das Wort ab. »Oder überwiegt bei Ihnen in Sawolshsk noch der romantische Blick auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern?«
Olimpiada errötete, so peinlich war es ihr vor diesem klugen Mann, dass Fedjakin bei ihr den Ehrenplatz an der Stirnseite der Tafel innehatte, und äußerte sich hastig gegen jede Scheinheiligkeit in der sexuellen Partnerschaft.
Bei der Postmeistersgattin ging der gewandte Petersburger noch dreister vor als bei der Frau des Gouverneurs. Als er aufbrach – vor allen anderen Gästen, als wollte er ihnen Gelegenheit geben, ihn ausgiebig durchzuhecheln –, begleitete Olimpiada, die von seinem hauptstädtischen Glanz schon geblendet war, den teuren Gast in die Diele. Sie reichte ihm die Rechte zum Händedruck (der Handkuss war bei den Progressiven selbstredend verpönt), und Bubenzow griff zu, aber er drückte nicht die Hand, sondern den Ellbogen. Mit einer sanften, doch herrischen Bewegung zog er die Dame des Hauses wortlos an sich und küsste sie so kräftig auf den Mund, dass der armen Olimpiada, die in den neunundzwanzig Jahren ihres Lebens noch nie so geküsst worden war, die Knie watteweich wurden und vor ihren Augen alles verschwamm. Mit rosigem Gesicht kehrte sie in den Salon zurück und unterband aufs energischste alle Versuche des rachsüchtigen Fedjakin, den Gegangenen zu diffamieren.
Auf diese Weise stellte Bubenzow schon am ersten Tag seines Aufenthalts im Gouvernement gute Beziehungen zu den beiden Sawolshsker Königinnen her, wobei die Freundschaft mit Olimpiada besonders angenehm war, da ihr Haus unmittelbar an das Postamt grenzte, in dem ihr Gatte Direktor war. Mit ihm stand Bubenzow ebenfalls sehr bald auf freundschaftlichem Fuß, so dass er ihn ohne Umstände in seinem Kabinett aufsuchen konnte und freien Zugang zu dem einzigen Telegraphenapparat von Sawolshsk erhielt. Von diesem Privileg machte er eifrig Gebrauch, kam sogar ohne den Telegraphisten aus, da er, wie sich zeigte, mit dem verzwickten Baudot-Apparat bestens umzugehen verstand. Es kam vor, dass der Synodalinspektor noch nach Mitternacht im Postamt vorbeischaute, etwas abschickte, etwas empfing und sich überhaupt benahm, als wäre er dort zu Hause.
Wenn aber der Triumph des baltischen Warägers bei den Damen Schwindel erregend und unbestreitbar war, so ging es mit den Männern weniger glatt.
Die einzige wirkliche Eroberung Bubenzows auf diesem Gebiet (Postmeister Schestago zählte nicht, da er eine unselbstständige Person war) wurde sein Bündnis mit dem Polizeimeister Lagrange.
Das hatte seine Gründe. Felix Stanislawowitsch Lagrange war ein Neuling in der Stadt, man hatte ihn hergesandt, um die Stelle des unlängst verblichenen Oberstleutnants Gulko einzunehmen, der viele Jahre lang dem Gouverneur und dem Bischof treu zur Seite gestanden hatte. Den Hingegangenen hatten bei uns alle geliebt, alle waren an ihn gewöhnt, und der vom Minister Eingesetzte wurde mit Argwohn aufgenommen. Der neue Polizeimeister war ein großer, schöner Mann mit sorgsam gestutzten Schläfen und malerisch geschwärztem Schnauzbart. Er schien beflissen und ehrerbietig gegenüber den Vorgesetzten zu sein, aber dem Bischof gefiel er nicht, da er um eine Beichte nachgesucht und dann unaufrichtig gesprochen hatte, auch interessierte er sich gar zu sehr für religiöse Fragen.
Die Stadt sagte dem Polizeimeister seinerseits nicht zu, vor allem weil sie so friedlich und ereignisarm war. Zum Glück kennt man im Gouvernement die revolutionäre Seuche überhaupt nicht; vor Mitrofani und dem Baron ist sie gar nicht erst aufgekommen, und seit sie das Gouvernement regieren, besteht erst recht kein Grund dazu. Wo sollte sie aufflackern? Bei uns gibt es weder große Manufakturen noch Universitäten, gravierende soziale Ungerechtigkeiten sind nicht zu beobachten, und wenn doch, kann man sich bei der Obrigkeit beschweren und braucht nicht zu meutern. Anders als sonst im Staat üblich, hat das Gouvernement nicht mal eine Gendarmerieverwaltung, denn ehedem, als es noch eine hatte, waren die Angestellten vom Nichtstun dem Suff oder der Melancholie verfallen. Der Sawolshsker Polizeimeister nimmt zugleich auch alle Angelegenheiten der Gendarmerie wahr, und davon hatte sich Lagrange verlocken lassen, als er seiner Ernennung zustimmte. Erst später begriff er, welch grausamen Scherz das Schicksal mit ihm getrieben hatte.
Die Umstände, unter denen Bubenzow und Lagrange Freundschaft schlossen, blieben den Bürgern der Stadt, denen sonst kaum etwas entging, verborgen, und da die Annäherung der beiden sich so schnell vollzogen hatte, kursierten Gerüchte: der Inspektor sei nicht von ungefähr hergeschickt worden, sondern auf Grund einer Verleumdung Lagranges, der mit allen Mitteln den Blick der höchsten Macht auf seine Person ziehen wollte. Jedenfalls ging Lagrange nach der Ankunft des Synodalinquisitors demonstrativ nicht mehr zum Bischof beichten.
So war Bubenzow binnen weniger Tage in Sawolshsk ein richtiger Staatsstreich gelungen, indem er fast alle strategischen Punkte einnahm: die Administration in der Person Ljudmila Platonownas, die Polizei in der Person Lagranges und die öffentliche Meinung mitsamt der Post und dem Telegraphenamt in der Person Olimpiada Saweljewnas. Nun musste er nur noch die Macht der Kirche und der Justiz in die Hand bekommen, aber da erlitt er eine Schlappe.
Der Bischof, dem Bubenzow am Freitag, dem Tag nach seinen ersten Visiten, seine Aufwartung machte, empfing den ungebetenen Kontrolleur mürrisch, ließ sich nicht auf leeres Geplauder ein und fragte unumwunden, was für einen Zweck der Besuch des bevollmächtigten Synodalemissärs denn eigentlich habe. Bubenzow wechselte sogleich die Gesprächsrichtung (er hatte scheinheilig mit Zitaten aus der Heiligen Schrift begonnen) und legte bündig den Sinn seiner Mission dar:
»Bischöfliche Gnaden, Sie wissen bestens, dass die derzeitige Linie des Staates in Bezug auf die religiöse Ausrichtung Russlands darin besteht, die führende und wegweisende Rolle der Orthodoxie als der geistigen und ideellen Stütze des Imperiums allseitig zu stärken. Unser Reich ist groß, aber instabil, weil die einen sich mit drei Fingern bekreuzigen, die anderen nur mit zwei Fingern, die Dritten von links nach rechts, weil die Vierten Jehova anbeten und die Fünften gar Mohammed. Das Denken kann und soll verschieden sein, aber in einem Vielvölkerstaat, der seine Einheit wahren will, darf es nur einen Glauben geben, sonst erwarten uns Streit, Bruderzwist und der vollständige Verfall der Sittlichkeit. Das ist das Credo von Konstantin Petrowitsch, und der Zar vertritt dieselbe Ansicht. Daher die dringlichen Forderungen des Heiligen Synod an die Bischöfe derjenigen Gouvernements, in denen zahlreiche Andersgläubige und Schismatiker leben. Aus den westlichen, aus den baltischen, sogar aus den asiatischen Gouvernements berichten die Bischöfe jeden Monat über Tausende, Zehntausende Bekehrte. Nur aus Sawolshsk, wo die Ketzerei, der Islam und sogar das Heidentum blühen und gedeihen, kommen keine erfreulichen Nachrichten. Ich sage geradeheraus: Ich bin vor allem hergesandt worden, um herauszufinden, was der Grund für diese Passivität ist – Unfähigkeit oder Unwilligkeit.«
Bubenzow ließ eine angemessene Pause folgen und fuhr dann wesentlich milder fort:
»Ihre Untätigkeit schadet dem monolithischen Charakter des Imperiums und der Idee der russischen Staatlichkeit und ist ein schlechtes Beispiel für die anderen Bischöfe. Ich bin ganz offen zu Ihnen, Bischöfliche Gnaden, denn ich halte Sie für eine praktische Natur und durchaus nicht für den schöngeistigen Träumer, den einige Petersburger in Ihnen sehen. Lassen Sie uns also ohne équivoques sachlich miteinander sprechen. Sie und ich haben ein gemeinsames Interesse. Wir müssen hier im Transwolgaland dem wahren Glauben zu einem Triumph verhelfen – die Altgläubigen bis auf den letzten Mann in den Schoß der Orthodoxie zurückführen, die Baschkiren zu Tausenden taufen oder noch etwas ebenso Beeindruckendes. Das wird Ihnen helfen, Ihre Eparchie von der Ungnade zu befreien, und mir nützen, weil diese Ereignisse ein direktes Ergebnis meiner Reise sein werden.«
Bubenzow sah die Unzufriedenheit im Gesicht seines Gesprächspartners, nahm sie irrtümlich für Zweifel und fügte hinzu:
»Euer Bischöfliche Gnaden wissen nicht, wie das anzupacken wäre? Bitte sich nicht zu beunruhigen. Dafür bin ich ja hergesandt worden. Ich werde alles aufs Beste arrangieren. Nur werfen Sie mir keine Knüppel zwischen die Beine.«
Der Bischof, ein direkter Mann, antwortete im gleichen Ton ohne Umschweife:
»Ihr Credo ist schädlich und dumm. Konstantin Petrowitsch ist nicht erst seit gestern auf der Welt und weiß so gut wie ich, dass man niemanden gewaltsam zu einem neuen Glauben bringt, höchstens zur Befolgung von diesem oder jenem Ritual, und das ist im Sinne des monolithischen Charakters des Staates ohne jede Bedeutung. Ich nehme an, der Herr Oberprokuror verfolgt irgendwelche anderen Ziele, die mit dem Glauben nichts zu tun haben. Beispielsweise die Einführung von polizeilichen Leitungsmethoden auch in der geistlichen Sphäre.«
»Na und?«. Bubenzow zuckte gleichmütig die Achseln. »Wenn unser Imperium, Ihres und meines, Bestand hat, so nur dank der Willensanspannung der Machthabenden. Jeder Andersdenkende und Andersglaubende muss stets eingedenk sein, dass er unter Aufsicht und Beobachtung steht und dass man ihm keine Unbotmäßigkeit und keine Eigenmächtigkeit erlaubt. Freiheiten – das ist was für Gallier und Angelsachsen, doch unsere Kraft liegt in der Einheit und im Gehorsam.«
»Sie reden mir von Politik und ich Ihnen von der menschlichen Seele.« Mitrofani holte tief Luft und sagte dann Dinge, die besser ungesagt geblieben wären. »In meiner Eparchie gibt es wenig Neubekehrte, weil ich keinen Sinn darin sehe, Altgläubige, Muselmanen und deutsche Kolonisten zum orthodoxen Glauben herüberzulocken. Bei mir kann jeder glauben, an was er will, Hauptsache an Gott und nicht an den Teufel. Wenn sie nur ein frommes Leben führen, bin ich es zufrieden.«
Bubenzows Augen blitzten, er sagte freundlich, aber mit unverhüllter Drohung:
»Eine interessante Auffassung für den Bischof eines Gouvernements. Sie deckt sich keineswegs mit der Meinung Konstantin Petrowitschs und des Imperators.«
In diesem Moment wusste Mitrofani alles über seinen Besucher und dessen weitere Demarchen, darum stand er brüsk auf, zum Zeichen, dass das Gespräch beendet sei.
»Ich weiß. Deshalb teile ich Ihnen meine Auffassung ohne Zeugen mit, damit zwischen uns alles klar ist.«
Auch Bubenzow erhob sich und sagte mit einer Verbeugung:
»Nun, danke für die Offenheit.«
Er entfernte sich und verschonte fortan das Haus des Bischofs mit seinen Besuchen. Die Kriegserklärung war ausgesprochen und angenommen. Nun trat die Pause ein, die dem Beginn einer Schlacht vorauszugehen pflegt, und zu der Zeit, in der unsere Geschichte ihren Anfang nimmt, war die Windstille noch nicht beendet.
Bald nach dem erfolglosen Angriff auf die Glaubensfeste folgte der Vorstoß gegen die Stütze der Justiz. Bubenzow, von seinen mittlerweile schon zahlreichen Anhängern aufgeklärt, machte sich nicht an den Vorsitzenden des Gerichtshofes heran und nicht an den Staatsanwalt des Gouvernements, sondern an dessen Stellvertreter Matwej Benzionowitsch Berditschewski.
Die Unterredung fand im Adelsklub statt, in den Berditschewski aufgenommen war, gleich nachdem er auf Empfehlung des Barons von Gaggenau den Dienstadel erhalten hatte. Den Klub besuchte Berditschewski ziemlich oft, und nicht aus Dünkel, wie er Emporkömmlingen eignet, sondern aus einem ganz prosaischen Grund: In seinem kinderreichen Haus herrschte ein derartiges Tohuwabohu, dass selbst dieser kinderliebe Familienvater gelegentlich eine Atempause benötigte. Meistens saß er abends allein in der Klubbibliothek und spielte mit sich selber Schach, denn in unserer Stadt fand er keinen würdigen Gegner in diesem weisen Spiel.
Bubenzow trat zu ihm, stellte sich vor und bot eine Partie an. Er bekam das Recht des ersten Zugs, und eine Zeit lang herrschte in der Bibliothek völlige Stille, nur ab und zu knallten die Malachitfiguren aufs Brett. Zu Berditschewskis Erstaunen und Vergnügen war er an einen ernst zu nehmenden Gegner geraten, so dass er tüchtig zu tun hatte, bis seine Schwarzen die Oberhand gewannen.
»Einen kleinen Prozess bräuchten wir«, brach Bubenzow plötzlich seufzend das Schweigen.
»Wie meinen?«
»Sie und ich, wir sind doch Früchte vom gleichen Baum«, sagte Bubenzow herzlich. »Wir klettern nach oben und brechen uns die Fingernägel ab, und alle ringsum sind nur darauf aus, uns hinunterzustoßen. Sie sind ein zum Christentum Bekehrter und haben’s schwer. Gestützt werden Sie nur vom Gouverneur und vom Bischof. Doch ich versichere Ihnen, beide, namentlich der Letztere, werden sich nicht lange halten. Was wird dann aus Ihnen?« Er zog den Turm. »Gardez.«
»Einen kleinen Prozess?«, fragte Berditschewski zurück, dabei blickte er konzentriert aufs Brett und zupfte mit den Fingern an seiner langen Nase (eine unangenehme Angewohnheit bei ihm).
»Genau. Gegen die Altgläubigen. Wegen Gotteslästerung oder, besser, wegen Grausamkeit. Verhöhnung der rechtgläubigen Heiligtümer wäre auch nicht schlecht. Beginnen müsste man mit einem Kaufmann, einem möglichst angesehenen. Bei einem Reichen kommt der Geldsack stets vor dem Glauben. Wenn man ihn ordentlich unter Druck setzt, wird er seinen Vorteil erkennen und sich lossagen, und dann werden viele es ihm nachtun. Zurzeit kriegen ja wohl die Polizei und die Konsistorialen und auch Ihre Gerichtsleute von den Altgläubigen Schmiergeld, aber wir werden von ihnen nicht Geld verlangen, nein, wir verlangen, dass sie sich mit drei Fingern bekreuzigen, sie und ihre ganze Sippschaft. Na?«
»Sie kriegen nicht«, antwortete Berditschewski, indes er eine komplizierte Kombination berechnete.
»Wie meinen Sie das?«
»Die Polizei und die Konsistorialen und auch die Gerichtsleute. Das ist bei uns im Gouvernement nicht üblich, bitte schön. Ich schlage das Bäuerlein.«
»Und die Dame?«, sagte Bubenzow verwundert, schlug sie jedoch ohne Zögern. »So werden auch Ihre Gönner geschlagen werden, und das in kürzester Zeit. Herr Berditschewski, ich brauche zu meiner Unterstützung einen gewiegten Rechtskundigen, der die hiesigen Bedingungen gut kennt. Überlegen Sie es sich. Das könnte eine große Karriere ergeben, vielleicht nicht in der reinen Justiz, sondern in der Kirchengerichtsbarkeit. Dort wäre auch Ihr Judentum kein Hindernis. Viele Säulen der Gesetzgebung entstammen Ihrer Nation, und auch jetzt gibt es unter den Bekehrten eifrige Propagandisten der Orthodoxie. Bedenken Sie auch die Folgen eines Sträubens.« Er fuchtelte viel sagend mit der geschlagenen Dame. »Sie haben doch Familie. Und wie ich höre, wird wieder Zuwachs erwartet?«
Berditschewski war verängstigt und vermied es, den Blick vom Brett zu heben, er murmelte:
»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber erstens sind Sie matt. Und zweitens« (dies sagte er fast flüsternd und mit zitternder Stimme), »sind Sie ein Lump, ein niedriger Mensch.«
Sagte es und kniff die Augen zu, denn er dachte gleichzeitig an das Doppelduell und an seine zwölf Kinder und an den erwarteten Familienzuwachs.
Bubenzow lachte auf und musterte den blass gewordenen Helden. Er blickte um sich, ob jemand in der Nähe war (war nicht), verpasste Berditschewski einen sehr schmerzhaften Nasenstüber und ging. Berditschewski schniefte, da fielen zwei rote Tropfen aufs Brett, und er machte einen zögernden Versuch, dem Beleidiger nachzulaufen, aber die aufsteigenden Tränen hüllten alles in einen regenbogenfarbenen Schleier. Er stand noch ein Weilchen, dann setzte er sich wieder.
Nunmehr bleibt nur noch, von dem Gefolge des ungewöhnlichen Synodalkontrolleurs zu berichten, denn dieses Paar war nicht minder malerisch als Bubenzow selbst.
Sein Sekretär war Tichon Jeremejewitsch Selig, der würdige Herr, der dem Wächter aus dem Fensterchen der schwarzen Kutsche freundlich zugenickt hatte. An dem Namen des Beamten, mehr noch aber an seiner Art sich zu geben und zu reden wurde deutlich, dass er dem geistlichen Stand entstammte. Es hieß, Konstantin Petrowitsch habe den einfachen Psalmenleser in seine Nähe geholt, da er an dem bescheidenen Kirchendiener wohl etwas Besonderes wahrgenommen hatte. Im Synod bekleidete Selig nur einen kleinen, unauffälligen und schlecht bezahlten Posten, aber der Oberprokuror würdigte ihn recht oft vertraulicher Vier-Augen-Gespräche, so dass viele, auch unter den Hierarchen, Angst vor ihm hatten.
Dem Inspektor Bubenzow war dieser mäusleinstille Beamte mitgegeben worden als Auge der vertrauenden, doch kontrollierenden Macht, und er kam seinen Pflichten zunächst gewissenhaft nach, aber zum Zeitpunkt der Ankunft in Sawolshsk war er schon gänzlich dem Zauber seines zeitweiligen Chefs erlegen und zu seinem vorbehaltlosen Jünger geworden, da er offenbar entschieden hatte, dass niemand zwei Herren dienen könne. Womit Bubenzow ihn gewonnen hatte, wissen wir nicht, möchten aber annehmen, dass diese Aufgabe für einen so erfinderischen und talentierten Mann nicht sonderlich schwierig gewesen war. Selig blieb seinem Gewerbe treu, doch er schnüffelte und spionierte jetzt nicht zum Schaden Bubenzows, sondern ausschließlich zu dessen Nutzen – durchaus möglich, dass er als weit blickender Mann in diesem Wechsel seiner Vasallenabhängigkeit Vorteile für sich erkannt hatte. Er war von kleinem Wuchs, zog ewig den Kopf zwischen die Schultern und hatte unnatürlich lange Arme mit scherenartigen Händen, die ihm fast bis zu den Knien reichten, darum hatte Bubenzow ihn in der ersten Zeit »Orang-Utan« genannt, doch später hängte er ihm den noch kränkenderen Spitznamen »Unterleibchen« an. (Selig zeichnete sich nämlich durch besessene Frömmigkeit aus, bei ihm war jedes zweite Wort, ob es passte oder nicht, ein Spruch aus der Heiligen Schrift, und er beging einmal die Unvorsichtigkeit, seinem Herrn gegenüber zu erwähnen, dass er zum Schutz vor dem Gottseibeiuns unter seinem Gehrock ein »geweihtes Leibchen« trage. Selig nahm die Scherze seines Vorgesetzten, wie es einem Christenmenschen ziemt, nicht übel, er sagte nur demütig: »Ich entsündige mich mit Ysop und werde rein sein, ich wasche mich und werde weißer sein als Schnee.«
Der Gouvernementsekretär folgte Bubenzow überallhin wie ein Schatten, gleichwohl gelang es ihm wie durch ein Wunder, auch an vielen anderen Plätzen aufzutauchen, denn er hatte sich in Sawolshsk erstaunlich schnell zurechtgefunden. Man sah ihn bald in der Kirche, mitsingend im Chor, bald auf dem Markt, feilschend mit altgläubigen Imkern um den Preis für Honig, bald in Olimpiadas Salon, plaudernd mit dem Advokaten Korsch, der in unserem Gouvernement als erster Fachmann für Erbangelegenheiten galt.
Es war verblüffend, wie ein Mann wie Selig es verstand, mit dem wilden Kutscher Bubenzows umzugehen und gar Freundschaft zu halten. Dieser Murad Dshurajew wurde in Sawolshsk der Tscherkesse genannt, obwohl er kein Tscherkesse war, sondern einem anderen Bergstamm angehörte. Aber wer kannte sich schon bei den Schwarzbärtigen aus! Murad war bei Bubenzow nicht nur Kutscher, sondern auch Kammerdiener und manchmal Leibwächter. Niemand wusste so recht, weshalb er seinem Herrn so hündisch ergeben war. Bekannt war nur, dass er schon lange bei Bubenzow war, der ihn von seinem Vater geerbt hatte. Bubenzow senior, General im Kaukasus, hatte vor langer Zeit, vor zwanzig oder dreißig Jahren, den jungen Murad vor Bluträchern gerettet und nach Russland mitgenommen. Vielleicht gab es da ja noch etwas anderes, Besonderes, aber das fanden die Sawolshsker nicht heraus, und Murad zu fragen fehlte ihnen der Mut. Allein schon sein Aussehen flößte Furcht ein: kahl rasierter Kopf, das Gesicht bis an die Augen mit dichten schwarzen Haaren zugewachsen, und die Zähne konnten einen Arm bis zum Ellbogen abbeißen. Russisch sprach er noch immer wenig und schlecht. Seinen mohammedanischen Glauben hatte er beibehalten, was ihm missionarische Bemühungen von Tichon Selig eintrug, einstweilen ohne Resultat. Er kleidete sich kaukasisch: alter Halbrock, geflickte weiche Lederschuhe, im Gürtel ein riesenlanger silberbeschlagener Dolch. Sein krummbeiniger Schaukelgang und seine breiten Schultern ließen bullige Kräfte vermuten, die Männer fühlten sich in seiner Gegenwart gehemmt, die einfachen Frauen beklommen. Seltsamerweise genoss Murad bei Köchinnen und Stubenmädchen den Ruf eines interessanten Kavaliers, obwohl er sie grob und sogar brutal behandelte. In der zweiten Woche nach Bubenzows Ankunft in Sawolshsk taten sich die Feuerwehrleute der Stadt mit den Fleischern zusammen, um dem »Muselmann« eine Lehre zu erteilen und ihm die Lust auf die Mädchen anderer abzugewöhnen. Murad aber trieb ganz allein das Dutzend Angreifer zu Paaren, verfolgte sie lange durch die Straßen, erwischte den Fleischer Fedka und würde ihn gewiss zu Tode geprügelt haben, wenn nicht Tichon Selig hinzugekommen wäre.
Zu Mord und Totschlag kam es also nicht, aber etliche Städter mit Weitblick wurden nachdenklich, denn sie sahen nach diesem Skandal, besonders da die Polizei nicht wagte, dem Radaubruder Einhalt zu gebieten, das Herannahen wirrer Zeiten voraus. In der Atmosphäre des Gouvernements grummelte es, und über den schwarzen Himmel zuckte, lautlos noch, unheildrohendes Wetterleuchten.
Aber haben wir uns vielleicht gar zu weit von der Grundlinie unserer Erzählung entfernt? Schwester Pelagia hat schon längst durch das weit geöffnete Tor den Gutspark von Drosdowka betreten, und wir müssen uns beeilen, ihr zu folgen.
Der Regen ereilte Pelagia fünfzig Schritte vom Tor. Er strömte reichlich und fröhlich, und er ließ sogleich erkennen, dass er vorhatte, nicht nur die Kutte und das Tuch der Nonne, sondern auch ihr Unterhemd und sogar ihr Strickzeug in der Gürteltasche zu durchnässen. Pelegia bekam es mit der Angst. Sie hielt Umschau, ob jemand in der Nähe wäre, raffte die Röcke und rannte in beneidenswertem Tempo den Weg entlang, wozu sie durch die englische Gymnastik befähigt war, die sie, wie schon erzählt, in der Eparchialschule unterrichtete.
Nachdem sie die rettende Allee erreicht hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken an den Stamm einer alten Ulme, deren dichte Krone sie zuverlässig schützte, wischte die betropften Brillengläser blank und blickte zum Himmel.
Da gab es was zu sehen. Die nähere Hälfte des hohen Firmaments war schwarzviolett, aber nicht von der dumpfen, düsteren Färbung wie an hoffnungslos verregneten Tagen, sondern mit öligem Schimmer, als hätte ein himmlischer Gymnasiast aus Übermut lila Tinte auf ein hellblaues Tischtuch gegossen. Bis zu der ferneren Hälfte des Tischtuchs hatte sich der Fleck noch nicht ausgebreitet, dort schien noch immer die Sonne, und an jeder Seite wölbte sich ein Regenbogen, der eine heller und kleiner, der andere trüber und dafür größer.
Eine Viertelstunde später aber hatte sich alles verändert: Der nahe Himmel war nun hell, der fernere dunkel, und das bedeutete, der Regenguss hatte aufgehört. Pelegia verrichtete ein Gebet zum Dank für die glückliche Errettung vor dem Nasswerden und schritt durch die endlos lange Allee zu dem Gutshaus.
Als erster Gutsbewohner begrüßte die Nonne ein schneeweißer Welpe mit braunem Ohr, der aus dem Gebüsch gesprungen kam und sich sofort, ohne das leiseste Zögern, in den Saum ihrer Kutte verbiss. Der Hund war noch nicht heraus aus dem Säuglingsalter, besaß jedoch schon große Entschlossenheit. Den breitstirnigen Kopf hin und her werfend und ärgerlich knurrend, zerrte er an dem festen Stoff, und es war zu sehen, dass er diese Beschäftigung nicht so ohne weiteres aufgeben würde.
Pelagia nahm den Räuber in die Arme, und sie sah übermütige hellblaue Augen, eine schwarz gesprenkelte rosa Nase und samtweiche Hängebäckchen, die mit Erde verschmiert waren, doch weitere Einzelheiten konnte sie nicht wahrnehmen, denn das Hundchen streckte seine lange rote Zunge heraus und beleckte ihr sehr geschickt Nase, Stirn und Brillengläser.
Die Nonne, vorübergehend erblindet, hörte jemanden durch die Sträucher brechen. Eine Männerstimme sagte keuchend:
»Ach, da bist du ja! Hast schon wieder Erde gefressen, du Ausgeburt des Satans! Entschuldige, Schwesterchen, dass ich den Bösen im Munde führe. Das Dummchen hat das von seinem Vater und Großvater gelernt. Uff, danke, dass du ihn eingefangen hast, ich hätt ihn sonst nicht erwischt. Flink ist er, der Teufel. Ach, schon wieder, entschuldige!«
Pelagia drückte mit einer Hand das warme, straffe Körperchen an die Brust, mit der anderen nahm sie die besabberte Brille ab. Vor sich sah sie einen bärtigen Mann in Baumwollhemd, Plüschhose und Lederschürze, der Gärtner wohl.
»Da haben Sie Ihren Sakussai«, sagte sie. »Aber halten Sie ihn fest.«
»Woher weißt du seinen Namen?«, fragte der Gärtner erstaunt. »Oder warst du schon bei uns? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Uns Menschen im geistlichen Rang ist durch das Beten mancherlei offenbar, was gewöhnliche Sterbliche nicht wissen«, belehrte ihn Pelagia.
Ob der Bärtige ihr glaubte oder nicht, wer weiß, aber er holte ein Fünfzehnkopekenstück hervor und schob es ihr mit einer Verneigung in die Tasche.
»Hier, Schwesterchen, aus reinem Herzen.«
Pelagia wies es nicht zurück. Zwar brauchte sie kein Geld, aber Gott freute sich auch über eine kleine Spende, wenn sie aus reinem Herzen kam.
»Geh lieber nicht ins Haus«, empfahl ihr der Gärtner, »spare dir die Mühe. Unsere Herrschaft gibt frommen Besuchern kein Almosen, aus Prinzip.«
»Ich habe Marja Afanassjewna einen Brief vom Bischof zu überbringen«, erklärte Pelagia. Der Mann von Drosdowka zog ehrerbietig die Schirmmütze, verneigte sich und ging von »Schwesterchen« über zu »Mütterchen«.
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Mütterchen. Und ich dräng mich auf mit einem Geldstück. Folgen Sie mir bitte.«
Er ging voraus und hielt mit beiden Händen den sich sträubenden, ärgerlich winselnden Sakussai.
Rechterhand war eine kleine Wiese mit einer weißsteinernen Laube darauf, dort erging sich ein sonderbarer Herr im Havelock, auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut. Unterm Arm trug er einen schwarz lackierten Holzkasten und in der Hand ein langes Dreibein mit Metallspitzen. Dieses stieß er in die Erde und montierte darauf den Kasten, und nun war klar, dass es ein photographischer Apparat war, selbst in unserem entlegenen Gouvernement keine Seltenheit mehr.
Der Herr warf einen gleichgültigen Blick auf die Nonne und sagte zu dem Gärtner:
»Na, Gerassim, hast du den Ausreißer erwischt? Ich gehe hier im Park spazieren und nehme auf, wie der Dunst von der Erde aufsteigt. Ein seltener optischer Effekt.«
Der Herr sah gut aus mit dem gepflegten Bart und den gelockten langen Haaren. Es war gleich zu sehen, dass er nicht von hier stammte. Er gefiel Pelagia.
»Er ist ein photographischer Künstler«, erklärte Gerassim seiner Begleiterin, als sie ein Stück weiter waren. »Aus Piterburch. Bei uns zu Besuch. Ein Freund von unserm Gutsverwalter Stepan Schirjajew. Er heißt Arkadi Sergejewitsch Poggio.«
Sie gingen weitere hundert Schritte, doch das grüne Dach war noch immer weit weg. Hinter ihnen schmatzten Hufe über den etwas aufgeweichten Weg. Pelagia drehte sich um und sah eine leichte zweirädrige Kutsche, darin saß ein rosiger Herr mit einem weißen Kastorhut und einem leinenen Gehrock.
»Beste Gesundheit wünsch ich, Kirill Nifontowitsch«, sagte Gerassim mit einer Verbeugung. »Sie eilen zum Abendessen?«
»Wohin sonst? Brrr, brrr.«
Die blassen Äuglein richteten sich mit kindlicher Neugier auf Pelagia, und die runden Wangen falteten sich zu einem gutmütigen Lächeln.
»Wen eskortierst du denn da, Gerassim? Oho, und da hast du auch den Erbprinzen.«
»Die Schwester bringt der Herrin einen Brief vom Bischof.«
Der Herr in der Kutsche machte eine ehrerbietige Miene und lüpfte den Hut von der schweißigen Glatze.
»Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Kirill Nifontowitsch Krasnow, Gutsbesitzer und Nachbar. Steigen Sie ein, Mütterchen, ich nehme Sie mit, was wollen Sie sich abmühen. Auch das Hundchen kann mitfahren, Marja Afanassjewna hat gewiss schon Sehnsucht, steht auf der Treppe vor dem Haus, guckt sich nach ihm die Augen aus.«
»Ist das von Puschkin?«, fragte Pelagia und setzte sich neben den sympathischen Schwätzer.
»Zu viel der Ehre.« Er verbeugte sich und knallte mit der Peitsche. »Nein, von mir, ich dichte selbst. Die Zeilen fliegen mir zu bei jedem Anlass und auch ohne Anlass. Nur zu Gedichten fügen sie sich nicht, sonst wäre ich schon so berühmt wie Nekrassow und Nadson.«
Er deklamierte:
Meine Verszeilen sind mir recht,
sie sind vielleicht nicht mal ganz schlecht.
Sind sie auch nicht voll auf der Höhe,
so tun sie doch niemandem wehe.
Nach wenigen Minuten fuhren sie bei dem großen Haus vor, das mit allen Attributen der Pracht aus dem vorigen Jahrhundert ausgestattet war – dorische Säulenreihe, missmutig blickende Löwen auf Postamenten und sogar bronzene Einhörner aus Groß-Jägersdorf zu beiden Seiten der Treppe.
In der Diele fragte Krasnow flüsternd ein bildhübsches Stubenmädchen:
»Wie geht’s ihr, Tanja? Schau, ich bringe ihr Sakussai.«
Die blauäugige Tanja mit den schwellenden Lippen seufzte.
»Sehr schlecht. Sie isst nicht und trinkt nicht. Weint nur. Grad vorhin ist der Doktor weggefahren. Er hat nichts gesagt, bloß mit dem Kopf geschüttelt.«
Im dämmerigen Schlafzimmer der Kranken roch es nach Lavendeltropfen. Pelagia erblickte ein breites Bett; eine füllige alte Frau mit Häubchen lag halb sitzend auf einem Berg üppiger Kissen. Es waren noch andere Leute im Zimmer, welche die Nonne nicht gleich von der Schwelle her in Augenschein nehmen mochte, überdies mussten sich die Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen.
»Sakussai?«, fragte die Alte mit Bassstimme, richtete sich auf und streckte die vollen welken Arme vor. »Da bist du ja, mein Hängebäckchen. Danke, Väterchen, dass du ihn gebracht hast.« (zu Krasnow) »Und wer ist da noch? Eine Nonne? Ich seh dich nicht, tritt näher.« (zu Pelagia)
Pelagia trat ans Bett und verneigte sich.
»Marja Afanassjewna, ich bringe Ihnen vom Bischof den Segen und den Wunsch nach baldiger Genesung. Damit sendet er mich, die Nonne Pelagia, zu Ihnen.«
»Was soll mir sein Segen!«, murrte die Generalswitwe Tatistschewa. »Warum kommt er nicht selbst? Ha, eine Nonne schickt er, drückt sich. Ich werde alles aus dem Testament streichen, was der Kirche zugedacht war.«
Der Welpe war schon in ihren Händen, er leckte das alte, runzlige Gesicht.
Zu Füßen Pelagias tönte ein lautes Bellen, und ein breitbrüstiger Rüde stemmte die weißen Vorderpfoten aufs Bett, er hatte eine platte Nase und eine beleidigt gefaltete steil gewölbte Stirn.
»Sei nicht eifersüchtig, Sakidai«, sagte die Kranke. »Es ist ja dein Söhnchen, dein Fleisch und Blut. Na komm, lass dich streicheln.«
Sie zauste dem Erzeuger Sakussais das breite Genick und kraulte ihn hinterm Ohr.
Pelagia musterte derweil verstohlen die Leute im Schlafzimmer.
Der junge Mann und das junge Mädchen waren gewiss Enkel und Enkelin der Witwe. Er hieß Pjotr Georgijewitsch, sie Naina Georgijewna, beide Telianow, nach dem Vater. Sie waren vermutlich die Hauptbegünstigten des Testaments.
Pelagia versuchte sich vorzustellen, wie dieser helläugige brünette Jüngling, der von einem Bein aufs andere trat, den armen Hunden Gift ins Futter streute. Es gelang ihr nicht.
Zu dem bildschönen Mädchen – groß, stolz, mit launisch herabgezogenen Mundwinkeln – stellten sich auch keine schlechten Gedanken ein.
Da war noch ein Mann in Jackett und Russenhemd, der hatte ein schlichtes und angenehmes Gesicht, zu dem der Kneifer und der kurze dunkelblonde Spitzbart nicht recht passten. Wer das war, wusste Pelagia nicht.
»Der Bischof sendet Ihnen ein Schreiben«, sagte sie und reichte Frau Tatistschewa den Brief.
»Warum sagst du das nicht gleich? Gib her.«
Marja Tatistschewa sah die Nonne nun genauer an, nahm die Brille und die ganze Haltung zur Kenntnis und änderte ihren Ton:
»Geben Sie ihn mir, Mütterchen, ich will ihn lesen. Und ihr alle geht zu Abend essen. Ihr müsst hier nicht die Besorgten spielen. Und Sie gehen bitte auch essen, Mütterchen. Tanja, mach ihr ein Zimmer fertig, das Eckzimmer, in dem neulich dieser Selig übernachtet hat. Das passt gut zusammen. Er Selig, sie selig, denn sie ist ja die Braut Christi. Wenn Bubenzow wiederkommt, wie er angekündigt hat, quartieren wir Selig im Seitenflügel ein. Hol ihn der Kuckuck, er ist mir zuwider.«
Die redselige Tanja brachte die Besucherin in ein sauberes, helles Parterrezimmer, dessen Fenster in den Park blickte, und erzählte ihr von dem Selig, der vor ihr darin gewohnt hatte. Pelagia wusste, wer das war (wie sollte sie nicht, wo doch in den letzten Wochen im Bischofskloster nur noch von dem Synodalinspektor und seinen Gehilfen die Rede war), hörte aber aufmerksam zu. Tanja kam jedoch gleich auf den Tscherkessen zu sprechen, der zwar Furcht einflöße, aber auch ein Mensch sei, der sich nach einem freundlichen Wort sehne.
»Als ich ihn abends auf dem Hof traf, hab ich nur so gezittert. Er hat mich mit seinen schwarzen Augen angeguckt, und plötzlich hat er mich umgefasst, hier so. Ich bin ganz erstarrt, und er . . .«, plauderte Tanja halb flüsternd, während sie das Kissen aufschüttelte, doch dann kam sie zur Besinnung. »Oi, Mütterchen, was red ich da! Ihr dürft doch so was gar nicht hören als Nonne!«
Pelagia lächelte dem netten Mädchen zu. Sie wusch sich nach dem Fußweg und bürstete den Straßenstaub von der Kutte. Dann stand sie ein Weilchen am Fenster und blickte in den Park. Der war wunderschön, wenngleich verwildert. Oder war er gerade deshalb schön?
Auf einmal hörte sie ganz in der Nähe Stimmen. Zuerst eine Männerstimme, gedämpft und vor starker Erregung überkippend:
»Ich schwöre dir, ich tu’s! Danach kannst du nicht mehr hier leben! Ich werde dich zwingen wegzufahren!«
Schwester Pelagia hatte in ihrem Leben nur sehr wenige Liebeserklärungen gehört, aber das reichte aus, um sogleich zu erkennen – das hier war die Stimme eines wahnsinnig Verliebten.
»Wenn ich wegfahre, dann nicht mit Ihnen«, sagte eine Mädchenstimme. »Und ob ich wegfahre, ist noch die Frage.«
Du Ärmster, dachte Pelagia, sie liebt dich nicht.
Sie wurde neugierig. Sacht öffnete sie den Fensterflügel und linste hinaus.
Gleich rechts von ihrem Zimmer war die Hausecke. Das junge Mädchen stand genau an der Kante, so dass ihr Rücken nur halb zu sehen war. An dem rosa Kleid aber erkannte Pelagia, dass es Naina Telianowa war. Schade, der Mann war nicht zu sehen.
In diesem Moment läutete die Glocke zum Abendessen.
Der Tisch war auf der geräumigen Veranda gedeckt, die mit der Balustrade und der Vortreppe an den Park grenzte. Hinter den Bäumen war die Weite das Flusses zu ahnen, der seine Wasser am Hochufer von Drosdowka vorbeiführte.
Pelagia erblickte neue Gesichter und kam nicht gleich dahinter, wer wer war, aber die Mahlzeit und das anschließende Teetrinken dauerten geraume Zeit, und danach sah sie schon etwas klarer.
Außer den Personen, die sie bereits kannte – den Geschwistern, dem Photokünstler Arkadi Poggio und dem benachbarten Gutsbesitzer Kirill Krasnow –, saßen am Tisch der Mann im Russenhemd (nicht schön, aber von einnehmendem Äußerem), ein weiterer Mann mit Bart und bäurischem Gesicht, aber in einem Tweedanzug, und ein farbloses Frauenzimmer mit einem albernen Hütchen, das mit künstlichen Paradiesäpfeln geschmückt war.
Der Unschöne war der Gutsverwalter Stepan Trofimowitsch Schirjajew. Der Bärtige im Tweedanzug hieß Donat Abramowitsch Sytnikow, war ein reicher Altgläubiger aus dem Transwolgaland und hatte vor kurzem in der Nähe ein Landhaus erworben. Das verwelkte Frauenzimmer hieß Miss Wrigley. Welche Rolle sie in Drosdowka spielte, war nicht ersichtlich, doch sie gehörte höchstwahrscheinlich zu der verbreiteten Kategorie der englischen, französischen und deutschen Gouvernanten, die ihre russischen Zöglinge aufgezogen und unterrichtet und sich unter dem Dach ihrer Herrschaft so eingerichtet hatten, dass sie nicht mehr wegzudenken waren.
Zu Beginn des Abendessens erlebte Schwester Pelagia eine unangenehme Erschütterung.
Frau Tatistschewa erschien, auf Tanjas Schulter gestützt, und führte Sakidai und Sakussai an der Leine. Der Brief des Bischofs hatte sie sichtlich erleichtert, aber ihre Laune hatte sich nicht gebessert. Der Bischof sagte immer, manchen Kranken müsse man nicht mit Arzneien voll stopfen, sondern tüchtig erzürnen. Diese Methode schien er hier angewendet zu haben.
Die Bulldoggen, Vater und Sohn, wurden beiseite geführt, wo den Ersteren eine Schüssel mit Markknochen, den Letzteren eine mit Gänseleber erwartete. Nun begann ein Knirschen und Schmatzen, und an den beiden Hinterteilen, dem großen und dem kleinen, wackelten rhythmisch die weißen Schwanzstummel.
»Miss Wrigley, was haben Sie da für eine Orangerie auf dem Hut?«, fragte Frau Tatistschewa, dabei ließ sie den Blick um den Tisch wandern und hielt Ausschau, wen sie noch ärgern könnte. »Sie sind mir eine schöne jugendliche Naive. Aber warum nicht, Sie sind ja eine reiche Erbin. Höchste Zeit, sich nach einem Freier umzugucken.«
Pelagia spitzte die Ohren und musterte die Engländerin mit größerem Interesse. Sie sah eine lebendige Mimik, dünne Lippen, verschmitzte Fältchen um die Augen.
Der plötzliche Angriff hatte Miss Wrigley keineswegs eingeschüchtert, sie parierte ihn ohne die geringste Unterwürfigkeit und sprach fast akzentfrei:
»Sich nach einem Freier umzugucken ist es nie zu spät. Nicht mal in Ihrem Alter, Marja Afanassjewna. Sie küssen Ihren Sakidai so oft, dass es längst an der Zeit wäre, die Beziehung zu legalisieren. Was geben Sie sonst Naina für ein Beispiel.«
Das Gelächter rund um den Tisch zeigte Pelagia, dass die Hausfrau nur so streng tat und ihre Tyrannei eher gespielt war.
Nachdem die Engländerin ihr Paroli geboten hatte, richtete die Generalswitwe den zornigen Blick auf die Nonne.
»Unser Bischof, was mein Neffe ist, der ist auch gut. Ich kann hier krepieren, und er macht seine Witze. Was klapperst du mit den Augen, Mütterchen?«, sagte sie ärgerlich, wieder per du, zu Pelagia. »Darf ich vorstellen, meine Herrschaften: die neu erschienene Seherin in der Kutte. Sie wird mich retten, indem sie meinem Widersacher die Maske herunterreißt. Mein Neffe Mischenka sei bedankt für die Gefälligkeit. Hört mal her, was er mir schreibt.«
Sie holte den Brief hervor, setzte die Brille auf und las vor:
»Und damit Sie Ihre Ruhe wiederfinden, Tantchen, schicke ich Ihnen meine vertraute Gehilfin, Schwester Pelagia. Sie ist eine Person von scharfem Verstand und wird schnell herausfinden, wem Ihre kostbaren Hunde ein Dorn im Auge waren. Sollte es einer Ihrer Nächsten gewesen sein, der Ihnen übel will, was ich nicht glauben mag, so wird Pelagia den Frevler alsbald ermitteln und entlarven.«
Am Tisch war es still geworden. Was für eine Miene die einzelnen Leute machten, konnte Pelagia nicht sehen, da sie selbst puterrot dasaß und sich tief über den Teller mit dem Aalquappensouffle beugte.
In dieser Verlegenheit verweilte sie ziemlich lange, darauf bedacht, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber niemand versuchte, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Ihr einziger Freund bei diesem beabsichtigten oder zufälligen Scherbengericht war der freche Sakidai, der unter den Tisch geschlüpft war und ihr seine faltenreiche Schnauze aufs Knie legte. Seine Markknochen hatte er schon verputzt, und nun erkannte er mit untrüglicher Sicherheit, wer von den Menschen am Tisch sich am leichtesten erpressen ließ.
Der Älteste vom Geschlecht der weißen russischen Bulldoggen blickte die Nonne unverwandt an, den runden Kopf zur Seite geneigt und die Sokratesstirn gerunzelt. Pelagia war hungrig, aber unter diesem in die Seele dringenden Blick zu essen war ihr peinlich. Verstohlen nahm sie ein Häppchen Souffle von der Gabel und senkte die Hand unters Tischtuch. Heißer Atem umwehte ihre Finger, die raue Zunge kitzelte, das Stückchen Fisch verschwand.
Das Gespräch bei Tisch wurde interessant, es drehte sich um Talent und Genie.
»Von mir wurde schon als Kind gesagt: ein Talent, ein Talent«, erzählte Poggio und kniff ironisch ein Auge ein. »Als ich noch dumm war, habe ich mir viel darauf eingebildet, doch dann kam ich zu Verstand und dachte: Nur ein Talent? Warum ist Raffael ein Genie und ich nur ein Talent? Worin besteht der Unterschied zwischen ihm und mir? Ich bin nach Italien gereist, habe mir Raffaels Madonna angesehen – eindeutig genial. Dann meine Bilder – alles, wie es sich gehört: originell, subtil, feiner als Raffael, viel feiner. Und sofort zu erkennen: talentiert, bitte die Unbescheidenheit zu entschuldigen, aber nicht ge-ni-al.« Er dehnte die Silben. »Darum habe ich die Malerei aufgegeben – Talent, doch kein Genie. Jetzt mache ich photographische Bilder, und man sagt, sie sind gut. Zeugen von Talent. Aber das macht nichts, Genies gibt‘s noch nicht in der photographischen Kunst, und Raffael steht mir nicht im Licht.« Poggio lachte unfroh. »Aber Stepan hier, mit dem ich in der Akademie studiert hab, war auf dem Weg zum Genie. Du hättest das Malen nicht aufgeben sollen, Stepan. Ich habe gesehen, wie du neulich ein kleines Aquarell gemacht hast. Mit der Technik ist es nicht weit her, aber kühn, kühn. Solche Sachen bringen jetzt in den Pariser Salons viel Geld, und du warst schon vor zwanzig Jahren so weit. Sag mal, als du nach so vielen Jahren wieder zum Pinsel gegriffen hast, hat da nicht dein Herz frohlockt?«
Stepan Schirjajew antwortete mürrisch und widerwillig, mit gesenktem Blick:
»Frohlockt oder nicht, ist doch egal. Das Aquarell hab ich einfach so gemalt, hatte sonst nichts zu tun. Heu haben wir schon gemacht, und für Getreide ist es noch zu früh. Eine Verschnaufpause . . . Wozu Vergangenes aufrühren. Es hat sich so ergeben, also gut. Talent, Genie, alles dasselbe. Man muss die Sache tun, die einem obliegt. Und je eifriger, desto besser.«
Pelagia hatte den Eindruck, dass Schirjajew über Poggio verärgert war, und den schien die Abfuhr ein wenig zu entmutigen.
Um dem Gespräch eine scherzhafte Wendung zu geben, wandte er sich der Nonne zu und fragte mit übertriebener Ehrerbietung:
»Und was meint die heilige Kirche zum Thema Genie und Talent?«
Das Gespräch interessierte die Nonne, und die Kontrahenten gefielen ihr, darum wich sie nicht aus.
»Was den Standpunkt der Kirche angeht, da sollten Sie lieber einen Würdenträger fragen, doch nach meinem bescheidenen Verständnis besteht der Sinn des irdischen Lebens darin, das Genie in sich zu entdecken.«
»Das soll der Sinn sein?«, fragte Poggio verwundert. »Nicht Gott? Sie trauen sich ja was, Schwester.«
»Ich meine, in jedem Menschen ist ein Genie verborgen, eine kleine Öffnung, durch die Gott zu sehen ist«, erklärte Pelagia. »Doch nur wenigen gelingt es, sie zu entdecken. Die meisten Menschen tappen herum wie blinde Kätzchen und finden sie nicht. Und wenn doch einmal das Wunder geschieht, begreift der Mensch sofort – das ist es, wozu ich auf die Welt gekommen bin, und er lebt ruhig und selbstsicher weiter, ohne andere zu fragen. Das eben ist Genie. Talente kommen bedeutend öfter vor. Das sind die Menschen, die das verwunschene Fensterchen nicht gefunden haben, ihm aber ganz nahe sind und vom Widerschein des wundersamen Glanzes leben.«
Um besser zu überzeugen, schwenkte sie die Hand gen Himmel, doch so ungeschickt, dass sie mit dem weiten Ärmel eine Tasse umriss und Kirill Krasnow das Hosenbein verbrühte.
Der Ärmste hüpfte auf einem Bein, so heiß war das. Hüpfte, stöhnte und sprach dazu:
Und die Nonne von Schemacha
sprach zum Zaren voller Tücke:
»Koch dich bei lebend’gem Leibe
und zerlege dich in Stücke.«
Pelagia wäre vor Scham am liebsten in die Erde gesunken, sie brach fast in Tränen aus. Außerdem konnte sie nicht zu Ende sprechen, so laut lachten alle.
Schirjajew freilich hätte das Gespräch gern fortgesetzt, er sah die Nonne aufmerksam an und fragte:
»So also denken Sie über das Genie?«
Aber Frau Tatistschewa, die sich bei der theoretischen Diskussion weidlich gelangweilt hatte, warf rücksichtslos ein:
»Mütterchen, anstatt zu theoretisieren und die Leute zu verbrühen, sollten Sie lieber baldigst herausfinden, wer Saguljai und Sakidai vergiften wollte.«
Soeben kam der Gärtner Gerassim vom Park herein und brachte eine Schale mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen. Sein Erscheinen hatte auf Miss Wrigley, die bislang teilnahmslos Pajitos geraucht hatte, eine überraschend belebende Wirkung.
»Was haben Sie bloß dauernd mit Ihren Bulldoggen! Das sind verfressene Geschöpfe, die ewig im Park rumlaufen und das auch schon dem kleinen Baby beibringen. Und überall lauter Unrat im Park! Gestern habe ich mit eigenen Augen eine krepierte Krähe gesehen, wirklich wahr! Sie, liebe Schwester, sollten lieber herausfinden, wer meinen Rasen so zertrampelt hat.«
Am Tisch ein Seufzen und Stöhnen, und Pelagia begriff, dass Miss Wrigleys Rasen bei den Ureinwohnern von Drosdowka ein Dauerthema war.
»Nein, wer ihn zertrampelt hat, weiß ich selber.« Die Engländerin hob kriegerisch den Finger. »Schwester, Sie brauchen mir nur zu helfen, Beweise zu finden, denn bei uns mag man an eindeutige Dinge nicht glauben.«
»Was brauchen wir diesen blöden Rasen«, sagte Gerassim vor sich hin, während er die Früchte kunstvoll auslegte. »Der muss gar nicht erst zertrampelt werden.«
»Die beiden führen seit langem einen Rasenkrieg, Miss Wrigley und der Gärtner«, erklärte der Enkel Pjotr der Nonne und zog vergnügt die rote Nase kraus. »Sie wirft ihm seine Faulheit vor und hat zu pädagogischen Zwecken ein paar Quadratmeter englischen Rasen angelegt, drüben beim Steilufer. Um zu zeigen, wie das Gras im Park aussehen soll. Aber Gerassim will es nicht lernen und hat wohl sogar Sabotage begangen. Jedenfalls hat jemand den kostbaren Rasen vorgestern total zertrampelt.«
»Sie versündigen sich, Pjotr Georgijewitsch«, sagte Gerassim gekränkt. »Die rasierten Stoppeln mag man nicht mal bespucken, geschweige denn zertrampeln. Man darf die Natur nicht verhunzen, Grünzeug und Bäume sollen wachsen, so wie Gott es will.«
»Auf Gott beruft er sich!«, kommentierte Miss Wrigley diese Doktrin. »Männer finden doch immer eine Ausrede für ihr Nichtstun.«
Aber der Wortwechsel blieb lasch und ohne Eifer, und der lange Augustabend bot keinen Anreiz für Erbitterung.
Nach einer anhaltenden friedlichen Pause sagte die Enkelin Naina plötzlich etwas unpassend:
»Ja, die Männer sind grausam und frevlerisch, aber ohne sie wäre überhaupt nichts los auf der Welt.«
Während der Mahlzeit war die junge Frau traurig und in sich gekehrt, beteiligte sich nicht am Gespräch und schien auch gar nicht zuzuhören. Pelagia blickte immer wieder zu ihr hin und versuchte zu ergründen, ob das ihre Natur war oder ob heute etwas Besonderes mit ihr vorging. Vielleicht lag der Grund für ihre sonderbare Entrücktheit in dem Gespräch, das die Nonne vor dem Abendessen teilweise mit angehört hatte? Aber wer war der Mann gewesen, der mit vor Leidenschaft überkippender Stimme gesprochen hatte? Ob er hier mit am Tisch saß?
Außerdem staunte Pelagia darüber, wie sonderbar die Vorsehung mit den Geschwistern umgegangen war, als sie deren Aussehen ganz verschieden gestaltete. Pjotr, ein noch junger Mann (dem Aussehen nach um die dreißig), hatte schwarze Haare, von der Sonne gebleichte Brauen und Wimpern und einen mehlweißen Teint, von dem sich die große rote Nase grotesk abhob. Bei Naina waren die Farben umgekehrt verteilt: goldblonde Haare, schwarze Brauen und Wimpern, zartrosa Wangen und eine fein gemeißelte Nase mit einem zierlichen Höcker. Sie war eine Schönheit, die zweifellos Männern den Kopf verdrehen und sie zu jeder Wahnsinnstat verleiten konnte. Für Pelagias Geschmack war die eigensinnige Mundkrümmung ein Makel, doch höchstwahrscheinlich brachte just diese gebrochene Linie mehr als alles andere die Männer um den Verstand.
Naina schien in Drosdowka eine Sonderstellung einzunehmen – der unverständliche Satz, den sie fallen gelassen hatte, zog ein angespanntes Schweigen nach sich, als warteten alle, ob sie noch etwas hinzufügen würde.
Und das tat sie denn auch, aber sie folgte dabei offenbar einem inneren Gedanken, so dass der Sinn nicht deutlicher wurde: »Liebe ist immer ein Frevel, selbst wenn sie glücklich ist, denn dieses Glück ist mit Sicherheit auf irgendwessen Unglück aufgebaut.«
Schirjajews Kopf zuckte wie von einem Schlag, Poggio lächelte gequält, und der reiche Sytnikow fragte:
»Wenn Sie gestatten, wie darf man das verstehen?« Er umfasste den grau melierten rötlichen Kinnbart mit seinen kurzen Fingern.
»Liebe ohne Verrat gibt es nicht«, fuhr Naina fort, dabei starrte sie mit weit offenen schwarzen Augen vor sich hin. »Denn jeder Liebende verrät seine Eltern, verrät seine Freunde, verrät die ganze Welt um des einen Menschen willen, der dieser Liebe vielleicht gar nicht würdig ist. Ja, die Liebe ist auch ein Verbrechen, das liegt klar auf der Hand . . .«
»Was bedeutet das – auch?«, fragte Sytnikow achselzuckend. »Was ist das für eine Manier, in Andeutungen zu reden?«
»Sie will sich interessant machen«, fauchte ihr Bruder. »Sie hat irgendwo gelesen, dass die modernen Fräulein in den Hauptstädten in Rätseln sprechen, und das übt sie nun an uns.«
In diesem Moment trat Tanja zu Pjotr, um ihm Tee nachzuschenken, und Pelagia sah, dass er ihr für einen Moment die Hand drückte.
»Danke, Tatjana Sotowna«, sagte er zärtlich. Das Stubenmädchen erglühte und blickte verstohlen zu der Generalswitwe. »Wie denken Sie über die Liebe?«
»Unsereins ist nicht zum Denken da«, lispelte Tanja. »Dafür gibt’s die gebildeten Leute.«
»Unsere Nonne hat aber guten Appetit«, bemerkte Krasnow und zeigte auf die leere Platte, von der Pelagia sich gerade die letzte Schinkenscheibe genommen hatte. »Obwohl wir die Fasten haben, Schwesterchen?«
»Macht nichts«, antwortete Pelagia verschämt. »Heute ist doch das Fest der Verklärung Christi, da erlaubt es die Klosterordnung.«
Sie tat, als führte sie den Schinken zum Munde. Sakidai stieß ihr sogleich empört die Schnauze ans Knie – du vergisst dich. Pelagia ließ unauffällig die Hand sinken, stopfte den Schinken dem Erpresser in den Rachen und gab ihm einen Stups gegen die feuchte kalte Nase: Schluss, mehr gibt’s nicht. Sakidai verschwand im Nu.
»Wenn ich die Vorschriften unserer rechtgläubigen Kirche mag«, sagte Krasnow, »dann weil ihre Diätvorschriften so wohl durchdacht sind. Das verzwickte System der Fasten und des Fleischgenusses nach dem Fasten ist, medizinisch gesehen, eine ideale Hilfe für Magen und Darm. Nein wirklich, warum lachen Sie, ich meine es ernst! Das Fleischessen im Herbst und im Winter unterstützt die Ernährung in der kalten Jahreszeit, und die Großen Fasten reinigen den Darm vor der Pflanzennahrung im Frühjahr und im Sommer. Die rechtzeitige Darmentleerung ist der Eckpfeiler des intellektuellen und geistigen Lebens! Ich zum Beispiel kompensiere mein Nichteinhalten der Fastengebote durch allabendliche Klistiere mit Kamillenaufguss, was ich nur weiterempfehlen kann. Ich habe zu diesem Thema sogar einen Vierzeiler geschrieben:
Warte mit dem Schlafen, Schöne!
Du hast Wichtiges vergessen:
Dir zur innren Reinigung
Die Kamille zuzumessen.«
»Hol Sie der und jener, Kirill Nifontowitsch!«, rief lachend Frau Tatistschewa. »Hören Sie nicht auf ihn, Mütterchen, er ist bei uns der Anhänger des Fortschritts. Fährt mit dem Veloziped über die Wiese und erschreckt die Kühe. Und besuchen Sie ihn nie unangekündigt, er sitzt oft splitternackt auf dem Dach und nimmt Sonnenbäder. Pfui Schande! Und sehen Sie die Stoppeln rund um seine Glatze? Alle Jahre zu Beginn des Sommers rasiert er sich die Haare ab, damit sein Schädel atmen kann. Vor kurzem hat er sein Gut verpfändet, um von Sawolshsk bis zu sich nach Hause eine Telegraphenleitung zu legen. Und wissen Sie, wozu? Um telegraphisch mit dem Postmeister Dame zu spielen. Wenn er wenigstens gut spielen täte, aber nein, er verliert dauernd.«
»Na und?« Krasnow war nicht beleidigt. »Ich spiele ja nicht aus Ehrgeiz, sondern um unsere Sawolshsker Wilden zu belehren. Sie sollen wissen, was Fortschritt ist. In Europa werden täglich neue Entdeckungen und Erfindungen gemacht, in Amerika bauen sie Häuser, die bis in die Wolken reichen, und unsere langschößigen Altgläubigen, die sich mit zwei Fingern bekreuzigen, laufen vor Lokomotiven davon und kneifen vor den Gaslaternen die Augen zu, um sich nicht mit der Teufelsflamme zu besudeln.«
»Das stimmt, unsere Altgläubigen sind misstrauisch gegenüber dem Neuen, aber doch nicht alle«, trat Sytnikow für seine Landsleute ein. »Die Jungen wachsen nach, und bei uns hier ändert sich alles. Mich hat dieser Tage ein Kaufmann von der Sekte der Priesterlosen aufgesucht, Awwakum Silytsch Wonifatjew, um mir Wald zu verkaufen. Sie werden sich erinnern, bevor ich ihn begrüßen ging, habe ich hier beim Tee erzählt, dass er mit fünfzehn Jahren an eine dreiunddreißigjährige Frau verheiratet wurde. Pjotr Georgijewitsch, Sie waren nicht dabei, Sie hatten in Sawolshsk zu tun«, sagte er zu Telianow.
Schirjajew nickte.
»Gewiss, eine pikante Geschichte, passt zu den hiesigen Sitten. Bubenzow hat noch gesagt, die Staatsmacht will euer Altgläubigentum hier ausrotten, um Schluss zu machen mit dieser Barbarei. Und, haben Sie Wonifatjew den Wald abgekauft?«, fragte Schirjajew. »Wie viele Dessjatinen?«
»Guter Wald, nur Kiefern. Knapp dreitausend Dessjatinen, bloß ziemlich weit weg, am Oberlauf der Wetluga. Eine Menge Geld hat er mir abgeknöpft, fünfunddreißigtausend. Aber das macht nichts, ich geb dem Wald noch zehn, fünfzehn Jahre zum Wachsen, dorthin wird gerade eine Schmalspurbahn gebaut, dann krieg ich dafür bestimmt dreihunderttausend. Aber darum geht’s nicht. Wonifatjew hatte seinen Sohn mit, interessanter Bengel. Während sein Vater und ich, wie üblich, lange feilschten, bis wir einschlugen, hatte ich den Jungen in die Bibliothek gesetzt, damit er sich nicht langweilt, und ihm Äpfel und Pfefferkuchen hingestellt. Einmal schau ich rein, ob er nicht eingeschlafen ist, da seh ich, er liest in meinem Fachbuch für Elektromotoren, das hatte ich mir kürzlich aus Moskau kommen lassen. Ich frag ihn: Wozu liest du das? Da sagt er: Onkel, wenn ich groß bin, will ich eine elektrische Bahn durch den Wald bauen. Eine Schneise schlagen und Schienen verlegen, das ist langwierig und teuer. Ich, sagt er, stelle starke Masten auf und hänge kleine Waggons an Seile. Das ist billiger und bequemer und geht schneller. Und da sagen Sie und Bubenzow, wir sind Wilde . . .«
»Sakidai!«, rief die Generalswitwe plötzlich und schlug die Hände zusammen. »Sakidai! Wo steckt der Hund? Ich hab ihn schon eine Weile nicht gesehen!«
Alle hielten Umschau, und Schwester Pelagia linste unter den Tisch. Die Bulldogge war nicht auf der Terrasse. Der kleine Sakussai lag mit ausgestreckten Pfoten friedlich schnaufend neben der leeren Schüssel, doch sein Erzeuger war verschwunden.
»In den Park ist er gelaufen«, konstatierte Miss Wrigley. »Dort wird er wieder irgendeinen Dreck fressen.«
Frau Tatistschewa griff sich ans Herz.
»Ach mein Gott . . .« Sie schrie gellend: »Sakidai, wo steckst du?«
Pelagia sah staunend große Tränen aus ihren Augen rinnen. Die Herrin von Drosdowka versuchte aufzustehen, sank aber wie ein Sack in den Korbsessel zurück.
»Liebe Leute«, murmelte sie. »Geht, lauft . . . Sucht ihn. Gerassim! Beeilt euch! Tanja, lass jetzt die Tropfen. Geh mit, ihn suchen. Die Tropfen kann mir die Schwester geben, sie kennt ja den Park nicht. Bringt ihn mir!«
Im Handumdrehen leerte sich die Terrasse – alle, auch die störrische Miss Wrigley und die eigensinnige Naina, liefen in den Park, um den Hund zu suchen. Nur die schluchzende Frau Tatistschewa und Schwester Pelagia blieben zurück.
»Zwanzig sind zu wenig, ich will dreißig Tropfen.«
Mit fliegender Hand nahm die Witwe das Glas mit den Herztropfen und trank.
»Geben Sie mir Sakussai!«, verlangte sie und drückte den verschlafenen Welpen an die Brust.
Sakussai öffnete ein wenig die Augen und schlug leise an, weigerte sich aber aufzuwachen. Er kuschelte sich unter die umfängliche Büste der Witwe und wurde still.
Aus dem Park klangen die Stimmen und das Gelächter der Sucher, die sich untereinander verständigten, während sie den weitläufigen Park durchsuchten. Die unglückliche Frau Tatistschewa saß, nicht tot noch lebendig, da und redete, redete, als wollte sie so die Sorge verscheuchen.
»Ach, Mütterchen, dass mein Haus voller Menschen ist, besagt gar nichts, ich bin schrecklich allein, niemand liebt mich wirklich, nur meine Kinderchen.«
»Ist das wenig?«, sagte Pelagia tröstend. »Diese beiden prächtigen jungen Leute.«
»Sie meinen Pjotr und Naina? Ich spreche von meinen Hunden. Pjotr und Naina . . . denen bin ich nur im Wege. Meine Kinder hat der Herr zu sich genommen. Am längsten hat Polina gelebt, die Jüngste, aber auch ihr war nur eine kurze Zeit beschieden. Sie starb, als sie Naina zur Welt brachte. Ein gutes Mädchen war sie, lebhaft, mit heißem Herzen, aber als Frau stockdumm, und Naina kommt nach ihr. Polina hat gegen meinen und meines Mannes Willen früh geheiratet, diesen lausigen kleinen Fürsten aus Georgien, der nichts anderes konnte als den Leuten blauen Dunst vormachen. Ich wollte nichts mit der Sippe zu tun haben, aber als Polina die Augen zugemacht hatte, taten mir die Waisen leid. Ich habe sie losgekauft und zu mir genommen.«
»Losgekauft? Wie denn?«, fragte Pelagia verwundert.
Die Generalswitwe machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ganz einfach. Ich habe ihrem Vater versprochen, seine Schulden zu bezahlen, wenn er mir ein Papier unterschreibt, dass er seinen Sohn und seine Tochter nie wiedersieht.«
»Und das hat er unterschrieben?«
»Was sollte er machen? Unterschreiben oder ins Kittchen.«
»Und er hat sich nie wieder gemeldet?«
»Doch, hat er. Vor fünfzehn Jahren hat er mir einen weinerlichen Bettelbrief geschrieben. Gebettelt hat er nicht um ein Wiedersehen mit den Kindern, sondern um eine geldliche Zuwendung. Später soll er nach Amerika gegangen sein. Ob er noch lebt, weiß ich nicht. Aber die Enkel hat er mir verdorben mit seinem Gockelblut. Pjotr ist ein Tölpel. Aus dem Gymnasium haben sie ihn geworfen wegen dummer Streiche. Von der Universität ist er geflogen wegen Aufruhr. Über den Minister habe ich ihn freigebeten, damit er unter meine Obhut durfte, eigentlich sollte er nach Sibirien. Der Junge ist gutmütig und feinfühlig, aber eben sehr . . . dumm. Er hat keinen Charakter und taugt zu keiner Aufgabe. Er versucht, Stepan Schirjajew zu helfen, aber er bringt nicht mehr Nutzen als eine Nonne Nachwuchs.«
Pelagia räusperte sich zum Zeichen, dass der Vergleich unpassend war, aber Frau Tatistschewa hatte für solche Feinheiten keinen Sinn. Mit gequälter Stimme rief sie aus:
»Mein Gott, warum dauert das so lange? Wenn bloß nichts passiert ist . . .«
»Und was ist mit Naina Georgijewna?«, fragte Pelagia, um die Gutsherrin von ihren unruhigen Gedanken abzulenken.
»Die kommt nach ihrer Mutter«, sagte die Witwe heftig. »Ebenso launisch, nur hat sie von dem Fürsten obendrein den Hang zur Wichtigtuerei geerbt. Mal wollte sie Schauspielerin werden und hat dauernd Monologe deklamiert, dann wieder zog es sie zur Malerei, und jetzt kapiert man überhaupt nichts mehr, so wirr redet sie. Ich bin ja selber schuld, hab sie zu sehr verwöhnt, als sie noch klein war. Das Waisenkind hat mir Leid getan. Sie war Polina so ähnlich . . . Was, bringen sie ihn?«
Sie erhob sich vom Sessel, horchte und setzte sich wieder.
»Nein, ich hab mich geirrt. Was aus ihnen werden soll, wenn ich nicht mehr bin, das weiß Gott allein. Meine ganze Hoffnung liegt bei Stepan. Er ist ehrlich, treu, rechtschaffen. Das wäre der Richtige für Naina, und er liebt sie, das sehe ich, aber begreift sie denn, was an Männern schätzenswert ist? Stepan ist unser Zögling. Er ist hier auf gewachsen, hat dann an der Akademie studiert, um Kunstmaler zu werden, und da ist mein Apollon gestorben. Stepan war zwar noch ein Jungchen, aber er hat das Studium hingeworfen, ist nach Drosdowka zurückgekommen, hat die Wirtschaft in die Hände genommen und macht das so gut, dass mich das ganze Gouvernement beneidet. Doch er ist nicht mit dem Herzen dabei, das sehe ich. Aber er murrt nicht, empfindet das als seine Pflicht. . . Ich stehe in seiner Schuld, ich Sünderin. Vorgestern habe ich mit ihm gezankt, auch mit den Enkeln, war ganz außer mir wegen Saguljais Tod. Habe mein Testament geändert, und jetzt schäme ich mich . . .«
Pelagia wollte schon den Mund aufmachen, um nach den Änderungen im Testament zu fragen, doch sie biss sich auf die Zunge, denn mit der Hausfrau geschah Unheimliches.
Die Witwe riss den Mund auf, ihre Augen quollen vor, die Falten unterm Kinn bebten in kleinen Wellen.
Der Schlag hat sie getroffen, dachte die Nonne erschrocken. Sehr wahrscheinlich, bei ihrer Beleibtheit.
Aber Frau Tatistschewa zeigte keine Lähmungserscheinungen, im Gegenteil, sie riss die Hand hoch und zeigte mit dem Finger auf etwas hinter der Nonne.
Pelagia drehte sich um und sah: Aus dem Park kam, eine dunkelrote Spur ziehend, Sakidai zur Terrassentreppe gekrochen. In dem höckerigen weißen Schädel des Hundes steckte ein Beilchen, aus irgendwelchen Gründen blau lackiert, so dass die weiß-blau-rote Farbskala exakt die Farben der russischen Fahne wiedergab.
Sakidai kroch mit letzter Kraft, die Zunge herausgestreckt, und blickte auf einen einzigen Punkt – dahin, wo Frau Tatistschewa vor Grauen erstarrt war. Er winselte nicht, er jaulte nicht, er kroch nur. Kurz vor der Veranda verließ ihn die Kraft, er stieß mit dem Kopf gegen die unterste Stufe, zuckte ein paarmal und war tot.
Frau Tatistschewas Kleid raschelte, sie sank zur Seite, und ehe Schwester Pelagia sie auffangen konnte, stürzte sie zu Boden. Der Kopf der alten Frau schlug krachend auf die Kieferndielen. Der kleine Sakussai, seiner weichen Wiege verlustig, kullerte wie ein weißer Ball über die Veranda und kläffte kläglich.
Einen Schlaganfall stellte der Arzt nicht fest, aber er machte auch keine Hoffnungen. Das sei ein Nervenfieber, dagegen könne die Medizin nichts ausrichten. Es komme vor, dass selbst ein kerngesunder Mensch nach einer Erschütterung innerhalb weniger Stunden daran sterbe, doch hier kämen das vorgerückte Alter, das Herz und das hysterische Naturell noch dazu. Auf die Frage, was man denn nun tun solle, gab er die seltsame Antwort: »Ablenken und erfreuen.«
Wie aber sie ablenken, wenn sie immerfort nur von dem einen sprach? Womit erfreuen, wenn ihren Augen unaufhörlich Tränen entströmten? Überdies ließ sie keinen der Nächsten an sich heran, sie schrie: »Ihr alle seid Mörder!«
Der Arzt fuhr wieder ab, nachdem er für die Visite die ihm zustehende Vergütung erhalten hatte. Der Familienrat beschloss, Schwester Pelagia um die geistliche Betreuung der Patientin zu bitten, zumal diese selbst weder Enkel noch Nachbarn, nicht einmal den Gutsverwalter sehen wollte, nur immer wieder nach der Nonne fragte und sie nachgerade stündlich zu sich ins Schlafzimmer zitierte.
Pelagia folgte ihrem Ruf, setzte sich zu ihr ans Kopfende und lauschte ihren fieberhaften Reden. Die Vorhänge waren zugezogen, auf einem kleinen Tisch brannte eine Lampe mit grünem Schirm, es roch nach Anis und Minzeküchlein. Die Witwe schluchzte, drückte sich verschreckt in die Kissen, verfiel dann wieder in Wut, aber nicht für lange, denn zu anhaltendem Zorn fehlte ihr die Kraft. Fast ständig lag Sakussai ihr zur Seite, und sie streichelte ihn, nannte ihn »Waisenkind« und fütterte ihn mit Schokolade. Der Ärmste war schon ganz ermattet von der Bewegungslosigkeit und probte von Zeit zu Zeit den Aufstand mit Gebell und Gewinsel. Dann nahm Tanja ihn an die Leine und führte ihn spazieren, doch solange die beiden unterwegs waren, war die Hausfrau von Unruhe erfüllt und blickte immer wieder zu der großen Wanduhr.
Pelagia empfand natürlich Mitleid mit der Kranken, wunderte sich aber zugleich, woher die schwache Frau, die kaum die Zunge bewegen konnte, so viel Grimm nahm.
Frau Tatistschewa küsste Sakussai auf die faltenreiche Schnauze und sagte:
»Wie viel besser als die Menschen sind doch die Hunde!«
Sie horchte auf die Stimmen, die gedämpft aus der Tiefe des Hauses drangen, und flüsterte voller Hass:
»Das Haus ist ein Schlangennest.«
Oder sie guckte auf die Hände der Nonne, die flink mit den Stricknadeln klapperte, und verzog das Gesicht.
»Was stricken Sie denn da, Mütterchen? Irgendwas Grässliches. Schmeißen Sie’s weg.«
Am unangenehmsten aber waren die Anfälle schlimmster Verdächtigungen, welche die Witwe mehrmals am Tag überkamen. Dann stürzte die Dienerin los, um Schwester Pelagia zu suchen. Sie fand sie entweder in deren Zimmer, in der Bibliothek oder im Park und brachte sie zu der Kranken, die sich unter der Zudecke zusammenkrümmte, so dass nur die fiebrig glänzenden Augen hervorsahen.
»Ich weiß, das war Pjotr, niemand sonst!«, flüsterte sie. »Er hasst mich, will mich umbringen! Er ist ja zwangsweise hier, und ich bin dem Polizeichef für ihn verantwortlich. Er hat mich Benckendorff (Benckendorff, Alexander Graf von (1783-1844) - ab 1826 Chef des Gendarmeriekorps und der Dritten Abteilung. D.Ü.) genannt und noch ganz anders. Er war’s, diese Telianowsche Ausgeburt! Ich bin ihm nur im Wege. Er wollte die Dorfkinder unterrichten, das habe ich nicht zugelassen, denn er hätte ihnen nichts Gutes beigebracht. Geld gebe ich ihm auch nicht, das würde er nur seinen Nihilisten schicken. Und dann hat er hier noch gänzlich den Verstand verloren, meine Tanja will er heiraten. Ein Stubenmädchen! ›Großmutter‹, hat er gesagt, ›wagen Sie nicht, Tanja zu duzen, Sie müssen den Menschen in ihr sehen.‹ Gut, was? Mein Enkel will ein Flittchen vom Hofgesinde ehelichen! Wenn er wenigstens besinnungslos in sie verliebt wäre, doch nein. Es ist so eine Idee von ihm – sich zu opfern, um aus einer Halbanalphabetin eine aufgeklärte Frau zu machen. ›Große Aufgaben‹, sagt er, ›sind was für große Leute, ich jedoch bin ein kleiner Mensch, und meine Aufgabe wird klein sein, aber dafür gut. Wenn jeder von uns auch nur einen Menschen glücklich macht, hat er nicht umsonst gelebt.‹ Ich zu ihm: ›Du wirst das Mädchen ohne Liebe nicht glücklich machen, und wenn du sie von oben bis unten vergoldest und ihr sämtliche Bücher der Welt vorliest. Wozu ihr den Kopf verdrehen? Ich habe schon einen Bräutigam für sie ausgeguckt, den Sohn vom Aufkäufer, der passt bestens zu ihr. Du setzt ihr nur einen Floh ins Ohr, und nachher trauert sie ihr Leben lang den unerfüllten Träumen nach.‹ Und am beschämendsten, er schläft nicht mal mit ihr, der Trottel! Ich denke mir, wenn er nächtlicher Weile öfters zu ihr ginge, würde er sich die Hörner abstoßen und zur Vernunft kommen. Was gucken Sie mich so vorwurfsvoll an, Mütterchen? Ich habe mein Leben gelebt und weiß, wovon ich rede.«
Eine Stunde später hatte sie schon anderes im Kopf.
»Nein, Naina war’s. Die ist ganz liebestoll. Ich kenne diese Veranlagung bestens, ich war genauso. Ich hätte meine Eltern eigenhändig erwürgen können, nur um frei zu sein. Besonders als ich mich mit siebzehn dummerweise in den Gemeindepopen verliebte. Der war schön, jung und hatte eine Stimme wie Samt. Fast wäre ich mit ihm durchgebrannt, aber zum Glück hat mein Vater selig mich abgepasst, mich verbläut und in die Kammer gesperrt. Auch Naina hat sich in irgendwen verknallt, es schwirren ja genug Kerle um sie herum. Nun steht die Großmutter ihrem Glück im Wege. Sie hat sich einen ausgesucht, mit dem ich nie im Leben einverstanden wäre, das weiß sie und will nun über meine Leiche an ihr Ziel. Vielleicht ist das ihr Charakter. Ach, Naina, Naina, habe ich dich nicht geliebt, habe ich dir nicht meine ganze Seele gegeben? Mein Sakussai, mein weiß geflügeltes Engelchen, nur du wirst mich nicht verraten, nicht wahr, mein Süßerchen?«
Dann, eine Weile später, traf Pelagia die Witwe in selbstloser Versöhnlichkeit. Vor Edelmut schluchzend, sagte die Witwe:
»Setz dich, Mütterchen, und hör zu. Mir ist aufgegangen: Es war Stepan, und ich gebe ihm keine Schuld. Wie viel von seiner Lebenszeit hat er mir geopfert. Seit zwanzig Jahren ist er ständig bei mir. Seinen Traum hat er aufgegeben, sein Talent begraben, ist mit vierzig noch Junggeselle. Ich lebe doch von seiner unermüdlichen Arbeit. Ohne ihn wäre das Vermögen meines Mannes längst in Rauch aufgegangen, bei meiner Dummheit, doch er hat es bewahrt und gemehrt. Dabei ist er auch ein lebendiger Mensch. Vielleicht denkt er: Die Alte hat ihr Leben gelebt, nun wird es Zeit, dass sie abtritt. Poggios Ankunft hat ihm den Kopf verdreht, klarer Fall. Stepan hat die Staffelei vom Dachboden geholt, hat sich Farben aus der Stadt mitgebracht, und seine Augen sind anders geworden. Nun, ich verstehe ihn und verurteile ihn nicht . . . Aber er hätte es mir auch ins Gesicht sagen können. Soundso, Marja Afanassjewna, ich habe genug für Sie gearbeitet, jetzt lassen Sie mich bitte gehen. Aber das sagt er nicht. Es ist ihm peinlich. Lieber eine alte Frau umbringen als undankbar vor ihr dazustehen. Ich kenne diese Sorte, da geht Stolz und Leidenschaft Hand in Hand . . . Doch nein, ich bin ja blind! Nicht Stepan war es, sondern Poggio!« Sie richtete sich mühsam auf. »Stepan hofft vielleicht insgeheim, dass ich bald abkratze, doch ein hilfloses Hundchen vergiften, nein. Aber Poggio, der ja! Nur spaßeshalber oder um einem Freund zur Freiheit zu verhelfen! Verdorben ist er, ein Satan! An Naina hat er sich rangemacht, hat Bildchen von ihr gemalt und sie photographiert. Und den Stepan bringt er durcheinander . . . Ich merke längst, dass er mich anguckt wie ein Wolf. Er war’s, er! Und hat sich hier als Dauergast eingenistet, den dritten Monat schon. Anfangs wollte er einen ›knappen Monat‹ bleiben. Er wird nicht abreisen, ehe er mich ins Grab gebracht hat!«
In kürzester Zeit wuchs ihr eine neue Überzeugung zu, so unerschütterlich wie die bisherigen.
»Sytnikow! Der ist ein furchtbarer Mensch, der braucht nur Gewinne, dafür verkauft er dem Teufel seine Seele. Nicht umsonst heißt es, er habe wegen des Geldes geheiratet und hinterher seine Frau vergiftet. Auch den Grund kenne ich, warum ich ihm im Wege bin. Das Gorjajewsche Ödland! Seit langem will er, dass ich’s ihm abtrete, weil er da einen Umschlagplatz errichten möchte, die Stelle passt gut dafür. Ich habe ihm gesagt, ich verkaufe nicht. Seine Lastkähne würden mir die ganze Aussicht vermiesen! Aber er gibt nicht auf. Alles muss nach seiner Nase gehen. Sonst macht ihm das Leben keinen Spaß. Seine Frau hat er zu Tode gebracht, und nun will er auch mich zu Tode bringen. Und wenn ich nicht mehr bin, werden ihm Pjotr und Naina nicht nur das Ödland, sondern alles hier verkaufen, und dann schleunigst ab in die Hauptstadt und ins Ausland. Also macht es für Donat Sytnikow Sinn, mich bald ins Jenseits zu befördern. Aber sie alle werden ihr blaues Wunder erleben.« Die Alte zeigte matt eine Feige. »Ich habe vor drei Tagen mein Testament noch einmal umgeschrieben und alles der Engländerin vermacht. Ich wollte denen nur einen Schreck einjagen, aber jetzt lasse ich’s so. Da sie mich nicht mehr leiden können, soll Janet Wrigley ihre Herrin sein. Dann werden sie schon sehen.«
Pelagia hatte den wirren Reden der Kranken anfangs sehr aufmerksam zugehört und sie in Beziehung gesetzt zu ihren eigenen Überlegungen und Beobachtungen, aber jede neue Hypothese übertraf die vorhergehende an Aberwitz.
Die letzte war schon gänzlich außerhalb des gesunden Menschenverstandes.
»Kirill Krasnow«, sagte Frau Tatistschewa scharf akzentuiert, als Tanja die Nonne wieder einmal ins Schlafzimmer brachte. »Er ist tückisch, eine Bestie, spielt aber den Narren. Wieso trabt er jeden Tag hier an? Geld will er von mir. Im Herbst kommt sein Gut unter den Hammer mitsamt seinen wunderbaren Telegraphen. Er sagt: ›Dann sterbe ich.‹ Und das wird er auch, ganz bestimmt. Was soll er machen ohne sein Gut Krasnowka? Er läuft rum und jammert. Bittet um anderthalbtausend, die er an Zinsen bezahlen muss. Ich habe ihm gesagt, von mir kriegt er sie nicht. Schon mehr als einmal habe ich ihm was gegeben. Jetzt reicht’s. Und nun will er sich an mir rächen. Bestimmt denkt er: Wenn ich sterben muss, braucht auch die alte Hexe nicht mehr zu leben.«
Pelagia redete der Leidenden ins Gewissen, damit sie, falls sie denn wirklich aus dieser Welt schiede, nicht die Sünde solcher Verbitterung mitnehme:
»Marja Afanassjewna, und wenn Sie Kirill Nifontowitsch vielleicht doch das Geld leihen, damit er sich beruhigt? Was bedeuten Ihnen schon die anderthalbtausend? Ins Jenseits können Sie sie nicht mitnehmen, dort brauchen Sie kein Geld.«
Dieses schlichte Argument überzeugte die Witwe.
»Ja, ja«, murmelte sie, sah den schlafenden Sakussai an, und ihr Blick wurde milder. »Was soll ich damit, Miss Wrigley kriegt sowieso alles. Ich geb’s ihm. Soll er noch ein Jährchen strampeln. Ich gebe ihm zweitausend.«
»Das mit dem Testament ist auch nicht gut«, fuhr die Nonne, von dem Erfolg ermutigt, fort. »Miss Wrigley ist gewiss eine würdige Frau, aber Pjotr und Naina gegenüber ist es unrecht. Die können schließlich nichts dafür, dass sie von Ihnen zum Müßiggang erzogen wurden und keinen Beruf erlernt haben. Sie müssten dann ohne Erbteil durch die Welt gehen. Und vor Ihrem Gutsverwalter müssten Sie sich im Jenseits schämen. Der hat seine besten Jahre für Sie geopfert. Sie haben selber gesagt, dass er Ihr Vermögen beträchtlich gemehrt hat. Wäre das nicht eine Sünde?«
»Ja, Mütterchen«, gestand die Witwe kläglich. »Sie haben Recht. Ich habe mich ereifert. Ich muss ja nicht nur meine Enkel bedenken, sondern auch noch andere Verwandte. He, Tanja! Sie soll zu mir kommen . . . Tanja, lass Korsch aus der Stadt holen. Ich will, dass er kommt und das Testament ändert.«
Wenn Pelagia nicht im Schlafzimmer der Generalswitwe saß, ging sie meist im Park spazieren. Sie verbrachte nicht wenig Zeit in der Bretterbude am Steilufer. Hier lagen, blau lackiert, Hacken, Spaten, Sägen, Harken, Hackmesser und sonstiges Gartengerät von Gerassim. Von hier hatte der unbekannte Verbrecher das Beilchen geholt. Pelagia las vertrocknete Erdklümpchen vom Fußboden auf, zerrieb sie zwischen den Fingern und kroch auf allen vieren um die Hütte herum, fand aber keine Anhaltspunkte. Die Hütte war nie verschlossen, das Beil hätte jeder nehmen können, und weder außen noch innen gab es irgendwelche Spuren. Blieb nur, die weiteren Ereignisse abzuwarten.
Innerhalb von zwei Tagen hatte Pelagia den ganzen Park kreuz und quer durchstreift. Sie war auch auf den berühmten englischen Rasen gestoßen, ein kleines Quadrat von sorgsam gestutztem Gras, auf dem tatsächlich vor kurzem jemand tüchtig herumgetrampelt haben musste, aber die elastischen Halme richteten sich schon wieder auf, und es war abzusehen, dass diese Pflanzstätte der Zivilisation bald in alter Schönheit wiederhergestellt sein würde. Von hier war es ein Katzensprung zum Fluss, eine frische Brise wehte, und neben dem Rasen schwankten im Wind die noch grünen, doch schon leblosen Zweige einer dünnen, angewelkten Espe. Die Nonne schaute öfter hier vorbei, setzte sich in die weiße Laube oberhalb des Steilufers, strickte an dem Gürtel für Schwester Emilia, saß auch lange still da, blickte auf den breiten Fluss, in den Himmel, auf die überschwemmten Wiesen des anderen Ufers. Schön war es, über die kleinen Waldwiesen und über die zugewucherten Wege zu wandern, wo die Luft von Bienen durchsummt und vom Laub der Bäume durchraschelt war.
Aber der Frieden war trügerisch, nicht echt, die Nonne spürte in der elektrisierten Luft von Drosdowka Aufregung und hörte einen bestimmten Ton, als ob jemand eine dünne, aufs äußerste gespannte Saite zupfte. Erstaunlich, dass sie das Gut am ersten Tag als einen Garten Eden empfunden hatte. Pelagia war nicht darauf aus, jemanden zu belauern oder zu belauschen, gleichwohl wurde sie immer wieder gegen ihren Willen Zeugin unverständlicher Szenen und undurchschaubarer Konflikte zwischen den hiesigen Einwohnern.
Am dritten Tag schlenderte Pelagia morgens aufs Geratewohl zwischen den Bäumen, blinzelnd gegen das durchs Laub sickernde Sonnenlicht, und sah plötzlich vor sich eine Lichtung, darauf saßen, den Rücken zum Gebüsch gekehrt, Schirjajew und Poggio. Beide trugen einen breitkrempigen Hut und einen langen weiten Kittel und hatten ein Skizzenbuch vor sich. Die Nonne rief sie nicht an, um sie nicht zu stören, aber einen neugierigen Blick wollte sie riskieren, besonders nach dem, was tags zuvor über die Begabung Schirjajews gesagt worden war.
Pelagia stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. Sie sah bei Poggio, in Aquarell skizziert, die alte Eiche am anderen Rand der Lichtung, die war erstaunlich gut getroffen – die reinste Augenweide. Die Arbeit Schirjajews jedoch war leider eine Enttäuschung. Die Farben waren aufgetragen, wie es gerade kam: nicht zu erkennen, ob es sich um eine Eiche oder einen Waldschrat mit übergroßem zerrauftem Schädel handelte. Obwohl Poggios sorgfältig gearbeitetes Bild der Nonne gefiel, fand sie Schirjajews Gekleckse viel interessanter. Insgesamt war es eine rührende Szene: Alte Freunde widmeten sich ihrer Lieblingsbeschäftigung und sprachen auch gar nicht miteinander, da sie von ihrer Kunst und voneinander alles wussten.
Plötzlich machte Schirjajew eine besonders schwungvolle Handbewegung, und der Pinsel sprühte einen Regen grüner Spritzer auf die Skizze.
»Das ist ja nicht auszuhalten!«, schrie Schirjajew den Freund an. »Sich verstellen, das Spiel von Licht und Schatten diskutieren, von der Natur reden – wie ich dich hasse! Has-se!«
Poggio drehte sich ebenso heftig ihm zu, und die beiden ähnelten plötzlich zwei Kampfhähnen vor dem Duell.
Pelagia erstarrte und hockte sich erschrocken hin. Es wäre schmählich, ertappt zu werden.
Von da an sah sie nicht mehr hin, sondern horchte nur noch – notgedrungen, denn sie fürchtete zu rascheln, wenn sie zurückwich.
»Du warst mit Naina zusammen?«, fragte Schirjajew. »Gib’s zu, du warst?«
Das Wort »warst« klang so bedeutungsvoll, dass Pelagia errötete und ihre Neugier auf die Skizzen sehr bereute.
»So was fragt man nicht, und so was gibt man nicht zu«, antwortete Poggio im gleichen Ton. »Das geht dich nichts an.«
Schirjajew schnappte nach Luft.
»Du bist ein Zerstörer, ein Satan! Du beschmutzt und verdirbst alles nur mit deinem Atem! Ich liebe sie seit vielen Jahren. Wir haben miteinander geredet und geträumt. Ich habe ihr versprochen, dass . . . sobald ich frei bin, fahre ich mit ihr nach Moskau. Sie wird Schauspielerin, ich male wieder, und wir lernen das Glück kennen. Aber sie will nicht mehr Schauspielerin werden!«
»Dafür will sie jetzt Malerin werden«, spottete Poggio. »Jedenfalls wollte sie es bis vor kurzem. Was sie jetzt will, weiß ich nicht.«
Schirjajew hörte nicht hin, er schrie Zusammenhangloses, das sich in ihm angestaut hatte.
»Du bist ein Lump. Du liebst sie ja gar nicht. Wenn du sie liebtest, würde es mir wehtun, aber ich würde es hinnehmen. Aber du betreibst es nur aus Langeweile!«
Krachend zerriss Stoff. Pelagia bog mit den Armen die Büsche auseinander, sie fürchtete Mord und Totschlag. Viel fehlte nicht. Schirjajew hatte Poggio mit beiden Händen am Kragen gepackt.
»Ja, aus Langeweile«, knirschte der mit gepresster Stimme. »Anfangs. Jetzt habe ich den Kopf verloren. Aber sie braucht mich nicht mehr. Vorige Woche hat sie mich noch angefleht, sie nach Paris mitzunehmen, sprach von einem Mansardenatelier mit Blick auf den Boulevard des Capucines, von Sonnenuntergängen an der Seine. Und plötzlich ist alles anders. Sie benimmt sich unbegreiflich. Und ich verliere den Verstand. Gestern . . . gestern habe ich zu ihr gesagt: ›Gut, fahren wir. Zum Teufel mit allem. Von mir aus – Paris, Mansarde, Boulevard, ganz wie du willst.‹ – Lass los, ich krieg keine Luft.«
Schirjajew lockerte den Griff, fragte gequält:
»Und sie?«
»Gelacht hat sie. Ich . . . ich war ganz außer mir. Ich habe ihr gedroht. Es gibt da ein Mittel . . . Du brauchst das nicht zu wissen. Später erfährst du’s, dann ist sowieso alles egal.« Poggio lachte abstoßend. »Oh, ich weiß genau, was da vorgeht. Ich und du, Stepan, wir zählen nicht mehr, wir haben den Abschied gekriegt, ohne Pension. Eine interessantere Figur ist aufgetaucht. Aber ich lasse mich nicht behandeln wie ein Rotzjunge! Wenn sie wüsste, was für Frauen mir zu Füßen gelegen haben! Ich werde sie in den Schmutz treten! Ich werde sie zwingen, mit mir abzureisen!«
»Du Schuft, wage nicht, ihr zu drohen! Ich zertrete dich wie einen Wurm!«
Mit diesen Worten packte Schirjajew seinen ehemaligen Studienkollegen an der Gurgel, diesmal noch würgender als zuvor. Die Staffeleien fielen zu Boden, die beiden Männer stürzten verklammert ins dichte Grass.
»O Gott, lasse es nicht zu«, wehklagte Pelagia leise und sprang auf, denn das Rascheln brauchte sie unter diesen Umständen nicht mehr zu fürchten. Sie lief ein Stückchen zurück und schrie:
»Sakussai! Machst du da solchen Krach? Du ungezogener Bengel! Schon wieder bist du weggelaufen!«
Das Getümmel auf der Lichtung hörte augenblicklich auf. Pelagia ging nicht dorthin, sie wollte die Männer nicht in Verlegenheit bringen, sondern rief noch ein paarmal, trampelte durchs Gebüsch und entfernte sich. Es genügte, dass die Streithähne sich besonnen hatten und sich wieder wie Menschen benahmen.
Sie beschloss, den Park künftig zu meiden und Stattdessen friedlich in der Bibliothek zu sitzen.
Sie kam vom Regen in die Traufe.
Kaum hatte sie sich in dem großen Zimmer mit den hohen Schränken voller Bücher in anheimelnden goldgeprägten Einbänden niedergelassen, hatte sich mit hochgezogenen Füßen in den gewaltigen Ledersessel gekuschelt und den duftenden alten Band der »Lettres provinciales« von Pascal aufgeschlagen, da quietschte die Tür, und jemand kam herein – wer, konnte sie hinter der hohen Lehne nicht sehen.
»Hier können wir uns aussprechen«, sagte die ruhige, selbstsichere Stimme von Donat Sytnikow. »In die Bibliothek schaut kaum mal jemand, da stört uns keiner.«
Pelagia wollte sich räuspern oder sich zeigen, aber sie kam nicht dazu. Eine andere Stimme (von Naina Teli-anowa) sprach ein paar Worte, wonach Pelagia, hätte sie sich gemeldet, alle Beteiligten in eine peinliche Lage gebracht hätte.
»Wollen Sie mir wieder Herz und Hand antragen, Donat Abramowitsch?«
Wie sie hier alle verzaubert hat, dachte Pelagia kopfschüttelnd und bedauerte den gesetzten, kaltblütigen Industriellen, der, nach der spöttischen Frage zu urteilen, nicht auf Gegenliebe hoffen durfte.
»Nein«, antwortete Sytnikow wieder ruhig. Leder knarrte, man hatte wohl auf dem Sofa Platz genommen. »Zurzeit kann ich nur mein Herz anbieten.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Ich erklär’s Ihnen. In den letzten Tagen habe ich Sie besser kennen gelernt als in all den Monaten, in denen ich wegen Ihrer schwarzen Augen immer wieder hergekommen bin. Ich sehe, ich habe mich geirrt. Als Ehefrau eignen Sie sich nicht für mich, und ich bin auch nichts für Sie. Ich bin kein Schwätzer, sondern geradeheraus, ohne Umschweife. Aus meinen Gefühlen für Sie habe ich kein Geheimnis gemacht, aber ich habe mich auch nicht aufgedrängt. Ich gab Ihnen Zeit einzusehen, dass außer mir hier niemand als Partner für Sie in Frage kommt. Schirjajew ist ein Phantast und ein Langweiler, da würden Sie mit Ihrem Charakter sich nach einem halben Jahr entweder aufhängen oder sich der Ausschweifung ergeben. Poggio, der taugt allenfalls zum Spaß. Sie haben ihn doch nicht etwa ernst genommen, oder? Ein kleines Menschlein, ein Garnichts. Und jetzt Ihre neue Passion. Ich habe eigentlich nichts dagegen. Amüsieren Sie sich, ich kann warten, bis diese Laune vergeht. Aber diesmal spielen Sie mit dem Feuer, dieser Herr hat mächtige Zähne. Nur bedeuten Sie ihm nichts, er hat andere Interessen. Sie sind jetzt nicht ganz bei sich, meine Worte langweilen Sie – hören Sie dennoch auf Donat Sytnikow. Ich bin wie eine steinerne Mauer, auf die kann man sich stützen, hinter ihr sich verstecken. Ich bitte Sie um eines: Wenn Ihr Plan platzt, gehen Sie nicht ins Wasser. Es wäre schade um solche Schönheit. Kommen Sie lieber zu mir. Zur Ehefrau nehme ich Sie nicht, das hat keinen Zweck, aber als Geliebte sehr gern. Sie brauchen mich gar nicht so anzufunkeln, ich mache Ihnen ein sachliches Angebot. Als meine Geliebte haben Sie es besser und angenehmer – keine Sorgen mit der Hauswirtschaft, keine Kinderaufzucht, und vor Klatsch brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Es wird keinen geben. Ich plane derzeit, mein Hauptkontor nach Odessa zu verlegen. Mir ist es hier am Fluss zu eng, ich will aufs Meer. Odessa ist eine fröhliche, südliche Stadt mit freien Sitten. Dort können Sie machen, was Sie wollen. Wenn Sie malen wollen, besorg ich Ihnen die besten Lehrer, andere als Ihr Poggio. Wenn Sie Schauspielerin werden wollen, schenke ich Ihnen ein Theater. Sie können dann selbst bestimmen, welche Stücke gespielt werden, Sie können die besten Schauspieler engagieren, sogar aus Petersburg, und sich die schönsten Rollen aussuchen. Mein Geld reicht für alles. Und als Mensch bin ich anständig und zuverlässig und nicht so verbraucht wie Ihr jetziger Erwählter. Das ist es, was ich Ihnen zu sagen habe.«
Naina hörte sich diese unglaubliche Rede bis zu Ende an, ohne ihn zu unterbrechen. Einen wie Sytnikow zu unterbrechen würde sich auch nicht jeder getraut haben, der war eine zu starke Persönlichkeit.
Aber als er verstummte, lachte das Fräulein. Nicht laut, doch so sonderbar, dass es Pelagia kalt über den Rücken lief.
»Wissen Sie, Donat Abramowitsch, wenn mein Plan, wie Sie sagen, tatsächlich platzt, gehe ich lieber ins Wasser als mit Ihnen. Aber er wird nicht platzen. Hier tun sich ja Abgründe auf, dass einem die Luft wegbleibt. Ich habe es satt, wie eine Stoffpuppe behandelt zu werden, an der jeder herumzerrt. Ich will mein Schicksal selber in die Hand nehmen. Und nicht nur meins. Wenn leben, dann aus dem Vollen. Nicht als Sklavin, sondern als Herrin!«
Wieder knarrte das Leder – Sytnikow war aufgestanden.
»Was Sie da reden, verstehe ich nicht. Ich sehe nur, Sie sind nicht ganz bei sich. Darum gehe ich. Denken Sie über meine Worte nach, sie sind ernst gemeint.«
Die Tür ging auf und schloss sich wieder, aber Naina blieb noch. Fünf Minuten lang, vielleicht auch länger, hörte Pelagia untröstliches Schluchzen und konzentriertes Schniefen. Dann ein Flüstern, halb böse, halb leidenschaftlich.
Die Nonne horchte und verstand:
»Dann ist er eben eine Ausgeburt, und wenn schon. Ganz egal . . .«
Sobald es möglich war, ging Pelagia hinaus in den Korridor, um in ihr Zimmer zu gelangen. Unterwegs schüttelte sie sorgenvoll den Kopf.
Aber bevor sie ihr Zimmer erreichte, lief ihr Tanja über den Weg. In der einen Hand trug sie ein Bündelchen, mit der anderen zog sie an der Leine Sakussai hinter sich her, der sich mit allen vier Pfoten sträubte.
»Mütterchen«, sagte sie erfreut, »wollen Sie nicht mitkommen? Frau Tatistschewa ist eingeschlafen, und ich gehe ins Dampfbad, ich hab’s schon am Morgen geheizt. Sie waschen sich, und ich bleib derweil bei dem Hund. Hinterher passen Sie auf ihn auf. Das würde mir sehr helfen. Ich kann ihn schließlich nicht in den Waschraum mitnehmen. Er lässt mir auch so schon keine Ruhe, die sabbernde Missgeburt.«
Pelagia lächelte freundlich und willigte ein. Zumindest im Dampfbad würde sie niemanden beobachten und belauschen müssen.
Das Dampfbad befand sich hinter dem Haus – eine geduckte Blockhütte aus bernsteingelben Kiefernbohlen mit winzigen Fensterchen unterm Dach. Aus dem bauchigen Schornstein stieg weißer Rauch.
»Wasch dich nur, ich bleibe hier«, sagte die Nonne, setzte sich in dem kleinen sauberen Vorraum auf das Bänkchen und nahm den Welpen in den Arm.
»Ich danke auch schön, Sie helfen mir sehr, ich lauf mir die Hacken ab, bin ganz verschwitzt und komm nicht zum Waschen oder zum Baden im Fluss«, schnatterte Tanja, während sie sich flink auszog und die zum Knoten gebundenen blonden Haare löste.
Pelagia betrachtete wohlgefällig die wie gemeißelte Figur des Mädchens. Eine Artemis, Herrin des Waldes, fehlt nur noch der Köcher mit Pfeilen über der Schulter.
Kaum war Tanja hinter der Tür des Waschraums verschwunden, tönte draußen ein leichtes Pochen.
»Tanja, Tanja«, flüsterte eine Männerstimme durch den Türspalt. »Mach auf, Herzblättchen. Ich weiß, dass du da drin bist. Ich hab dich mit dem Bündel gesehen.«
Sollte das Krasnow sein? Pelagia stand verwirrt auf, ihre Kutte raschelte.
»Ich höre dein Kleidchen rascheln. Zieh’s nicht an, bleib, wie du bist. Mach auf, niemand kann es sehen. Gönnst du es mir nicht? Davon fällt dir kein Stein aus der Krone. Ich habe dir zu Ehren ein Gedicht gemacht. Hör zu.
So wie die Wolke voller Nass
als Regen auszufließen trachtet,
so wie der gelbgesicht’ge Mond
der Erde in die Arme schmachtet,
so schaue ich voller Verlangen
der hübschen Tanja ins Gesicht,
bin seit dem siebenten Dezember
auf ihre Küsse stets erpicht.
Siehst du, ich habe mir den Tag gemerkt, an dem wir Schlitten gefahren sind. An dem Tag habe ich dich lieb gewonnen. Lauf nicht mehr vor mir davon, Tanjuscha. Pjotr wird dir keine Gedichte schreiben. Mach auf, ja?«
Der Anbeter horchte ein Weilchen und fuhr dann drohend fort:
»Mach endlich auf, sonst erzähl ich Pjotr Georgijewitsch, wie du neulich mit dem Tscherkessen, ich hab’s gesehen! Dann redet er dich nicht mehr mit Sie an! Auch Marja Afanassjewna erzähl ich’s, dann jagt sie dich Flittchen vom Hof. Mach auf, sag ich!«
Pelagia riss mit einem Ruck die Tür auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
Kirill Krasnow, der Nachbar, in weißer Tolstoi-Bluse und Strohhut, stand mit ausgebreiteten Armen auf der Schwelle, die Lippen gespitzt im Vorgeschmack des Kusses. Die blassblauen Augen klapperten verwirrt.
»Oi, Mütterchen, Sie . . . Warum haben Sie sich nicht gleich zu erkennen gegeben? Wollten Sie mich zum Gespött machen?«
»Das kann manch einem nicht schaden«, antwortete Pelagia streng.
Krasnow blitzte sie an mit einem Blick, in dem keine Spur der sonst üblichen kindlichen Naivität mehr war. Er drehte sich um und verschwand hinter der Ecke des Badehäuschens.
Wahrlich ein Schlangennest, dachte Pelagia.
Nach dem Dampfbad schlenderten sie in gelöster Stimmung durch die abendliche Kühle, das nasse Haar straff mit einem Tuch umwunden. Sie hatten auch Sakussai gewaschen, trotz seines Kläffens und Jaulens. Er war jetzt noch weißer, und die kurzen Fellhaare standen gesträubt wie bei einem Entenkücken.
Vor dem Pferdestall hielt eine staubbedeckte schwarze Kutsche. Ein finsterer schwarzbärtiger Mann in einem schmutzigen Tscherkessenrock, eine runde Filzmütze auf dem Kopf, schirrte die Rappen ab.
Tanja griff nach Pelagias Ellbogen und hauchte mit ersterbender Stimme:
»Er ist gekommen . . . Herr Bubenzow ist da.«
Dabei blickte sie wie verzaubert dem Schwarzbärtigen nach, der eines der Pferde in den Stall führte.
Pelagia musste an die Drohung Krasnows denken und sah ihre Begleiterin genauer an. Deren Gesicht hatte einen entrückten Ausdruck, die Pupillen waren geweitet, die vollen rosa Lippen leicht geöffnet.
Der Tscherkesse blickte nur kurz zu den beiden Frauen. Er grüßte nicht, nickte nicht – er führte das zweite Pferd am Zügel.
Tanja ging langsam zu ihm, machte eine Verbeugung, sagte leise:
»Guten Tag, Murad Dshurajewitsch. Wieder mal bei uns?«
Er antwortete nicht. Stand da, blickte mürrisch zur Seite, wickelte den gemusterten Zügelriemen um das breite behaarte Handgelenk.
Dann ging er wieder zu der Kutsche, fegte den Staub ab.
Tanja ging ihm nach.
»Sie sind bestimmt müde von der Fahrt? Möchten Sie kalte Milch? Oder Kwass?«
Der Tscherkesse drehte sich nicht um, zuckte nicht mal mit der Schulter.
Pelagia seufzte nur und ging kopfschüttelnd weiter.
»Ihre Sachen sind ganz schmutzig«, hörte sie hinter sich Tanjas Stimme. »Ziehen Sie sie aus, ich wasch sie Ihnen. Bis morgen ist alles trocken. Bleiben Sie über Nacht?«
Schweigen.
An der Haustür drehte Pelagia sich um und sah, wie Bubenzows Kutscher, noch immer mit finsterer Miene, zum offenen Tor des Pferdestalls ging und Tanja an der Hand hinter sich herzog – so wie eben das Pferd. Das Mädchen folgte ihm gehorsam mit raschen Trippelschritten, und hinter ihr ging ebenso gehorsam an der Leine Sakussai.
Vor dem Schlafgemach der Generalswitwe stand demütig ein grauhaariger, doch noch nicht alter Mann mit zerknittertem lächelndem Gesicht und extrem langen Armen; er trug einen bis oben zugeknöpften schwarzen Gehrock und eine vorsintflutliche schwarze Hose, die an den Knien blank gewetzt war. In den gefalteten Händen hielt er ein ziemlich dickes Gebetbuch.
»Segnen Sie mich, Mütterchen!«, rief er mit dünnem Stimmchen, als er der Nonne ansichtig wurde, und vertrat ihr den Weg. »Ich bin der Tichon Jeremejewitsch Selig, ein unwürdiger Wurm. Erlauben Sie mir, Ihr heiliges Händchen zu küssen.« Schon streckte er seine zupackende Pranke aus, doch Pelagia nahm ihre Hand hinter den Rücken.
»Das dürfen wir nicht«, sagte sie und musterte den Frömmling. »Die Klosterregel verbietet’s.«
»Nun, dann ohne Handkuss, segnen Sie mich nur mit dem Kreuzeszeichen«, stimmte Selig sogleich zu. »Auch dieses wird mir eine Wohltat sein. Bitte verweigern Sie es mir nicht, denn es steht geschrieben: ›Ekle dich nicht vor meinen sündigen Geschwüren, sondern lindere sie mit dem Salböl deiner Gnade.‹«
Nachdem er den Segen erhalten hatte, verbeugte er sich tief, blieb aber stehen.
»Sie sind doch gewiss Schwester Pelagia, die Abgesandte des hochwürdigen und allerheiligsten Bischofs Mitrofani? Wie ich weiß, sind Sie untergebracht in dem Kämmerchen, welches zuvor ich innegehabt, und das freut mich sehr, maßen Sie eine wahrhaft würdige Person sind. Ich selbst habe mein Obdach im Seitenflügel, unter den Knechten und Dienern, was mir zu verstehen gibt: Verlasse diesen Platz, du bist nicht würdig, hier zu sein. Ich gehorche ohne Murren, eingedenk der Worte des Propheten: Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so fliehet in eine andere.«
»Warum gehen Sie nicht hinein zu Marja Afanassjewna?«, fragte die Nonne, die das Gehörte verlegen machte.
»Ich traue mich nicht«, sagte Selig sanft. »Ich weiß, dass mein Anblick der edlen Herrin zuwider ist, auch hat mein geehrter Dienstherr Wladimir Bubenzow mir befohlen, hier zu warten, vor der Tür des Gemachs. Erlauben Sie, dass ich Ihnen öffne.«
Er wich endlich zur Seite und öffnete Pelagia den Türflügel, dabei brachte er es fertig, ihr die feuchten Lippen auf die Hand zu drücken.
Im Zimmer saß neben dem Bett ein schlanker, eleganter Herr, der hatte ein Bein über das andere geschlagen und wippte mit dem kleinen schmalen Fuß. Auf das Geräusch hin drehte er sich um, sah, dass es die Nonne war, wandte sich wieder der Frau im Bett zu und setzte die unterbrochene Rede fort:
»Kaum hatte ich erfahren, Tantchen, dass Ihr Leiden sich verschlimmerte, da ließ ich alle Staatsgeschäfte fahren und bin hergeeilt. Korsch hat es mir gesagt, der Advokat. Er kommt morgen früh zu Ihnen. Aber was machen Sie denn für Sachen? Schämen Sie sich was. Ich will Sie doch unter die Haube bringen, habe schon einen Bräutigam ausgeguckt, einen friedlichen alten Mann. Der muckst sich nicht, pariert Ihnen aufs Wort.«
Erstaunlich – die Antwort war ein schwaches, doch eindeutiges Lachen. »Also weißt du, Wolodja! Einen alten Mann? Der kann doch wohl nicht viel taugen?«
Du? Wolodja? Pelagia traute ihren Ohren nicht.
»Und ob er was taugt!« Bubenzow lachte mit blitzenden weißen Zähnen. »Er ist auch ein General, wie der verstorbene Onkel. Sooolch ein Schnauzbart, Reckenbrust, und wenn er Mazurka tanzt, ist er nicht zu halten.«
»Was du immer zusammenredest!« Frau Tatistschewa lachte klirrend, bekam einen Hustenanfall und konnte lange nicht verpusten. »Ach, du bist mir ein Schelm. Denkst dir was aus, um mich alte Frau zu erheitern. Und ich fühl mich tatsächlich besser.«
Die Anwesenheit Bubenzows schien der Kranken wirklich wohl zu tun, denn sie fragte Pelagia gar nicht nach Sakussai.
Es sah ganz so aus, dass der böse Inspektor, über den Pelagia so viel Scheußliches gehört hatte, auch vom Bischof selbst, gar nicht solch ein Satan war. Die Nonne fand Bubenzow ganz annehmbar: gesellig, fröhlich und gut aussehend, besonders wenn er lächelte.
Mochte er noch bei der Kranken sitzen und sie von ihren finsteren Gedanken ablenken.
Bubenzow schilderte nun aufs amüsanteste, wie Selig den wilden Murad zum Christentum zu bekehren suchte, zu Ungunsten des mohammedanischen Halbmonds, und Pelagia retirierte leise zum Ausgang, um nicht zu stören.
Sie stieß die Tür auf, die gegen etwas prallte, das sofort nachgab. Im Korridor richtete sich Tichon Selig aus tiefer Bücke auf. Er hatte gehorcht!
»Sündig bin ich, Mütterchen, die Sünde der Neugier plagt mich«, murmelte er und rieb die geprellte Stirn. »Ich bin sehr beschämt und entferne mich.«
Zwei Späher unter einem Dach, ist das nicht zu viel?, dachte Pelagia und sah ihm nach.
Am Abend trafen sich alle wie gewöhnlich auf der Terrasse beim Samowar. Bubenzow benahm sich ganz anders als im Schlaf gemach der Hausherrin. Er lächelte nicht, war zurückhaltend, unfreundlich – kurz, er gab sich wie ein Mensch, der seinen Wert kennt und weitaus höher einschätzt als den der anderen. So gefiel er Pelagia schon viel weniger. Eigentlich überhaupt nicht.
Es fehlten nur Frau Tatistschewa, die von Tanja im Schlafzimmer mit Tee versorgt wurde, und von den Dauergästen Sytnikow, der gleich nach Ankunft der schwarzen Kutsche seinen Hut und seinen Stock genommen hatte und gegangen war – bis zu seinem Sommerhaus waren es drei Werst zu Fuß durch den Park, über eine Wiese und ein Feld. Pelagia hatte sich zunächst gewundert, doch dann fiel ihr ein, was sie über den Wortwechsel zwischen Sytnikow und Bubenzow zum Thema der unzivilisierten Altgläubigen gehört hatte, damit war das Verhalten Sytnikows erklärt. Auf dessen Stuhl saß nun Selig, der sich aber kaum am Gespräch beteiligte. Nur ganz zu Anfang, als man am Tisch Platz nahm, hatte er den Überfluss an Lebkuchen, Konfekten, Konfitüren in Augenschein genommen und streng gesagt:
»Die Völlerei schadet der Reinheit der Seele. So hat schon der Heilige Kassian gelehrt, das Fressen und Prassen zu meiden, den Leib nicht zu übersättigen und weniger der Süßmäulerei zu huldigen.«
Aber Bubenzow fuhr ihn an:
»Halt den Mund, Unterleibchen, das ist nicht deine Sache.«
Worauf Tichon Selig nicht nur demütig verstummte, sondern auch eifrig der Süßmäulerei huldigte.
Die Richtung des Gesprächs ergab sich sehr bald. Bubenzow erzählte von dem erstaunlichen Vorkommnis, das Sawolshsk entsetzt hatte, morgen das ganze Gouvernement erbeben lassen und übermorgen das Imperium erschüttern würde.
»Sie haben sicherlich gehört von den beiden kopflosen Leichen, die im Kreis Tschernojar an Land gespült wurden«, begann Bubenzow, wobei er die schönen Brauen runzelte. »Die polizeiliche Untersuchung hat die Identität der Ermordeten nicht feststellen können, denn das ist ohne Kopf fast unmöglich. Immerhin hat sich ergeben, dass der Mord höchstens drei Tage zurückliegt, also wurde er irgendwo in der Nähe verübt, innerhalb des Gouvernements Sawolshsk. Als ich davon erfuhr, habe ich mir Gedanken gemacht, zu welchem Zweck der oder die Übeltäter es für nötig hielten, den Opfern den Kopf abzuschneiden.«
Bubenzow machte eine Pause und ließ den Blick spöttisch über die Anwesenden gleiten, wie um sie aufzufordern, dieses Rätsel zu lösen.
Alle schwiegen und sahen den Erzähler unverwandt an, Naina Telianowa saß gar vorgebeugt, und ihre glänzenden schwarzen Augen saugten sich an ihm fest. Sie blickte den ganzen Abend nur ihn an, ohne es zu verbergen. Es war ein seltsamer Blick – Pelagia glaubte zeitweilig Abscheu darin zu spüren, doch mehr noch brennendes Interesse und eine nicht nur leidenschaftliche, sondern verzückte Verwunderung.
Die Nonne bemerkte, dass Schirjajew und Poggio, die weit voneinander entfernt saßen, unentwegt, als hätten sie sich abgesprochen, den Kopf drehten und mal das Fräulein und mal den Gegenstand ihrer verzückten Aufmerksamkeit betrachteten. Schirjajews Wange zierte ein doppelter dunkelroter Kratzer (zweifellos die Spur von Fingernägeln), und Poggio hatte unter dem rechten Auge einen weißen Puderfleck.
Bubenzow jedoch schien Nainas Blicken keinerlei Bedeutung beizumessen. Er hatte sie noch kein einziges Mal angesprochen, und wenn er überhaupt mal zu ihr hinsah, dann mit träger Gleichgültigkeit.
Da sich das Schweigen in die Länge zog und Pelagia auf den Fortgang neugierig war, warf sie ein:
»Vielleicht wurden die Köpfe gerade deshalb abgetrennt, damit die Toten nicht identifiziert werden können?«
»Weit gefehlt!« Bubenzows Mund verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. »So würden die hiesigen Mörder nicht denken, außerdem stammen die Ermordeten nicht von hier, sonst würde sie ja jemand vermissen und identifizieren können. Nein, da steckt etwas anderes dahinter.«
»Aber was?«, fragte Pjotr Telianow. »Spannen Sie uns nicht auf die Folter!«
»Ropscha«, antwortete Bubenzow, faltete die Hände vor der Brust und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, als hätte er damit alles erschöpfend erläutert.
Es klirrte – Schwester Pelagia hatte ihr Löffelchen fallen lassen.
»Was-was?« Krasnow hatte sich auf das Klirren umgedreht und den Namen nicht verstanden.
»Ropscha?«, fragte Pjotr verdutzt. »Ah, Moment mal. . . Der aus der Chronik! Der Mann aus Nowgorod, dem die Heiden in unserer Gegend unter Ioann dem Dritten den Kopf abgeschlagen haben. Aber erlauben Sie, was hat dieser Ropscha mit uns hier zu tun?«
Die Nasenflügel des Synodalinspektors zitterten raubgierig.
»Nichts. Aber die Heiden haben sehr mit uns zu tun. Uns wird seit langem gemeldet, dass die hiesigen Syten zwar äußerlich die rechtgläubigen Bräuche einhalten, insgeheim aber ihre Götzen anbeten und scheußlichen Bräuchen anhängen. Übrigens hat in der Zeit Ropschas hier derselbe Stamm gelebt und dieselben Götter verehrt.«
»Unwahrscheinlich«, sagte Schirjajew achselzuckend. »Ich kenne die Syten, das ist ein stilles, friedliches Völkchen. Ja, sie haben ihre eigenen Sitten, ihren Aberglauben und ihre Feste. Vielleicht ist auch noch etwas von ihrem alten Glauben lebendig. Aber töten und Köpfe abschneiden? Unsinn. Warum haben sie dann seit Ropscha eine Pause von fünfhundert Jahren eingelegt?«
»Das ist es eben.« Bubenzow ließ den Blick siegesbewusst die Tafel entlanggleiten. »Die von mir durchgeführte Untersuchung hat ein hochinteressantes Faktum zu Tage gefördert. Seit einiger Zeit geht bei den Waldsyten das Gerücht, in Kürze werde auf dem Himmelsfluss in einem heiligen Nachen der Gott Schischiga gefahren kommen, der viele Jahre auf einer Wolke geschlafen habe, und man müsse ihm seine Lieblingsspeise vorsetzen, damit er nicht zürne. Und seine Lieblingsspeise, das geht aus der Chronik hervor, sind Menschenköpfe. Daher meine Vermutung (eigentlich keine Vermutung, sondern völlige Gewissheit), dass Schischiga schon bei den Syten eingetroffen ist und mächtigen Hunger hat.«
»Was reden Sie denn da!«, schrie Schirjajew wütend. »Das sind ja absurde Vermutungen!«
»Nein, leider nicht.« Bubenzow machte ein ernstes, man kann sagen, gar amtliches Gesicht. »Tichon Selig hat hier seine Zeit genutzt und sich überall Vertrauensleute geschaffen, auch an den entlegensten Plätzen. Also, die Zuträger melden, unter den jungen Syten sei gärende Unruhe zu beobachten. Es gibt Hinweise, dass in einer abgelegenen Dickung auf einer Lichtung ein Götze aufgestellt wurde, der den Gott Schischiga darstellt, und dass ihm abgeschnittene Köpfe dargebracht werden.«
»Bravo!« Naina klatschte plötzlich Beifall. Alle sahen sie verständnislos an. »Schischiga und Menschenopfer, das ist einfach genial! Wladimir Lwowitsch, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht. Was wird Ihre Geschichte in ganz Russland für Staub aufwirbeln!«
»Sehr schmeichelhaft.« Bubenzow neigte den Kopf und begegnete etwas verwundert ihrem Blick, aus dem nicht mehr Abscheu und Verwunderung sprach, sondern Begeisterung. »Es ist in der Tat ein Skandal von gesamtstaatlichem Ausmaß. Zügelloses Heidentum ist eine Schande für eine europäische Macht, und die Schuld dafür liegt voll und ganz bei den örtlichen Behörden, namentlich den kirchlichen. Gut, dass ich jetzt hier bin. Sie können sicher sein, meine Damen und Herren, dass ich mit dieser Geschichte aufräumen, die Schuldigen ermitteln und die Wilden aus dem Wald in den Schoß der Kirche zurückführen werde.«
»Zweifellos«, bemerkte Poggio grienend. »Sie sind ein Glückspilz, Herr Bubenzow. Ein solches Los zu ziehen!«
Aber Bubenzow hatte sich wohl ganz in die Rolle des Staatsmanns und Inquisitors hineingesteigert und war jetzt nicht geneigt zu Scherzen.
»Sie sollten solche Späße lassen, mein Herr«, sagte er streng. »Die Sache ist furchtbar, ja, ungeheuerlich. Wir wissen nicht, wie viele Leichen ohne Kopf noch auf dem Grunde der Flüsse und Seen liegen. Sicher ist auch, dass es weitere Opfer geben wird. Wir haben von Vertrauten bereits erfahren, wie das Ritual des Mordes vor sich geht. Nächtlicherweile schleichen sich die Diener Schischigas an den einsamen Wanderer heran, werfen ihm von hinten einen Sack über den Kopf, ziehen den Strick um seinen Hals zusammen und schleppen ihn ins Gebüsch oder an ein anderes einsames Plätzchen. Dort schneiden sie ihm den Kopf ab, werfen den Rumpf ins Moor oder ins Wasser und tragen den Sack mit der Beute zu ihrem Götzen.«
»O my God!« Miss Wrigley bekreuzigte sich.
»Man muss diesen Götzentempel unbedingt ausfindig machen und Wissenschaftler von der Kaiserlichen Gesellschaft für Etnographie kommen lassen«, rief Krasnow mit Feuereifer. »Götzenanbetung nebst Kopfjagd ist ja eine ganz seltene Erscheinung in unseren Breiten!«
»Wir suchen ihn«, sagte Bubenzow drohend. »Und wir werden ihn finden. Ich habe aus Petersburg bereits telegraphisch alle notwendigen Vollmachten erhalten.«
»Erinnern Sie sich?«, rief Naina wieder ganz unpassend. »Bei Lermontow?
Beherrschend all den Erdentrug,
Säte er freudlos aus das Böse.
Und nie traf er mit seiner Kunst
Etwas, das Widerpart gewesen – (Nachdichtung: Roland Erb)
Meine Herren, warum sind Sie so langweilig? Sehen Sie doch, der Mond – welch geheimnisvolle böse Kraft! Lassen Sie uns im Park spazieren gehen. Wirklich, Wladimir Lwowitsch, kommen Sie!«
Sie sprang auf, lief zu Bubenzow und streckte ihm die schmale Hand hin. Mit ihr war etwas vorgegangen, und wohl etwas sehr Schönes – ihr Gesicht strahlte in Glück und Ekstase, ihre Augen sprühten Funken, die fein gemeißelten Nasenlöcher waren gebläht. Die plötzliche Aufwallung des wunderlichen Fräuleins setzte niemanden in Erstaunen, waren doch alle an ihre jähen Stimmungsumschwünge gewöhnt.
»Spazieren gehen, warum nicht«, sagte Krasnow unbekümmert und stand auf. »Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Miss.« Er reichte der Engländerin den elegant gebogenen Arm. »Aber lassen Sie mich nicht allein, sonst wird mir noch von hinten ein Sack über den Kopf gestülpt, ha-ha.«
Naina stand noch immer vor Bubenzow und streckte ihm die Hand hin, aber er blickte die schöne Frau von unten gelassen und selbstsicher an.
»Keine Zeit, Naina Georgijewna«, sagte er endlich in gleichmütigem Ton. »Ich muss zu Tantchen. Und ich will noch vor der Nacht ein Memorandum für die Polizeiwache schreiben. Es gibt eine Anordnung aus Petersburg, mir eine Wache beizugeben. Das ist eine ernste Sache. Ich habe heute die erste Drohung erhalten, schriftlich – sie liegt bei der Akte.«
Das Fräulein sagte zärtlich zu ihm:
»Ach, lieber Wladimir Lwowitsch, die beste Wache ist die Liebe. Ihr sollten Sie vertrauen, nicht der Polizei.«
Wenn Bubenzows Absage sie verärgert hatte, so ließ sie sich nichts anmerken.
»Wie Sie meinen.« Sie lächelte sanft, wandte sich den übrigen Männern zu und sagte mit anderer Stimme – fordernd und gebieterisch: »Gehen wir in den Park. Aber jeder für sich, damit es graulicher ist, wir werden uns Zurufen.«
Sie lief die Stufen hinunter und verschwand in der Dunkelheit. Schirjajew, Poggio und Pjotr folgten ihr schweigend. Der Letztere drehte sich um und fragte:
»Und was ist mit Ihnen, Schwester Pelagia? Kommen Sie, der Abend ist wirklich wunderbar.«
»Nein, Pjotr Georgijewitsch, ich mache auch noch einen Besuch bei Ihrer Großmutter.«
Sie folgte dem strengen Inspektor Bubenzow. Auf der Terrasse, die eben noch voller Menschen gewesen war, blieb allein Selig zurück, der sich Himbeerkonfitüre in ein Schälchen füllte.
»Morgen früh werden Sie sich viel besser fühlen, Tantchen, und wir machen eine Spazierfahrt«, sagte Bubenzow in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete; er hielt das Handgelenk der Witwe und sah ihr direkt in die Augen. »Zuerst aber erledigen wir die Sache mit dem Anwalt. Sehr gut, dass Sie ihn herbestellt haben. Es wäre wirklich schandbar, wenn Sie Drosdowka einer Kostgängerin vermachten. Das wäre ja, als wenn Elisabeth von England die Krone ihrer Hofnärrin vererbte. So was macht man nicht, Tantchen.«
»Aber wem dann? Pjotr und Naina?«, widersprach Frau Tatistschewa kaum hörbar. »Die würden doch alles verpulvern. Sie würden das Gut verkaufen, aber nicht einem anständigen Menschen, denn die Adligen haben jetzt kein Geld, sondern irgendeinem Geldsack. Der rodet den Park und macht aus dem Haus eine Fabrik. Janet Wrigley würde nichts verändern, sondern alles so lassen, wie es ist. Sie würde Pjotr und Naina Geld geben, die sind ja sozusagen ihre Familie, aber ihnen keine Dummheiten erlauben.«
»Königin Elisabeth hat anders gehandelt – sie machte Jakob Stuart zum Erben, obwohl sie Verwandte hatte, die ihr näher standen als er. Der Grund: Sie sorgte sich um das Wohl ihres Reiches. Stuart war ein Mann von wahrhaft staatsmännischem Verstand. Die Königin konnte sicher sein, dass er ihr Reich nicht nur bewahren, sondern auch stärken, dass er ihr unendlich dankbar sein und die Erinnerung an sie in hohen Ehren halten würde.«
Pelagia staunte am meisten darüber, dass Bubenzow sich durch die Anwesenheit Außenstehender nicht im Geringsten beirren ließ. Nun, Tanja hatte sich tagsüber abgerackert und döste zurückgelehnt auf ihrem Stuhl, aber sie, Pelagia, saß daneben, am Fußende des Betts, und klapperte absichtlich laut mit den Stricknadeln, damit der schamlose Kerl zur Besinnung käme.
Aber woher!
Bubenzow beugte sich vor und sah Tantchen tief in die Augen.
»Ich weiß, wie Ihr Andenken zu verewigen wäre. Sie brauchen kein Grabmal aus Carrarer Marmor und keine Kapelle. Das sind alles tote Steine. Sie brauchen ein anderes Denkmal, ein lebendiges, das sich von Drosdowka aus in ganz Russland verbreitet und dann in der ganzen Welt. Wer wird Ihr edles und mühevolles Werk fortsetzen, die Züchtung der weißen Bulldogge? Die anderen sehen darin ja nur eine dumme Laune, eine Verrücktheit. Ihre Miss Wrigley kann Hunde nicht ausstehen.«
»Das stimmt«, krächzte Frau Tatistschewa. »Im vorigen Jahr hat sie sogar gewagt, sich einen Kater anzuschaffen, aber Saguljai und Sakidai haben ihn in Stücke gerissen.«
»Na sehen Sie. Ich aber war schon als Kind ein Hundenarr. Mein Vater hatte ausgezeichnete Barsois. Man kann sagen, ich bin in einem Hundezwinger aufgewachsen. Es braucht noch zehn Jahre, damit sich aus diesem Kerlchen« – er kraulte Sakussai, der süß neben der Witwe schlummerte, hinterm Ohr – »eine dauerhafte Rasse entwickelt. Sie wird den Namen Tatistschew tragen, so dass noch in hundert, zweihundert Jahren . . .«
In diesem Moment wurde Sakussai, der durch die Berührung wach geworden war und die ihn kraulende Hand konzentriert beobachtete, aktiv – er schnappte mit seinen spitzen Zähnchen nach dem gepflegten Finger.
»Aua!«, schrie Bubenzow und riss die Hand weg, so dass der Welpe kopfüber zu Boden flog, doch er war nicht beleidigt, sondern kläffte vergnügt, schüttelte den rundstirnigen Kopf und sauste spornstreichs zur Tür, die einen Spaltbreit offen geblieben war.
»Haltet ihn!« Die Witwe fuhr in Panik vom Kissen hoch. »Tanja, Tanja! Schon wieder!«
Das Stubenmädchen sprang schlaftrunken auf und verstand nicht. Auch Bubenzow erhob sich.
Das runde weiße Hinterteil blieb in dem schmalen Türspalt stecken, aber nicht lange. Die dicken Beinchen strampelten, die Tür ging etwas weiter auf, und Sakussai stürmte ins Freie.
»Halt!«, schrie Bubenzow. »Keine Bange, Tantchen, ich fange ihn.«
Zu dritt – Bubenzow, Pelagia und Tanja – liefen sie in den Korridor. Der weiße Welpe war schon am anderen Ende. Als er seinen Ausbruch hinreichend gewürdigt sah, kläffte er triumphierend und verschwand um die Ecke.
»Er läuft in den Park!«, rief Tanja. »Die Tür steht offen!«
Sakussai lief schneller als seine Verfolger, er schlüpfte auf die Veranda, und Pelagia sah gerade noch das weiße Bällchen von der Treppe in die Dunkelheit springen.
»Wir müssen ihn schnell fangen, sonst wird Tantchen verrückt«, sagte Bubenzow besorgt, dann kommandierte er militärisch: »Du, wie heißt du gleich, du gehst nach links, die Nonne nach rechts, ich in der Mitte. Ruft die anderen, damit sie mitsuchen. Vorwärts!«
Gleich darauf war die schläfrige Ruhe des Parks dahin, denn es wurde vielstimmig nach dem Flüchtling gerufen.
»Sakussaichen!«, rief Pelagia.
»Sakussai, hierher, du dummes Tier!«, schrie Tanja hinter einem Himbeergestrüpp mit hoher Stimme.
»Herrschaften, Sakussai ist entwischt!«, informierte Bubenzow in munterem Kavalleristentenor die verstreuten Spaziergänger im Park.
Die zögerten nicht, sich zu melden.
»Au!«, rief Pjotr Georgijewitsch von weitem. »Er entkommt uns nicht, der Quälgeist! Wir finden ihn und bringen ihn um!«
»Fasst ihn, fasst ihn!«, hetzte Krasnow aus dem Birkenwäldchen. »Miss Wrigley, ich gehe auf die Lichtung, und Sie suchen dort!«
Überall knackten Zweige, tönten fröhliche Stimmen, schallte Gelächter. Es begann das übliche, zum Ritual gewordene Spiel.
Schwester Pelagia starrte in die Dunkelheit und horchte, ob nicht irgendwo das bekannte Winseln ertönte. Einige Zeit später, zehn Minuten vielleicht, schon nahe am Flussufer, erblickte sie vorn etwas Weißes. Sie beschleunigte den Schritt – er war es, Sakussai. Er war wohl vom Herumlaufen ermüdet und hatte sich unter der halb vertrockneten kleinen Espe hingelegt, gleich neben dem englischen Rasen.
»Da bist du ja!«, rief Pelagia leise und dachte nur daran, den Ausreißer nicht zu erschrecken, sonst mussten sie ihn die halbe Nacht im Unterholz suchen.
Im Gebüsch raschelten hastige Schritte, da eilte noch jemand hierher.
Die Nonne schlich zu dem Welpen, bückte sich und griff mit dem Siegesruf »Ich hab ihn!« nach den runden Flanken.
Sakussai gab keinen Laut von sich und rührte sich nicht.
Pelagia hockte sich hin. Ihr Herz krampfte sich zusammen, ihr wurde eng in der Brust und sehr heiß.
Der Kopf des Welpen war seltsam platt. Im Gras lag ein großer flacher Stein, darauf blinkte im Mondlicht ein feuchter Fleck von anklebender nasser Erde. Auch die Erdmulde war zu sehen, aus der der Stein herausgehoben worden war.
Sakussais Schnäuzchen sah im Tode lang und traurig aus. Jetzt hatte er wirklich Ähnlichkeit mit einem Engelchen.
Die Schritte im Gebüsch raschelten noch immer, aber sie kamen nicht näher, sondern entfernten sich, wurden leiser. Erst jetzt ging Pelagia auf: Jemand eilte nicht hierher, sondern von hier weg.
Marja Tatistschewa lag im Sterben. Schon zu Beginn der Nacht, als sie aus Tanjas wildem Geheul erkannte, was geschehen war, verlor sie die Sprache. Sie lag auf dem Rücken, röchelte, starrte mit aufgerissenen Augen zur Decke, und ihre pummeligen Finger tasteten unruhig über den Saum der Zudecke, wie um etwas wegzuwischen, was aber nicht gelang.
Mit der schnellsten Troika wurde der Arzt aus der Stadt geholt. Er befühlte die Kranke da und dort, drückte, horchte ab, gab ihr eine Spritze, damit sie nicht erstickte, ging dann hinaus in den Korridor und sagte:
»Es geht zu Ende. Sie braucht die Letzte Ölung.«
Dann saß er im Salon, trank Tee mit Kognak, plauderte halblaut mit Schirjajew über die Ernteaussichten und schaute alle halbe Stunde ins Schlafzimmer, ob die Kranke noch atmete. Sie atmete noch, doch schwächer und schwächer und sank immer wieder ins Vergessen.
Lange nach Mitternacht wurde der Geistliche aus dem Bett geholt und hergebracht. Er war zerzaust und nicht ganz wach, doch im vollen Ornat und mit den geweihten Gaben. Als er aber bei der Sterbenden eintrat, schlug sie die Augen auf und machte lallend deutlich: Ich will nicht.
»Sie wollen nicht die Letzte Ölung, Großmutter?«, fragte erschrocken Pjotr, den die dramatischen Ereignisse stark verstörten.
Die Sterbende schüttelte kaum erkennbar den Kopf.
»Was möchten Sie dann?«, fragte Pelagia, über sie gebeugt. »Einen Popen?«
Die Witwe schloss die Lider, öffnete sie wieder, hob mühsam einen zitternden Finger und zeigte zur Seite und nach oben.
Pelagia folgte der Richtung ihres Fingers. Da war nichts Besonderes zu sehen: die Wand, eine Lithographie der Stadt Petersburg, ein Porträt des verstorbenen Apollon Tatistschew und ein Photo von Mitrofani im vollen Bischofsornat.
»Sie möchten die Letzte Ölung vom Bischof?«, erriet die Nonne.
Die Witwe schloss wieder die Lider und ließ den Finger sinken. Also ja.
Wieder wurde nach Sawolshsk geschickt, auf den Klosterhof, und man wartete auf Mitrofani.
Bis zum Morgen ging niemand schlafen, alle streiften durchs Haus. Irgendwo unterhielten sich leise zwei oder drei Leute, ein anderer saß allein da. Pelagia konnte die Leute nicht beobachten, leider, denn das hätte mancherlei Aufschluss gegeben. Womöglich hätte sich der Mörder des kleinen Sakussai irgendwie verraten. Aber die Christenpflicht stand über den weltlichen Sorgen, und so saß die Nonne unentwegt bei Frau Tatistschewa, sprach Gebete und flüsterte Worte des Trostes, welche die Leidende wahrscheinlich gar nicht hörte. Erst im Morgengrauen ging Pelagia für eine halbe Stunde in den Park und kehrte höchst nachdenklich zurück.
Die Sonne ging auf, kletterte immer höher, schon war die Mittagsstunde vorüber, doch der Bischof kam nicht. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte, die Kranke halte nur aus Trotz noch durch, sie habe sich in den Kopf gesetzt, unter allen Umständen die Ankunft ihres Neffen abzuwarten und nicht eher zu gehen, als bis sie ihn vor sich sehe.
Der Anwalt Korsch kam. Bubenzow setzte Pelagia vor die Tür, damit sie beim Umschreiben des Testaments nicht störte. Als Zeugen berief er Selig und Krasnow, denn Naina verließ ihr Zimmer nicht, und Pjotr bat, ihn zu verschonen; Schirjajew verzog angewidert das Gesicht – jetzt an das Testament zu denken.
All das missfiel Pelagia außerordentlich, aber sie konnte nichts tun. Donat Sytnikow kam, mochte sich aber nicht in die Familienangelegenheiten einmischen – sollte alles seinen Gang gehen (woraus folgte, dass er gar nicht so sehr auf das Gorjajewsche Ödland erpicht war, wie es die misstrauische Marja Tatistschewa geargwöhnt hatte).
Aber vergeblich waren Bubenzows Bemühungen um die Sterbende, eine Neufassung des Testaments kam nicht zu Stande. Nach einer Stunde verließ Korsch das Schlafzimmer, wischte sich den Schweiß ab und bat um Kwass.
»Es ist nirgendwo üblich, aus einem Lallen den letzten Willen eines Menschen zu erraten«, sagte er verdrossen zu Pelagia. »Ich bin doch kein Jahrmarktsclown, sondern Mitglied der Notarsgilde.« Und er befahl, seinen Wagen anzuspannen, wollte auch nicht zum Mittagessen bleiben.
Bubenzow sprang ihm aufgebracht hinterher, holte den Widerspenstigen ein, fasste ihn am Ellbogen und flüsterte laut auf ihn ein. Was, blieb unbekannt, aber Korsch reiste trotzdem ab.
Wutentbrannt schrie Bubenzow der Kutsche hinterher:
»Das wird Ihnen noch Leid tun!«
Der Anwalt fuhr davon, aber ständig trafen neue Gäste ein, die von dem traurigen Ereignis gehört hatten: Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, die Notabein aus dem Gouvernement, sogar der Adelsmarschall. So viel Menschen wären kaum erschienen, um sich von der Generalswitwe zu verabschieden, hätte es nicht die Gerüchte gegeben, die in der Gegend umgingen. Die Gesichter der Versammelten zeigten neben der angemessenen Trauer auch eine gewisse Aufregung, und zwei Wörter, leise ausgesprochen, waren häufig zu hören: Welpe und Testament.
Und um Miss Wrigley war eine seltsame Bewegung, die immer spürbarer wurde. Als endgültig feststand, dass das Testament in Kraft blieb, wurde die Engländerin zum Mittelpunkt einer Art von Strudel. Flüchtig bekannte und ganz unbekannte Damen und Herren traten zu ihr, sprachen Worte des Mitgefühls und blickten ihr neugierig in die Augen. Andere mieden demonstrativ die Erbin und zeigten deutlich Missbilligung und sogar Abscheu. Die arme Miss Wrigley verlor den Kopf und lief immer wieder los, um Naina und Pjotr zu suchen, mit denen sie sich aussprechen wollte.
Aber Naina verließ nicht ihr Zimmer, und ihren Bruder Pjotr hatte Bubenzow mit Beschlag belegt. Pelagia kam heraus, um nach dem Bischof Ausschau zu halten, und sah, wie Bubenzow den verwirrten Pjotr von den Leuten wegzog, die eine Hand um seine Schulter gelegt, mit der anderen gestikulierend. Sie hörte Satzfetzen: ». . . die Umstände untersuchen und anfechten, unbedingt anfechten«.
Aber der amtliche Mensch hatte auch so genug zu tun. Am Morgen kam ein Eilbote im Galopp zu ihm geritten, am Mittag noch einer. Beide Male saß Bubenzow eine Weile mit ihnen in der Bibliothek, dann sprengten die geheimnisvollen Reiter ebenso verwegen wieder zurück. Es war zu sehen, dass die Untersuchung in Sachen der verschwundenen Köpfe sehr gewissenhaft geführt wurde.
Bischof Mitrofani kam erst gegen Abend, als ihn keiner mehr erwartete.
Pelagia trat zu ihm, um seinen Segen zu empfangen, und sagte vorwurfsvoll:
»Marja Afanassjewna wird sich freuen. Sie hat ja so gewartet, die Arme.«
»Macht nichts«, antwortete der Bischof. Zerstreut bekreuzigte er alle, die zu seiner Begrüßung herauskamen. »Nicht sie, der Tod hat gewartet. Dem Knochenmann schadet es nichts, ein bisschen zu ermüden.«
Er war irgendwie unfeierlich, sachlich, als wäre er nicht gekommen, um einer Sterbenden die Letzte Ölung zu geben, sondern um die Diözese zu inspizieren oder um einer anderen dienstlichen Angelegenheit willen.
»Lüfte die Kutsche, es ist ganz stickig drinnen«, befahl er dem Zellendiener, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß.
Und zu Pelagia sagte er:
»Los, führe mich.«
»Vater, und die heiligen Gaben?«, erinnerte sie ihn. »Sie braucht doch die Letzte Ölung.«
»Die Ölung? Warum nicht, die kann sogar gesund sein. Vater Alexi!«
Aus der Kutsche stieg schwerfällig ein Subdiakon in brokatenem Chorgewand, in der Hand das Hostiengefäß.
Sie durchschritten den halb dunklen Korridor, wo an den Wänden Menschen standen und sich verneigten; Stimmen flüsterten: »Segnet mich, Bischöfliche Gnaden.« Mitrofani spendete den Segen, schien aber niemanden zu erkennen und zeigte eine konzentrierte Miene. Er schickte alle aus dem Schlafgemach und ließ nur Pelagia und Alexi bleiben.
»Was ist, Magd Gottes, du willst sterben?«, fragte er ernst die Kranke im Bett; er redete sie mit »du« an, also sprach nicht der Neffe Mischa, sondern der strenge Seelenhirt. »Du möchtest vor den Himmlischen Vater treten? Hat ER dich denn gerufen, oder willst du von dir aus zu ihm? Wenn von dir aus, ist es eine Sünde.«
Aber seine drohenden Worte hatten keine Wirkung auf die Leidende. Sie sah den Bischof mit starrem, finsterem Blick an und wartete.
»Na gut«, seufzte er und zog die schwarze Reisekutte über den Kopf, darunter trug er den goldbestickten Ornat mit der wertvollen Bischofspanhagia auf der Brust. »Bereiten Sie alles vor, Vater.«
Der Diakon stellte eine kleine Silberschale auf den Nachttisch und schüttete aus einem Beutelchen Weizenkörner hinein. In die Mitte stellte er ein leeres Räucherfässchen und legte sieben Kerzen hin. Mitrofani weihte das Salböl und den Wein, füllte das Fässchen, zündete die Kerzen an. Er bestrich der Sterbenden Stirn, Nase, Wangen, Lippen, Brust und Hände und sprach dann gefühlvoll das Gebet:
»Vater im Himmel, Arzt Leibes und der Seele, Du sandtest Deinen Eingeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, der jedwede Krankheit heilet und vor dem Tode errettet: So heile auch Deine Magd Marja von ihrer körperlichen und seelischen Breste und belebe sie mit dem Segen Deines Sohnes Christus und den Gebeten der Heiligen Mutter Gottes, der Jungfrau Maria . . .«
Siebenmal verrichtete der Bischof den vorgeschriebenen Ritus nebst Gebet, und jedes Mal löschte er eine Kerze. Marja Tatistschewa lag friedlich da, blickte demütig auf die Kerzenflammen und bewegte lautlos die Lippen, wie um es auszusprechen: »Herr, erbarm dich.«
Nachdem Mitrofani die Gebete abgeschlossen hatte, zog er einen Stuhl ans Bett, setzte sich und sagte mit alltäglicher Stimme:
»Mit dem heiligen Abendmahl warten wir noch ein bisschen. Ich denke, es wird genug sein mit der Letzten Ölung.«
Die Kranke zuckte unzufrieden mit dem Mundwinkel und stöhnte kläglich, aber der Bischof wischte es mit der Hand weg.
»Lieg still und hör zu. Du bist seit gestern Abend nicht gestorben, also kannst du auch warten, solange der Bischof mit dir redet. Und wenn du dennoch sterben willst, dann aus Trotz.«
Nach dieser Präambel schwieg der Bischof ein Weilchen, dann sprach er anders weiter, halb laut, doch traurig und gefühlvoll.
»Man bekommt oft zu hören, darunter auch von Leuten, die nicht blind, sondern sehenden Auges glauben, das Leben wäre eine kostbare Gabe Gottes. Mir aber will scheinen, dass es überhaupt keine Gabe ist, denn eine Gabe möchte der Seele und dem Körper nur Annehmlichkeit bereiten, doch im Leben der sterblichen Menschen ist wenig Annehmlichkeit vorgesehen. Körperliche und seelische Martern, Sünden und Laster, der Verlust von Nahestehenden – das ist unser Leben. Eine schöne Gabe, nicht? Darum denke ich, man soll das Leben nicht als Gabe auffassen, sondern als eine Art Kirchenbuße, wie sie Mönchen auferlegt wird, und jeder Mensch bekommt seine eigene nach Maßgabe seiner Kräfte, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Kraft der Seele ist bei uns allen verschieden, also sei es auch die Last der Buße. Wen Gott lieb hat, den nimmt er schon im Säuglingsalter zu sich. Anderen misst er eine mittlere Frist zu, und wen er besonders prüfen will, den belastet er mit langem Leben. Die Gabe kommt dann, nach dem Leben. Wir unvernünftigen Sünder fürchten sie und nennen sie Tod, dabei ist der Tod die lang ersehnte Begegnung mit unserem Allgnädigen Vater. Der Herr prüft jeden auf seine Weise und wird sich in SEINEM unendlichen Erfindungsreichtum niemals wiederholen, doch ist es eine große Sünde und ein großer Verdruss für den Schöpfer, wenn jemand eigenmächtig die ihm zugemessene Bußfrist verkürzen will. Nicht der Mensch bestimmt die Begegnung mit IHM, sondern Gott allein. Darum verhält sich die Kirche so unbeugsam zum Selbstmord und sieht in ihm die schlimmste Sünde. Wenn es dir schlecht geht, wenn du Schmerzen hast, wenn dir bitter ist – dulde. Der HERR weiß, wie viel Festigkeit in einer Seele ist, und ER wird SEINEM Kind keine zu schwere Last aufbürden. Es soll dulden und ertragen, und das wird seine Seele läutern und erheben. Aber was du machst, ist Selbstmord.« Mitrofani sagte es ärgerlich und gab den vertraulichen Ton auf. »Du bist eine gesunde, kräftige alte Frau! Warum spielst du hier Komödie? Wegen einer weißen Bulldogge betrübst du Gott den Herrn und willst deine Seele verderben! Du bekommst von mir nicht die Absolution vor dem Tode, merke es dir, denn die heilige Kirche kennt mit Selbstmördern keine Nachsicht! Und solltest du trotzen wollen, so lasse ich dich außerhalb der Friedhofsmauer in ungeweihter Erde begraben. Und dein Testament werde ich bei den weltlichen Behörden anfechten, denn das Vermächtnis eines Selbstmörders ist nach russischem Gesetz unwirksam!«
Die Augen der Sterbenden sprühten wütende Funken, die Lippen mümmelten, aber kein Laut kam heraus. Dafür erzitterten die fromm über der Brust gefalteten Hände, und die oben liegende Rechte zeigte mühsam den Daumen zwischen Zeige – und Mittelfinger.
»Na bitte«, rief der Bischof erfreut. »Du willst mit dem Zeichen des Teufels aus dem Leben gehen. Das passt zu dir. Wenn du tot bist, werde ich nicht dulden, deine Finger zu lösen, dann kannst du mit der Feige im Sarg liegen, und alle werden es sehen.«
Die Witwe lockerte die Finger, und die Rechte legte sich würdevoll wieder auf die Linke.
Der Bischof schüttelte den Kopf und sagte sanft, als könne er nie die Beherrschung verlieren:
»Schau, Marja, du hast in deinem Leben viele bittere Schalen leeren müssen: Deinen geliebten Mann hast du zu Grabe getragen, vier Kinder hast du überlebt. Und bist nicht gestorben. Sind dir wirklich diese stumpfschnäuzigen Köter lieber als deine Angehörigen? Das wäre schändlich.«
Mitrofani wartete auf irgendein Zeichen, aber die Witwe schloss nur die Augen.
»Ich weiß, in dir ist noch viel Leben, du hast deine Zeit nicht verbraucht. Und noch eines musst du bedenken. Wem Gott ein langes Leben zugemessen hat, der hat es am schwersten, denn seine Prüfung währt sehr lange. Dafür wird ihm aber eine besondere Belohnung zuteil. Je länger ich auf der Welt lebe, desto mehr deucht mich, dass ein hinfälliges Alter weniger eine Prüfung ist als vielmehr eine Gnade Gottes. Eine wirkliche Gabe. Erst im vorgerückten und weisen Alter verliert der Mensch die Todesangst. Das Welken des Fleisches und das Erlöschen des Verstandes sind eine treffliche Vorbereitung auf das andere Leben. Der Tod fällt dich nicht mit einem Schlag, sondern kommt langsam, tropfenweise, und das ist wohl nicht gänzlich ohne Süße. Nicht umsonst weilen viele hochbetagte Mönche, Skimniks (Skimnik - Mönch der strengsten Ordensregel, D.Ü.), an der Neige ihrer Jahre weniger hier als dort, in paradiesischer Seligkeit. Es kommt vor, dass ihr Fleisch nach dem Tode nicht verwest, zum Erstaunen der Menschen. Aber was reden wir von heiligen Mönchen. Jeder sehr alt gewordene Mensch hat alle seine Bekannten, die er liebte oder hasste, schon dort, sie warten auf ihn, darum hat er keine Furcht. Er weiß ja, dass alle – die klüger waren als er oder dümmer, böser oder gütiger, mutiger oder feiger –, alle, die er gekannt hat, die schreckliche Schwelle überschritten haben. Also ist sie gar nicht so schrecklich . . .«
Marja Tatistschewa hatte der umfänglichen Predigt des Bischofs gelauscht, und jetzt lächelte sie beruhigt. Mitrofani runzelte die Stirn, er hatte eine andere Reaktion erwartet. Er seufzte, bekreuzigte sich, redete ihr aber nicht mehr ins Gewissen.
»Nun gut, wenn du fühlst, deine Zeit ist gekommen, wenn du gerufen wirst, halte ich dich nicht. Dann gebe ich dir das heilige Abendmahl, spreche alle Gebete und lege dich in die geweihte Erde, wie es sich gehört. Ich wollte dich erschrecken. Stirb, so du es wirklich willst. Wenn das Leben dich nicht mehr hält, nicht mehr lockt, wie soll ich schwacher Mensch dich halten! Aber . . .« Er wandte sich dem Diakon zu und befahl: »Bringt sie her, Vater!«
Vater Alexi nickte und ging hinaus. Im Schlafgemach wurde es still. Marja Tatistschewa lag mit geschlossenen Augen da, und ihr Gesicht sah aus, als läge sie nicht mehr im Bett, sondern im offenen Sarg, aufgebahrt in der Kirche, und aus den hohen Gewölben sängen ihr die Engel süße Lieder. Mitrofani stand auf, trat zu einer Lithographie an der Wand und betrachtete sie interessiert.
Alsbald ging die Tür auf, und der Diakon und der Zellendiener brachten einen Korb herein, der oben eine kleine Öffnung hatte. Sie stellten ihn auf den Fußboden, verneigten sich vor dem Bischof und traten zurück zur Wand.
Im Korb raschelte es seltsam, und es piepste sogar. Pelagia reckte neugierig den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu linsen, aber Mitrofani hatte schon den Deckel abgenommen und senkte beide Hände hinein.
»Da, Tantchen«, sagte er mit normaler Stimme. »Das wollte ich Ihnen zeigen, solange Sie noch leben. Darum bin ich so spät gekommen. Auf mein Geheiß haben meine Abgesandten den ganzen Distrikt abgesucht, und ich habe sogar den Telegraphen benutzt, obwohl ich, wie Sie wissen, diese Neuerungen nicht mag. Bei dem Major a. D. Sipjagin fand sich in einem Wurf ein weißer Bulldoggenwelpe weiblichen Geschlechts. Auch das Ohr, schauen Sie, stimmt. Und aus Nishni Nowgorod kam vor zwei Stunden als Geschenk des Kaufmanns erster Gilde Saikin mit einem schnellen Dampfboot ein weißer Rüde, anderthalb Monate alt. Der ist in jeder Hinsicht eine Pracht. Die Hündin ist nicht ganz weiß, hat ein rötliches Näschen, doch dafür besonders krumme Beinchen. Sie heißt Mussja. Sipjagin wollte sie nicht hergeben, seine Tochter mochte sich nicht von ihr trennen. Ich musste mit dem Kirchenbann drohen, weil es den Tod einer Christenseele bedeutet hätte, was von mir sogar ungesetzlich war. Der Rüde hat noch keinen Namen. Schauen Sie, sein Ohr ist braun, die Nase, wie vorgeschrieben, rosa und gesprenkelt und, vor allem, die Schnauze sehr platt. Wenn sie groß sind, kann man sie neu kreuzen. Dann ist die weiße Bulldogge in zwei bis drei Generationen wiederhergestellt.«
Er zog die beiden dickbäuchigen Welpen aus dem Korb. Der eine war etwas größer, kläffte böse und strampelte mit den Pfoten, der andere war friedlich.
Pelagia drehte sich nach der Sterbenden um und sah, dass sie sich auf magische Weise verändert hatte und nicht mehr für den Sarg taugte. Mit großen Augen betrachtete sie die kleinen Bulldoggen, und ihre Finger auf der Brust bewegten sich schwach, als wollten sie etwas ergreifen.
Kaum hörbar fragte sie mit zitternder Stimme:
»Und der Speichelfluss?«
Der Bischof flüsterte Pelagia zu: »Den Arzt«, dann trat er zum Bett und setzte die beiden Welpen der Witwe auf die Brust.
»Sehen Sie selbst. Da läuft es fadendünn.«
Pelagia schlüpfte in den Korridor mit einer Miene, dass der Arzt, der in der Nähe stand, verstehend nickte.
»Aus?«
Sie schüttelte den Kopf, noch benommen von dem geschauten Gotteswunder, und zeigte schweigend: Gehen Sie hinein.
Der Arzt blickte zwei Minuten später heraus. Seine Miene war verlegen und sachlich.
»Das erste Mal in siebenundzwanzig Jahren Praxis«, sagte er zu den an der Tür Wartenden und rief: »He, ist da wer? Zimmermädchen! Heiße Bouillon, möglichst kräftig!«
Der Bischof empfing Pelagia in den ihm zugewiesenen Gemächern erfrischt und vergnügt. Er hatte sich gewaschen und einen hellgrauen Leibrock angelegt und kühlen Kwass getrunken.
»Na, was sagen die Rechtgläubigen?«, fragte er und lächelte verschmitzt. »Reden sie über die wundersame Errettung?«
»Sie sind fast alle weggefahren«, meldete Pelagia. »Was Wunder, bei solch einem Ereignis. Es drängt sie, den Angehörigen davon zu erzählen. Aber der Adelsmarschall ist noch hier, ebenso Bubenzow und sein Sekretär.«
»Er hat wohl den Schwanz eingezogen, der verrückte Kerl?« Mitrofani wurde ernst. »Während du, Pelagia, hier deine Zeit vertan hast, sind bei uns in Sawolshsk Dinge passiert. . .«
Die Nonne nahm den Vorwurf ohne Murren, mit geneigtem Kopf hin. Sie trug ja wirklich Schuld – hatte den kleinen Sakussai nicht bewahren können, und wenn Frau Tatistschewa sich wieder erholte, dann nicht durch ihre Bemühungen.
»Bubenzow hat große Anstrengungen unternommen, hat solchen Unsinn zusammengeredet und in ganz Russland solchen Lärm geschlagen, dass ich gar nicht weiß, ob ich das abwehren kann . . .«
Und der Bischof erzählte Pelagia all das, was sie schon von Bubenzow gehört hatte, nur deutete er die Morde gänzlich anders.
»All dieses Gerede über den Gott Schischiga ist dummes Zeug. Irgendwelche Unholde haben zwei Menschenseelen umgebracht, haben sie ausgezogen und ihnen den Kopf abgetrennt – aus Übermut oder blinder Wut oder aus sonstigen Gründen. Was gibt es auf der Welt nicht alles für Unmenschen. Aber Bubenzow hat sich gefreut und sogleich seine Fäden gesponnen. Die vorsintflutliche Chronik kam ihm dabei bestens zupass. Ich weiß selber, dass unsere Syten mehr dem Namen nach Christen sind und noch mancherlei heidnischem Aberglauben anhängen, aber sie sind ein stilles, friedliches Völkchen. Morden, das bringen sie nicht fertig, nicht mal Stehlen. Aber dieser Satan hat in wenigen Tagen den Bodensatz der menschlichen Seelen aufgerührt, hat Leute zu Ohrenbläsern und Verleumdern gemacht. Wie es im Evangelium heißt: ›Dann werden sich viele ärgern und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinander hassen.‹ Pfui, wie scheußlich! Jetzt haben viele schon Angst, abends aus dem Hause zu gehen, und sie verrammeln die Türen zur Nacht, das hat es seit zehn Jahren nicht gegeben, seit die Räuber ausgerottet wurden. Aber macht nichts, der Satan ist die Versuchung, der Herr die Erlösung. Auf jede böse Tat folgt die Gerechtigkeit. So wie heute hier in Drosdowka.«
Mitrofani, zum erfreulichen Thema zurückgekehrt, kam wieder in gehobene Stimmung.
»Was meinst du, Pelagia?« Seine Augen lachten. »Ist es eine lässliche Sünde, wenn ich ein bisschen stolz bin?«
»Wie solltet Ihr nicht«, sagte die Nonne aufrichtig. »Gott wird nicht zürnen. Ihr habt Marja Afanassjewna gerettet, und das haben alle gesehen und können es bestätigen.«
»So ist es. Ganz besonders freut mich, dass ich dem unbekannten Schurken, der die Hunde umgebracht hat, diesem heimlichen Mörder, die Karten durcheinander gebracht habe. Der Widerling hat sich gewiss schon die Hände gerieben, dass er die alte Frau in den Tod getrieben hat, und dann dieses.« Der Bischof formte seine Finger zu dem gleichen Gebilde, das er gerade eben als Zeichen des Teufels bezeichnet hatte. »Wir sind eine kräftige Rasse. Tantchen wird noch zehn Jahre leben, mit Gottes Hilfe auch fünfzehn, und die hässlichen Viecher neu züchten.«
Ganz kurz nur war Mitrofani stolz, dann fand er wohl, dass es genug sei. Er blickte Pelagia prüfend an und schüttelte den Kopf.
»Na, die Kirchenbuße ist wohl nicht ganz einfach? Du hast vielleicht gedacht, es ist eine Kleinigkeit, den Tod von solch lächerlichen Hunden aufzuklären, da hast du schon ganz andere Knoten entwirrt, stimmt’s? Aber du siehst, die Sache hat sich von selbst erledigt. Ich habe immer von einem Schurken gesprochen. Dabei handelt es sich um eine Frau. Das Bild ist klar. Die Witwe Tatistschewa war ihren rechtmäßigen Erben böse und hat ihnen zum Schur das Testament zu Gunsten der Engländerin geändert. Nicht im Ernst, nur zur Abschreckung. Da hat sich bei der Lutheranerin aus Habgier der Verstand verfinstert, in ihrer Situation sehr verständlich. Auf ihre alten Tage konnte sie von der Kostgängerin zur reichen Frau werden. Das würde jeden um die Vernunft bringen.«
»Miss Wrigley ist nicht alt«, sagte Pelagia. »Um die fünfzig.«
»Umso mehr. Es ist das Alter, wo die Kräfte allmählich nachlassen und die Angst vor dem morgigen Tag einsetzt. Jetzt wird man sie natürlich wegjagen, und zu Recht. Undank ist eine schwere Sünde und Verrat die allerschlimmste.«
»Man darf sie nicht wegjagen«, erklärte Pelagia entschlossen. »Miss Wrigley hat die Hunde nicht getötet. Als Saguljai und Sakidai vergiftet werden sollten, war das Testament noch nicht zu ihren Gunsten geändert. Ich meine, das Vermächtnis spielt hier gar keine Rolle.«
»Wieso nicht? Weshalb wollte man die alte Frau sonst ins Grab bringen? Und wer soll das Ganze ausgeheckt haben, wenn nicht die Engländerin?«
Mitrofani sah seine geistliche Tochter verwundert an. Sie hob die von der Sonne ausgebleichten rötlichen Brauen, und dann platzte sie heraus:
»Weshalb, weiß ich nicht, aber wer die Hunde umgebracht hat, weiß ich wohl.«
An der Tür klopfte es zaghaft, aber beharrlich, im unpassendsten Moment. Der Subdiakon Alexi schaute herein.
»Euer Bischöfliche Gnaden, die Gesellschaft ist im Salon versammelt und bittet Sie zu kommen. Ich habe gesagt, der Bischof ruhen aus von der Reise, aber ich soll Sie sehr bitten. Der Adelsmarschall wartet nur noch auf Sie, seine Kutsche ist schon angespannt, aber ohne Ihren Segen fährt er nicht. Vielleicht kommen Sie?«
Der Bischof ließ den Blick von Vater Alexi zu Pelagia gleiten. Auf seiner Stirn bildeten sich drei steile Falten.
»Wir werden wohl ein langes Gespräch haben, Pelagia. Jetzt komm mit in den Salon. Ich werde meiner Pflicht nachkommen, dann reden wir weiter.«
Im Salon war in der Tat die ganze Gesellschaft versammelt, und sie empfing den Bischof mit begeistertem Stimmengewirr, das vielleicht in Applaus ausgeartet wäre ohne die Achtung vor seinem hohen Rang. Bubenzow trat vor und sagte gefühlvoll:
»Ewigen Dank, Bischöfliche Gnaden, für die Tante.«
Dazu hatte er guten Grund – nun konnte er sich wieder um das Testament kümmern. Mitrofanis zufriedenes Gesicht verfinsterte sich für einen Moment (wohl bei diesem Gedanken), und er wandte sich von dem unangenehmen jungen Mann ab.
Von der anderen Seite schlich schon Selig herzu, er sagte weinerlich:
»So geht unser Leben: Blumen und Rauch und Morgentau wahrlich. Eure heilige Hand bitte, zum Kusse . . .«
»Meine Herrschaften!«, rief Krasnow laut. »Soeben wurde ein Gedicht geboren. Bitte um Gehör, Herrschaften, aus dem Stegreif. Im Stil des großen Dershawin (Gawrila Dershawin (1743-1816) - klassischer russischer Dichter. D.Ü.)! ›Ode auf die wundersame Errettung der Königin von Drosdowka, Marja Tatistschewa, aus der Todesgefahr‹.
Ich blas die jubelnde Schalmei
Und sing in aller Russen Namen
Das glückerfüllte Hosianna
Für unsrer Herrin frohe Rettung.
Vom bösen Gift der schwarzen Schlange,
Das deine undankbare Magd
Den weißen Engeln eingegeben,
Erlitten sie den tück’schen Tod.
Allein, die Vorsehung hat nicht gewollt,
Dass solche Schurkerei gelänge,
Des Bischofs Hand, sie zog entschlossen
Den gift’gen Stachel aus der Wunde.«
»Kirill Nifontowitsch!«, rief Miss Wrigley mit zitternder Stimme, unterbrach damit die Deklamation und streckte die mageren Hände nach dem Dichter aus. »Haben auch Sie sich von mir abgewandt?«
Bubenzow lächelte giftig.
»Ausgezeichnet! Der vorlaute Dieb verrät sich selbst.«
Es hatte sich ergeben, dass die Engländerin in der Mitte eines leeren Kreises stand, wie mit Absicht der allgemeinen Betrachtung preisgegeben.
»Miss Wrigley hat Großmutters Hunde wirklich nicht gemocht, aber anzunehmen, dass sie . . . Nein, undenkbar.« Pjotr schüttelte den Kopf. »Sie kennen sie ja gar nicht, Wladimir Lwowitsch. Das heißt, von außen könnte es verdächtig erscheinen, muss es sogar, aber ich kenne Miss Wrigley seit meiner frühesten Kindheit, kann mich voll für sie verbürgen und versichere Ihnen, dass diese Vermutung keinerlei Grundlage . . .«
»Sie war’s, die Engländerin, wer denn sonst«, unterbrach einer der Gäste diese wirren Versicherungen. »Solch ein Vorgehen ist irgendwie unrussisch. Nicht einfach töten, sondern einem Menschen das Herz brechen. Viel zu ausgeklügelt für einen Rechtgläubigen. Aber wozu noch reden, der Fall ist klar.«
Selig schloss sich an.
»Wer Augen hat, der sehe, wer Ohren hat, der höre.«
»Schluss mit dem Unsinn!« Naina trat zu Miss Wrigley und nahm ihre Hand. »Don’t listen to them. They do not know what they are saying. (Hören Sie nicht auf sie. Sie wissen nicht, was sie reden.)“« Naina ließ den hasserfüllten Blick von einem zum anderen gleiten. »Sie haben schon das Urteil gesprochen! Ich lasse nicht zu, dass man sie kränkt!«
Die Engländerin schluchzte und legte die Stirn dankbar an Nainas Schulter.
»Aber Naina Georgijewna, es steht nicht in Ihrer Macht, die gesetzlich vorgeschriebene Untersuchung abzuwenden«, bemerkte der Adelsmarschall. »Wir verstehen natürlich Ihre Gefühle und achten sie, doch ob hier ein Verbrechen vorliegt und wer dafür verantwortlich ist, soll die Polizei untersuchen. Nach meiner tiefen Überzeugung hat ein Verbrechen stattgefunden, und es ist als Mordanschlag zu werten. Ich bin sicher, dass das Geschworenengericht so entscheiden wird.«
»Katorga?«, piepste Miss Wrigley entsetzt und sah sich gehetzt um. »Sibirien?«
»Dachten Sie Brighton?«, antwortete böse der Adelsmarschall, stolz auf seine Kenntnis europäischer Badeorte.
Die Engländerin senkte den Kopf und weinte leise, sie hoffte wohl auf nichts mehr. Naina, hochrot vor Unmut, legte ihr den Arm um die Schultern und flüsterte tröstlich auf sie ein, aber Miss Wrigley sagte immer wieder bitter:
»Nein, nein, ich bin hier eine Fremde, the Jury will condemn me (Die Geschworenen werden mich verurteilen.) . . .«
Schwester Pelagia, der die klägliche Szene das Herz zerriss, sah den Bischof flehend an. Der nickte beruhigend. Er klopfte mit dem Krummstab auf den Fußboden, räusperte sich, und sofort verstummten alle und wandten sich ehrfurchtsvoll ihm zu.
»Lasst diese Frau in Ruhe«, dröhnte er. »Sie ist unschuldig.«
»Aber das Testament, Euer Bischöfliche Gnaden?« Der Adelsmarschall breitete die Arme aus. »Das oberste Prinzip lautet doch: cui bono (Wem nützt es).«
»Graf Gawriil Alexandrowitsch.« Der Bischof drohte ihm belehrend mit dem Finger. »Piroggen backen ist Sache des Bäckers, und Ihre Sache ist es, sich um Ihre Adligen zu kümmern, nicht aber Ermittlungen anzustellen, wofür Sie, nicht böse sein, keinerlei Voraussetzungen mitbringen.«
Der Adelsmarschall lächelte verlegen, und Mitrofani sprach ruhig weiter:
»Es ist unrecht, die Versicherungen der beiden jungen Leute, die diese Frau fast seit ihrer Geburt kennen, in den Wind zu schlagen. Wenn Ihnen das aber nicht genügt, dann bitte: Als der erste Hund getötet wurde, war das Testament noch gar nicht auf Miss Wrigley umgeschrieben. Na, Gawriil Alexandrowitsch, wo bleibt da Ihr cui bono?«
»Tja, das stimmt!« Poggio knackte respektlos mit den Fingern. »Der Bischof ist ja scharfsinnig.«
Der nun gänzlich konfuse Adelsmarschall breitete wieder die Arme aus.
»Aber erlauben Sie mal, wer hat dann die Hunde umgebracht? Oder soll das geheim bleiben?«
Das Schweigen war so angespannt, und die Blicke aller richteten sich so erwartungsvoll auf den Bischof, dass er der Verlockung nachgab.
»Vor den Menschen geheim, vor Gott nicht«, sagte er gewichtig. »Und von IHM wissen es SEINE Diener.«
Da erstarb im Salon jede Bewegung. Bei der Tür stand, mit beiden Händen das weiße Schürzenband haltend, das Zimmermädchen Tanja. Bubenzow hielt den Kopf skeptisch geneigt. Miss Wrigley hatte eben die Tränen trocknen wollen, aber die Hand mit dem Tüchlein stockte. Selbst die stolze Naina sah den Bischof wie verzaubert an.
Mitrofani ergriff Pelagia bei der Hand und zog sie in die Mitte des Raums.
»Auf mein Geheiß hat sich Schwester Pelagia, die mein scharfes Auge ist, etliche Tage hier aufgehalten. Ich befehle dir, meine Tochter, den Leuten hier zu erzählen, was du herausgefunden hast. Die Sache hat gar zu sehr die Gemüter bewegt und die Seelen verstört, darum wollen wir beide kein Geheimnis daraus machen.«
Pelagia senkte den Kopf und schob die Brille auf der Nasenwurzel vor und zurück, was bei ihr ein Zeichen von Missvergnügen war, doch dem Bischof zu zürnen schickte sich nicht für sie. Es blieb ihr nur der Gehorsam.
»Wenn Ihr mir dazu Euren Segen erteilt, will ich es erzählen«, sagte sie, ihre Erregung niederkämpfend. »Aber zuvor bekenne ich mich schuldig und bitte um Vergebung. Ich hätte es früher herausfinden müssen. Dann könnte das Tierchen noch leben, und Marja Afanassjewna wäre die leidvolle Erschütterung, die sie fast ins Grab gebracht hätte, erspart geblieben. Erst heute früh ist mir etwas aufgegangen, und auch nicht bis ins Letzte . . .«
Alle hörten der Nonne sehr aufmerksam zu, außer vielleicht Bubenzow, der stand, die Hände in den Hüften, und betrachtete die Klosterfrau mit spöttischer Verwunderung. Sein Spießgeselle Selig, vom Beispiel seines Herrn angesteckt, benutzte die Pause, um halblaut zu verkünden:
»Lasset eure Weiber schweigen, denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.«
»Entstellen Sie nicht die Heilige Schrift, das ist eine große Sünde und überdies strafbar.« Mitrofani ließ ihm die Gemeinheit nicht durchgehen. »Bei dem heiligen Apostel heißt es: schweigen in der Gemeinde – in dem Sinne, dass während des Gottesdienstes die geschwätzigen Weiber zu schweigen haben, aber den Mund verbietet das christliche Gesetz den Frauen nicht. Das, Verehrter, verwechseln Sie wohl mit dem Islam.«
»Vergebung, Bischöfliche Gnaden, mein Gedächtnis hat nachgelassen«, antwortete Selig demütig und verbeugte sich vor dem Würdenträger bis fast zur Erde.
Pelagia bekreuzigte sich, sie wusste, dass gleich darauf in dem stillen Raum ein Gebrüll losgehen würde wie in Sodom und Gomorrha, aber da war nichts zu machen, und sie begann:
»Hier in Drosdowka sind drei Morde geschehen, einer vor fünf Tagen, einer vorgestern und einer gestern Abend. Ja, es waren Morde, auch wenn keine Menschen umgebracht wurden. Der erste Mord war vorbereitet und umsichtig geplant. Jemand wollte mit einem Schlag Saguljai und Sakidai vergiften. Beim zweiten und dritten Mal kam es anders: Der Mörder war unvorbereitet, handelte überstürzt, schlug zu mit einem Gegenstand, der eben zur Hand war. Sakidai wurde mit einer Axt erschlagen, die aus dem Gartenschuppen stammte. Gestern genügte ein ge-wohnlicher Stein, das Tierchen wird nicht mal mehr gepiepst haben . . .«
Die Nonne bekreuzigte sich wieder, obwohl das bei einem Hund nicht nötig gewesen wäre. Na und, es würde nichts verschlimmern.
»Klar ist eines: Die Ermordung der Hunde hat mit dem Testament nichts zu tun, weil, wie der Bischof gesagt hat, dessen Änderung keine Auswirkung auf die bösen Absichten des Hundemörders hatte, der führte seine finstere Sache zu Ende. Er wollte entweder Frau Tatistschewa umbringen oder ein anderes Ziel erreichen, von dem wir nichts wissen. Aber auch im letzteren Fall sind die Handlungen dieses Menschen abscheulich, denn er nahm die Leiden der unglücklichen Frau gleichgültig in Kauf. Er musste ja wissen, dass er ihre seelische und physische Gesundheit zerstörte . . . Am rätselhaftesten jedoch ist dies.« Pelagia schob die rutschende Brille hoch. »Weshalb die Eile bei Sakidai und Sakussai? Warum ging der Mörder solch ein Risiko ein? Beide Male waren Leute im Park. Die konnten etwas sehen, den Mörder entlarven. Ich zum Beispiel hätte gestern ums Haar den Übeltäter am Schauplatz seines Verbrechens erwischt, habe sogar seine Schritte gehört, hatte aber Angst, ihm nachzulaufen, und als ich mir ein Herz fasste, war es zu spät. Hinter der Grausamkeit und Dreistigkeit des Mörders steckt eine besondere Leidenschaft. Hass oder Angst oder noch etwas. Ich weiß es nicht und will nicht raten. Ich hoffe, dass der Übeltäter oder, genauer, die Übeltäterin es uns selbst erzählt.«
»Übeltäterin?«, ächzte Schirjajew. »Sie wollen sagen, Schwester, dass der Mörder weiblichen Geschlechts ist?«
Alle redeten durcheinander. Mitrofani warf einen zweifelnden Blick auf Pelagia und bedauerte wohl schon, sie zum Erzählen ermuntert zu haben.
»Also doch die Engländerin?«, fragte der Graf vollends verwirrt.
Naina reckte herausfordernd das fein gemeißelte Kinn.
»Nein, Sie haben es doch gehört. Die Anspielung ist deutlich. Außer Miss Wrigley ist hier nur noch eine Frau – ich.«
»Und Tatjana Sotowna, die ist wohl keine Frau?«, sagte Pjotr, er fühlte sich für seine Dulcinea beleidigt, begriff aber sofort, dass sein Eintreten nicht ganz glücklich war, und wurde verlegen. »Ach, verzeihen Sie, Tanja, damit wollte ich nicht sagen . . .«
Er besann sich und ging wie ein wütender Hahn auf die Nonne los.
»Was für ein Quatsch! Hysterie! Woher wollen Sie wissen, dass es eine Frau war? Sie hatten wohl eine Offenbarung, was?«
Tichon Selig, der Pelagia wohl noch immer nicht seine Verbannung in den Seitenflügel verziehen hatte, tat eine angebrachte Äußerung:
»Der Narren Mund speit eitel Narrheit.«
Er blickte, Unterstützung heischend, zu Bubenzow, aber der sah ihn gar nicht an, sondern musterte die Nonne, anders als bisher, mit sichtlichem Interesse. Er benahm sich überhaupt sonderbar: Gewöhnlich in Gesellschaft große Reden schwingend und andere nicht zu Wort kommen lassend, hatte er hier den ganzen Abend noch nicht den Mund aufgetan.
»Eine Offenbarung gab es nicht«, antwortete Pelagia ruhig, »ihrer bedarf es auch nicht, wenn ein gewöhnlicher Menschenverstand es tut. Als es heute hell wurde, bin ich hin zu der Stelle, wo Sakussai gestern erschlagen wurde, Der Erdboden dort war ganz zertrampelt, jemand war ziemlich lange um die Stelle herumgegangen. Neben der Mulde in der Erde, wo der Stein gelegen hatte, war die Spur des rechten Fußes tiefer eingedrückt. Eine ebensolche Spur gab es da, wo der Täter sich gebückt hatte, um den Welpen auf den Kopf zu schlagen. Ein Damenschuh mit Absatz. Solche Schuhe tragen im Hause nur zwei Personen – Miss Wrigley und Naina Georgijewna.« Pelagia entnahm ihrer Gürteltasche ein Blatt Papier mit dem gezeichneten Umriss einer Schuhsohle. »Dies ist die Spur, der Fuß misst neuneinhalb Zoll. Das lässt sich nachprüfen.«
»Mein Fuß misst nicht neuneinhalb, sondern elf Zoll«, rief erschrocken Miss Wrigley, die sich schon zum zweiten Mal an diesem Abend verdächtigt sah. »Da, schauen Sie her.«
Die Engländerin hob den Schnürschuh hoch, aber niemand sah hin – alle stürzten zu Naina, um sie von Pelagia wegzuziehen.
Die exaltierte junge Frau hatte die Nonne am Kragen gepackt, schüttelte sie und schrie:
»Hast es ausgeschnüffelt, ausspioniert, du schwarze Maus! Ja, ich hab’s getan, ich war’s! Aber warum, das geht keinen was an!«
Die Brille flog zu Boden, krachend zerriss Stoff, und als Naina endlich loslassen musste, war auf der Wange der Nonne ein blutiger Kratzer zu sehen.
Und nun begann ein Gebrüll, wie Pelagia es vorausgesehen hatte.
Nainas Bruder Pjotr lachte unsicher.
»Nein, Naina, nein. Warum beschuldigst du dich? Willst du wieder originell sein?«
Am lautesten schrie Schirjajew, Qual in der Stimme:
»Aber warum, Naina? Das ist doch schrecklich! Gemein!«
»Schrecklich? Gemein? Es gibt Grenzen, jenseits derer Schrecklichkeit und Gemeinheit nicht mehr existieren!«
In ihrem lodernden Blick war nicht ein Schatten von Schuldbewusstsein, Reue oder wenigstens Scham, da war nur Ekstase und ein seltsamer Triumph. Man kann sogar sagen, dass ihr Aussehen in diesem Moment etwas Majestätisches hatte.
»Bravo! Ich weiß! ›Macbeth‹, zweiter Akt, ich glaube, auch zweite Szene.« Arkadi Poggio tat, als wolle er applaudieren. »Wie Lady Macbeth: ›Meine Hände sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme mich, dass mein Herz so weiß ist.‹(Übersetzung: Dorothea Tieck.) Das Publikum rast, die ganze Bühne liegt voller Blumensträuße. Bravo!«
»Jämmerlicher Narr, unbegabter Pinselschwinger!«, zischte das gefährliche Fräulein. »Aus der Kunst hat man Sie vertrieben, und Ihr hölzerner Kasten wird Sie nicht retten. Nicht lange, dann wird jeder, der nicht zu faul ist, ein Photograph sein, und dann haben Sie nur noch eine Möglichkeit – auf dem Jahrmarkt lebendige Bilder vorzuführen!«
Pjotr nahm seine Schwester bei der Hand.
»Naina, Naina, besinn dich! Du bist außer dir, ich werde den Arzt rufen.«
Im nächsten Moment wäre er von einem heftigen Stoß beinahe zu Boden gestürzt, und der Zorn der wütenden Furie ergoss sich über ihren Bruder:
»Pjotr, mein herzliebstes Brüderchen! Erlaucht! Du verziehst das Gesicht? Du magst nicht mit ›Erlaucht‹ angeredet werden? Du bist ja unser Demokrat, du machst dir nichts aus Titeln. Das kommt, weil du dich deines Namens schämst. Fürst Telianow, das klingt irgendwie zweifelhaft. Was sind denn das für Fürsten, deren Namen man noch nie gehört hat? Wenn du Obolenski oder Wolkonski hießest, würdest du Durchlaucht nicht verschmähen. Du solltest heiraten, heirate deine Tanja. Die ist die richtige Fürstin für dich. Bloß was wirst du mit ihr machen, Pjotr, na? Kluge Bücher lesen? Einer Frau genügt das nicht, ganz und gar nicht. Doch zu anderem bist du nicht fähig. Schon dreißig und noch immer Knabe. Sie wird dir weglaufen und zu einem handfesten Kerl gehen.«
»Verdammt, was soll das!«, rief der Adelsmarschall entrüstet. »So was Unanständiges, und das in Gegenwart des Bischofs und uns allen! Die ist ja hysterisch, richtig hysterisch!«
Schirjajew zog die junge Frau zur Tür.
»Komm, Naina. Ich muss mit dir sprechen.«
Sie lachte böse.
»Natürlich, mit mir sprechen und reine Tränen vergießen. Wie ihr mir alle zum Halse heraushängt mit euren herzlichen Gesprächen! Bu-bu-bu, ssu-ssu-ssu«, äffte sie nach, »Pflicht gegenüber der Menschheit, Verschmelzung der Seelen, binnen hundert Jahren die Welt in eine blühende Landschaft verwandeln! Anstatt das Mädel einfach in den Arm zu nehmen und zu küssen! Idiot! Mit leeren Händen wirst du dastehen!«
Auch Sytnikow wollte etwas sagen, er machte schon den Mund auf, aber nach dem Strafgewitter, das auf seine Vorredner niedergegangen war, zog er es vor zu schweigen. Gleichwohl bekam auch er sein Fett ab.
»Und Sie, Donat Abramowitsch, was gucken Sie mich an wie ein Uhu? Sie können das nicht gutheißen? Oder tun Ihnen die Hundchen Leid? Ist es wahr, dass Sie Ihre Zwei-Zentner-Gattin mit Pilzen vergiftet haben? Um für die Neue Platz zu schaffen? Vielleicht für mich? Ich bin zwar damals noch im kurzen Röckchen rumgelaufen, aber Sie sind ja ein Mensch, der weit vorausschaut!«
Naina verschluckte ein kurzes, gepresstes Schluchzen und stürzte zur Tür, und alle traten verstört auseinander, um ihr Platz zu machen. Auf der Schwelle blieb sie stehen, ließ den Blick durch den Raum gleiten und für einen Moment auf Bubenzow verweilen (der vergnügt lächelte und den Skandal sichtlich genoss) und verkündete:
»Ich ziehe weg, ich werde in der Stadt leben. Denken Sie von mir, was Sie wollen, das ist mir schnuppe. Und Sie alle, eingeschlossen die gerissene Nonne und den ehrenwertesten Mitrofani, belege ich mit dem Kirchenbann.«
Nach diesem hässlichen Scherz lief sie hinaus und warf die Tür krachend ins Schloss.
»In alten Zeiten hätte man gesagt: Sie ist vom Teufel besessen«, schloss der Bischof traurig.
Sytnikow knurrte beleidigt: »Bei uns in der Kaufmannschaft würde man sie mit Ruten peitschen, dann würde der Teufel im Nu aus ihr herausfahren.«
»Wie bringen wir das bloß der Großmutter bei?«, sagte Pjotr und fasste sich an den Kopf.
Bubenzow fuhr zusammen.
»Tantchen darf es nicht erfahren! Das würde sie umbringen. Später, nicht jetzt. Soll sie sich erst ein wenig erholen.«
Der Adelsmarschall sorgte sich um etwas anderes.
»Aber was ist das für ein sonderbarer Hundehass? Wohl wirklich eine Form von Irresein. Es gibt so eine psychische Krankheit – die Kynophobie.«
»Das ist kein Irresein.« Pelagia besah ihr Taschentuch – blutete der Kratzer noch? Gut, dass die Brille nicht zerbrochen war. »Da waltet irgendein Geheimnis. Das muss man herausfinden.«
»Gibt es denn einen Anhaltspunkt?«, fragte der Bischof.
»Der findet sich, wenn man sucht. Eines lässt mir keine Ruhe . . .«
Aber Schirjajew ließ die Nonne nicht ausreden.
»Was ist bloß mit mir los, ich bin wie betäubt!« Er schüttelte den Kopf, wie um ein Trugbild zu verscheuchen. »Man muss sie aufhalten! Sie legt Hand an sich! Das ist ein Fieber!«
Er lief hinaus in den Korridor. Pjotr folgte ihm. Poggio zögerte kurz und ging dann auch.
»Die reinste Hundehochzeit«, konstatierte Sytnikow.
Der Mond war zwar am Abnehmen, sah aber noch schön rund aus und strahlte nicht weniger als ein Kristalllüster, und auch die Sterne beschienen wie kleine Lampions das tiefblaue Firmament, so dass die Nacht nur wenig dunkler war als der Tag.
Der Bischof und Pelagia schlenderten durch die Hauptallee des Parks. Hinter ihnen her zogen die Pferde die Kutsche, die fast mit den Bäumen und Büschen verschmolz, sie setzten schläfrig die Hufe und klirrten mit dem Zaumzeug.
»Dieser elende Rabe«, sagte Mitrofani. »Hast du gesehen, wie er nach dem Anwalt Korsch schickte? Jetzt wird er nicht mehr loslassen und sich sein Teil abreißen. Dieses verdrehte Mädchen hat ihm seine Aufgabe erleichtert – eine Erbin weniger. Pelagia, ich möchte dich um etwas bitten. Bringe es der Hausfrau schonend bei, damit es sie nicht wieder umwirft. Es ist ja nicht leicht, so etwas über die eigene Enkelin zu erfahren. Und bleibe noch eine Zeit lang hier.«
»Es wird sie nicht umwerfen. Ich glaube, Vater, Marja Afanassjewna interessiert sich viel weniger für die Men-sehen als für die Hunde. Ich will natürlich gern bei ihr sitzen und ihr möglichst Trost spenden, aber für den Fall wäre es besser, ich gehe in die Stadt.«
»Was für ein Fall?«, fragte der Bischof verwundert. »Der Fall ist abgeschlossen. Und du wolltest herausfinden, weshalb Naina die Hunde getötet hat.«
»Das beschäftigt mich ja, Vater. Hier geht etwas Ungewöhnliches vor, wovon es mir kalt den Rücken herunterläuft. Ihr habt vorhin scharfsichtig gesagt: vom Teufel besessen.«
»Aberglauben ist das.« Der Bischof war noch mehr verwundert. »Glaubst du etwa an die satanische Besessenheit? Ich habe das doch bildlich gemeint. Es gibt keinen Dämon, es gibt das allgegenwärtige Böse, das die Seelen versucht.«
Pelagia blickte mit blitzender Brille zum Bischof auf.
»Es gibt keinen Dämon? Wer hat denn heute den ganzen Abend grinsend die Zähne gebleckt über die menschliche Niedertracht?«
»Du meinst Bubenzow?«
»Wen sonst? Er ist ein Dämon mit allem, was dazugehört. Er ist bösartig, giftig und verführerisch. Ich bin sicher, dass er hinter der ganzen Sache steckt. Habt Ihr gesehen, Vater, was für Blicke Naina ihm zugeworfen hat? Als ob sie Lob von ihm erwartete. Das ganze Theater mit Geschrei und Zähneknirschen hat sie doch für ihn aufgeführt. Wir übrigen sind für sie gar nichts, nur Kulisse.«
Der Bischof schwieg, er hatte solche Blicke nicht wahrgenommen, aber er vertraute Pelagias Beobachtungsgabe mehr als seiner eigenen.
Sie gelangten durch das Parktor auf eine freie Stelle. Die Allee mündete in die Straße, die zur Astrachaner Chaussee führte. Der Bischof blieb stehen, damit die Kutsche herankäme.
»Was willst du in der Stadt? Naina bleibt nicht dort. Sobald sich die Kunde von ihren Streichen herumgesprochen hat, wird niemand mehr sie kennen wollen. Und wo soll sie dort leben? Sie wird bestimmt wegfahren, nach Moskau oder Petersburg oder gar ins Ausland.«
»Um nichts auf der Welt. Sie wird immer da sein, wo Bubenzow ist«, sagte die Nonne überzeugt. »Und ich muss auch in der Nähe sein. Was das vernichtende Urteil der Leute betrifft, so ist es für Naina in ihrem derzeitigen Zustand nur eine Wonne. Und sie weiß auch, wo sie dort leben soll. Ich habe vom Zimmermädchen gehört, dass Naina in Sawolshsk ein eigenes Haus besitzt, das sie von einer Verwandten geerbt hat. Klein, aber schön gelegen und mit Garten.«
»Du meinst also, dass Bubenzow in die Sache verwickelt ist?« Der Bischof setzte einen Fuß auf das Trittbrett der Kutsche, beeilte sich aber nicht mit dem Einsteigen. »Das käme sehr zupass. Wenn man ihn einer offenkundigen Lumperei überführen könnte, würde er im Synod an Glaubwürdigkeit verlieren. Ich fürchte sonst, ich komme mit seiner Umtriebigkeit nicht mit. Aller Wahrscheinlichkeit nach stehen uns die schlimmsten Prüfungen noch bevor. Hör zu, komm morgen zurück auf den Klosterhof. Wir werden gemeinsam überlegen, wie unserem Kummer abzuhelfen wäre. Ohne Frau Lissizyna wird es wohl nicht gehen.«
Diese rätselhaften Worte hatten eine seltsame Wirkung auf die Nonne: Sie schien sich zu freuen und gleichzeitig zu erschrecken.
»Es ist doch Sünde, Vater. Und wir hatten gelobt . . .«
»Macht nichts, der Fall ist wichtig, viel wichtiger als die früheren«, sagte der Bischof seufzend und nahm Platz auf dem Sitz, gegenüber dem Vater Subdiakon. »Es ist mein Entschluss, ich bin dafür verantwortlich vor Gott und den Menschen. Nun, ich segne dich, meine Tochter. Leb wohl.«
Die Kutsche rollte fast lautlos die staubige Straße entlang, und Schwester Pelagia kehrte in den Park zurück.
Sie ging die Allee entlang, oben war es zwar hell, aber die Bäume zu beiden Seiten bildeten zwei dunkle Wände, und es sah aus, als bewegte sich die Nonne auf dem Grund einer sonderbaren erleuchteten Schlucht.
Vor ihr schimmerte mitten auf der Allee ein helles Viereck, darauf war ein kleines dunkles Rechteck. Als sie und der Bischof vor fünf oder zehn Minuten hier gegangen waren, hatte nichts dort gelegen.
Pelagia beschleunigte den Schritt, um die interessante Erscheinung aus der Nähe zu betrachten, erreichte die Stelle und hockte sich hin.
Merkwürdig: ein großes weißes Tuch und darauf ein Buch in schwarzem Ledereinband. Sie nahm es in die Hand – ein Gebetbuch. Ein ganz gewöhnliches Gebetbuch, wie es sie überall gab. Na so was!
Pelagia wollte nachsehen, ob zwischen den Seiten etwas steckte, doch da hörte sie hinter sich ein Rascheln. Zum Umdrehen kam sie nicht mehr, jemand stülpte ihr einen Sack über den Kopf, der an den Wangen scheuerte. Noch begriff sie nichts, vor Überraschung stieß sie einen Schrei aus, verschluckte sich und krächzte – um den Sack wurde eine Schlinge zusammengezogen. Da erfasste sie tödliches Entsetzen. Sie zappelte, tastete über das Sacktuch und den derben Strick. Aber starke Arme packten sie, sie konnte sich nicht losreißen noch die Schlinge lockern. Jemand atmete ihr von hinten laut und abgerissen ins rechte Ohr, sie jedoch bekam keine Luft.
Sie versuchte, mit ihrer schwachen Faust nach hinten zu schlagen, doch das war wirkungslos, denn sie konnte nicht ausholen. Sie stieß mit dem Fuß und traf auch, aber kaum spürbar, ihre Kutte milderte den Stoß.
Als es ihr schon in den Ohren summte und der schwarze Strudel sie immer stärker in sich hineinzog, riss sie das Strickzeug aus der Gürteltasche, fasste die Stricknadeln fest und stieß sie in etwas Weiches – einmal, zweimal.
»Aaah!«
Ein tiefes Gebrüll, der Griff lockerte sich. Noch einmal stieß Pelagia mit den Nadeln zu, doch diesmal schon ins Leere.
Niemand hielt sie mehr fest, niemand presste ihr die Armbeuge auf die Kehle. Sie plumpste auf die Knie, riss die verdammte Schlinge auf, zog den Sack über den Kopf und schnappte röchelnd nach Luft.
»Mutter . . . Gottes«, murmelte sie, »unsere . . . liebe Frau . . . schütze uns vor den sichtbaren . . . und unsichtbaren Feinden . . .«
Als ihr ein wenig klar vor den Augen wurde, sah sie sich nach allen Seiten um.
Niemand. Aber die Spitzen der Stricknadeln waren dunkel von Blut.
Jetzt überspringen wir einen guten Monat und kommen zur Auflösung unserer verworrenen Geschichte, genauer, zum Anfang dieser Auflösung, der zusammenfiel mit einer Abendgesellschaft für geladene Gäste im Hause von Olimpiada Saweljewna Schestago. Die Postmeistersgattin selbst bevorzugte für dieses Fest zu Ehren der modernen Kunst den klangvollen Namen Soiree, und so möge es denn auch hier so heißen, zumal diese »Soiree« in Sawolshsk nicht so bald in Vergessenheit geraten dürfte.
Was den hier übersprungenen Monat angeht, so kann man nicht sagen, dass in dieser Zeit rein gar nichts vorgefallen wäre, im Gegenteil, es war sehr viel vorgefallen, aber alle diese Ereignisse hatten keinen direkten Bezug zu unserer Erzählung, darum streifen wir sie nur, gehen, wie die Alten sagten, »leichten Fußes« darüber hin.
Der bescheidene Name unseres Gouvernements erregte Aufsehen in ganz Russland und über die Grenzen hinaus. Es verging kaum ein Tag, an dem die Zeitungen der Hauptstadt nicht über uns schrieben, und sie teilten sich in zwei Lager: Die Anhänger des einen behaupteten, die Region Sawolshsk sei Schauplatz einer neuen Schlacht auf dem Kulikowo-Feld (In dieser Schlacht schlug 1380 ein russisches Heer unter Dmitri Donskoi die Tataren unter Mamai. D.Ü.) , in der ein heiliger Kampf geführt werde für Russland, den Glauben und die christliche Kirche. Die Opponenten dagegen sahen in dem Geschehen mittelalterliches Dunkelmännertum und eine neue Inquisition. Selbst die Londoner »Times« schrieb, wenngleich nicht auf der ersten und nicht auf der zweiten Seite, dass im Russischen Imperium, in einem Krähwinkel namens Zawolger (sic!), Fälle von Menschenopfern aufgedeckt worden seien, dass aus diesem Anlass der Zar einen Kommissar entsandt und das ganze Gebiet seiner Zwangsverwaltung unterstellt habe.
Nun, das mit der Zwangsverwaltung war eine Lüge der Engländer, aber die Dinge liefen in der Tat so, dass einem der Kopf schwirrte. Wladimir Bubenzow, der aus den höchsten Sphären Zuspruch erhalten hatte, entfaltete die Untersuchung im Falle der Köpfe (genauer, ihres Fehlens) mit wahrhaft napoleonischem Schwung. Es wurde eine Außerordentliche Kommission in Sachen Menschenopfer ins Leben gerufen, deren Leitung Bubenzow persönlich übernahm; sie bestand aus den von Petersburg hergeschickten Ermittlern und etlichen Untersuchungsführern und Polizeibeamten der Provinz, und Bubenzow suchte jeden einzelnen persönlich aus. Die Kommission unterstand weder dem Gouverneur noch dem Bezirksstaatsanwalt und war ihnen nicht rechenschaftspflichtig.
Weitere Leichen wurden zum Glück nicht gefunden, aber die Polizei verhaftete einige Syten, und einer der Festgenommenen schien geständig: Hinter den menschenleeren Wolotschajewer Sümpfen, in den schwarzen Wäldern gebe es eine Lichtung, auf der in der Nacht zum Freitag für Schischiga Feuer angezündet und Säcke mit Opfergaben gebracht würden, doch was die enthielten, wüssten nur die Ältesten.
Der wackere Bubenzow rüstete eine Expedition aus und übernahm selbst die Leitung. Er durchstreifte tagelang Sümpfe und Dickichte und entdeckte tatsächlich eine verdächtige Lichtung, auf der es zwar keinen steinernen Götzen gab, wohl aber schwarze Spuren von Lagerfeuern und Tierknochen. Im nächstgelegenen Sytendorf verhaftete er den Starost und ein altes Männlein, das angeblich ein Schamane war. Die beiden wurden in einen Leiterwagen gesetzt und über den Knüppeldamm abtransportiert, aber auf einer Insel mitten im Sumpf überfielen sytische Bauern mit Knüppeln und Messern den Konvoi, um die beiden Ältesten zu befreien. Die Leibwächter Bubenzows gaben Fersengeld, und Selig sprang vor Angst in den Sumpf, in dem er ums Haar versunken wäre, aber der Inspektor selbst war keiner von der zaghaften Sorte: Er schoss einen der Angreifer tot, und zwei weitere erstach der Tscherkesse mit seinem furchtbaren Dolch, die übrigen entflohen.
Später kehrte Bubenzow mit einem Kommando Soldaten in das Dorf zurück, aber die Häuser waren leer – die Syten hatten sie verlassen und waren tiefer in den Wald gezogen. Bubenzows Heldentat wurde in allen Zeitungen gefeiert, auch in den Illustrierten, die ihn als Recken mit Schnauzbart und Adlernase abbildeten, vom Zaren bekam der Held den Annen-Orden und von Konstantin Petrowitsch ein Lob, dem Kenner mehr Gewicht beimaßen als dem Orden.
Im Gouvernement schienen alle verrückt geworden zu sein. Bei den Waldsyten waren solche Untaten noch nie vorgekommen. Sie hatten selbst in der Zeit Pugatschows (Pugatschow, Jemeljan (1742-1775) - Anführer eines Bauernaufstands; Michelson, Iwan (1740-1807) - General, schlug 1773 den Pugatschow-Aufstand nieder. D.Ü.) nicht rebelliert, sondern Michelson als Führer gedient – was hatte sie jetzt auf gehetzt?
Manche sagten, Bubenzow habe sie gegen sich aufgebracht, als er ihre angesehenen Ältesten gefesselt auf den schmutzigen Leiterwagen werfen ließ, aber viele, sehr viele, urteilten anders: Recht habe der scharfsichtige Inspektor gehabt, und in der Wildnis hausten tatsächlich schlimme Teufel.
Unruhe erfasste das Transwolgaland. Die Leute befuhren die Waldwege nur noch in Gruppen, und das in unserem stillen Gouvernement, wo seit Jahren kein Mensch mehr an solche Vorsichtsmaßnahmen gedacht hatte.
Bubenzow reiste mit einer bewaffneten Eskorte, besuchte eigenmächtig die Kreisstädte, verlangte Rechenschaft von Stadthauptleuten, Militärchefs und Kreisrichtern, und alle fügten sich ihm.
Solch eine Doppelherrschaft war bei uns entstanden. Was Wunder? Der Bischof war durch die Untaten der Heiden in den Augen der Kirchenbehörden kompromittiert, und viele Geistliche, die ihren Mantel nach dem Wind hängten, antichambrierten nicht mehr auf dem Klosterhof beim Bischof, sondern im Hotel »Zum Großfürsten« bei Bubenzow. Die administrative Macht stand auch nicht mehr auf unerschütterlich festen Beinen. Polizeimeister Lagrange zum Beispiel hatte zwar dem Gouverneur noch nicht den Gehorsam aufgekündigt, aber er lief mit jeder Weisung des Herrn von Gaggenau, selbst wenn es um Bagatellen ging wie die Einführung von Nummern für Droschken, erst mal zwecks Rückversicherung zum Synodalinspektor. Lagrange erklärte allen, der Baron sitze die letzten Tage auf dem Stuhl des Gouverneurs, und im Kreise von Freunden und Untergebenen ließ er gar durchblicken, zum nächsten Gouverneur von Sawolshsk werde niemand anders ernannt als er, Felix Lagrange.
In diesem letzten Monat war das ganze Gebäude unserer Lebensordnung im Gouvernement in eine Schieflage geraten, obwohl es doch wohl fest gemauert war, mit Verstand, nicht vom Dach nach unten wie in anderen russischen Gegenden, sondern vom Fundament nach oben. Aber diese Allegorie ist sehr spitzfindig und bedarf erklärender Worte.
Vor zwanzig Jahren war unser Gouvernement eines von vielen gewesen: Armut, Suff, Unwissenheit, Behördenwillkür, Raubüberfälle auf den Landstraßen. Kurzum, das gewöhnliche Leben in Russland, das sich in allen Teilen unseres unermesslichen Imperiums mehr oder weniger ähnelte. Das Leben verlief nach einer ein für alle Mal festgelegten Ordnung.
Wollen mal sagen, ein Kaufmann hat vor, seine Waren auf dem Fluss oder durch den Wald zu transportieren. Als erstes besucht er den richtigen Mann (er weiß, wer das ist in seinem Landkreis) und führt den zehnten Teil an ihn ab, dann kann er beruhigt aufbrechen, und niemand wird ihn anrühren oder behelligen – kein Räuber, kein Polizist, kein Akziseeinnehmer. Unterlässt er diesen Besuch und hofft er auf seine starke Eskorte oder auf das berühmte russische Wird-schon-gut-gehen, so ist er selber schuld an den Folgen. Vielleicht kommt er ja ungeschoren durch den Wald, vielleicht aber auch nicht. Und auf dem Fluss kann ihm, insonderheit bei Nacht, auch alles Mögliche zustoßen, noch dazu in der starken Strömung.
Wenn jemand in der Stadt einen Laden oder eine Schänke aufmachen will, ist es dasselbe Lied. Er muss mit dem richtigen Mann sprechen, ihm den zehnten Teil in Aussicht stellen, und schon lässt Gott sein Geschäft florieren. Der Sanitätsarzt benörgelt nicht die Fliegen auf der Theke noch die Ratten im Keller, und der Steuerinspektor gibt sich mit einem kleinen Obolus zufrieden.
Jeder weiß Bescheid über den richtigen Mann, der Polizeichef und der Staatsanwalt und der Reviervorsteher, aber niemand behindert ihn in seinen Geschäften, weil der richtige Mann mit aller Welt gut Freund oder gar verwandt und verschwägert ist.
Es ist vorgekommen, dass aus der Hauptstadt ein redlicher Natschalnik hergeschickt wurde, der nicht nur redlich, sondern auch tüchtig und entschlossen war und die feste Absicht hatte, reinen Tisch zu machen und alsbald ein Reich der Ordnung und Gerechtigkeit zu errichten, aber auch solchen Adlern wurden im Transwolgaland rasch die Flügel gestutzt, wo es anging – im Guten, mit Geschenken oder anderen Liebenswürdigkeiten, und wenn der Mann ganz unbestechlich war, mit Verleumdungen, zumal an Zeugen kein Mangel war, der richtige Mann brauchte nur zu pfeifen, und schon wurde üble Nachrede verbreitet.
Vor dreißig Jahren kam ein Polizeimeister in unsere Stadt, das war noch vor dem verstorbenen Gulko. Der war vollkommen unbestechlich. Die ganze Polizei hat er umgekrempelt: etliche rausgeworfen, andere vor Gericht gestellt, die übrigen zum Zittern gebracht. Das schuf Aufregung, das verletzte alte, zuverlässig funktionierende Beziehungen. Über kurz oder lang wagte sich dieser Robespierre an die »richtigen Leute« heran, er war so verwegen. Aber das setzte seinem Wüten ein Ende. Er ging mit seinen Kollegen auf die Entenjagd, da schlug das Boot um. Alle retteten sich schwimmend an Land, nur der Chef hatte kein Glück. Lediglich ein halbes Jahr lang hatte er bei uns sein Unwesen getrieben. Und das war der Polizeimeister, ein großer Mann! Mit einem Kreispolizeichef oder Untersuchungsführer, wenn sie nicht spurten, wurde einfacher verfahren: nachts ein Knüppel über den Kopf oder ein Schuss aus dem Gebüsch, und fertig. Das wurde den Räubern in die Schuhe geschoben, an denen in unseren Wäldern kein Mangel war. Die Polizei ermittelte zum Schein ein wenig und schloss dann die Akte. Aber was erzähle ich so lange davon, das ist Zeitverschwendung. In jedem Gouvernement gibt es solche Geschichten zuhauf.
Aber dann war aus Petersburg Mitrofani als Bischof zu uns gekommen, zum zweiten Mal und diesmal endgültig. Vor nunmehr fast zwanzig Jahren. Er kannte bereits die hiesigen Sitten und Gebräuche und ging daher nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern begann mit seiner stillen Behörde: redete den Popen ins Gewissen, sich nicht bestechen zu lassen, und führte in den Klöstern strenge Regeln ein. Einige Geistliche versetzte er, andere ermahnte er, überdies hatte er aus der Hauptstadt Welt – und Klostergeistliche mitgebracht, junge Akademiker.
In den Kirchen und Gemeinden wehte nun ein anderer Wind. Priester und Kleriker waren nicht mehr betrunken, predigten verständlich, nahmen Spenden nur in dem vorgeschriebenen Umfang. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen, es brauchte schon seine zwei bis drei Jahre. Diese Neuerungen raubten anfangs niemandem den Schlaf, nicht den richtigen Leuten noch den diebischen Natschalniks. Die Popen verloren die Lust am feinen Essen und am weichen Schlafen – das war ihre Sache. Und dass sie in den Kirchen viel über Tugend und Redlichkeit sprachen, war ja ihre Pflicht. Wer hörte den Langmähnigen schon richtig zu? Doch allmählich festigte sich die Autorität der Geistlichen, und die Kirchen waren viel besser besucht als früher.
Mitrofanis Beziehungen zur Hauptstadt hatten zudem bewirkt, dass der alte Gouverneur in den Ruhestand geschickt wurde; mit ihm hatte der Bischof ernsthafte Konflikte gehabt. Und es kam der neue, Baron Anton Antonowitsch von Gaggenau, damals knapp dreißig Jahre alt. Er war flexibel, energiegeladen, europäisch und ein Gerechtigkeitsfanatiker.
Der Baron schlug sich mit den örtlichen Sitten herum, biss sich an dieser Mauer die Zähne aus und verfiel aus lauter Verzweiflung in administrative Strenge, die bekanntlich alle Übel nur vergrößert. Gottlob war er nicht dumm, obwohl er ein Deutscher war – und er suchte beim Bischof Rat und Belehrung. Wie brachte Mitrofani es fertig, seine geistliche Behörde so zu lenken, dass alles anständig zuging, nicht wie bei anderen Bischöfen in den Gouvernements?
Der Bischof entgegnete, das sei ganz einfach: Man müsse weniger lenken, dann gehe alles ganz von selbst, nur eine feste Basis müsse man legen.
Wie denn, widersprach der junge Baron hitzig, wenn das Volk so verroht und verdorben sei.
Die Menschen seien verschieden, es gebe gute und schlechte, belehrte ihn der Bischof, doch größtenteils seien sie weder so noch so, sondern glichen Fröschen, welche die Temperatur des sie umgebenden Milieus annähmen. Man müsse dafür sorgen, dass sich das Klima im Gouvernement erwärme und verbessere, dann würden auch die Menschen sich bessern. Dies sei die einzige Pflicht der Macht, das rechte Klima zu schaffen, um alles Übrige kümmere sich Gott der Herr.
»Aber wie kann man es erwärmen, das Klima hier?«, suchte der Gouverneur zu verstehen.
»Man muss den Menschen Würde einpflanzen. Sie sollen sich selbst und andere achten. Ein Mensch mit Würde wird nicht stehlen, nicht kriechen, nicht betrügen, das empfände er als schändlich.«
Hier war der Baron von dem Bischof beinahe enttäuscht, er machte sogar eine wegwerfende Handbewegung.
»Ach, Bischöfliche Gnaden, Sie sind ein Idealist. Wir sind doch hier nicht in der Schweiz, sondern in Russland. Ist es etwa lange her, dass hier die Bauern stückweise verkauft wurden wie Vieh? Wo soll da Würde herkommen? Das Gedeihen dieses zarten Pflänzchens dauert Jahrhunderte.«
Mitrofani, der zu dieser Zeit ja noch jünger war und eine Schwäche für rhetorische Effekte hatte, antwortete bündig und belehrend nach antiker Manier:
»Gesetzlichkeit, Sattheit, Aufklärung. Sonst nichts.«
»Ach, Bischöfliche Gnaden, ich plage mich ja ab für die Einhaltung der Gesetzlichkeit, aber es ist zwecklos! Niemand will nach dem Gesetz leben – nicht die unten und nicht die oben.«
»Und das wird auch so bleiben. Die Menschen halten sich nur an solche Gesetze, die vernünftig und für die Mehrheit vorteilhaft sind. Ein kluger Gesetzgeber gleicht einem erfahrenen Gärtner im öffentlichen Park. Wenn der seinen Rasen gesät hat, legt er nicht gleich Gehwege an, sondern schaut erst mal, wo es für die Leute am bequemsten ist zu gehen, und dort pflastert er Wege.«
»Ja, ein kluger Gärtner.« Der Baron senkte die Stimme. »Aber bei uns in Russland gibt’s alle möglichen Gesetze. Nicht Sie und ich denken sie uns aus, dafür sind die höchsten Instanzen da. Doch die Einhaltung dieser Gesetze zu überwachen ist mir aufgegeben.«
Der Bischof schmunzelte.
»Es gibt das göttliche und das menschliche Gesetz. Und einhalten muss man nur diejenigen menschlichen Gesetze, die den göttlichen nicht zuwiderlaufen.«
Der Gouverneur zuckte die Achseln.
»Erlauben Sie, das begreife ich nicht. Wie Sie wissen, bin ich ein Deutscher. Für mich gilt: Gesetz ist Gesetz.«
»Darum bin ich Ihnen ja beigegeben«, antwortete Mitrofani freundlich dem begriffsstutzigen Gouverneur. »Sie, mein Herr, werden mich fragen, welches Gesetz von Gott ist und welches vom Bösen. Ich werde es Ihnen erklären.«
Und er erklärte es, doch diese Erklärung dauerte nicht eine oder zwei Stunden, sondern viel länger, und die ausgiebigen Gespräche mit dem Bischof wurden dem jungen Gouverneur mit der Zeit zur festen Gewohnheit.
Eine allgemeine Folge dieser Gespräche bestand darin, dass sich das Leben im Transwolgaland allmählich, Jahr für Jahr, zum Besseren wandte, so dass in den benachbarten Gouvernements Neid aufkam.
Am Tag nach der Rückkehr Wladimir Bubenzows, der wie ein römischer Triumphator die gefangenen Syten-Ältesten in die Stadt brachte (eine unglaubliche Menschenmenge hatte sich versammelt, um das einmalige Schauspiel zu bestaunen: zwei gefesselte Diener des Gottes Schischiga plus drei Leichen auf dem Leiterwagen), berief Bischof Mitrofani eine außerordentliche Beratung seiner engsten Verbündeten ein, die er mit schwarzem Humor »Rat in Fili« (In dem Dorf Fili bei Moskau fand am 1.9.1812 der Kriegsrat statt, der die Räumung Moskaus beschloss. D.Ü.) nannte. Auch seine Einführungsrede begann er im allegorischen Geist:
»Feldmarschall Kutusow konnte Moskau aufgeben, weil er Rückzugsräume hatte, aber wir, meine Herren, können uns nicht zurückziehen. Die Hauptstadt ist weniger eine Konzentration des öffentlichen Lebens als vielmehr sein Symbol, und ein Symbol kann man zeitweilig aufgeben. Wir aber leben im Transwolgaland, und das ist für uns kein abstraktes Symbol, sondern unser einziges Haus, und wir haben weder das Recht noch die Möglichkeit, es bösen Kräften zur Schändung zu überlassen.«
»Das ist zweifellos richtig«, bestätigte Anton von Gaggenau aufgeregt. Und Berditschewski fügte hinzu:
»Ein Leben außerhalb von Sawolshsk ist für mich undenkbar, aber wenn es diesem Inquisitor gelingen sollte, sich mit seinen Vorstellungen durchzusetzen, kann ich hier nicht mehr existieren.«
Mitrofani nickte, als hätte er diese Antwort erwartet.
»Jeder von uns dreien hatte zu verschiedenen Zeitpunkten das Angebot, in der Hauptstadt einen höheren Posten zu übernehmen, aber wir sind nicht hingefahren. Warum nicht? Weil wir begriffen hatten: Die Hauptstadt ist ein Reich des Bösen, und wer dorthin gerät, verliert sich selbst und setzt seine Seele Bedrohungen aus. Unsere hiesige Welt ist schlicht und gut, denn sie ist näher bei der Natur und bei Gott. In der Provinz kann man, selbst wenn man die Macht ausübt, seine lebendige Seele bewahren, in Petersburg ist das unmöglich. Von der Hauptstadt geht nur Schaden aus, nur Gewalt gegen die Natürlichkeit. Wir alle haben die Pflicht, die uns anvertraute Region vor solcher Heimsuchung zu schützen. Der Teufel ist mächtig, aber seine Macht ist nicht von Dauer, denn sie beruht nicht auf den Vorzügen des Menschen, sondern auf seinen Lastern, das heißt, nicht auf Kraft, sondern auf Schwäche. Gewöhnlich zerstört das Böse sich selbst, zerfällt von innen her. Aber darauf warten dürfen wir nicht, denn dann würde zu viel Gutes, das wir mühsam aufgebaut haben, noch eher zerstört sein als das Böse. Wir müssen handeln. Ich habe Sie hergebeten, meine Herren, um mit Ihnen einen Plan festzulegen.«
»Stellen Sie sich vor, Bischöfliche Gnaden, ich habe auch schon daran gedacht«, sagte Baron von Gaggenau. »Und da ist mir Folgendes in den Sinn gekommen. Mein älterer Bruder Karl Antonowitsch ist, wie Sie wissen, Stallmeister und wird einmal monatlich zum kleinen Abendessen in allerhöchster Anwesenheit gebeten, wo der Zar ungezwungen mit ihm plaudert und ihn nach allem Möglichen ausfragt. Ich werde Karl einen ausführlichen Brief schreiben und ihn um Unterstützung bitten. Er hat ein staatsmännisches Köpfchen und wird gewiss den Fall so darzustellen wissen, dass der Imperator unserer Not gegenüber nicht teilnahmslos bleiben kann.«
»Mein Sohn, leider plaudert Konstantin Petrowitsch viel öfter mit dem Zaren als einmal monatlich«, sagte der Bischof seufzend. »Es ist anzunehmen, dass Seine Majestät für Bubenzow eingenommen ist, und diese Meinung zu ändern wird nicht einfach sein. Leider kommt vielen einflussreichen Personen in Petersburg unser Skandal sehr gelegen.«
Anton von Gaggenau sagte wehmütig:
»Aber wir müssen doch etwas tun. Diese Spinne vom Synod erscheint mir schon im Traum. Dann liege ich da und kann mich nicht rühren, und er wickelt und wickelt mich in seinen klebrigen Faden . . .«
Eine lastende Pause trat ein, die von Matwej Berditschewski beendet wurde. Blass geworden, verkündete er entschlossen:
»Meine Herren, ich weiß, was zu tun ist. Ich fordere ihn zum Duell, jawohl! Wenn er sich weigert, sich mit mir zu schießen, ist er vor der Gesellschaft blamiert, niemand lässt ihn mehr über die Schwelle, und die Sawolshsker Damen, die ihn jetzt umtanzen, werden ihm die kalte Schulter zeigen. Nimmt er aber meine Forderung an, so jagt ihn der Oberprokuror von seinem Posten. So oder so, es wird für uns gut sein.«
Diese originelle Idee ließ die Teilnehmer der Beratung erstarren. Der Baron schüttelte den Kopf.
»Wenn er annimmt, werden Sie sich wirklich mit ihm schießen müssen, und er wird Ihnen die verdorbene Karriere nicht verzeihen, Matwej Benzionowitsch. Und wenn Sie an der Barriere stehen, was machen Sie dann? Ich habe auf der Jagd gesehen, wie Sie schießen. Statt des Rebhuhns haben Sie mir die Mütze durchlöchert. Sie müssen auch an Ihre Kinder denken.«
Berditschewski wurde noch blasser, denn er besaß eine sehr lebhafte Phantasie und stellte sich sogleich seine Gattin in Trauerkleidung vor, auch die Kinderchen in schwarzen Mänteln und Anzügen, aber er beharrte:
»Sei’s drum . . .«
»Ach, Unfug.« Der Gouverneur winkte ab. »Sie können ihn gar nicht fordern, er wird Ihnen keinen Anlass liefern.«
Da lief der blasse Berditschewski plötzlich puterrot an und gestand den jüngsten schmählichen Vorfall:
»Einen Anlass gibt es. Er hat mir einen Nasenstüber versetzt, so heftig, dass die Nase geblutet hat, und ich habe es hingenommen. Weil ich an meine Kinder gedacht habe . . .«
Der Baron erklärte:
»Laut Duellregeln muss eine Forderung binnen vierundzwanzig Stunden nach der Beleidigung ausgesprochen werden und keinesfalls später. Sie sind also zu spät dran, Matwej Benzionowitsch.«
»Dann gebe ich ihm auch eins auf die Nase, und er wird wissen, wofür.«
»Er wird es wissen, aber andere nicht«, warf der Bischof ein. »Dann landen Sie womöglich wegen Tobsucht im Irrenhaus. Nein, das geht nicht. Ein Duell ist auch nicht christlich. Dazu kann ich meinen Segen nicht erteilen.«
»Also Folgendes.« Berditschewski fasste nach seiner Nase und drehte sie hin und her. »Dann probieren wir es anders, mit einem Trojanischen Pferd.«
»Wie denn das?«, fragte der Gouverneur erstaunt. »Wer soll dieses Pferd sein?«
»Der Polizeimeister Lagrange. Er ist so etwas wie Bubenzows rechte Hand geworden, und Bubenzow vertraut ihm vieles an. Und ich habe als Staatsanwalt einiges gegen ihn in der Hand.«
Berditschewski war jetzt ruhig und sachlich, und seine Stimme zitterte nicht mehr.
»Lagrange hat vorgestern von dem altgläubigen Kaufmann Pimenow ein Geschenk angenommen. Siebentausend Rubel in Scheinen. Er hat sie Pimenow abgepresst mit der Drohung, ihn für Schmähreden gegen die Bräuche der rechtgläubigen Kirche in Haft zu nehmen.«
»Was sagen Sie da!«, rief der Baron. »Das ist ja unerhört!«
(Seine Verwunderung ist begreiflich, denn in unserem Gouvernement gab es die direkte Schmiergeldnahme, noch dazu seitens eines hohen Beamten, nur noch in der Überlieferung.)
»Aber er hat es genommen, sieht wohl neue Zeiten kommen. Ich habe eine schriftliche Meldung von Pimenow. Noch habe ich nichts unternommen. Ich könnte mit Felix Lagrange sprechen. Er ist nicht sehr klug, aber er wird es kapieren. Dann kann er zum Schein Bubenzows Gehilfe bleiben, wird mir aber insgeheim eingehend über die Pläne und Umtriebe unseres lieben Freundes berichten.«
Mitrofani ächzte, seufzte.
»Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht. . . Ich werde beten und Gott befragen, ob solche Tricks zulässig sind. Gewiss, ER duldet mitunter, dass Böses mit Bösem ausgemerzt wird, aber es ist trotzdem nicht schön.«
»Noch weniger schön ist es, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun, und Sie, Bischöfliche Gnaden, sind mit jedem Vorschlag unzufrieden«, sagte der Gouverneur vorwurfsvoll.
»Sie haben Recht, mein Sohn. Es ist besser zu sündigen als willenlos Böses zu dulden. Sie, Anton Antonowitsch, sollten wirklich Ihrem Bruder schreiben, dass er mal mit dem Zaren redet. Damit Seiner Majestät nicht nur von einer Seite ins Ohr geblasen wird. Und du, Matwej, handle nach deinem Ermessen.« Der Bischof sprach Berditschewski so familiär an, da er ihn schon als Halbwüchsigen gekannt hatte. »Dich muss man nicht belehren. Und noch etwas . . .« Mitrofani hüstelte. »Anton Antonowitsch, bitte sagen Sie Ihrer Frau nichts von unseren Plänen.«
Das lange Gesicht des Barons spiegelte tiefes Leid.
»Und Sie, Vater?«, fragte Berditschewski eilig, um die Peinlichkeit zu überspielen. »Was gedenken Sie zu tun?«
»Ich werde beten«, sprach der Bischof nachdrücklich. »Damit Gott uns erlösen möge. Des Weiteren setze ich große Hoffnungen auf die Hilfe einer Person, die Sie nicht kennen.«
Also, der schwindende Sommer sah die Väter des Gouvernements in Unruhe und Verwirrung, und sie hatten triftige Gründe dafür, aber wahr ist auch, dass für unsere Sawolshsker Gesellschaft das Leben noch nie so spannend war wie in diesen August – und Septembertagen.
Dabei ging es nicht nur um die politische und religiöse Erschütterung, die unsere Region binnen weniger Tage in ganz Russland berühmt machte. Derartige Ereignisse sind geeignet, die Gemüter zu bewegen, aber ein besonderer Nervenkitzel geht von ihnen nicht aus, und doch war bei uns gerade nervliche Erregung zu beobachten – jene besondere Erregung, die nur überspannte und vor Neugier vibrierende Frauen bewirken können. Denn der wichtigste Nerv der Gesellschaft definiert sich bekanntlich durch die Stimmung der Vertreterinnen des schwachen Geschlechts. Wenn sie sich langweilen und Trübsal blasen, wird in der Welt alles klein, dürr und grau. Wenn sie hingegen, von Erregung gepackt, den Schlaf abschütteln, beschleunigt das Leben sofort seinen Puls, erblüht, füllt sich mit Tönen und Farben. In den Hauptstädten befinden sich die Damen fast ständig in der bebenden Ekstase, einem großen Ereignis beizuwohnen, oder im Vorgeschmack dieses beseligenden Zustands, was auch erklärt, warum sich die Frauen ewig danach reißen, aus der Provinz wegzukommen nach Petersburg oder zur Not nach Moskau, in den Lärm, die Lichter und den schimmernden Glanz eines nie endenden Festes. In der Abgeschiedenheit hingegen verfallen die Damen von der Stille und Langeweile in Hysterie und Melancholie, doch umso ungestümer kochen die aufgestauten Gefühle hoch, wenn das Wunder geschieht und über den gähnenslangweiligen heimischen Penaten plötzlich die Sonne eines wirklichen Skandals erstrahlt. Dann haben die Damen Dramatik und Leidenschaften und süßes Getratsche – noch dazu ganz aus der Nähe, und sie stehen fast mit auf der Bühne und müssen nicht vom vierten Rang aus durch die Lorgnette gucken wie in den Hauptstädten.
Im Mittelpunkt dieses spannenden Lebens, zu dessen Arena seit einiger Zeit das stille Sawolshsk geworden war, stand natürlich Wladimir Lwowitsch Bubenzow, der einstige Sünder und jetzige Held, das heißt, eine Figur, die für das Herz der Frauen hochgefährlich war. Die Beziehungen des Synodalemissärs zu der Gouverneursgattin Ljudmila Platonowna, zu der Postmeistersgattin Olimpiada Schestago und noch einigen Löwinnen von örtlicher Bedeutung wurden zum wichtigsten Gesprächsthema in unseren Salons. Über die Art dieser Beziehungen wurden die unterschiedlichsten Meinungen geäußert, von barmherzig bis anzüglich, und es sei zugegeben, dass Letztere deutlich überwogen.
Eine weitere, fast ebenso pikante Quelle für Gerede war Naina Georgijewna Telianowa. Nachdem sie das Gut ihrer Großmutter verlassen hatte und nach Sawolshsk gezogen war, zeigte sie nicht die geringste Neigung, weiter in andere Regionen zu fliehen, das heißt, es war genauso gekommen, wie es die scharfsinnige Schwester Pelagia vorhergesagt hatte. Alle Welt wusste natürlich, was für eine böse Rolle sie in der Sache mit den unglücklichen Hunden gespielt hatte, und kaum jemand wollte noch mit der verrückten Fürstin zu tun haben, doch die allgemeine Ablehnung focht das energische Fräulein überhaupt nicht an. Es zeigte sich, dass die von Schwester Pelagia seinerzeit geäußerten Befürchtungen hinsichtlich der ärmlichen Lage, in die Naina geraten würde, wenn ihr das Erbe ihrer Großmutter entzogen wäre, gänzlich unbegründet waren. Neben der prächtigen kleinen Villa besaß Naina auch eigenes Kapital, Erbteil von einem entfernten Onkel. Das war weiß Gott kein Reichtum, reichte aber hin, um sich ein Stubenmädchen zu halten und sich nach der neuesten Mode zu kleiden. Naina zeigte sich ganz ungeniert in der Öffentlichkeit und führte sich überhaupt so auf, dass sie mit ihren Extravaganzen zeitweilig sogar die missionarischen und amourösen Großtaten Bubenzows in den Schatten stellte.
Allein schon die täglichen abendlichen Ausfahrten des überdrehten Fräuleins auf dem Petersburger Boulevard, den Champs-Élysees von Sawolshsk!
Angetan mit einem die Sinne betörenden Kleid (jedes Mal einem neuen) und einem überbreiten befiederten Hut, in der Hand einen durchschimmernden Sonnenschirm, fuhr Naina in der Kutsche gemächlich die Esplanade entlang, musterte herausfordernd die ihr entgegenkommenden Damen und befahl dem Kutscher, auf dem Kirchplatz vor dem Gasthof »Zum Großfürsten« zu halten. Hier blickte sie lange, manchmal bis zu einer halben Stunde, unverwandt auf die Fenster, hinter denen Bubenzow wohnte. Diese ihre Gepflogenheit hatte sich herumgesprochen, und wenn die Stunde herankam, sammelte sich bei der Umfriedung bereits eine kleine Menschenmenge, die das wunderliche Fräulein begaffte. Zwar hatte nie jemand gesehen, dass sich die Tür geöffnet und der Inspektor die Fürstin hereingebeten hätte, aber diese Unzugänglichkeit machte die Situation noch skandalöser.
Am Tag vor dem Gedenken an die Enthauptung Johannes des Täufers roch es in der Stadt nach einem neuen Skandal, obwohl noch ungewiss war, worin der bestehen würde. Der Geruch aber war intensiv und untrüglich. Und die Gerüchte weckten größte Hoffnungen.
Es stand ein Ereignis ins Haus, das für Sawolshsk selten, um nicht zu sagen, erstmalig war – eine öffentliche Bilderausstellung, doch es handelte sich nicht um Gymnasiastenzeichnungen oder kleine Aquarelle, wie sie von den Mitgliedern der Gesellschaft »Beamtenfrauen für Sittsamkeit« getuscht wurden, sondern um Photographien des berühmten hauptstädtischen Künstlers Arkadi Sergejewitsch Poggio.
Die Vernissage für geladene Gäste – mit Champagner und Häppchen – war für den traurigen Gedenktag anberaumt worden, der bekanntlich strengste Einhaltung der Fastenregeln verlangt. Allein schon dies wurde als Provokation empfunden. Noch auffälliger war die viel sagende Geheimniskrämerei, mit der die Schirmherrin der Ausstellung, Olimpiada Schestago, die Einladungen an einen kleinen Kreis von Freunden und Bekannten verschickte. Es wurde gemunkelt, den wenigen Glücklichen solle etwas ganz Besonderes gezeigt werden, und die Befürchtung ging um, man werde nach der Vernissage das Interessanteste gar nicht zu sehen bekommen, ja, vielleicht werde die öffentliche Ausstellung abgesagt.
Die Postmeistersgattin badete in den Wellen der allgemeinen Aufregung. Sie hatte noch nie so viele Einladungen zu Soireen, Namenstagen und Jours fixes gleichzeitig erhalten. Sie nahm nicht alle wahr, sondern wählte sorgfältig aus und spannte alle auf die Folter, und wenn sie direkt um eine Einladung gebeten wurde, antwortete sie, der Raum sei zu klein, und der Künstler wolle nicht zu viele Besucher haben, da seine Arbeiten dann schlecht zu sehen seien. Am Tag nach der Vernissage herzlich gern.
Endlich war der bedeutsame Abend angebrochen.
Die Ausstellung befand sich in einem einzeln stehenden Seitenflügel des Postmeisterhauses mit Eingang von der Straße her. Hier wohnte Arkadi Poggio schon einen Monat, seit er aus dem Gut Drosdowka weggezogen war. Das hatte er aus nicht recht ersichtlichen Gründen getan, denn auffälligen Zwist zwischen ihm und den Gutsbewohnern hatte es nicht gegeben, doch scharfsichtige Beobachterinnen hatten wahrgenommen, dass sein Auszug zeitlich zusammenfiel mit der Emigration der Fürstin Naina. Im Erdgeschoss der Wohnung befand sich ein geräumiger Salon, in dem die Ausstellung untergebracht war, und davor ein Besuchszimmer. Der erste Stock hatte zwei Zimmer: In dem einen schlief Poggio, und in dem anderen, dicht mit Stores verhängt, hatte er sein Photolabor eingerichtet.
Die geladenen Gäste kamen nicht alle auf einmal, sondern nach und nach, darum wurde die Umsicht der Hausfrau, die im Vorraum einen Tisch mit Imbisshäppchen aufgebaut hatte, gebührend gewürdigt.
Fast als Erste kamen Stepan Schirjajew und Pjotr Telianow, was die Mutmaßungen über einen Zwist zwischen Poggio und den Gutsbewohnern endgültig widerlegte. Schirjajew war blass und verkrampft, als argwöhnte er in der Ausstellung etwas für ihn Unangenehmes. Dafür gab sich sein junger Begleiter fröhlich, machte Scherze und trachtete danach, heimlich die Nase in den verschlossenen Salon zu stecken, so dass Olimpiada auf den Schelm ein besonderes Auge haben musste.
Von Seiten des Künstlers waren überdies geladen: Donat Sytnikow und Kirill Krasnow. Die Generalswitwe Tatistschewa war zwar von ihrem Leiden genesen, hatte aber noch nicht wieder das Gut verlassen, und wenn sie eine Ausfahrt unternommen hätte, würde sie kaum die Ausstellung des ungeliebten »Knipsers« mit ihrem Besuch beehrt haben (so nannte sie Poggio nach dem Geräusch seines Photoapparats).
Von Seiten der Hausfrau waren mehr Gäste geladen: Bubenzow mit seinem Sekretär, der Adelsmarschall Graf Gawriil Alexandrowitsch (diesmal mit Gattin), ein paar besonders vertraute und verlässliche liberale Freunde und schließlich eine gewisse Polina Andrejewna Lissizyna, die erst vor kurzem aus Moskau zugereist war und schon mit allen Größen der Sawolshsker Gesellschaft Freundschaft geschlossen hatte. Olimpiadas Gatte war von der Teilnahme an der Soiree ausgeschlossen worden, da er sich nichts aus Kunst machte und nicht mit Bubenzow Zusammentreffen sollte.
Alle waren schon versammelt, und jeden Moment musste die Hauptperson eintreffen – Wladimir Bubenzow, der von Staatsangelegenheiten aufgehalten wurde, sein Kommen aber verbindlich zugesagt hatte. Die Gäste hatten schon tüchtig dem Champagner zugesprochen, sie beäugten mit wachsender Neugier den Urheber der Festlichkeit. Poggio ging von einer Gruppe zur nächsten, scherzte fortwährend, wischte sich mit einem Taschentuch die Hände und blickte immer wieder ungeduldig zur Tür, wohl um in Gedanken den Verspäteten zur Eile zu treiben.
Nun näherte er sich der Moskauerin, um die sich einer der örtlichen Fortschrittler bemühte, und rief übertrieben lebhaft:
»Nein, Polina Andrejewna, Sie müssen mir unbedingt erlauben, Sie zu porträtieren! Je länger ich Ihr Gesicht anschaue, desto interessanter finde ich es. Noch wunderbarer wäre, wenn Sie Ihre Schwester überreden könnten, sich zusammen mit Ihnen abbilden zu lassen. Es ist geradezu verblüffend, wie verschieden Gesichtszüge sein können, die alle Merkmale familiärer Ähnlichkeit aufweisen!«
Lissizyna lächelte, ihre braunen Augen blitzten, aber sie sagte nichts.
»Seien Sie mir nicht gram, Polina, aber solch ein Doppelporträt würde aufs anschaulichste allen demonstrieren, wie verbrecherisch Frauen, die sich von der Welt zurückziehen, an sich selbst handeln. Ihre Schwester Pelagia ist eine graue Maus, Sie sind eine feurige Löwin. Sie gleicht dem trüben Mond, Sie gleichen der blendenden Sonne. Nase, Brauen, Augen sind bei beiden gleich gezeichnet, aber niemals würde jemand Sie mit Ihrer Schwester verwechseln. Sie ist wohl wesentlich älter als Sie?«
»Ist das ein Kompliment oder der Wunsch, mein Alter zu erfahren?«, Lissizyna lachte hellauf und zeigte dabei gleichmäßige weiße Zähne. Sie schlug Poggio scherzhaft mit dem schwarzen Fächer aus Straußenfedern auf den Arm. »Und wagen Sie nicht, in meiner Gegenwart Pelagia schlecht zu machen. Wir sehen uns so selten! In früheren Zeiten hat sie mich manchmal in Moskau besucht, doch sie wurde in ein fernes Kloster geschickt.«
Sie schwenkte ihr Rachewerkzeug, um sich Luft auf die entblößten Schultern zu fächeln, die allerliebst mit apfelsinenfarbenen Sommersprossen gesprenkelt waren, schüttelte die üppigen rotblonden Locken und blickte mit eingekniffenen Augen zur Uhr.
»Sind Sie kurzsichtig?«, fragte der scharfsichtige Poggio. »Es ist zwanzig nach acht.«
»Kurzsichtigkeit liegt bei uns in der Familie«, gestand Polina und lächelte entwaffnend. »Aber ich mag keine Brille tragen.«
»Sie wäre Ihnen nicht abträglich«, versicherte Poggio galant. »Also, wie ist es mit dem Porträt?«
»Um nichts in der Welt! Womöglich wollen Sie das Bild ausstellen.« Polina verfiel in verschwörerisches Flüstern. »Was haben Sie da für eine Überraschung, na? Womöglich gar was Unanständiges?«
Poggio lächelte ein wenig gequält und gab keine Antwort. Die rothaarige Zauberin sah ihn von unten herauf prüfend an, die runde Stirn gekraust, und schien eine Denkaufgabe lösen zu wollen.
Ach, was soll ich den Leser an der Nase herumführen, zumal er schon längst alles erraten hat.
Vor dem nervösen Künstler stand (im dekolletierten Samtkleid, mit weißen Handschuhen bis zum Ellbogen, das Gesicht eingerahmt von kunstvoll gedrehten kupferroten Locken) nicht Polina Andrejewna Lissizyna, sondern . . .
Das heißt nicht, dass sie überhaupt nicht Polina gewesen wäre, denn früher einmal hatte sie in der Tat so geheißen, aber dann hatte sie den Vor – und Vatersnamen abgelegt und sich einfach Pelagia genannt.
Um zu verstehen, wie es zu der unglaublichen, ja, lästerlichen Verwandlung der Nonne in eine mondäne Dame gekommen war, müssen wir zwei Wochen zurückgehen.
Damals erlebte der Sommer seine letzten Tage, flussaufwärts fuhren Lastkähne mit Melonen aus Astrachan und Zarizyn, und Bischof Mitrofani hatte soeben seinen »Rat in Fili« abgehalten.
»Hier liegt eine Gefahr nicht nur für mich und den Gouverneur. Das wäre halb so schlimm, ja, viertel so schlimm. Aber unsere ganze Ordnung ist bedroht. Als Hirt darf ich nicht die Hände in den Schoß legen, wenn eine gierige Bestie meine Herde zu verschlingen droht. Ich kann keinen unbeobachteten Schritt tun, mir sind die Hände gebunden, überall wimmelt es von Bubenzows Spähern, und man weiß nicht, wem man noch trauen kann. Schon haben sie ihm zugetragen, dass ich gestern mit dem Gouverneur und Berditschewski konferiert habe, das weiß ich zuverlässig. Ohne dich, Pelagia, komme ich nicht weiter. Du musst mir helfen. Wir werden den Brand von zwei Seiten her löschen. Wie im vorigen Jahr, als du mit mir in Kasan warst, um die geraubte Ikone Unserer lieben Frau von Athos zu suchen.«
So schloss der Bischof seine Rede. Er promenierte mit seiner geistlichen Tochter auf den Wegen des bischöflichen Parks, obwohl es ein trüber Tag mit Nieselregen war. So weit war es schon gekommen – der Bischof musste fürchten, in seinen eigenen Gemächern ein vertrauliches Gespräch zu führen. Die Wände hatten Ohren.
»Also soll ich wieder die Polina spielen?«, fragte die Nonne seufzend. »Ihr habt doch gelobt, es sei das letzte Mal. Ich sage das nicht, weil ich Angst habe, man könnte mich entlarven und mich aus dem Nonnenstand verweisen. Die Verstellung macht mir sogar Spaß. Aber gerade das fürchte ich. Die weltliche Verlockung. Diese Verkleidungen lassen mein Herz höher schlagen. Und das ist Sünde.«
»Das mit der Sünde soll nicht deine Sorge sein«, sagte Mitrofani streng. »Ich auferlege es dir als Kirchenbuße, und ich habe es zu verantworten. Das Ziel ist edel, und das Mittel, wenngleich ungesetzlich, ist nicht unehrenhaft. Gehe zu Schwester Emilia und sage ihr, dass ich dich ins Euphemienkloster schicke. Du fährst aber mit dem Dampfer bis Jegorjew, gibst dir dort das erforderliche Aussehen und kommst übermorgen hierher zurück. Ich werde dich in die Häuser einführen, in denen Bubenzow verkehrt – bei Graf Gawriil Alexandrowitsch, beim Gouverneur und seiner Gattin und bei den anderen. Dann musst du weitersehen. Da hast du.« Er gab Pelagia einen Lederbeutel. »Die Toiletten bestellst du bei Leblanc, der hat auch Parfüms und Lippenstifte und was du sonst noch brauchst. Und deine roten Zotteln lässt du dir frisieren wie in Kasan, mit solchen Korkenzieherlocken. Und nun geh mit Gott.«
Quartier nahm Pelagia – nein, nicht Pelagia, sondern die junge Moskauer Witwe Polina Andrejewna Lissizyna – bei der Obristenwitwe Antonina Iwanowna Grabbe, einer alten Freundin Mitrofanis. Die alte Frau wusste nichts von der Verkleidung, nahm aber die Besucherin freudig auf und brachte sie komfortabel unter, und alles wäre wunderbar gewesen, hätte sich die herzensgute Frau nicht in den Kopf gesetzt, die nette, unglückliche Dame so bald wie möglich unter die Haube zu bringen.
Daraus erwuchsen der Konspirantin zahlreiche Peinlichkeiten. Die Obristenwitwe bat fast jeden Tag junge und weniger junge Herren ledigen oder verwitweten Standes zum Tee, und sie alle bekundeten, zur größten Verlegenheit Polina Andrejewnas (nennen wir sie so), lebhaftes Interesse für ihre weiße Haut, ihre glänzenden Augen und ihre Frisur »Bronzehelm«: oben glatt und gescheitelt, am Hinterkopf gewellt und an den Seiten je drei Korkenzieherlocken. Es kam sogar zu Rivalitäten. So erschien der Ingenieur Surkow, ein gut aussehender Mann, mit einem gewaltigen Strauß Chrysanthemen, der Gymnasialinspektor Poluektow aber gleich mit einem ganzen Korb voll, worauf der Erste auf den Zweiten den ganzen Abend eifersüchtig war.
Schwester Emilia, die, bevor sie den Schleier nahm, dreimal Braut gewesen war und sich daher als große Kennerin männlicher Gepflogenheiten ansah, hatte die Nonnen belehrt, dass die Männer Aufmerksamkeiten bestimmter Art (so sagte sie: »Aufmerksamkeiten bestimmter Art«) nicht allen Frauen erwiesen, sondern nur solchen, die gewisse Signale aussendeten, mitunter sogar ungewollt. Das könne ein Blick sein, ein plötzliches Erröten oder ein kaum wahrnehmbarer Geruch, für den Männernasen äußerst empfänglich seien. Dieses Signal bedeute: Ich bin zu haben, ihr könnt euch mir nähern. Zum Beweis führte Emilia, die unter anderem auch Naturkundelehrerin war, Beispiele aus dem Leben der Tiere an, hauptsächlich der Hunde. Christina, Olimpiada, Am-wrossia und Apollinaria lauschten ihr mit angehaltenem Atem, da sie in der Welt keine Gelegenheit gehabt hatten, männliche Gepflogenheiten kennen zu lernen. Pelagia hingegen hörte traurig zu, denn in der Rolle der Madame Lissizyna hatte sie Erfahrungen gesammelt, die ihr zeigten: Ja, sie sendete Signale aus, dass sie zu haben sei. Durch einen Blick, durch ein plötzliches Erröten oder durch einen verflixten Geruch. Am unangenehmsten war, dass die Nonne sich in der Rolle der leichtsinnigen Madame Lissizyna wie ein Fisch im Wasser fühlte und ihre sonstige Unbeholfenheit sonderbarerweise verschwand. Ihr Benehmen wurde sicherer, ihre Bewegungen graziöser, und ihre Hüften schwangen verräterisch, so dass die Männer sich nach ihr umdrehten. Nach jedem derartigen Rollenwechsel musste sie mehr als tausend Verneigungen verrichten und hundertmal zur Mutter Gottes beten, um zur gottgefälligen Ruhe zurückzufinden.
Diesmal hatte Pelagia sich die Sünde wohl vergeblich auf die Seele geladen. In den zwei Wochen, in denen sie auf Soireen, Diners und Bällen glänzte, hatte sie nicht viel Nützliches herausfinden können. Bubenzow besuchte Naina nicht, sie ihn auch nicht. Wenn sie sich irgendwo trafen, dann heimlich. Doch das war unwahrscheinlich, da Naina Telianowa täglich demonstrativ zu dem Hotel fuhr. Einmal schaute Pelagia mit der Postmeistersgattin bei Bubenzow vorbei und sah auf dem Tisch einen Umschlag, auf dem unten schräg die Buchstaben NT standen, aber der Brief war nicht entsiegelt und lag dort allem Anschein nach schon seit Tagen.
Etwas erfolgreicher waren Pelagias Recherchen in der Syten-Angelegenheit.
Ein interessanter Umstand ergab sich aus einem Gespräch mit dem Pathologen Wiesel, einem Protege der barmherzigen Frau Grabbe. Bubenzow nämlich hatte von der unheilschweren Waldlichtung, auf der mutmaßlich der blutgierige Schischiga angebetet wurde, Bodenproben mitgebracht, die von einer blutartigen Flüssigkeit durchtränkt waren, und den Auftrag, diese Proben zu analysieren, hatte Wiesel erhalten. Die Laboruntersuchung ergab, dass es in der Tat Blut war, doch nicht Menschen-, sondern Elchblut, und das wurde dem Polizeimeister Lagrange gemeldet. Aber diese wichtige Information gelangte der Presse und der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis.
Der Gendarmerie-Rittmeister Prischibjakin, aus Petersburg abkommandiert, um die Außerordentliche Kommission zu unterstützen, erzählte Polina Lissizyna, ihr heiß ins Ohr atmend und sie mit dem gewichsten Schnurrbart kitzelnd, unter dem Siegel der Verschwiegenheit von getrockneten Menschenköpfen, die bei dem Schamanen der Syten gefunden worden wären, und versprach, sie der jungen Witwe zu zeigen, wenn sie ihn im Hotel besuchen käme. Frau Lissizyna glaubte ihm und kam – und? Getrocknete Köpfe hatte Prischibjakin nicht vorzuweisen, statt dessen ließ er einen Champagnerkorken knallen und trachtete, sie zu umarmen. Sie musste ihm, gleichsam aus Ungeschicklichkeit, den Ellbogen in die Leisten rammen, was den einfallsreichen Rittmeister blass und schweigsam machte, er stöhnte nur und folgte der entflatternden Besucherin mit leidendem Blick.
Mit dem Untersuchungsführer Borissenko, ebenfalls von der Außerordentlichen Kommission, hatte sie mehr Glück. Auf dem Ball im Adelsklub spreizte er sich vor der wissbegierigen reizvollen Frau und erzählte ihr, die verhafteten Syten seien stur und wollten keine wahrheitsgemäßen Aussagen machen, die anderen aber, die von Schischiga und Menschenopfern erzählten, verwickelten sich immerfort in Widersprüche, so dass die Protokolle hinterher umgeschrieben werden müssten.
All das war beachtenswert, doch es setzte die »Sawolshsker Partei« nicht in den Stand, die Invasion aus Petersburg mit einem entschlossenen Gegenangriff zu beantworten. Darum hatte Frau Lissizyna der Eröffnung der Photoausstellung solche Bedeutung beigemessen: Es schien einen Bezug zu den Ereignissen in Drosdowka zu geben, und diesmal konnte sich vielleicht etwas klären. Womöglich war das die geheimnisvolle Bedrohung, mit der Arkadi Poggio die Fürstin Naina einzuschüchtern versucht hatte? Überdies würde auch Bubenzow dort sein. Also musste Frau Lissizyna unbedingt zu einer Einladung für die Vernissage kommen, was ihr dank ihrem Einfallsreichtum auch gelungen war.
Am Tag vor der Soiree geriet sie in ernsthafte Bedrängnis, da die Einladung den Damen ein »dekolletiertes Abendkleid« vorschrieb. Bisher hatte sie sogar auf Bällen Schultern, Brust und Rücken mit einem Gazeschleier bedeckt, was die Modenärrinnen in der Stadt für den letzten Moskauer Chic hielten und nachmachten. Aber die Kleidervorschriften der Gastgeberin zu ignorieren wäre einem Affront gleichgekommen, der besonders spürbar gewesen wäre, da die Moskauerin nachgerade die einzige Dame zu sein schien, die von Olimpiada einer Einladung gewürdigt worden war. Das Missvergnügen der wichtigsten Konfidentin und Bundesgenossin Bubenzows zu erregen wäre zumindest unvernünftig gewesen.
Die arme Pelagia saß fast einen halben Tag in ihrem Schlafzimmer vor dem Toilettenspiegel und zog den Ausschnitt des schamlosen Samtkleides mal zum Kinn hoch, mal ließ sie ihn in die von Monsieur Leblanc vorgegebene Tiefe sinken.
Dabei sei eingestanden, dass sich ihr Dekollete sehen lassen konnte, denn ihre Sommersprossen waren zum Herbst vorn fast ganz verschwunden, aber sie waren auf die Schultern hinübergewechselt, vermutlich eine Folge des häufigen Schwimmens, und verliehen nach ihrer Meinung diesem Teil ihrer Anatomie Ähnlichkeit mit zwei goldenen Apfelsinen. Alle würden dorthin starren.
Entsetzlich, aber sie hatte keine Wahl.
Das Messingglöckchen klingelte – jemand war von der Straße hereingekommen, und Frau Lissizyna sah Poggio sich auf die Zehenspitzen stellen und den Hals recken.
Eingetroffen waren Bubenzow und sein Adlatus Selig. Polina Lissizyna vermerkte noch die Enttäuschung, die dem Künstler den Mund herabzog, dann richtete sie mit allen anderen ihre Aufmerksamkeit auf den Ankömmling.
Bubenzow nickte den Gästen leicht zu, hielt es jedoch nicht für notwendig, sich für die Verspätung zu entschuldigen. Der Hausfrau drückte er die Hand und hielt ihre langen blassen Finger ein wenig fest, was sie erröten und erblühen ließ.
»So, nun sind alle beisammen!«, rief sie fröhlich. »Na, Arkadi Sergejewitsch, sagen wir Sesam öffne dich?« Und sie zeigte auf die verschlossene Tür zum Salon.
»So geht es nicht. Die Nachzügler müssen erst die Gelegenheit bekommen, ein Gläschen zu trinken«, widersprach der Künstler und blickte wieder zum Eingang. »Der Champagner ist gewiss attraktiver als meine langweiligen Landschaften.«
»Es ist Fastenzeit«, sagte Selig vorwurfsvoll. »Wladimir Lwowitsch und ich sind Gottesmänner. Zeigen Sie uns lieber Ihre Bilder.«
Bubenzow hatte schon am Glas genippt, aber er stellte es sogleich hin. Mit erwartungsvoll hochgezogenen Brauen sagte er: »Ja, wirklich, öffnen Sie. Wir wollen doch sehen, womit Sie uns so neugierig gemacht haben.«
Poggio wurde blass. Er bezwang seine Erregung und sagte, gleichsam verärgert über sich selbst, sehr hastig: »Na gut, soll es so sein. Also, meine Damen und Herren, wie einige von Ihnen wissen, bin ich hierher gekommen, um etliche Arbeiten für eine Ausstellung im Moskauer Rumjanzew-Museum zu machen. Der Titel: Das verschwindende Russland. Die poetische Welt eines alten Adelsguts, das Bild eines verwilderten Gartens, von Efeu umrankte Lauben, abendlicher Dunst und sonstiger romantischer Schnickschnack. Aber was soll ich das beschreiben – sehen Sie selbst.«
Mit einer übertrieben heftigen, gleichsam verzweifelten Geste stieß er die beiden Türflügel auf und bat in den Salon.
Die kleine Ausstellung – nicht mehr als drei Dutzend Arbeiten – war einfach, aber kunstvoll arrangiert. Das flimmernde Licht der Gaslämpchen warf keine störenden Lichtreflexe, sondern verlieh den schwarzweißen Bildern den Eindruck lebendiger Realität. Rechts und links hingen an den Wänden anmutige Landschaften und Studien, welche die unauffällige, doch bezaubernde Schönheit des Drosdowka-Parks, der Weite des Flusses, des baufälligen Gutshauses zur Geltung brachten. Die Betrachter wanderten langsam an den Photographien vorbei, nickten beifällig und gelangten an die der Tür gegenüberliegende Wand, und hier erstarrten sie und gingen nicht weiter, so dass es dort sehr bald zum Stau kam.
Frau Lissizyna erreichte die geheimnisvolle Stelle als eine der ersten, sie stieß einen leisen Ruf aus und griff sich ans Herz.
Da hingen drei über einen halben Meter große Photos mit dem gemeinsamen Untertitel »An der Meeresbucht«. Jedes davon zeigte eine nackte Frau, allem Anschein nach jedes Mal dieselbe. »Allem Anschein nach« deshalb, weil das Gesicht der Posierenden nicht zu erkennen war. Auf dem linken Bild kauerte sie am Wasser, den Kopf gesenkt, die langen Haare mit eingeflochtenen Wasserpflanzen hingen herab. Auf dem rechten Bild lag die Frau mit dem Rücken zum Betrachter, den Arm über den Kopf gelegt; der Vordergrund war Sand, der Hintergrund das Wasser voller Blinklichter. Das mittlere Bild zeigte die Frau en face, sie stand bis zu den Hüften im Wasser und hielt die Hände vors Gesicht; auf dem nassen blonden Haar trug sie eine Krone aus Lilien, und zwischen den leicht gespreizten Fingern blitzten lachende Augen. Es sei zugegeben, dass die Arbeiten meisterlich ausgeführt waren, aber natürlich gab es nicht deshalb ein solches Gedränge.
Also, da war er, der herrliche, entsetzliche, einzigartige Skandal, dessen Herannahen die Stadt Sawolshsk mit ihrer empfindlichen Nase gewittert hatte! Und dabei ging es keineswegs um die Abbildung einer nackten Frau. Wir leben zwar im Krähwinkel, aber doch nicht in Persien, und mit Aktbildern, selbst als Photographie, sind unsere Kunstliebhaber nicht zu irritieren. Nein, der Kitzel lag in der Person der Nackten, deren Figur die Betrachter gierig anstarrten. War sie es oder nicht?
Sytnikow ächzte, fuhr mit fünf Fingern durch den Bart, schüttelte missbilligend den Kopf, hatte es jedoch nicht eilig weiterzugehen. Im Gegenteil, er setzte den Kneifer auf, der gar nicht zu ihm passte, und vertiefte sich in die Details, als schätzte er eine Partie Waren ab.
Schirjajew bot einen kläglichen Anblick. Er war bis zum Haaransatz blutübergossen, sein Atem ging stoßweise, seine Finger lockerten sich und ballten sich wieder zu Fäusten. Auch Poggio benahm sich sonderbar. Er beglotzte die eigenen Werke mit krankhaftem, irrlichterndem Lächeln und schien das Publikum vergessen zu haben.
Als Letzter trat Bubenzow herzu. Mit Kennermiene, den Kopf zur Seite geneigt, beäugte er das Triptychon und fragte auflachend:
»Wer ist die Nymphe?«
Poggio fuhr zusammen und winkte lässig ab.
»Ach, eine hiesige Einwohnerin. Hübsch, nicht?«
Da ertönte von hinten eine laute, spöttische Stimme:
»Was gibt’s denn da zu schauen, Herrschaften? Wohl ein Meisterwerk?«
In der Tür stand die Fürstin Naina Telianowa, unsagbar schön in einem weißen Kleid, um das sich ein blutroter Gürtel schlang, auf dem Kopf ein Samthütchen mit Schleier, durch den ihre riesengroßen schwarzen Augen funkelten.
Der größte Skandal stand also noch bevor.
»Da sind Sie ja doch noch!«, schrie Poggio und ging ihr einen Schritt entgegen. »Zu spät! Oder dachten Sie, ich mache Spaß?«
»Es war Absicht«, antwortete sie und ging auf die Gäste zu. »Ich wollte mal sehen, was für Teufel in Ihnen stecken.«
Mit Bedacht langsam schritt sie am Landschaftsteil der Ausstellung vorüber, verhielt sogar vor einer nicht sonderlich bemerkenswerten Studie, um die Spannung zu steigern. Endlich gelangte sie zu dem Häuflein, das sich vor dem Triptychon drängte. Alle traten eilig auseinander, um ihr Platz zu machen.
Während Naina die skandalösen Photos betrachtete, war es sehr still. Frau Lissizyna sah, dass einige der Besucher mit besonderem Interesse die Nackenlinie des gefährlichen Fräuleins studierten und mit dem von hinten abgelichteten Modell verglichen. Die Ähnlichkeit war groß, sehr groß.
Endlich drehte Naina sich um, und es war zu sehen, dass ihre anfängliche Bravour etwas nachgelassen hatte, und die Augen unter dem dünnen Schleier glänzten auffallend – doch nicht von Tränen?
»Was hat das eigentlich mit einer Meeresbucht zu tun?«, fragte Kirill Krasnow laut, offenbar um dem Moment die Schärfe zu nehmen. »Das ist doch ein Motiv aus Puschkins ›Ruslan und Ludmila‹.«
»Genau«, antwortete Poggio und sah Naina mit entzündeten Augen an.
»Sie haben die Nixe dargestellt, das ist es! ›Von Zauber ist die Bucht umschauert, Der Schrat geht um, die Nixe lauert.‹(Nachdichtung von Martin Remané).«
Poggio öffnete die roten Lippen zu einem erbarmungslosen Lächeln und sagte gedehnt:
»Möglich. Oder eine andere Stelle aus ›Ruslan‹ . . .« Er fuhr fort, jedes Wort akzentuierend: »›Ach, Recke, das war ja Naina.‹«
Ohne ein einziges Wort (und das war das Schlimmste) stürzte sich Schirjajew auf seinen ehemaligen Studienkollegen und schlug ihm in rasender Wut die Faust ins Gesicht, so dass der Künstler gegen die Wand flog und aus seinem Mund Blut in den Bart floss.
»Stepan, was machst du?«, schrie Pjotr entsetzt und legte Schirjajew von hinten die Arme um die Schultern. »Was hast du denn?« Und plötzlich ging ihm ein Licht auf: »Du hast gedacht, das ist Naina?«
Nun kam es zu einer wirklich skandalösen Szene. Mehrere Männer hielten Schirjajew fest, der sich losreißen wollte und nichts sagte, nur röchelte. Pjotr Telianow hielt beide Hände vors Gesicht und schluchzte laut. Poggio aber, der mit seinem blutenden Mund wie ein Vampir aussah, gab etwas von sich, das ein Husten, aber auch ein hysterisches Lachen sein konnte.
Naina drehte sich plötzlich jäh zu Bubenzow um, der die Rauferei mit sorglosem Lächeln beobachtete, und fragte ihn mit klirrender Stimme:
»Na, lustig?«
»Nicht sehr«, antwortete er halblaut.
»Fürst der Finsternis«, flüsterte Naina und prallte erschrocken von ihm zurück, dann fügte sie etwas Unverständliches hinzu: »Fürst und Fürstin, wie das passt. . .«
Ohne das Ende des Kampfes abzuwarten, stürmte sie Hals über Kopf davon.
»Madame Telianowa beherrscht nicht die Kunst des Bühnenabgangs«, sagte Bubenzow ironisch zur Gastgeberin. »Einfach hinausgehen, das bringt sie nicht fertig, sie muss unbedingt rennen.«
Olimpiada sah aus wie eine siegreiche Nike – die Soiree hatte ihre Erwartungen weit übertroffen.
»Es reicht, meine Herren!«, verkündete sie laut. »Was sind denn das für Kindereien. Daran ist nur der Champagner schuld. Kommen Sie morgen zur offiziellen Eröffnung. Ich denke, es wird interessant werden.«
Aber tags darauf fand keine allgemeine Eröffnung statt, denn es gab nichts zu eröffnen.
Und niemanden, der es hätte tun können.
Aber immer der Reihe nach, denn hier ist jedes, selbst das scheinbar unwichtigste Detail von Bedeutung.
Als Arkadi Poggio um halb zehn Uhr morgens noch nicht zum Frühstück erschienen war, dachte sich Olimpiada zunächst nichts dabei, denn ihr Gast aus der Hauptstadt zeichnete sich, wie es einem freischaffenden Künstler ziemt, nicht eben durch Pünktlichkeit aus. Doch nach einer Viertelstunde, als das Omelett nicht mehr warten konnte, schickte sie einen Lakai. Der überquerte den Hof und ging auf die Straße, denn anders gelangte man nicht zu dem einzeln stehenden Flügel, läutete das Glöckchen und klopfte sicherheitshalber, bekam jedoch keine Antwort.
Da wurde die Postmeistersgattin unruhig, denn Poggio konnte ja einen Schwächeanfall erlitten haben nach den gestrigen Erlebnissen und dem sehr fühlbaren Faustschlag, den Schirjajew ihm verpasst hatte. Der Lakai wurde ein zweites Mal ausgesandt und bekam den Schlüssel mit. Den brauchte er freilich nicht, denn Poggio hatte in seiner Zerstreutheit die Tür nicht abgeschlossen. Der Sendbote ging hinein, und nach ein paar Augenblicken durchgellte sein Schrei das Haus.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass in unserer Stadt seit etlichen Jahren Tötungsdelikte sehr selten vorgekommen waren. Eigentlich hatte sich diese Sünde das letzte Mal vor zwei Jahren ereignet, als zwei Lastfuhrleute sich wegen einer Marktschönheit in die Haare kriegten und der eine dem anderen einen Knüppel zu heftig über den Schädel zog. Und fünf Jahre davor war aus Liebe Folgendes geschehen: Zwei Gymnasiasten aus der sechsten Klasse hatten sich mit Schusswaffen duelliert. Der eine von ihnen hatte einen Liebesbrief abgefangen, der an die hübsche Tochter unseres Stadtarchivars Benewolenski gerichtet war. Pistolen hatten die Jungen nicht, sie schossen sich mit Jagdgewehren und waren beide tot. Über diese Geschichte schrieben sämtliche Zeitungen, wenngleich natürlich nicht so exponiert wie über den jetzigen Zwischenfall mit den Syten. Das arme Mädchen, das ohne eigenes Zutun zum Anlass der zwiefachen Tötung geworden war, wurde von seinem Vater für immer zu Verwandten in ein entlegenes Gouvernement geschickt, wohl gar nach Wladiwostok.
Aber diesmal war keine besoffene Schlägerei und kein jugendlicher Maximalismus die Ursache, sondern es deutete alles auf vorsätzlichen Mord, der noch dazu mit besonderer Bestialität verübt worden war. Unbekannte kopflose Leichen, aus Gott weiß was für einer tiefen Einöde angeschwemmt – das ist das eine. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn sich eine solche Untat mitten in Sawolshsk ereignet, in der vornehmsten Straße, und das Opfer ein berühmter Mann aus der Hauptstadt war, bestens bekannt in der guten Gesellschaft. Das Entsetzlichste bestand darin, dass das Verbrechen – daran zweifelte niemand – von einem Mitglied dieser Gesellschaft begangen worden war, überdies aus Motiven, welche die Phantasie gewaltig anheizten (es muss nicht erwähnt werden, dass der skandalöse Ausgang der Soiree bei der Postmeistersgattin sich noch am selben Abend in der ganzen Stadt herumgesprochen hatte).
Über diese Motive wurde hauptsächlich getratscht, und was die Person des Mörders angeht, so gab es verschiedene Mutmaßungen, die von mindestens drei Parteien vertreten wurden. Die meisten gehörten zur »Schirjajew-Partei«. Die nächstkleinere Partei sah als Schuldige die beleidigte Naina Telianowa, der nach der Geschichte mit den Hunden aber auch alles zuzutrauen war. Die dritte Partei verdächtigte Pjotr Telianow und berief sich auf dessen nihilistische Ansichten und das kaukasische Blut. Wir sagten »mindestens drei Parteien«, denn es gab auch noch eine vierte mit nur wenigen Anhängern, die jedoch einflussreich waren, denn sie standen dem Gouverneur und Matwej Berditschewski nahe. Diese raunten, hier sei so oder anders Bubenzow beteiligt, aber damit wurde gar zu eindeutig der Wunsch mit der Realität verwechselt.
Es nimmt nicht wunder, dass schon gegen Mittag ganz Sawolshsk von dem furchtbaren Ereignis wusste. Die Einwohner wirkten zugleich bestürzt und besänftigt, und der allgemeine Zustand der Gemüter war so, dass der Bischof in den Kirchen Versöhnungsgebete verrichten ließ und persönlich in der Kathedrale die Predigt hielt. Er sprach von den schweren Prüfungen, die über die Stadt gekommen seien, und es wurde deutlich, dass er keineswegs nur die Ermordung des Photographen meinte.
Unmittelbar bevor Mitrofani zu der Predigt fuhr, besuchte ihn im Klosterhof der durch Eilboten hergebetene stellvertretende Staatsanwalt Berditschewski.
»Hör zu, Matwej«, sagte der Bischof, der schon Talar und Oberkleid, aber noch nicht die Mitra und das Panhagion trug. »Übertrage die Untersuchung dieses Falls keinem anderen, leite sie selbst. Ich schließe nicht aus, dass etwas aufgedeckt wird, was zu der bewussten Person führt.« Mitrofani warf einen flüchtigen Blick auf die angelehnte Tür. »Urteile selbst. Sowohl der Ermordete als auch die Person, die er allem Anschein nach treffen wollte, sind unserem durchtriebenen Freund bestens bekannt, und mit der letzteren unterhält er irgendwelche besonderen Beziehungen. Außerdem gehört er zu den wenigen, die bei der gestrigen Auseinandersetzung dabei waren . . .«
Matwej Berditschewski fuchtelte mit beiden Händen und fiel dem Bischof sogar ins Wort, was noch nie vorgekommen war:
»Vater, das kann ich nicht! Erstens muss ich dann den Tatort aufsuchen, und ich fürchte mich vor Toten . . .«
»Na, na.« Mitrofani drohte ihm mit dem Finger. »Die Schwäche des Herzens muss man bezwingen. Bist du Staatsanwalt oder nicht? Ich nehme dich mit zu dem Alten Friedhof, von dem die Särge umgebettet werden, da der Fluss das Ufer unterspült hat. Ich werde, wie es sich gehört, Gebete sprechen, und dich beauftrage ich, das Ausgraben der sterblichen Überreste zu beaufsichtigen. Das wird deine Nerven stärken.«
»Ach, es geht nicht nur um den Toten.« Berditschewski sah dem Bischof bittend in die Augen. »Ich habe kein Talent zum Ermittler. Eine Anklageschrift aufsetzen oder auch ein Verhör führen, das kann ich, aber einen Kriminalfall aufklären, das nicht. Sie, Vater, besitzen die Gabe, Rätsel zu lösen. Schade, dass Sie nicht selbst dorthin fahren können, es schickt sich nicht für Sie.«
»Ich fahre nicht hin, aber ich gebe dir mein wachsames Auge mit. Komme herein, meine Tochter«, rief der Bischof und wandte sich der Tür zu, die zu den inneren Gemächern führte.
Herein trat eine magere Nonne in schwarzer Kutte und schwarzem Schleier und verneigte sich schweigend. Berditschewski, der Pelagia schon öfters gesehen hatte und wusste, dass sie Mitrofanis besonderes Vertrauen genoss, erhob sich und antwortete mit einer nicht minder höflichen Verbeugung.
»Du nimmst Schwester Pelagia mit«, gebot der Bischof. »Sie beobachtet gut, ist scharfsinnig und kann dir sehr nützen.«
»Aber dort sind bestimmt schon Polizisten und Lagrange persönlich.« Berditschewski breitete die Arme aus. »Wie soll ich die Anwesenheit einer Nonne erklären?«
»Sage, der Bischof kommt nach der Predigt, das geschändete Haus neu zu weihen, und schickt die Nonne, um alles vorzubereiten und zu richten, damit dem Bischof nichts Anstößiges in die Augen fällt. Und was Lagrange betrifft, so pariert der Spitzbube dir jetzt doch wohl aufs Wort.« Er sah Pelagia mit blitzenden Augen an. »Sage ihm, die Nonne ist still und demütig und von kargem Verstand, sie wird die Untersuchung nicht behindern.«
Während sie mit der Kutsche durch die Dworjanskaja fuhren, schwiegen beide, denn Pelagia empfand ein wenig Scheu vor dem klugen und hochgelehrten Begleiter, und Berditschewski hatte kaum Umgang mit geistlichen Personen (Mitrofani zählte nicht, das war ein Sonderfall) und wusste überhaupt nicht, worüber er sich mit einer Nonne unterhalten sollte.
Endlich hatte er sich ein geeignetes Thema zurechtgelegt, er öffnete den Mund und sagte:
»Mütterchen . . .« Doch schon verstummte er verlegen, denn er dachte sich, dass einer jungen Frau, selbst wenn sie Nonne war, diese Anrede seitens eines kahlköpfigen und schon ein wenig aufgeschwemmten Herrn weit über dreißig kaum angenehm sein dürfte.
Jedes Mal hatte er Schwierigkeiten im Umgang mit Pelagia, obwohl er noch nicht oft mit ihr geredet hatte. Die Nonne hatte nach seiner Meinung die sehr irritierende Eigenschaft, mal wie eine reife und weise Frau zu wirken, mal wie ein kleines Mädchen, so wie zum Beispiel jetzt.
»Das heißt . . . Schwester«, verbesserte er sich, »Sie sind doch die Schwester« (das war nun ganz dumm) »von Polina Andrejewna Lissizyna, nicht?«
Die Nonne nickte irgendwie unbestimmt, und Berditschewski fürchtete schon, eine ihm unbekannte Etikette verletzt zu haben, die es Nonnen verbot, über ihre in der Welt verbliebenen Angehörigen zu sprechen.
»Ich habe nur so gefragt . . . Sie ist eine sehr kluge und sympathische Frau und sieht Ihnen ein wenig ähnlich.« Er warf einen vorsichtigen Blick auf seine Begleiterin, die neben ihm auf dem Ledersitz schaukelte, und fügte hinzu: »Ein ganz klein wenig.«
Wer weiß, wohin dieses etwas ungewandte Gespräch noch geführt hätte, wenn die Equipage nicht auf den Kirchplatz eingebogen wäre, den Hauptplatz unserer Stadt mit der Kathedrale, dem Gouverneurshaus, den wichtigsten Ämtern, dem Konsistorium und dem Hotel »Zum Großfürsten«, wo vor vielen Jahren in der Tat der Großfürst Konstantin Pawlowitsch abgestiegen war, als er eine Erkundungsreise in die östlichen Gouvernements des Imperiums unternahm.
Vor der gusseisernen Umfriedung dieses vornehmen Hotels drängten sich lärmende Menschen, und es waren sogar Polizeimützen zu sehen. Dort geschah etwas Ungehöriges, und das in unmittelbarer Nähe zu den Residenzen der geistlichen und der weltlichen Macht, was Berditschewski als Amtsperson nicht hinnehmen konnte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er überhaupt eine Schwäche für Situationen, in denen er sich als Natschalnik zeigen konnte.
»Bleiben Sie sitzen, Schwester«, sagte er gewichtig zu Pelagia, ließ den Kutscher anhalten und ging rekognoszieren.
Den würdevollen Beamten ließ man ungehindert durch zum Mittelpunkt der Ansammlung, und da zeigte sich, dass alle auf Bubenzows Kaukasier starrten.
Der Tscherkesse war sturzbetrunken und vollführte einen wahnwitzigen Tanz, wobei er ab und zu einen kehligen Schrei ausstieß. Er trappelte auf der Stelle, trippelte graziös mit seinen großen Füßen in abgetragenen Mokassins, sprang von Zeit zu Zeit höchst geschickt auf die Zehenspitzen und beschrieb über seinem kahl rasierten Schädel blitzende Kreise mit seinem Dolch von ungeheurer Größe. Es war zu sehen, dass er schon lange so tanzte und noch lange weiterzutanzen vorhatte.
»Was ist denn das?«, fragte Berditschewski stirnrunzelnd den Reviervorsteher.
»Sie sehen ja selbst, Euer Hochwohlgeboren. Es geht schon fast eine Stunde, dass er hier herumtobt. Davor hat er in der Schänke ›Zum Spiegel‹ die Spiegel zerschlagen und die Kellner mit Fußtritten traktiert, noch früher war er in der Schänke ›Samson‹, wo er auch randaliert hat, aber auch da ist er auch schon betrunken hingekommen.«
»Warum haben Sie das nicht unterbunden?«
»Wir haben’s versucht, Euer Hochwohlgeboren. Aber er hat dem Polizisten Karassjuk die Fresse blutig geschlagen, und mich hätte er beinahe mit dem Schwert da massakriert.«
»Erschießen muss man ihn«, sagte böse ein Polizist, der sich ein blutiges Taschentuch vors Gesicht hielt, das war wohl Karassjuk. »Es bleibt nichts anderes übrig, sonst bringt er noch jemanden um.«
»Von wegen erschießen!«, zischte der Reviervorsteher. »Das ist doch der Diener von Wladimir Bubenzow.«
»Und wo haben Sie Ihre Augen?«, wandte sich Berditschewski an Tichon Selig, der verlegen in den ersten Reihen stand. »Schaffen Sie Ihren Wilden hier weg.«
»Ich bin ja schon seit der Nacht hinter ihm her«, versetzte Selig kläglich. »Halte ein mit dem Trinken, hab ich ihm gesagt. Aber er hört ja nicht. Er darf keinen Schnaps trinken, überhaupt nicht. Er ist ja kein russischer Mensch, was will man da erwarten. Entweder er trinkt keinen Tropfen, oder er macht einen halben Eimer (Eimer – russisches Flüssigkeitsmaß, etwa 12 Liter. D. Ü.) nieder und wird zum Tier. Irgendein schlechter Mensch hat ihn zum Trinken verleitet. Jetzt wird er tanzen, bis er umfällt.«
Berditschewski, der die Blicke der Menge auf sich gerichtet sah, sprach mit unanfechtbarer Autorität:
»Das gehört sich nicht. Schließlich ist das hier der Kirchplatz. Gleich kommt der Bischof, um die Predigt zu halten. Schaffen Sie ihn sofort weg!«
Aus der Menge kamen Rufe:
»Ein ganz Schlauer! Schaff ihn doch selber weg, wenn du dich traust!«
Da begriff Berditschewski, dass er in eine Falle getappt war, die er sich selbst gestellt hatte. Warum nur hatte er die Kutsche anhalten lassen? Aber zurückweichen war unmöglich.
Und von dem Reviervorsteher und dem verprügelten Polizisten war Hilfe nicht zu erwarten.
Mit den Kaumuskeln spielend, um sich zu ermutigen, machte Berditschewski einen Schritt und noch einen und näherte sich dem Furcht einflößenden Tänzer. Der stimmte plötzlich ein wildes, doch auf seine Art melodisches Lied an und fuchtelte blitzschnell mit dem Dolch.
»Sofort aufhören!«, schnauzte Berditschewski, so laut er konnte.
Der Tscherkesse richtete den blutunterlaufenen Blick auf ihn.
»Hast du gehört!«
Berditschewski machte einen Schritt und noch einen.
»Der arme Kerl«, sagte jemand in der Menge.
Ob der Tscherkesse oder Berditschewski gemeint war, blieb ungewiss, aber der Staatsanwalt bezog es auf sich, fasste sich ein Herz und streckte die Hand aus, um den Kaukasier am Ärmel zu packen, doch da beschrieb die Stahlklinge – sssst – einen Bogen haarscharf an Berditschewskis Fingern vorbei, und vom Revers des Beamten flogen, glatt abgetrennt, zwei Wappenknöpfe.
Berditschewski stieß unwillkürlich einen Schrei aus und sprang beiseite. Wutentbrannt über diese Demütigung rief er dem Reviervorsteher zu:
»Bubenzow herholen, schnell! Wenn er seinen Kaukasier nicht zur Ruhe bringt, lasse ich dem in die Beine schießen.«
»Wladimir Lwowitsch schläft noch und hat verboten, ihn zu wecken«, erklärte Selig.
»Ich warte genau zehn Minuten.« Berditschewski schwenkte ärgerlich seine silberne Uhr. »Dann lasse ich schießen.«
Tichon Selig trippelte zu dem Hotel, und auf dem Platz trat interessiertes Schweigen ein.
Der Tscherkesse setzte seinen unvergleichlichen Tanz fort, wie aufgezogen. Berditschewski stand mit der Uhr in der Hand da und kam sich idiotisch vor. Karassjuk schob mit sichtlichem Vergnügen Patronen in die Revolvertrommel.
Als bis zum Ablauf des Ultimatums nur noch eine Minute blieb, sagte der Reviervorsteher nervös:
»Euer Hochwohlgeboren, Sie werden bezeugen, dass ich in keiner Beziehung . . .«
»Er kommt, er kommt!«, lärmte die Menge.
Aus dem Hotel trat gemächlich Bubenzow in einem seidenen Hausmantel, einen Türkenfes mit Quaste auf dem Kopf. Man machte ihm Platz. Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und blickte eine Weile auf seinen übergeschnappten Janitscharen. Dann gähnte er und bewegte sich sacht auf ihn zu. Eine Frau ächzte auf. Der Tscherkesse schien seinen Herrn nicht zu sehen, er tanzte weiter, wich aber dabei langsam zurück zum Hotel. Bubenzow ging noch immer sacht auf ihn zu, ohne ein Wort zu sagen, bis der Tscherkesse stehen blieb. Seine Augen waren starr wie bei einem Toten.
»Genug getanzt, du Dummkopf?«, sagte Bubenzow in die Stille hinein. »Komm, schlaf dich aus.«
Er drehte sich um und ging zurück ins Hotel, ohne zurückzuschauen. Murad folgte ihm gehorsam, und neben ihm trippelte Selig.
Alle sahen dem malerischen Dreigespann schweigend hinterher.
Ein Kirchendiener bekreuzigte sich und sagte im Bass:
»Ihm ist Macht gegeben über die bösen Geister.«
Auch Pelagia bekreuzigte sich, die, wie wir schon wissen, niemals grundlos das Kreuz schlug.
Vor der Tür der Wohnung, die bis vor kurzem der arme Poggio bewohnt hatte, drängte sich ebenfalls ein dichter Ring von Gaffern, und bei der Vortreppe stand mit rollenden Augen ein Wachtmeister. Pelagia, bevor sie hineinging, bekreuzigte sich noch einmal, und wieder nicht ohne Grund.
Das Besuchszimmer sah fast genauso aus wie am Tag zuvor, nur waren die Tische jetzt leer. Umso schrecklicher war das Bild, das sich der Nonne im Salon bot. Sämtliche Photographien waren nicht nur von der Wand gerissen, sondern auch in winzige Schnipsel zerfetzt, die den Fußboden bedeckten. Ein Tobsüchtiger hatte nicht wenig Zeit darauf verwendet, Poggios Ausstellung in nichts zu verwandeln.
Die Treppe von der oberen Etage herab kam Polizeimeister Lagrange gelaufen. Als er Berditschewski sah, lächelte er beflissen.
»Matwej Benzionowitsch, Sie kommen selbst? Ist ja auch richtig.«
Er verbeugte sich und drückte Berditschewski die Hand, warf einen verwunderten Blick auf Pelagia, gab sich jedoch mit Berditschewskis Erklärung zufrieden und ließ von da an die Nonne gänzlich unbeachtet. Es war zu sehen, dass er glänzender Laune war.
»Was gibt’s hier schon zu sehen«, sagte er und zeigte mit einer lässigen Handbewegung auf den Salon. »Kommen Sie mit nach oben. Das ist ein Anblick.«
Oben gab es nur zwei Zimmer, das Schlafzimmer und das andere, in dem Poggio, wie erwähnt, sein Photolabor eingerichtet hatte. Da es näher lag, schauten sie zuerst da hinein.
»Bitte«, sagte Lagrange stolz. »Total zertrümmert.«
Und wirklich, das Labor sah noch schlimmer aus als die Ausstellung. Mitten im Raum lag, mit großem Schwung hingeschmettert oder mit den Füßen zertrampelt, der Kodak-Apparat, und drum herum blinkten wie winzige Eisschollen die Scherben der photographischen Platten.
»Keine Einzige ist heil geblieben, alles zersplittert«, erklärte der Polizeimeister forsch, wie um die Fähigkeiten des unbekannten Verbrechers herauszustreichen.
»Spuren?«, fragte Berditschewski mit einem Blick auf die beiden Polizeibeamten, die mit Lupen auf dem Fußboden herumkrochen.
»Was soll es hier für Spuren geben«, antwortete der Ältere und hob das ausgemergelte faltige Gesicht. »Sie sehen ja, als ob eine Herde Elefanten herumgetrampelt wäre. Sinnlos, dass wir Scherben zusammenfügen. Zu jeder Platte gehörte ein Papierchen mit dem Titel. Weiße Laube, Sonnenuntergang am Fluss, Die kleine Nixe. Wir passen die Splitter aneinander wie in einem Kinderpuzzle. Womöglich findet sich was Brauchbares. Aber das ist unwahrscheinlich.«
»Soso.« Berditschewski fragte Lagrange halblaut: »Und wo ist. . . der Tote?«
»Kommen Sie.« Lagrange lachte. »Nächste Nacht werden Sie nicht schlafen können. Ein Stillleben.«
Berditschewski wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn und folgte dem dunkelblau uniformierten Virgil durch den Korridor. Pelagia ging leise als Letzte.
Poggio lag im Bett und blickte feierlich zur Decke, als dächte er über höchst Bedeutsames nach – jedenfalls nicht über das jämmerliche Stativ, das ihn an das Bett nagelte und aus ihm herausragte, eingeklemmt im Gewölbe des Brustkorbs.
»Absolut tödlich«, sagte der Polizeimeister und zeigte mit dem Finger im weißen Handschuh. »Der Stoß, schauen Sie bitte, wurde vertikal geführt. Also hat der Ermordete gelegen und nicht versucht aufzustehen. Wahrscheinlich hat er geschlafen. Er schlug die Augen auf und war sofort im Himmelreich. Erst hinterher hat der Mörder alles zertrümmert und zerschmettert.«
Berditschewski zwang sich, die drei zusammengeschobenen Beine des Stativs zu betrachten, die tief im Körper des Toten steckten. Sie waren aus Holz, aber unten mit Messing beschlagen und sicherlich sehr spitz.
»Ein starker Stoß«, sagte er, um Kaltblütigkeit bemüht, und versuchte, das Stativ mit den Fingern zu umgreifen, doch die schlossen sich nicht. »Eine Frau kann das nicht getan haben. Das Ding ist zu schwer und lässt sich nicht richtig umfassen.«
»Das denke ich auch«, pflichtete Lagrange ihm bei. »Also scheidet Telianowa aus. Der Fall ist eigentlich sonnenklar. Ich habe nur auf den Untersuchungsführer gewartet, meine Leute haben schon alles genau unter die Lupe genommen. Möchten Sie nicht das Protokoll unterschreiben?«
Berditschewski verzog das Gesicht über diese eindeutige Verletzung der Vorschriften – ein Protokoll der Tatortuntersuchung durfte nicht ohne einen Vertreter der Staatsanwaltschaft aufgesetzt werden, darum las er absichtlich langsam. Aber es war nichts daran auszusetzen – Lagrange verstand sich auf die Polizeiarbeit, das musste man ihm lassen.
»Was für Mutmaßungen haben Sie?«, fragte Berditschewski.
»Vielleicht gehen wir lieber hinunter in den Salon, bis der da hinausgetragen ist«, schlug Lagrange vor.
So geschah es.
Sie stellten sich in eine Ecke des leeren Salons. Der Polizeimeister zündete seine Pfeife an, Berditschewski holte ein Heftchen hervor. Auch Schwester Pelagia war im Raum, sie kroch auf dem Fußboden herum, als wolle sie Müll beseitigen, in Wirklichkeit aber sammelte sie die Photoschnipsel ein und setzte sie zusammen. Die beiden Männer achteten nicht auf sie.
»Ich höre.« Berditschewski stand bereit zum Notieren.
»Der Kreis der Verdächtigen ist nicht groß, derer, die ein Mordmotiv haben könnten, noch kleiner. Wir müssen nur herausfinden, wer von den Letzteren kein Alibi hat, und fertig.«
Lagrange sah verjüngt aus: Die Augen glühten, der Schnauzbart zitterte siegesbewusst, die Hand durchschnitt energisch die Luft, die Fachausdrücke sprudelten nur so aus seinem Mund. Man konnte denken, dass er in den letzten Wochen seine Meinung über das langweilige Sawolshsk geändert hatte. Was allein der Fall der Syten wert war! Aber dieser Paukenschlag war Bubenzow Vorbehalten. Dafür konnte bei der Untersuchung dieses delikaten Mordfalls niemand dem Polizeimeister in die Quere kommen. Es ergab sich überdies die prächtige Möglichkeit, dem gescheiten und gefährlichen Herrn Berditschewski die eigene Unersetzlichkeit zu demonstrieren, die momentan in Zweifel stand wegen des Missgriffs, den er mit dem Schmiergeld getan hatte.
»Sagen Sie selbst, Matwej Benzionowitsch.« Lagrange pflückte einen Fussel vom Ärmel des stellvertretenden Staatsanwalts. »Der Zusammenhang zwischen dem nächtlichen Mord und dem abendlichen Skandal liegt auf der Hand, oder?«
»Wird wohl so sein.«
»An der Soiree bei Olimpiada Saweljewna nahmen, die Damen nicht gezählt, zehn Personen teil. Nun, den Herrn Synodalinspektor und den Adelsmarschall können wir außer Acht lassen, denn sie sind hochgestellte Leute und haben kein erkennbares Motiv. Von Seiten des Verblichenen waren eingeladen: der Gutsverwalter Schirjajew, Fürst Telianow, der Kaufmann erster Gilde Sytnikow und der Gutsbesitzer Krasnow. Von Seiten der Hausfrau: der Gymnasialdirektor Sonin, der Anwalt Kleist und der Architekt Brandt. Außerdem hatte Bubenzow seinen Sekretär Selig mitgebracht.«
»Wird wohl so sein«, sagte Berditschewski wieder, während er schnell mit dem Bleistift kritzelte. »Und Sie verdächtigen natürlich vor allem Schirjajew und in zweiter Linie Telianow?«
»Nicht so schnell.« Lagrange lächelte entzückt. »Ich mag den Kreis der Verdächtigen noch nicht einengen. Nehmen wir nur die Damen. Die Fürstin Telianowa war die Zielscheibe des gestrigen Skandals. Wenn sie den Mord auch nicht selbst begangen hat, kann sie Anstifterin oder Beteiligte gewesen sein; ich komme darauf zurück. Nun zu Madame Lissizyna.«
Pelagia erstarrte, ohne das Photo der Nackten am Strand fertig zusammengefügt zu haben.
»Eine höchst ungewöhnliche Person. Man weiß nicht, was sie so lange in Sawolshsk macht. Angeblich ist sie hergekommen, um ihre Schwester wiederzusehen, eine Nonne. Warum treibt sie sich dann auf Bällen und in Salons herum? Überall geht sie hin, alle kennen sie. Sie ist lebhaft, kokett, verdreht den Männern den Kopf. Nach allem zu urteilen, eine Abenteurerin.«
Berditschewski schielte verlegen zu Pelagia, doch die tat, als hätte sie nichts gehört, sie beschäftigte sich konzentriert mit ihren Schnipseln.
»Heute früh habe ich eine telegraphische Anfrage an das Departement geschickt, ob Polina Andrejewna Lissizyna vielleicht in irgendeinen Fall verwickelt gewesen sei. Und was meinen Sie? Sie war, und gleich dreimal! Vor drei Jahren in Perm, als der Mönch Pafnuti ermordet wurde. Voriges Jahr in Kasan, als die wundertätige Ikone geraubt wurde, und schließlich in Samara, als es um den Untergang des Dampfers ›Swjatogor‹ ging. In allen drei Fällen trat sie vor Gericht als Zeugin auf. Wie finden Sie das?«
Berditschewski blickte wieder zu der Nonne, aber nicht verlegen, sondern fragend.
»Ja, interessant«, gab er zu. »Aber wir haben ja schon festgestellt, dass eine Frau für diesen Mord nicht in Frage kommt.«
»Trotzdem ist Lissizyna teuflisch verdächtig. Aber egal, das klären wir noch. Und jetzt kommen wir zu den Verdächtigen ersten Grades, das heißt, zu denen, die Poggio seit langem kennen und Grund hatten oder haben konnten, ihn zu hassen.« Lagrange hob den Zeigefinger. »An erster Stelle natürlich Schirjajew. Er liebt die Gräfin Telianowa bis zum Wahnsinn und ist schon während der Vernissage auf Poggio losgegangen, man konnte ihn kaum von ihm wegreißen. Der zweite ist ihr Bruder, Pjotr Telianow.« Der Polizeimeister hob den Mittelfinger. »Hier ist wahrscheinlich auch verletzte Eitelkeit im Spiel. Telianow hat später als alle anderen begriffen, dass seiner Schwester ein schwerer Schimpf angetan wurde, und stand damit als Dummkopf oder Feigling da. Er ist ein unausgeglichener junger Mensch mit schlechten Neigungen. Er steht unter öffentlicher Aufsicht, und ich traue diesem Nihilisten jede Schurkerei zu. Wenn er sogar schon nach den Grundlagen des Staates ausgeholt hat, was soll ihm da ein Menschenleben wert sein? Und hier wäre es sogar in gewissem Sinne entschuldbar – er trat für die Ehre seiner Schwester ein. Aber das ist noch nicht alles.« Zu den zwei Fingern gesellte sich der Ringfinger, freilich eingebogen. »Sytnikow. Ein verschlossener Herr, aber mit Leidenschaften. Nach meinen Informationen ist er keineswegs gleichgültig gegenüber den Reizen der Telianowa. Und da haben Sie auch schon das Motiv – Eifersucht auf den erfolgreicheren Rivalen, Sytnikow würde nie als Räuber in der Nacht auftreten, das wäre unter seiner Würde, aber einen seiner Leute losschicken, das brächte er wohl fertig. Seine Angestellten sind sämtlich Altgläubige. Bärtig, finster, gegen die Macht eingestellt.« Die Idee von den altgläubigen Mördern schien nach Lagranges Geschmack zu sein. »Ja, durchaus möglich. Man wird es Bubenzow melden müssen.«
»Apropos Bubenzow«, bemerkte Berditschewski mit harmloser Miene. »Da ist ja auch nicht alles klar. Man behauptet, die Fürstin Telianowa habe Poggio nicht einfach so verlassen, sondern wegen Bubenzow.«
»Humbug.« Der Polizeimeister schwenkte die Hand mit gespreizten Fingern. »Weibertratsch. Mag ja sein, dass die Telianowa sich nach Bubenzow verzehrt, kein Wunder, er ist ja auch ein besonderer Mann. Aber sie ist ihm völlig gleichgültig. Auch wenn früher zwischen ihnen was gewesen sein sollte. Wo ist das Motiv? Eifersucht auf eine Geliebte, die ihm nichts bedeutet und die er loswerden möchte? Deswegen einen Mord begehen? Das gibt es nicht, Matwej Benzionowitsch.«
Berditschewski musste zugeben, dass Lagrange Recht hatte.
»Wie gehen wir nun vor?«, fragte er.
»Ich meine, für den Anfang wäre es nicht schlecht, alle drei gründlich zu verhören . . .«
Der Polizeimeister sprach nicht weiter, denn er sah etwas abseits die Nonne stehen. Die Photoschnipsel lagen, säuberlich zu Quadraten geordnet, auf dem Fußboden längs der Wand.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«, rief er gereizt. »Packen Sie das zusammen und gehen Sie. Noch besser, Sie fegen den ganzen Müll hier zusammen.«
Pelagia verneigte sich schweigend und stieg hinauf in den ersten Stock.
Die Polizeibeamten, welche die Haussuchung durchgeführt hatten, saßen im Laboratorium und rauchten Papirossy.
»Na, Schwesterchen?«, sagte fröhlich der Polizist mit dem faltigen Gesicht. »Was verloren?«
Die Nonne sah, dass die Glasscherben eingesammelt und geordnet worden waren wie die Schnipsel im Salon. Der Spaßvogel war ihrer Blickrichtung gefolgt und bemerkte:
»Da sind welche bei, die Sie nicht ansehen sollten. Er war ein lebenslustiger Herr, dieser Poggio. Schade, dass die Bilder nicht wiederherzustellen sind.«
Pelagia fragte:
»Sagen Sie, mein Herr, gibt es hier eine Photoplatte mit dem Titel ›Ein regnerischer Morgen‹?«
Der Polizist hörte auf zu lächeln und zog verwundert die Brauen hoch.
»Seltsam, Schwester, dass Sie danach fragen. In dem Verzeichnis hier steht ›Ein regnerischer Morgen‹, aber die Platte haben wir nicht gefunden. Keinen Splitter. Wahrscheinlich war er damit unzufrieden und hat sie weggeworfen. Was wissen Sie darüber?«
Pelagia schwieg, die rötlichen Brauen zusammengezogen. Sie überlegte.
»Also, was ist denn nun mit dem ›Regnerischen Morgen?«, beharrte der Faltige.
»Stören Sie nicht, mein Sohn, ich bete«, antwortete die Nonne zerstreut, drehte sich um und stieg hinunter.
Im Salon nämlich fehlte das Photo mit diesem Titel. Alle aus den Schnipseln zusammengesetzten Bilder entsprachen den an den Wänden gebliebenen Titeln, selbst die drei mit der nackten Unbekannten, die den Skandal ausgelöst hatten. Von der Aufnahme aber, die den unauffälligen Titel »Ein regnerischer Morgen« trug, war nicht das winzigste Fragment vorhanden.
»Und doch muss Bubenzow auch vernommen werden!«, hörte sie, als sie den Salon betrat.
Berditschewski und Lagrange schienen sich über den Kreis der Verdächtigen nicht einigen zu können.
»Einen solchen Mann durch Zweifel zu beleidigen! Besinnen Sie sich, Herr Berditschewski! Natürlich unterstehe ich Ihnen, aber . . . Was willst du denn noch?«, schnauzte der Polizeimeister Pelagia an.
»Man muss alle zusammenholen, die gestern hier waren, und gemeinsam für das Seelenheil des verschiedenen Gottesknechts beten«, sagte sie und sah Lagrange mit ihren glänzenden braunen Augen demütig an. »Vielleicht wird der Unmensch von Reue erfasst.«
»Raus hier!«, blaffte Lagrange. »Weshalb haben Sie sie überhaupt mitgebracht?«
Berditschewski nickte Pelagia unbemerkt zu und nahm den Polizeimeister beim Ellbogen.
»Ich weiß, was zu tun ist. Beten bringt natürlich nichts, aber eine Gegenüberstellung wäre als Untersuchungsexperiment gar nicht schlecht. Wir holen alle gestrigen Teilnehmer zusammen, angeblich um zu rekonstruieren, wer wann wo war und was er gesagt hat. . .«
»Ausgezeichnet!«, griff Lagrange auf. »Sie haben großes kriminalistisches Talent! Und die Fürstin Telianowa muss unbedingt dabei sein. Allein ihr Anblick wird die Kampfhähne wieder in Rage bringen, und dann verrät sich der Mörder. Das Verbrechen ist ja nicht kaltblütig, sondern im Affekt begangen worden. Ein leidenschaftlicher Mensch kann sich nicht beherrschen. Heute Abend holen wir sie zusammen. Und ich verliere keine Zeit und überprüfe die Alibis der Hauptverdächtigen.«
»Vergessen Sie auf keinen Fall Bubenzow.«
»Sie schaffen mich noch, Matwej Benzionowitsch, Sie schneiden einem Ihnen ergebenen Menschen ohne Messer ins Herz«, klagte Lagrange bitter. »Und wenn er mir dann böse ist?«
»Passen Sie auf, dass ich Ihnen nicht böse werde«, antwortete Berditschewski leise.
Alles wurde genauso arrangiert wie bei der unglücksseligen Soiree, sogar mit Häppchen und Wein (natürlich nicht Champagner, das wäre übertrieben gewesen). Der glückliche Gedanke, aus der erniedrigenden polizeilichen Prozedur einen Gedenkabend für Arkadi Poggio zu machen, war der Postmeistersgattin Olimpiada gekommen, die sich heute noch mehr als Geburtstagskind fühlte als tags zuvor. Als sie am Morgen von der Tragödie erfuhr, war sie natürlich zunächst erschrocken und hatte sogar nach Frauenart den armen Poggio bedauert, auch ein paar Tränen vergossen, doch etwas später, als klar wurde, dass der skandalöse Ruhm ihrer Soiree ihre kühnsten Erwartungen übertraf und die wichtigsten Ereignisse womöglich noch bevorstanden, war ihre Trauer wie weggeblasen, und sie nutzte die zweite Tageshälfte, um das schwarze Moirekleid herzurichten, das seit der letzten Beerdigung eingemottet im Schrank hing.
Zu dieser neuen Soiree waren beinahe dieselben Leute erschienen, diesmal nicht eingeladen, sondern vorgeladen. Aus begreiflichen Gründen fehlte Arkadi Poggio, ihn ersetzten der stellvertretende Staatsanwalt und der Polizeimeister. Außerdem war im Gegensatz zum Vortag von Anfang an die Fürstin Naina Telianowa anwesend, die eine offizielle Benachrichtigung bekommen hatte und pünktlich um neun eingetroffen war, obwohl Lagrange befürchtet hatte, sie unter Bewachung herschaffen zu müssen.
Die Verursacherin des Unglücks (die meisten Anwesenden hielten sie dafür) stellte mit ihrer Ankunft die Hausfrau sofort in den Schatten. Sie war heute noch schöner als sonst. Das lila Trauerkleid stand ihr vorzüglich, die langen schwarzen Handschuhe betonten die Schlankheit ihrer Arme, und die samtigen Augen verströmten ein besonderes, geheimnisvolles Licht. Ihr war nicht die geringste Verlegenheit anzumerken, im Gegenteil, sie benahm sich wie die Königin, um derentwillen dieser Leichenschmaus veranstaltet wurde.
Der Hauptverdächtige war still, schweigsam und völlig verändert. Polina Lissizyna bemerkte verwundert, dass sein Gesicht heute besänftigt und sogar zufrieden aussah.
Dafür sträubte Fürst Pjotr Telianow sozusagen alle Stacheln wie ein Igel, ließ ständig Sottisen gegen die Vertreter der Macht los, empörte sich lautstark über das schändliche Spektakel und wandte sich demonstrativ von seiner Schwester ab, um zu zeigen, dass er mit ihr nichts zu tun haben wollte.
Von den übrigen Teilnehmern fiel Krasnow auf, der unentwegt schluchzte und sich in ein gewaltiges Tuch schnäuzte. Zu Beginn des Abends hatte er den Wunsch geäußert, eine Ode zum Gedächtnis des Toten vorzutragen, konnte aber nur zwei Strophen zu Gehör bringen, da Berditschewski die Deklamation wegen Unangebrachtheit unterband. Die Strophen gingen so:
Starb in der Blüte seiner Jahre,
Magier der Linse und des Lichts.
Des Schicksals Schwert, es blitzte blutig,
Gehorsam dem Befehl des Henkers.
Und Gottes lebensvolle Flamme,
Sie leuchtet nun niemandem mehr,
Und voll Entsetzen sank die Erde
In allertiefste Finsternis.
Bubenzow kam wieder als Letzter und wieder ohne Entschuldigung – wie denn auch, Lagrange erging sich in wortreichen Rechtfertigungen und bat um Verzeihung, dass er einen so beschäftigten Menschen von seinen staatswichtigen Aufgaben abhielt.
»Nicht doch, Sie tun nur Ihre Pflicht«, warf Bubenzow gelangweilt hin, ließ sich von seinem Sekretär einen Aktendeckel geben und nahm in einem Sessel Platz. »Ich hoffe nur, dass es nicht lange dauert.«
»Noch gestrigen Tags sprach er mit euch, und plötzlich kam ihm die schreckliche Todesstunde. Denn wir alle werden verschwinden, werden sterben, Kaiser gleichwie Fürsten, Reiche gleichwie Arme, das ganze Menschengeschlecht«, sprach Tichon Selig gefühlvoll, und nach diesen traurigen Worten begann eigentlich das Experiment.
Lagrange packte den Stier bei den Hörnern.
»Meine Damen und Herren, ich darf Sie in den Salon bitten«, sagte er und öffnete die Tür zum Nebenzimmer.
Genau wie am Abend zuvor begaben sich die Gäste in den Ausstellungsraum. Allerdings hingen da heute keine Bilder, nur die Papierstreifen mit den Titeln der unwiederbringlich verlorenen Kunstwerke waren geblieben.
Lagrange zeigte auf den Titel »An der Meeresbucht«.
»Ich hoffe, Sie alle erinnern sich an die drei Photographien einer entblößten Frau, die hier, hier und hier gehangen haben«, begann er und stieß den Zeigefinger dreimal gegen die leere Tapete.
Die Antwort war Schweigen.
»Ich weiß, das Gesicht des Modells war auf keinem der Bilder vollständig zu sehen, aber ich wünsche, dass Sie mit vereinten Bemühungen versuchen, einige Züge zu rekonstruieren. Es wäre für die Untersuchung enorm wichtig, diese Frau zu identifizieren. Aber vielleicht kennt sie einer der Anwesenden?«
Der Polizeimeister starrte die Fürstin Telianowa an, doch die bemerkte den prüfenden Blick gar nicht, denn sie guckte nicht auf den Sprecher, sondern auf Bubenzow. Der aber stand abseits und studierte konzentriert ein Papier.
»Nun gut«, sagte Lagrange drohend. »Dann gehen wir den langsamen und taktlosen Weg. Wir rekonstruieren das Aussehen des Modells in Teilen, und zwar in den Teilen, die gewöhnlich unter der Kleidung verborgen sind, denn über das Gesicht werden wir kaum viel erfahren. Trotzdem, beginnen wir mit dem Kopf. Welche Farbe hatten die Haare der Person?«
»Sie waren hell, mit einem goldenen Schimmer«, sagte die Gattin des Adelsmarschalls. »Sehr dicht und ein wenig gelockt.«
»Ausgezeichnet.« Der Polizeimeister nickte. »Ich danke Ihnen, Jewgenia Anatoljewna. Ungefähr so?« Er zeigte auf die Löckchen, die unter Naina Telianowas Hut hervorschauten.
»Sehr gut möglich«, lispelte die Gräfin errötend.
»Und der Hals? Was ist zu dem zu sagen?«, fragte Lagrange und seufzte mit der Miene eines Menschen, dessen Geduld zu Ende geht. »Danach reden wir eingehend über die Schultern, den Rücken, die Büste, den Bauch, die Beine. Und die sonstigen Teile der Figur, einschließlich der Hüften und Pobacken, ohne die geht es nicht.«
Lagranges Stimme wurde drohend, und das peinliche Wort Pobacken sprach er singend, mit besonderem Nachdruck.
»Aber vielleicht brauchen wir das alles gar nicht?«, wandte er sich unverblümt an die Fürstin Telianowa.
Die lächelte ruhig, sie genoss sichtlich die auf sie gerichteten Blicke und die allgemeine Verlegenheit. Sie zeigte nicht das geringste Anzeichen der Schamhaftigkeit, die sie am Vorabend fast zum Weinen gebracht hätte.
»Nun, mal angenommen, Sie fragen als Nächstes nach der Brust und den Pobacken«, sagte sie achselzuckend. »Und weiter? Wollen Sie alle Frauen des Gouvernements nackend ausziehen, um sie zu identifizieren?«
»Wieso denn alle?«, zischte Lagrange. »Nur die Verdächtigen. Und das Ausziehen brauchen wir nicht, wozu solch ein Skandal? Es wird genügen, ein paar besondere Merkmale zu vergleichen. Ich führe ja diese Befragung aus formalen Gründen und zur nachfolgenden Protokollierung durch, dabei habe ich schon mit etlichen der Anwesenden gesprochen und weiß, dass die uns interessierende Person auf der rechten Pobacke zwei auffällige Muttermale und unterhalb der Brüste einen hellen Pigmentfleck von der Größe einer Halbrubelmünze hat. Sie ahnen ja nicht, Fürstin, wie aufmerksam ein Männerauge solche Einzelheiten wahrnimmt.«
Das war auch für die unbeugsame Naina zu viel, sie lief puterrot an und wusste nichts zu sagen.
Da kam ihr Frau Lissizyna zu Hilfe.
»Ach, meine Herren, warum reden wir immer nur von denselben Photographien!«, zwitscherte sie, bemüht, von dem anstößigen Thema abzulenken. »Hier waren doch so viele wunderbare Landschaften! Dort zum Beispiel hing eine fabelhafte Arbeit, die mich sehr beeindruckt hat. Erinnern Sie sich? Sie hieß ›Ein regnerischer Morgen‹. So etwas Expressives, so ein Spiel von Licht und Schatten!«
Berditschewski warf der Dame, die sich so unpassend eingemischt hatte, einen missvergnügten Blick zu, und Lagrange zog gar drohend die Brauen zusammen und schien die Zwitscherin zur Ordnung rufen zu wollen, aber dafür war Naina Telianowa über den Themenwechsel sichtlich erfreut.
»Aber ja, über dieses interessante Bild hätten wir reden sollen!«, rief sie und lachte böse, schien auf etwas anzuspielen. »Ich habe es gestern genau betrachtet, jedoch nicht weil es so expressiv war. Meine liebwerte Dame, das Bemerkenswerteste daran war durchaus nicht das Spiel von Licht und Schatten, sondern ein interessantes Detail . . .«
»Aufhören!«, brüllte Lagrange, er verfärbte sich dunkelrot. »Es wird Ihnen nicht gelingen, mich in die Irre zu führen! All das Herumgerede bringt nichts, wir verschwenden nur Zeit.«
»So ist es«, sprach Selig. »Es steht geschrieben: Die Seligen halten sich die Ohren zu, auf dass sie das Ungute nicht hören. Und es steht geschrieben: Bist du unter Unvernünftigen, so hüte deine Zeit.«
»Ja, Lagrange, Sie verschwenden wirklich Zeit«, sagte plötzlich Bubenzow und blickte von seinem Papier auf. »Ich weiß nicht, was ich zuerst machen soll, und Sie veranstalten hier solch ein Melodram. Sie haben mir doch vorhin gemeldet, Sie hätten einen sicheren Beweis. Legen Sie ihn vor, und fertig.«
Nach diesen Worten warf Berditschewski, der weder von einem sicheren Beweis noch von Lagranges Absprache mit Bubenzow Kenntnis hatte, dem Polizeimeister einen wütenden Blick zu. Der wurde verlegen und wusste nicht, vor wem er sich in erster Linie rechtfertigen sollte.
»Meine Herren«, sagte er, »ich wollte vor allem anschaulich die Logik des Verbrechens aufzeigen. Und aus Barmherzigkeit dem Täter die Chance geben, ein Geständnis abzulegen. Ich dachte, wir stellen jetzt fest, dass die Photographien die Fürstin Telianowa abbilden, dann braust Schirjajew auf, tritt für sie ein und gesteht. . .«
Alle ächzten auf und wichen vor Schirjajew zurück. Er stand wie festgewachsen, bewegte nur den Kopf nach rechts und links.
»So?«, bedrängte Berditschewski den Polizeimeister. »Sie haben also einen sicheren Beweis gegen Schirjajew?«
»Matwej Benzionowitsch, ich habe noch nicht melden können«, stammelte Lagrange, »das heißt, es ging mir um den Effekt, Entschuldigung.«
»Was soll denn das? Reden Sie zur Sache!«, fuhr Berditschewski ihn an.
Lagrange wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Was soll ich reden, der Fall ist klar. Schirjajew ist in die Fürstin Telianowa verliebt und hat davon geträumt, sie zu heiraten. Da aber erscheint der Herzensbrecher Poggio aus der Hauptstadt. Er verdreht ihr den Kopf, verführt sie. Es ist ganz klar, dass sie es war, die ihm für die Nacktaufnahmen posierte. Schirjajew hat schon seit einiger Zeit von Poggios Beziehungen zu der Fürstin gewusst oder es zumindest geahnt, aber sich etwas vorzustellen ist etwas anderes als ein anschaulicher Beweis, noch dazu so skandalöser Art. Die Beweggründe für Poggios unanständige Handlungsweise will ich nicht beurteilen, denn sie haben mit dem hier zu untersuchenden Verbrechen nicht unmittelbar zu tun. Gestern hat sich Schirjajew vor aller Augen mit den Fäusten auf den Beleidiger gestürzt und würde ihn wohl gleich hier totgeschlagen haben, wenn man ihn nicht weggezogen hätte. Darauf hat er die Nacht abgewartet, ist in die Wohnung eingedrungen und hat die Sache zu Ende geführt. Und aus noch ungestillter Rachsucht sämtliche Schaffensfrüchte seines Feindes zerstört, auch den Apparat, mit dessen Hilfe Poggio ihm, Schirjajew, die schwere Beleidigung zufügte.«
»Aber all das haben wir doch schon besprochen«, sagte Berditschewski unzufrieden. »Diese Version ist wahrscheinlich, beruht jedoch nur auf Mutmaßungen. Wo bleibt der ›sichere Beweis‹?«
»Matwej Benzionowitsch, ich hatte Ihnen versprochen, die Alibis aller Hauptverdächtigen zu überprüfen. Damit haben sich meine Agenten heute beschäftigt. Fürst Telianow hat sich gestern volllaufen lassen, er hat bis tief in die Nacht geweint und geschrien, und dann haben seine Diener ihm Bouillon zu trinken gegeben. Das ist ein Alibi. Herr Sytnikow ist von hier direkt in die Warschawskaja-Straße gefahren, in das Etablissement der Madame Gruber, und war dort bis zum Morgen in Gesellschaft einer gewissen Semfira, die laut Pass Matrjona Sitschkina heißt. Das ist auch ein Alibi.«
»Sieh mal an, der Altgläubige«, sagte Bubenzow und stieß einen Pfiff aus. »Ich möchte wetten, dass Semfira Sitschkina eine gewisse Ähnlichkeit mit Naina Telianowa hat, nach der sich Seine Ehren seit langem die Finger leckt.«
Sytnikow, bestürzt über diese Wendung, schwieg, aber er warf Bubenzow einen Blick zu, aus dem klar wurde: Der scharfsinnige Psychologe hatte sich nicht geirrt.
»Nun, und was Herrn Schirjajew betrifft«, spielte der Polizeimeister seinen Trumpf aus, »so hat er kein Alibi. Mehr noch, es wurde glaubhaft festgestellt, dass er zur Nacht nicht nach Drosdowka zurückkehrte, in keinem Hotel der Stadt übernachtete und auch keinen seiner hiesigen Bekannten aufsuchte. Gestatten Sie also die Frage«, wandte er sich schroff an Schirjajew, »wo und wie haben Sie die letzte Nacht verbracht?«
Schirjajew senkte den Kopf und schwieg. Seine Brust hob sich schwer.
»Das ist der sichere Beweis, der einem Geständnis gleichkommt.«
Lagrange wies mit einer theatralischen Geste auf den überführten Verbrecher. Dann klatschte er dreimal laut in die Hände.
Herein kamen zwei Polizisten, die offensichtlich schon vorher informiert worden waren, denn sie traten sofort zu Schirjajew und nahmen ihn bei den Armen. Er zuckte mit dem ganzen Körper, sagte aber auch jetzt nichts.
»In die Verwaltung bringen«, gebot Lagrange. »In die Zelle für Adlige. Ich komme mit Herrn Berditschewski, ihn verhören.«
Schirjajew wurde zum Ausgang geführt. Er blickte immer wieder zurück zu der Fürstin, und sie sah ihn mit einem sonderbaren Lächeln an, ungewohnt sanft und beinahe zärtlich. Zwischen ihnen war kein Wort gewechselt worden.
»Sie sehen«, sagte Lagrange bescheiden, vor allem an Bubenzow und Berditschewski gewandt, »die Untersuchung hat wirklich nicht lange gedauert. Meine Damen und Herren, ich danke allen für die Mithilfe und bitte um Entschuldigung, falls ich Ihnen unangenehme Momente bereitet habe.«
Diese zurückhaltenden und vornehmen Worte waren so erhaben gesprochen, wie es der Moment erforderte, und als jetzt Naina Telianowa das Wort nahm, glaubten zunächst alle, dass sie Lagrange meinte.
»Das ist ein edler Mann, nicht wie die anderen«, sagte sie nachdenklich, wie für sich, doch dann hob sie die Stimme: »Schade, meine Herren Gesetzeshüter, Sie werden Stepan Trofimowitsch freilassen müssen. Ich wollte ihn prüfen – ob er es sagt oder nicht. Denken Sie nur, er hat es nicht gesagt! Ich bin sicher, er würde eher in die Zwangsarbeit gehen, als es preiszugeben. Stepan Trofimowitsch hat keinen Mord begangen, denn er war die ganze letzte Nacht bei mir. Wenn meine Aussage Ihnen nicht genügt, können Sie ja das Zimmermädchen fragen. Als er gestern mit den Fäusten für meine Ehre eintrat, hat es mir innerlich einen Ruck gegeben . . . Aber das geht Sie nichts an. Warum klappern Sie mit den Augen?«
Sie lachte sehr unangenehm und warf Bubenzow einen seltsamen Blick zu, herausfordernd und zugleich flehend. Der lächelte schweigend, wie in Erwartung weiterer Geständnisse. Als klar wurde, dass alles gesagt, das Untersuchungsexperiment fehlgeschlagen war und Lagrange, völlig bestürzt, die Sprache verloren zu haben schien, fragte Bubenzow spöttisch die Vertreter der Macht:
»Na, ist das Konzert beendet? Können wir gehen? Unterleibchen, bring mir den Havelock.«
Der Sekretär schlüpfte sogleich hinaus, kam wieder herein und reichte seinem Gebieter den leichten Samthavelock und die Schirmmütze.
»Habe die Ehre.« Bubenzow verbeugte sich sardonisch und begab sich zum Ausgang.
Von hinten sah er in seinem eleganten Aufputz genauso aus wie der geckenhafte Gardist, der er vor kurzem noch gewesen war.
»Derselbe Havelock«, sagte Naina Telianowa laut. »Dieselbe Schirmmütze. Wie sie im Mondlicht geblinkt hat. . .«
Es war nicht zu erkennen, ob das Fräulein die untröstliche Ophelia spielte oder ob sie wirklich den Verstand verloren hatte und wirr redete.
»Wir verlassen euren fauligen Sumpf. Vielleicht heiraten wir, und ich bekomme sogar Kinder. Dann wird mir alles verziehen«, fuhr die Fürstin mit ihrem Unsinn fort. »Aber zuerst müssen die Schulden beglichen werden, damit alles gerecht zugeht. Nicht wahr, Wladimir Lwowitsch?«
Bubenzow, der schon in der Tür stand, drehte sich fröhlich verständnislos zu ihr um.
Da schritt die Fürstin Telianowa majestätisch an ihm vorüber, wobei sie ihn mit der Schulter streifte, und verschwand im Vorzimmer. Offenbar hatte sie doch gelernt, gemessen von der Bühne abzugehen.
»Ein eisernes Fräulein«, sagte Sytnikow begeistert. »Ich weiß ja nicht, um wessen Schulden es geht, aber an dessen Stelle möchte ich nicht sein.«
»Tja«, brummte Berditschewski. »Und Schirjajew werden wir freilassen müssen, Felix Stanislawowitsch.«
Der Polizeimeister murmelte:
»Das ist nicht gesagt. Verhören werden wir ihn unbedingt, auch die Fürstin und das Zimmermädchen. Eine verbrecherische Absprache ist denkbar. Von einer so hysterischen und unanständigen Person kann man auf alle möglichen Exzesse gefasst sein.«
Aber ihm hörte niemand mehr zu. Die Teilnehmer des Experiments waren einer nach dem anderen gegangen.
Polina Lissizyna kehrte voller Sorgen in ihre Wohnung bei der Obristenwitwe zurück. Die ehrenwerte Antonina Iwanowna hatte sich gleich nach dem Abendessen zur Ruhe begeben und lag zu dieser späten Stunde schon in süßen Träumen, und Polina war froh, nicht mit Gesprächen und Befragungen behelligt zu werden.
In ihrem Zimmer zog sie sich rasch aus, legte dann aber kein Nachtgewand an, wie zu erwarten, sondern entnahm ihrer Reisetasche die schwarze Kutte und verwandelte sich blitzgeschwind in die demütige Schwester Pelagia. Auf leisen Sohlen durchquerte sie den Korridor und schlüpfte durch die Küche hinaus auf die Straße.
Die winddurchwehte Neumondnacht nahm die Klosterschwester willig in ihre schwarze Umarmung, und Pelagia huschte, ein kaum erkennbarer Schatten, an den schlafenden Häusern entlang.
Vom Standpunkt Pelagias war das »Untersuchungsexperiment« des Polizeimeisters sehr nützlich gewesen, so nützlich, dass es dringend notwendig geworden war, unter vier Augen mit Naina Telianowa zu reden, jetzt gleich, ohne den nächsten Tag abzuwarten. Die rätselhafte Photographie mit dem Titel »Ein regnerischer Morgen« war Polina Lissizynas Gedächtnis gänzlich entschwunden, und doch gab ihr Gespür ihr ein, dass genau dort der Schlüssel zu der hässlichen Geschichte zu finden sein konnte. Natürlich wäre es einfacher gewesen, gleich nach dem Untersuchungsexperiment in der Maske der Madame Lissizyna direkt die Fürstin aufzusuchen, aber anständige Damen fuhren nicht allein durch die nächtliche Stadt und gingen erst recht nicht zu Fuß, das wäre zu auffällig gewesen, doch auf die bescheidene Nonne achtete niemand.
Sie hatte ein ganzes Stück zu gehen, bis zum Flussufer, wo das alte Haus stand, das die Fürstin Telianowa geerbt hatte. Mitternacht rückte näher. Um diese Zeit schliefen in Sawolshsk nur die Verliebten nicht – und die Wachposten (die schliefen übrigens auch, wenngleich in ihrem Schilderhaus), darum begegnete der Nonne unterwegs keine Menschenseele.
Einen seltsamen Anblick bietet unsere friedliche Stadt in einer trüben Herbstnacht. Es ist, als wäre die ganze Einwohnerschaft auf den Wink einer geheimnisvollen Kraft in weite Fernen entschwunden, und geblieben wären nur die dunklen Häuser mit den schwarzen Fenstern, die niederbrennenden Laternen und die sinnlosen Glockentürme mit den verwaisten Kreuzen. Und wenn einen schlaflosen Menschen aus Nervenschwäche der Grusel überkommt, kann er leicht auf die Vorstellung verfallen, dass in der Nacht in Sawolshsk die Macht gewechselt hat und bis zum Morgen, der Sonne und Licht zurückbringt, hier die Kräfte der Finsternis regieren, von denen jedwede Niedertracht und Schlechtigkeit zu erwarten ist.
Scheußlich war es in der Stadt. Menschenleer, ohne Leben, unheildrohend.
Als Pelagia in die Warrawkin-Gasse einbog, die zum Hause der Fürstin führte, zuckte über den Himmel ein lautloses – und dadurch noch erschreckenderes – blendend grelles Wetterleuchten, und danach erschien die Dunkelheit so dicht, dass die Nonne unwillkürlich stehen blieb, da sie die Umrisse der Häuser nicht mehr erkennen konnte. Als sie sich ein wenig gewöhnt hatte, machte sie ein paar Schritte, und abermals ein weißes Aufflammen, und abermals musste sie die Augen zukneifen und warten. Und jetzt drang aus weiter Ferne ein langsam grollender Donner.
Und so ging es weiter: ein, zwei Dutzend Schritte durch die tiefe Finsternis, dann das satanische Aufzucken des grellen Lichts und wieder die Schwärze, angefüllt mit dem dumpfen Brüllen des auf die Stadt zurasenden Sturms.
Das Haus zu finden war nicht schwer. Der nächste Blitz entriss der Dunkelheit die kleine Villa mit dem toten, zugenagelten Obergeschoss, den hölzernen Zaun und dahinter das windgezauste Laub der Bäume. Wenn das Donnergrollen verstummte, war zu hören, wie irgendwo hinter dem Haus und den Bäumen der aufgewühlte Fluss ungebärdig rauschte. Hier ragte das Ufer besonders steil auf, und das Flussbett verengte sich auf sechshundert Meter, so dass selbst an ganz ruhigen Tagen der eingeschnürte Strom stürmisch und ärgerlich an der Steilküste vorbeisauste; bei schlechtem Wetter aber tobte und schäumte der Fluss dermaßen, dass er, gleichsam erzürnt über die ihn einzwängende Stadt, das verhasste Ufer zu unterspülen und die Stadt in sein gischtendes Wasser zu reißen trachtete.
Der Garten hinter dem Haus mündete in einen Birkenhain, in dem sich an schönen Abenden die Sawolshsker gern ergingen – der Blick von dort auf die Weite des Flusses war gar zu schön. Dieser Hain war zum Tode verurteilt, denn in einem, in zwei, höchstens in fünf Jahren würde der Fluss das Ufer so weit ausgewaschen haben, dass er das Wäldchen entwurzeln und stromab tragen würde bis ins Kaspische Meer, vielleicht noch weiter. Eine Welle würde einen voll gesogenen und salzgetränkten Birkenstamm ans ferne persische Gestade werfen, und dunkelhäutige Menschen würden sich versammeln, um das Wunder zu bestaunen. Eine der Birken hatte sich nach dem Frühjahrshochwasser bereits über den Fluss geneigt, sie hielt sich noch mit der letzten Wurzel am Ufer fest und schwebte über der Strömung, anzusehen wie ein weißer Zeigefinger. Die mutigeren Jungs schaukelten auf der Birke, und viele sagten, man müsse den Baum hinunterstoßen, bevor ein Unglück geschehe, aber das zu tun fand sich keiner.
Pelagia krümmte sich fröstelnd im Wind, sie stand ein Weilchen bei der Pforte und blickte auf die dunklen Fenster des Hauses. Sie würde die Fürstin Naina Telianowa zu wecken haben. Das war gewiss peinlich, doch es musste sein.
Die Pforte öffnete sich krächzend, die Stufen der alten Vortreppe knarrten mehrstimmig wie die Tasten eines ausgetrockneten Klaviers. Die Nonne horchte, ob von innen etwas zu hören war. Stille. Wenn nun niemand zu Hause war?
Entschlossen betätigte sie den Messingklopfer, der das Glöckchen ersetzte. Und horchte wieder.
Doch, es war jemand da – sie hörte eine Stimme, oder quietschte eine Türangel?
»Machen Sie auf!«, schrie die Nonne. »Ich bin’s, Schwester Pelagia vom Klosterhof!«
War sie gehört worden? Kein Laut.
Sie rüttelte an der Tür, die war verriegelt. Also war jemand zu Hause, schlief jedoch und hörte nicht. Oder hörte doch, wollte aber niemanden einlassen?
Pelagia klopfte weiter, um zu zeigen, dass sie nicht unverrichteter Dinge gehen würde. Der Messingbügel schlug so laut, dass die Hausfrau oder das Zimmermädchen auf-wachen musste.
Und wieder kam aus der Tiefe des Hauses, schon deutlicher, eine leise, irgendwie rufende Stimme. Jemand schien ein paar Töne zu singen und wieder zu verstummen.
Das war sehr sonderbar.
Pelagia stieg die Vortreppe hinunter und blickte zu den Fenstern. Wie zu erwarten, waren sie angelehnt, der Abend vor dem Gewitter war schwül gewesen. Die Nonne raffte ihr Gewand fast bis zum Gürtel, stieg auf einen Vorsprung, hielt sich am Fensterbrett fest und stieß das Fenster auf.
Aber sie konnte nichts sehen, drinnen war es stockfinster.
»Hallo!«, rief Pelagia furchtsam. »Ist jemand da? Naina Georgijewna, sind Sie da? Naina Georgijewna!«
Keine Antwort, nur der Fußboden knarrte leise – da ging jemand, oder das Haus seufzte.
Die Schwester bekreuzigte sich, und in diesem Moment entlud sich der Himmel in einem gleißenden Blitz, und das Zimmer war so hell beleuchtet wie an einem sonnigen Mittag. Das dauerte nur eine Sekunde, aber es genügte Pelagia, um einen kleinen Salon zu erkennen und mittendrin auf dem Fußboden etwas Weißes, Längliches.
»Heilige Mutter Gottes, erbarme dich«, murmelte Pelagia und stieg über das Fensterbrett.
Von wegen »eisernes Fräulein«! Sie war nach Hause gekommen und – in Ohnmacht gefallen. Kein Wunder nach den Erschütterungen. Aber wo war das Zimmermädchen?
Pelagia hockte sich hin, tastete mit den Händen, berührte etwas Warmes. Das dünne Gewebe eines Hemdes, eine weiche Brust, ein Gesicht. Pelagia entnahm ihrer Gürteltasche Phosphorzündhölzer und riss eines an.
Es war nicht Naina Telianowa, sondern ein unbekanntes rundgesichtiges Mädchen – barhäuptig, im Nachthemd, ein Tuch über die Schultern geworfen. Wahrscheinlich das Zimmermädchen. Die Augen waren geschlossen, der Mund stand etwas offen. Die Haare sahen seltsam aus, an den Enden hell, doch oben, über der Stirn, schwarz und glänzend. Pelagia fasste hin – und zog die Hand mit einem Schrei zurück. Nass. Ihre Finger sahen nun auch schwarz aus. Blut!
Das Zündholz erlosch, und Pelagia wich auf allen vieren zurück zum Fenster. Die Brille fiel leise klirrend zu Boden, aber nach ihr suchen mochte sie nicht.
Aus dem Fenster klettern und Hals über Kopf weglaufen von diesem schrecklichen schweigsamen Haus!
Aber da war wieder der Laut von vorhin – die leise, gleichsam rufende Stimme. Nur war jetzt zu hören, dass es kein Rufen und kein Singen war, sondern ein schwaches Stöhnen. Es kam aus dem dunklen Innern des Hauses, und da konnte sie nicht davonlaufen.
Mit stockendem Herzen richtete sich Pelagia auf, zeichnete ein winziges Kreuz über ihre linke Brusthälfte und betete in Gedanken zu ihrer Schutzpatronin, der heiligen Pelagia, die sie nur in äußerster Not anzurufen pflegte:
»Bitte Gott für mich, heilige Gottesdienerin Pelagia, an die ich mich voll Inbrunst wende, hilf mir und bete für meine Seele . . .«
Und da half ihr die Gottesdienerin, die schöne Römerin, die verbrannt worden war. Ein schwaches Wetterleuchten erhellte für einen Moment die Finsternis, und Pelagia erblickte auf dem Fensterbrett einen Messingleuchter mit einer Kerze. Das war ein gutes Zeichen, es kräftigte ihre Seele.
Das erste Zündholz zerbrach in ihren zitternden Fingern, das zweite auch, erst das dritte setzte die Kerze in Brand, und die Nonne konnte jetzt Umschau halten.
Das Erste, was ihr ins Auge fiel, war ein deutlicher Stiefelabdruck auf dem Fensterbrett mit der Spitze nach innen. Pelagia wandte dem Fenster den Rücken zu und hob die Hand mit dem Leuchter höher. Jetzt war zu sehen, dass der Kopf des Zimmermädchens in einer dunklen Lache lag. Die verlorene Brille blinkte. Pelagia hob sie auf, fand das linke Glas gesprungen, hatte aber keine Zeit, sich zu ärgern.
Folgendes Bild zeichnete sich ab. In der Nacht, als im Hause schon alles schlief, war jemand durchs Fenster eingestiegen und hatte wohl Lärm gemacht. Das Zimmermädchen war nachsehen gekommen, und der Eindringling hatte sie mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf geschlagen.
Pelagia hockte sich hin und berührte mit dem Finger die Schläfe, um die Ader zu fühlen. Doch die pulsierte nicht, das Mädchen war tot. Die Nonne murmelte ein Gebet, aber ohne Inbrunst, sie horchte.
Wieder das Stöhnen. Ganz nah, vielleicht zehn Schritte.
Sie machte einen Schritt, einen zweiten, einen dritten, bereit, beim ersten Anzeichen einer Gefahr die Kerze hinzuwerfen und zurückzustürzen zum offenen Fenster.
Vor ihr war eine dunkle Türöffnung.
Der Korridor?
Pelagia machte noch einen Schritt und erblickte Naina Telianowa.
Die Fürstin lag im Korridor auf dem Fußboden, gleich neben dem Salon.
Sie trug ein leichtes Neglige und ein Spitzenhäubchen. Ein bestickter Samtpantoffel lag abseits. Weiter hinten war eine Tür zu erkennen, die wohl ins Schlafzimmer führte. Aber Pelagia hatte keine Zeit, sich umzusehen, denn Nainas Häubchen war von Blut durchtränkt, die großen Augen der Herzensbrecherin blickten starr nach oben, darin spiegelten sich zwei Lichtpünktchen. Und dann sah die Schwester noch einen großen Stein, der auf dem Fußboden lag. Unwillkürlich dachte sie an den toten Sakussai unter dem Bäumchen und bekreuzigte sich.
Naina Telianowa lebte noch, aber es ging mit ihr zu Ende, das begriff die Nonne sofort, als sie mit den Fingern den scharfen Rand der eingeschlagenen Schädeldecke berührte. Einst während ihrer Novizenzeit hatte Pelagia im Klosterspital gearbeitet, so dass sie einige medizinische Erfahrung besaß.
Die langen Wimpern zuckten, der Blick der Sterbenden richtete sich langsam, gleichsam widerwillig auf die Nonne.
»Ah, Schwester Pelagia«, sagte die Fürstin kein bisschen verwundert, sie schien sich sogar zu freuen.
Deutlich, etwas gedehnt sprechend (wie es bei Schädelverletzungen zu sein pflegt), teilte sie mit:
»Ich sterbe jetzt.« Sprach’s und schien sich ein wenig über ihre Worte zu wundern. »Ich spüre es. Aber ich habe keine Angst. Tut auch nicht weh.«
»Ich lauf los und hol Hilfe«, sagte Pelagia schluchzend.
»Nicht nötig, es ist zu Ende. Ich mag nicht wieder allein sein im Dunkeln.«
»Wer hat das getan?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Da war Lärm. Ich habe gerufen, Dunjascha war still. Ich wollte nachsehen – ein Schlag. Dann nichts mehr. Später habe ich aus weiter Ferne eine Frauenstimme gehört, die rief: ›Naina Georgijewna!‹ Niemand da. Dunkel. Ich dachte: Wo bin ich, was ist mit mir . . .« Ihre Mundwinkel zuckten, sie wollte wohl lächeln. »Es ist gut, dass ich sterbe. Das Beste, was passieren kann. Und dass Sie hier sind, ist ein Zeichen, ein Gotteswunder. ER vergibt mir. Ich bin schuldig vor ihm. Ich schaff’s nicht mehr, alles zu erzählen, es verschwimmt. Vergeben Sie mir einfach meine Sünden. Dass Sie kein Priester sind, macht nichts, Sie sind eine geistliche Person.«
Pelagia, mit den Zähnen klappernd, sprach die vorgeschriebenen Worte:
»Gleichwie die Regentropfen im Sommer, so schwinden mählich meine schlimmen und niederen Tage, errette mich, Mutter Gottes . . .«
Naina Telianowa sagte: »Erbarme dich, erbarme dich . . .«, aber immer leiser. Ihre Kräfte ließen unerbittlich nach. Als die Nonne das Gebet beendet hatte, konnte die Fürstin nicht mehr sprechen und lächelte nur schwach.
Pelagia beugte sich über sie und fragte:
»Was war auf dem Photo? Mit dem regnerischen Morgen?«
Es schien, dass die Antwort ausbleiben würde. Aber nach einer Weile regten sich die blassen Lippen:
»Eine Espe . . .«
»Was für eine?«
»Eine le-ben-dige. Und eine Hacke.«
»Wer ist lebendig? Was für eine Hacke?«
Hinter Pelagia knarrte der Fußboden, nicht so leise wie vorhin, sondern sehr vernehmlich, wie unter einem schweren Fuß.
Pelagia fuhr herum und schrie auf. Aus dem dunklen Schlafzimmer erschien langsam, wie unwirklich, wie in einem Alptraum, eine schwarze Silhouette.
»Aah!«, schrie die Nonne und ließ die Kerze fallen, die sofort erlosch.
Das rettete ihr das Leben. In der tiefschwarzen Finsternis waren rasche Schritte zu hören, und über den Kopf der hingekauerten Nonne hinweg pfiff, ihre Stirn mit einem Luftzug streifend, etwas Schweres.
Die Nonne hastete gebückt in den Salon. Hier war es auch stockfinster, nur die drei grauen Rechtecke der Fenster zeichneten sich undeutlich ab. Von hinten hörte Pelagia einen keuchenden Atem und das Scharren von Schuhen auf dem gebohnerten Fußboden. Pelagia und ihr Verfolger konnten einander nicht sehen. Aus Furcht, sich durch ein Geräusch zu verraten, blieb sie reglos stehen und starrte in die Dunkelheit. Poch-poch-poch, hämmerte ihr armes Herz, und dieser Trommelwirbel – so schien es Pelagia – erfüllte den ganzen Salon.
Jemand bewegte sich in der Dunkelheit, kam aus dem Korridor näher. Die Finsternis pfiff: ssst! Und noch einmal, schon näher: ssst!
Pelagia begriff: Der Mann schlug mit einem Knüppel, oder was er da hatte, aufs Geratewohl zu. Sie musste weg. Also stürzte sie zu dem mittleren grauen Rechteck. Dabei warf sie einen Stuhl um, verwünschte ihr ewiges Ungeschick, hielt sich aber auf den Füßen. Dafür stolperte der Verfolger, der hinter ihr hertrampelte, über den Stuhl und polterte zu Boden. Ein anderer würde aufgeschrien oder geflucht haben, doch dieser gab keinen Laut von sich.
Pelagia stieg aufs Fensterbrett, blieb aber mit der Kutte an einem Vorsprung hängen. Sie zog aus Leibeskräften, doch das derbe Gewebe gab nicht nach. Eine kräftige Hand packte die Nonne von hinten am Kragen, und diese Berührung schien ihre Kräfte zu verzehnfachen. Sie zerrte mit aller Gewalt, und da riss die Kutte am Saum und am Kragen – und Gott der Herr errettete sie, sie sprang nach draußen. Ob sie sich wehgetan hatte, wusste sie nicht. Sie spähte nach rechts und links.
Rechts waren die Pforte und die Straße. Dorthin durfte sie nicht. Bis sie die Pforte geöffnet hatte, würde er sie einholen. Und selbst wenn es ihr gelang, die Straße zu erreichen, würde sie in der Kutte nicht entkommen.
Dieser Gedanke durchzuckte ihr Gehirn, und schon rannte sie nach links, hinter die Hausecke.
Von oben prasselte urplötzlich ein Sturzregen nieder, so dicht, dass Pelagia sich fast verschluckt hätte. Nun war überhaupt nichts mehr zu sehen. Sie lief durch den Garten, durch den Hain, die Hände vorgestreckt, um nicht gegen einen Stamm zu prallen.
In der Nähe schlug ein Blitz ein. Pelagia drehte sich im Laufen um und sah die weißen Stämme, die gläserne Wand des Regens und dahinter, zwanzig Schritte entfernt, etwas Schwarzes, Bewegliches.
Sie konnte nicht weiter. Noch ein Dutzend Schritte, dann gähnte der Abgrund. Pelagia sah ihn nicht, aber sie spürte seinen Hauch. Der Fluss war in dem ohrenbetäubend peitschenden Sturzregen nicht zu hören.
Vor ihr war der Abgrund, hinter ihr patschten Schritte durch die Pfützen, nicht mal sehr eilig, denn der Verfolger wusste genau, dass die Nonne nirgendshin mehr fliehen konnte, vielleicht fürchtete er auch, sie könnte sich unter einem Busch verstecken
Links war undeutlich etwas Weißes zu erkennen. Eine Art Finger zeigte nach vorn und ein wenig aufwärts, dahin, wo abends der erste Stern aufzuschimmern pflegte.
Die Birke! Die über dem Steilhang schwebte!
Pelagia lief zu dem sterbenden Baum, ließ sich auf alle viere nieder und kroch vorwärts, bemüht, nicht daran zu denken, dass es unter ihr vierzig Meter in die Tiefe ging. Sie erreichte die Baumkrone, umklammerte den Stamm, schmiegte sich mit der Wange an die rauhe Rinde. War sie vom Ufer aus zu sehen oder nicht?
Natürlich war sie zu sehen – schwarz auf weiß!
Pelagia setzte sich mit einem Ruck auf, ließ die Füße herunterhängen. Sie riss sich das schwarze Tuch ab, warf es weg. Sie zog die Kutte über den Kopf, aber die war schwer, voll gesaugt, wollte nicht in die Dunkelheit fliegen, klebte sich an ihre Ellbogen, an ihr Kinn. Als sie endlich nachgab, nahm sie aus Rache die Brille mit. Aber was nützte die Brille, wenn ohnehin nichts zu sehen war?
Pelagia drehte sich mit dem Gesicht zum Ufer und lehnte sich mit dem Rücken an einen dicken abgebrochenen Ast. Sie hatte nur noch das leinene Unterhemd an und zitterte am ganzen Leibe, aber nicht vor Kälte, sondern vor Entsetzen.
»Beschützerin, Beschützerin«, flüsterte die Nonne, und ihr fiel nicht ein, wie das Gebet an die Heilige Gottesmutter weiterging.
Der Regen überschwemmte ihr Gesicht, Wasserstrahlen peitschten den schräg ragenden Stamm, tief unten brüllte der Fluss, aber Pelagias angespanntes Gehör fing auch andere Geräusche auf.
Schläge von Holz gegen Holz. Schritte. Knacken von Zweigen.
Irgendwann hört das auf, sagte sich die Nonne. Das kann nicht ewig so weitergehen. Er wird dort noch eine Weile herumstreifen und dann gehen.
Aber die Zeit schien still zu stehen. Vielleicht ist dies das Weitende, kam es plötzlich der Nonne in den Sinn. Vielleicht hört alles auf: die Finsternis, die Sintflut, das herzzerreißende Entsetzen, die Schritte in der Dunkelheit – Schlimmeres war ohnehin nicht auszudenken.
Ach, ausgerechnet jetzt musste ein Blitz über den Himmel zucken. Dabei war das Gewitter schon weitergezogen zu den Wäldern jenseits des Flusses, und geblieben waren nur der Regen und der Wind.
Aber ein letztes Aufflackern erhellte den Birkenhain, und da sah Pelagia ganz in der Nähe, zwischen den nass glänzenden Büschen, eine schwarze Gestalt. Und noch schlimmer war, dass auch sie entdeckt war.
Die Schritte kamen näher. Die Birke schwankte – jemand hatte sich auf den Stamm gestellt.
Die Nonne rutschte, mit den Händen nachhelfend, auf den Hinterbacken immer weiter. Der Stamm knarrte, neigte sich. Jetzt überragte er den Abgrund nicht mehr schräg, sondern parallel zum Fluss.
»Gehen Sie weg«, rief Pelagia mit zitternder Stimme, denn sie konnte das Schweigen nicht länger ertragen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, ich habe Sie nicht gesehen. Sie haben also nichts zu befürchten. Laden Sie sich nicht noch eine Sünde auf die Seele, es reicht so schon. Sie kriegen mich sowieso nicht, dann stürzen wir zusammen ab.«
Der schwarze Schweiger schien selber erkannt zu haben, dass der Baum die doppelte Last nicht tragen würde.
Es blieb ein Weilchen still. Dann hörte Pelagia Geräu-sche, die sie nicht gleich zu deuten wusste. Es gluckerte, schmatzte, hämmerte. Die Birke wurde lebendig, sie schwankte, knarrte.
Er untergräbt die Wurzel, begriff Pelagia plötzlich. Und als sie es begriffen hatte, war ihre Angst verschwunden. Es erwies sich, dass Angst ein anderer Name für Hoffnung ist. Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, wird auch die Angst sinnlos.
Das Gebet fiel ihr wieder ein: »Beschützerin, barmherzige Mutter Gottes! Zu dir flehe ich Unglückliche, ich schlimme Sünderin, vernimm du mein Flehen und mein Seufzen . . .«
Bei den Worten »wie ein Schiff im Strudel versinke ich im Meer meiner Sünden« senkte sich der Birkenstamm immer stärker und warf die Nonne in den schwarzen und hallenden Raum.
Mit ausgebreiteten Armen flog sie frei und lautlos durch die Leere, hin zu dem Lärm, dem Gebrüll, dem Geplätscher.
». . . von nun an und in alle Ewigkeit. Amen.«
Der Fluss empfing sie unerwartet weich federnd. Pelagia spürte keine Nässe, denn sie war ohnehin völlig durchweicht, und dass sie nicht mehr in der Luft war, sondern unter Wasser, merkte sie an der Eingeengtheit und der verlangsamten Abwärtsbewegung.
Sie ruderte mit den Armen, stieß sich mit den Beinen ab und strebte nach oben. Aber das Wasser wollte sie nicht loslassen, sondern zog sie irgendwohin, wirbelte sie herum, und sie konnte nicht länger die Luft anhalten. Gleich, gleich öffne ich den Mund, und dann komme, was will, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte keine Kraft mehr und riss den Mund weit auf, bereit, den Fluss in ihre Lungen einzulassen, aber ihre Lippen saugten kein Wasser ein, sondern Luft und Spritzer, denn in diesem Moment war ihr Kopf aus gischtenden Wellen aufgetaucht.
Sie atmete gierig ein, noch mal und noch mal, vergaß das Ausatmen, hustete, da zog die Unterwasserströmung sie hinunter, und sie verschwand wieder unter Wasser.
Diesmal war das Auftauchen noch mühevoller, denn die schweren Schuhe wollten ihren Körper in die Senkrechte strecken, damit der Fluss es leichter hätte, sie auf den Grund zu ziehen. Pelagia krümmte sich zusammen und zog die Schuhe aus, da wurde der Kampf mit dem Wasser leichter. Sie strampelte in den einhüllenden Umarmungen der Strömung, stieß sich ab und glitt nach oben, nach oben.
Wieder schluckte sie Luft, der Fluss trug seine Beute durch die Dunkelheit, wirbelte sie wie zum Vergnügen herum, mal im Uhrzeigersinn, mal ihm entgegen. Ganz in ihrer Nähe, nicht mit der Hand zu erreichen, aber erkennbar, schwamm etwas Helles in derselben Richtung wie sie und ebenso schnell. Pelagia ahnte mehr, als sie sah: die Umrisse abgebrochener Äste, und sie begriff, das war ihre Birke, ihre Leidensgefährtin.
Die wenigen Meter zu dem Baum zu überwinden war gar nicht einfach. Der Fluss schien zu glauben, dass Pelagia mit ihm spielen wolle, und ging bereitwillig darauf ein. Wenn sie schon so nahe heran war, dass ihre Finger die glitschige Borke berührten, warf der Fluss den Baum leicht und fröhlich, wie einen Holzspan, zur Seite. Einmal trieb es ihn weit weg, und Pelagia verlor die rettende Silhouette aus dem Blick. Lange würde sie sich nicht mehr über Wasser halten können, zu oft wirbelte es sie herum, und von Zeit zu Zeit wurde sie von einer Welle überspült, so dass sie sich heftig verschluckte.
Als Pelagia sich schon mit dem Verschwinden des Baums abgefunden hatte, schwamm er von selbst aus der Dunkelheit heran und klopfte mit einem Zweig an ihren Hinterkopf.
Abgekämpft hielt sich Pelagia erst mal an einem Ast fest und genoss es, dass sie nicht mehr zu strampeln brauchte. Als sie wieder bei Puste war, erklomm sie den Stamm. Ein paarmal glitt sie ab, kratzte sich die Schulter auf, aber schließlich schaffte sie es doch und setzte sich rittlings auf die Birke.
Vor langer Zeit, in ihrem früheren Leben, war Pelagia eine gute Reiterin gewesen und war gern in aller Frühe über die Wiesen galoppiert, hatte so ihr Inneres betäubt. Etwas Ähnliches empfand sie auch jetzt, doch plötzlich wurde die Strömung ruhiger, Pelagia und der Fluss waren ein Ganzes, sie war ein Teil von ihm. Sie saß einfach auf einer unbequemen Holzbank, die nirgends mehr hinjagte, sondern sich nur leicht auf der Stelle drehte.
Jetzt war nicht nur die Zeit entschwunden, sondern auch der Raum. Dafür kam die Kälte, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Sie spürte auch wieder den Sturzregen, schwere Tropfen prasselten ihr auf die Stirn und gegen die Wangen.
Ihre Zähne fingen an zu klappern, dann erzitterten die Schultern, und es wurde ganz schlimm, als sie kein Gefühl mehr in den Händen hatte. Wie es weitergehen würde, war leicht zu erraten: Die Finger würden sich öffnen und den Ast loslassen, dann würde sie in den Fluss stürzen und keine Kraft mehr haben, um gegen die Strömung zu kämpfen.
Genauso würde es kommen, nicht anders, denn einen anderen Ausweg konnte es nicht geben.
Ein Entschluss blieb ihr noch, aber der machte ihr Angst. Sie konnte selber ins Wasser springen und versuchen, ans Ufer zu gelangen. Aber wohin sollte sie schwimmen, nach rechts oder links? Sie war vom linken Steilufer in den Fluss gestürzt, und wie viel Zeit seitdem verstrichen war, wusste sie nicht. Es konnte sie durchaus zur Strommitte treiben, vielleicht gar ans rechte Ufer. Lange zu schwimmen vermochte sie nicht mehr. Wenn sie sich in der Richtung irrte, war Schluss, dann hatte die liebe Seele Ruhe.
Nun, wenn es so war, hatte Gott der Herr wohl beschlossen, seine Magd Pelagia zu sich zu rufen. Eine Nonne soll sich vor dem Tod nicht fürchten. Wenn der Sensenmann urplötzlich um die Ecke gesprungen kommt und einem seinen heißen stinkenden Atem ins Gesicht bläst, dann ist Erschrecken verzeihlich. Wenn man aber Zeit hat, sich bereit zu machen und Mut zu fassen, ist die Furcht vor dem Tode dumm und sündhaft.
Entschlossen ließ sich die Schwester links vom Stamm ins Wasser gleiten und stieß sich mit den Füßen kräftig von ihm ab. Die Strömung war hier nicht mehr gar so wild, die Einengung war vorbei, und der Fluss hatte die Ebene gewonnen. Bei völliger Dunkelheit ins Ungewisse zu schwimmen war unheimlich, und Pelagia wusste schon bald nicht mehr, ob sie noch die Richtung hielt. Arme und Beine taten rhythmisch ihre Arbeit, aber das lange Hemd, das ihr an den Knien klebte, behinderte sie sehr. Ob sie es abwarf? Pelagia malte sich aus, wie der Fluss ihre Leiche an Land spülte: nackt, mit aufgelösten Haaren. Also nein, wenn schon ertrinken, dann im Hemd.
Und das Ertrinken war offenbar unvermeidlich. Die Hände gehorchten ihr kaum noch, und das Ufer war noch immer nicht in Sicht. Vergib mir, Herr, dachte Pelagia müde. Ich habe getan, was ich vermochte. Sie drehte sich auf den Rücken und überließ sich dem Willen der Strömung. Schade nur, dass der Himmel nicht zu sehen war – gern hätte sie ein letztes Mal einen Stern geschaut, doch nein.
Als sie mit Kopf und Schultern an etwas Unnachgiebiges stieß, begriff sie nicht sofort, dass es Sand war.
Das Ufer war nicht zu sehen, aber Pelagia konnte es mit den Händen berühren.
Das tat sie denn auch: ließ sich auf die Knie nieder und streichelte mit beiden Händen den kalten, durchweichten Sand. Nachdem sie für ihre wunderbare Rettung ein Dankgebet gesprochen hatte, wrang sie ihr Hemd aus, setzte sich hin und umgriff ihre Schultern. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wohin sie gehen musste. Es regnete noch eine Zeit lang und hörte dann auf. Pelagia wrang wieder ihr Hemd aus; um warm zu werden, hüpfte sie mal auf dem einen Fuß, mal auf dem anderen. Dann saß sie ein Weilchen, hüpfte, saß wieder, hüpfte, und ihr Hemd, über einen angeschwemmten Baumknorren gebreitet, schimmerte trübweiß.
Als sie wieder umhersprang und sich schallend gegen die Hüften klatschte, bemerkte sie auf einmal, dass die Dunkelheit ausdünnte. Da war der Wasserrand, auf dem Sand lag eine tote Möwe, und wenn vor ihr alles zu einer Masse verschwamm, lag das nicht an der Nacht, sondern daran, dass über dem schmalen Streifen Sand das Steilufer aufragte. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie auch die obere Kante und den grauen Himmel darüber.
Pelagia hockte sich erschrocken hin. Wenn, Gott behüte, ein schlafloser Mensch in der Morgenfrische spazieren ging und herunterblickte, würde er ein schönes Bild sehen: Da sprang eine barhäuptige Hexe splitternackt herum und schwenkte die Arme. Schrecklich!
Sie zog das nasskalte Hemd über und dachte zum ersten Mal über ihre Lage nach. Erstens hatte die Strömung sie vielleicht irgendwo angetrieben, wo es keine menschliche Behausung gab. Und zweitens, wenn es eine gab, war es auch nicht einfach. Schickte es sich etwa für eine Nonne, in solchem Aufzug vor Menschen zu erscheinen?
Sie ging das Ufer entlang und entdeckte einen kaum erkennbaren Pfad, der nach oben führte. Der Aufstieg war steil, und die Füße traten immer wieder auf spitze Steine, darum blickte Pelagia nur nach unten, und als sie dann doch einmal den Kopf hob, um zu sehen, ob es noch weit war, ächzte sie auf. Oberhalb der Kante schimmerte weiß ein wunderliches Gebilde. Die Umrisse kamen ihr bekannt vor. Sie stieg noch etwas höher und blickte nur noch nach oben.
Eine Laube. Weiße Säulchen, Gitterwerk, ein rundes Dach. Es war die wohl bekannte Laube im Park von Drosdowka, von der aus man einen so schönen Blick auf den Fluss hatte.
Pelagia war sich nicht im Klaren, ob es gut oder schlecht war, dass die Strömung sie ausgerechnet nach Drosdowka getragen hatte. Natürlich waren Bekannte eher hilfsbereit als Fremde, aber ihnen gegenüber war auch die Scham größer.
Die Bäume im Park waren nass und sahen trübsinnig aus. Von der Erde stieg weißlicher Dunst auf, durchscheinend noch, doch schon sich verdichtend. Pelagia fror erbärmlich. Bis zum Tagesanbruch war es noch eine Weile hin. Was tun?
Hüpfend, mit den Zähnen klappernd, lief sie die Allee entlang zum Haus. Sie wollte den Morgen abwarten, sich irgendwo verstecken, und wenn Tanja oder eine andere Bedienstete heraussähe, sie leise rufen. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Sie konnte ja nicht mitten in der Nacht in solch unanständigem Aufzug, mit nassen roten Zotteln bei der Generalswitwe eindringen.
Bei dem Badehäuschen blieb sie stehen. Sie rüttelte an der Tür, schade, abgeschlossen, drinnen wär’s ein bisschen wärmer gewesen. Im Freien ging die Kälte durch und durch, und das Hüpfen half nicht.
Doch da entsann sich Pelagia des Gärtnerbüdchens. Das war bestimmt nicht abgeschlossen.
Sie lief die Allee zurück. Das nasse Hemd klebte ekelhaft an den Beinen.
Da war das Büdchen. Tatsächlich, die Tür war offen.
Pelagia betrat die dunkle Hütte. Vorsichtig, um nicht auf etwas Spitzes zu treten, ging sie in eine Ecke und setzte sich hin. Wenigstens war es trocken, Gott sei Dank.
Allmählich wurde es hell. Die Ritzen in den Bretterwänden wurden sichtbar, auch das Inventar: Harken, Spaten, Messer, Beile, Hacken.
Hacken? Wie hatte Naina Telianowa gesagt? Eine lebendige Espe und eine Hacke?
Was mochte das bedeuten?
Da Pelagia nichts zu tun hatte, drehte und wendete sie diese Worte im Geiste. Auf dem Photo mit dem Titel »Ein regnerischer Morgen« waren also eine Hacke und eine Espe zu sehen. Eine lebendige Espe. Was gab es denn noch für Espen, tote etwa?
Die sterbende Fürstin hatte also phantasiert? Nein, sie hatte auf Pelagias Frage geantwortet.
Espen gab es im Park reichlich, eine lebendiger als die andere.
Nein! Die Schwester fuhr hoch. Eine Espe war tatsächlich tot – neben der hatte der arme erschlagene Sakussai gelegen. Ob die Fürstin dieses Bäumchen gemeint hatte? Auf dem Photo war es wohl noch lebendig? Doch was war daran Besonderes, und was war mit der Hacke?
Pelagia hielt es nicht mehr in dem Büdchen, die unterschiedlichsten Vermutungen rasten ihr durch den Kopf. Warum saß sie hier, wenn sie hingehen und nachsehen konnte?
Sie lief zu der Stelle, wo die Espe stand. Hier im Park war ihr alles vertraut, und alsbald war sie bei dem denkwürdigen englischen Rasen, neben dem das verdorrte Bäumchen aus der Erde ragte.
Was hatte es damit auf sich?
Pelagia hockte sich hin, berührte die vertrockneten Blättchen, fuhr mit der Hand den glatten Stamm hinunter. Nanu, bei den Wurzeln war die Erde aufgewühlt? Ach ja, Sakussai hatte da gescharrt.
Doch nein, das konnte nicht ein Welpe getan haben.
Die Nonne bückte sich tiefer und betrachtete die Grube.
Ihr fiel ein, dass der Gärtner Gerassim gesagt hatte, der unverständige Sakussai hätte von seinem Vater und Großvater gelernt, Erde zu fressen. Etwa hier?
Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie, dass das Gras auf dieser Seite der Espe anders war als ringsum – niedriger und dünner.
Was mochte die Hunde hier interessiert haben?
Pelagia nahm ein Stöckchen und stocherte in der Erde, doch die gab nicht recht nach. Sie musste einen Spaten aus dem Büdchen holen.
Gedacht, getan. Aber sie nahm keinen Spaten, sondern eine Hacke, damit ging es noch besser.
Sie spuckte in die Hände, wie sie es bei den Arbeitern gesehen hatte, als die auf dem Klosterhof eine Wasserleitung verlegten, holte aus, schlug zu, scharrte weg. Noch einmal und noch einmal. Sie kam rasch voran. Beim zehnten Schlag zitterte sie nicht mehr, ihr war warm geworden. Der Nebel wölkte über dem Gras, stieg von den Knöcheln hoch zu den Knien.
Das Hackenblatt drang in etwas Knirschendes, wie in einen Kohlkopf. Pelagia zog – an dem Werkzeug hing etwas Rundes, Dunkles, so groß wie ein Kinderkopf. Eine Trübung ihres Verstandes und ein plötzliches Dröhnen in den Ohren ließen sie nicht gleich begreifen, dass es genau das war – ein Kinderkopf: gelb-lila, mit zusammengeklebten hellen Haaren und leidvoll eingesunkenen Augäpfeln.
Pelagia, mit zuckenden Lippen, schleuderte die Hacke mit dem grauenhaften Fund beiseite, doch so heftig, dass sie auf der nassen Erde ausrutschte und in die Grube stürzte, die sie selbst ausgehoben hatte. Aufheulend wollte sie wieder herausklettern und griff nach einer kalten, glitschigen Wurzel, doch die löste sich aus der Erde.
Und da sah Pelagia, dass es keine Wurzel war, sondern eine menschliche Hand – behaart, mit blauen Fingernägeln und ohne Ringfinger.
Der armen Nonne wurde schwarz vor Augen, denn es gibt eine Grenze für die Duldungsfähigkeit des Menschen. Pelagia brauchte Gott sei Dank vor nichts mehr zu erschrecken, denn sie sackte in sich zusammen und rutschte in tiefer Ohnmacht in die Grube.
Als Pelagia die Augen öffnete, sah sie über sich das Himmelsgewölbe. Es war dunkelblau, niedrig, von trüben unbeweglichen Sternen übersät, und stützte sich, wie in alten Büchern beschrieben, auf vier Säulen. Damit war bestätigt, dass Kopernikus Unrecht gehabt hatte, was die Nonne keineswegs verwunderte, sondern eher erfreute. Über die Liegende beugte sich, einen großen Teil des Himmels verdeckend, Bischof Mitrofani – riesengroß, graubärtig, mit schönem und traurigem Gesicht. Pelagia begriff, dass er in Wirklichkeit der Herr Zebaoth war, und sie freute sich noch mehr, wunderte sich aber zugleich über ihre eigene Blindheit: Wieso hatte sie diese so offenkundige Tatsache nicht schon früher begriffen? Ihr wurde auch klar, dass dies alles ein Traum war, aber ein schöner Traum, vielleicht sogar ein wesentlicher Traum.
»Was klapperst du mit den Augen, skandalöse Person?«, fragte Herr Zebaoth, wie es sich für Gott gehörte, scheinbar streng, aber auch liebevoll. »Du hast das hochheilige Lager des Bischofs mit deinem Frauenkörper besudelt, was hier noch nie vorgekommen ist, und lächelst auch noch. Wie soll ich fortan darin schlafen? Ich werde ärgere Qualen fleischlicher Anfechtung leiden als der Heilige Antonius. Pelagia, ich werde dich dem geistlichen Gericht übergeben wegen unzüchtigen Benehmens, damit du’s weißt. Eine schöne Braut Christi: liegt schmutzig, nass und fast nackt in dieser scheußlichen Grube. Sei bitte so gut und erkläre mir, dem unverständigen Priester, wie du dort hinein geraten bist. Wie bist du darauf gekommen, dass die Köpfe der Ermordeten dort vergraben sind?« Mitrofani beugte sich noch tiefer herab und legte Pelagia besorgt die angenehm kühle Hand auf die Stirn. »Wenn dir das Reden schwer fällt, dann schweige lieber. Deine Stirn ist ganz schwitzig. Der Doktor sagt, das Fieber kommt von einer starken Erschütterung. Du warst über einen Tag bewusstlos. Man hat dich getragen und in einer Kutsche hergebracht, und du hast ausgesehen wie Dornröschen. Was ist passiert? Du schweigst? Na, dann schweig nur, schweige.«
Erst jetzt begriff die Nonne das Rätsel der Säulen und des Himmelsgewölbes. Es war der Baldachin über dem altertümlichen Bett im Schlafgemach des Bischofs; auf dunkelblauen Samt waren brokatene Sterne gestickt.
Pelagia fühlte sich sehr schwach, aber keineswegs krank, eher angenehm ermattet, wie nach langem Schwimmen.
Ich bin ja auch geschwommen, erinnerte sie sich, und so lange.
Sie bewegte die Lippen, erprobte ihre Stimme. Es kam ein heiseres »A-a-a« heraus.
Der Bischof schreckte hoch. »Brauchst du etwas? Soll ich dir etwas bringen? Oder den Doktor rufen?«
Er sprang auf, bereit, Hilfe zu holen.
»Setzt Euch, Vater«, sagte Pelagia und betastete behutsam die schmerzenden Schultermuskeln. »Setzt euch und hört zu.«
Und sie erzählte dem Bischof alle Begebenheiten, von dem »Untersuchungsexperiment« bis zu den schrecklichen Ausgrabungen. Bei der bloßen Erinnerung daran zitterte ihre Stimme, und Tränen traten ihr in die Augen.
Mitrofani hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, nur an den kritischsten Stellen murmelte er leise »Himmlischer Vater« oder »Jesus« und bekreuzigte sich.
Als Pelagia ihre Erzählung beendet hatte, kniete der Bischof vor der in der Ecke hängenden Ikone des Erlösers nieder und sprach ein kurzes, aber gefühlvolles Dankgebet.
Dann setzte er sich ans Bett und sagte, häufig blinzelnd:
»Vergib mir, liebe Pelagia, um Christi willen, dass ich dich auf solchen Leidensweg geschickt habe. Ich selbst werde es mir herrschsüchtigem Unhold bis zur Todesstunde nicht verzeihen. Kein noch so gemeinnütziges Ziel eines Bischofs ist es wert, dass einer Christenseele, noch dazu schwachen Frauenschultern, eine solche Last aufgebürdet wird.«
»Das mit den schwachen Frauenschultern will ich nicht gehört haben«, sagte Pelagia gekränkt. »Ich möchte mal sehen, welcher Mann bei solchem Sturm, noch dazu nachts, so lange im Fluss geschwommen wäre. Und mit dem gemeinnützigen Ziel sollte man auch nicht so achtlos umgehen. Wo steht in der Heiligen Schrift geschrieben, dass man dem bösen Geist kampflos weichen soll? Etwas Schlimmeres gibt es wohl nicht. Erzählt mir lieber, was hier inzwischen geschehen ist, während ich bewusstlos lag. Ihr spracht von den ›Köpfen‹? Sind es die nämlichen, die angeblich dem Gott Schischiga zum Opfer dargebracht wurden? Ich habe allerdings nur einen Kopf gesehen, von einem Kind, außerdem noch eine abgehackte Hand. Wo kommt die her?«
»Warte, warte, nicht alles auf einmal.« Mitrofani verschloss ihr den Mund mit der Hand. Seine Finger rochen anheimelnd nach Buchrücken und Weihrauch. »In der Grube war noch ein zweiter Kopf, du bist nicht ganz bis zu ihm vorgedrungen. Auch Kleidung lag in der Grube. Ja, die Köpfe gehören zu den Leichen, die im vorigen Monat vom Fluss angespült wurden. Die Identität des Mannes ist jetzt festgestellt, anhand des fehlenden Fingers. Erinnerst du dich, dass einer Leiche die Hand abgehackt war? Wahrscheinlich wurde sie abgehackt, um die Identifizierung zu erschweren, denn das ist ja ein auffälliges Merkmal.«
»Ber bi bi?«, lallte Pelagia durch Mitrofanis Hand, sie meinte: Wer sind sie?
Der Bischof verstand.
»Der Kaufmann Awwakum Wonifatjew aus dem Landkreis Gluchow und sein neunjähriger Sohn Sawwa. Der Kaufmann war bei Donat Sytnikow gewesen und hatte ihm den Wald verkauft. Danach verschwand er. Zu Hause vermisste man ihn nicht, denn er hatte zu seiner Frau gesagt, dass er sie für immer verlasse und nicht zurückkehren werde. Die beiden kamen nicht gut miteinander aus, sie war bedeutend älter als er. Offensichtlich wollte sich Wonifatjew mit dem Erlös irgendwo ein neues Leben aufbauen. Daraus ist nichts geworden. Fest steht, dass Sytnikow den Wald für fünfunddreißigtausend gekauft und das Geld Wonifatjew sofort in bar gegeben hat, wonach dieser sogleich mit seinem Sohn aufgebrochen ist, obwohl es schon spät war. Sytnikow sagt, er habe ihm eine Kalesche angeboten, aber der Kaufmann habe abgelehnt. Er wollte sich im Ausspannhof im nahen Dorf Schelkowo eine Troika nehmen, aber dort ist er nie angekommen. Die Polizei hat Sytnikow natürlich zum Verhör mitgenommen, ich denke jedoch, er ist unschuldig. Er ist zu reich, um sich wegen fünfunddreißigtausend eine solche Sünde auf die Seele zu laden. Aber vielleicht hat ihn doch der Teufel der Habgier verwirrt – alles kann sein. Es geht jedoch um etwas anderes . . .« Mitrofanis Augen funkelten verwegen. »Wichtig ist, dass . . .«
Er nahm die Hand von Pelagias Lippen, um den Finger triumphierend zu heben, und die Nonne nutzte umgehend die gewonnene Freiheit zu einem Zwischenruf: ». . . sich Inspektor Bubenzow in die Nesseln gesetzt hat.«
Der Bischof schmunzelte.
»Ich wollte sagen, dass die teuflischen Ränke entlarvt sind, aber du, meine Tochter, hast dich genauer ausgedrückt. Es hat sich herausgestellt, dass die Wonifatjews aus Geldgier umgebracht wurden, dass es kein Menschenopfer gab und auch keinen Götzentempel für Schischiga. Bubenzow hat die unglücklichen Syten umsonst drangsaliert. Seine ganze Untersuchung und seine Außerordentliche Kommission sind keinen Pfifferling wert. Dieses Geschenk haben wir von Gott erhalten. Deine Talente und dein Mut haben es zu uns gebracht. Unser kleiner Dämon hat jetzt das Nachsehen. Er muss unverrichteter Dinge abfahren und wird obendrein von seinem Gönner einen Rüffel bekommen für dieses Durcheinander.«
»Er wird nicht abfahren«, erklärte Schwester Pelagia leise und bestimmt. »Und auch keinen Rüffel bekommen.«
Mitrofani griff nach dem Kreuz auf seiner Brust.
»Nicht abfahren? Keinen Rüffel? Wieso nicht? Was soll er denn jetzt noch hier?«
»Im Gefängnis sitzen«, entgegnete Pelagia. »Mit einem Rüffel wird er nicht davonkommen. Darauf steht Katorga, Vater. Zwanzig Jahre. Für den Doppelmord aus Habgier wird das Gericht nicht weniger verhängen.«
»Rachsucht ist eine schwere Sünde«, sprach der Bischof belehrend, »diesem Gefühl darf man nicht nachgeben. Bubenzow ist natürlich ein Schurke, aber ein solches Verbrechen wäre selbst für ihn zu ungeheuerlich: zwei unschuldige Menschen töten, davon ein Kind, ihnen den Kopf abschneiden, und alles nur, um seine Karriere voranzubringen? Das geht zu weit, meine Tochter. Auch ich habe mich anfangs an diesem Gedanken berauscht, aber dann habe ich mich besonnen. Nein, Pelagia, unser Aufschneider hat niemanden getötet, er hat sich dieses Ereignis nur zu Nutze gemacht. In der alten Chronik werden auch ein abgeschnittener Kopf und der Gott Schischiga erwähnt. Klingt doch glaubwürdig. Also, was wissen wir von dem Mord? Sehr wenig. Die beiden wurden unweit von Drosdowka getötet. Sind von Sytnikows Landhaus nicht weit gekommen. Der oder die Mörder haben das Geld genommen und die Leichen vom Steilufer in den Fluss geworfen, der sie weiter stromab an Land gespült hat. Die Köpfe, die Hand und die Kleidung wurden im Park vergraben, unter der Espe. Jetzt wird man den Verbrecher nicht mehr finden. Es ist zu viel Zeit vergangen.«
Pelagia hörte nicht mehr zu, sondern rief:
»Ach, darum hat sie die Hunde getötet!«
Sie setzte sich mit einem Ruck im Bett auf, aber von der heftigen Bewegung drehte sich alles vor ihren Augen, und sie legte sich wieder hin. Als der Schwindel vorüber war, fuhr sie fort:
»Jetzt ist alles klar. Natürlich ging es nicht ums Erbe. Es ging um die Bulldoggen selbst. Sie konnten frei herumlaufen und stromerten durch den Park. Unter der Espe witterten sie einen interessanten Geruch und begannen zu buddeln. Naina Telianowa hat das beobachtet. Zuerst hat sie die Hunde wohl einfach davongejagt, aber sie kamen immer wieder. Da hat sie beschlossen, sie zu vergiften . . .«
»Moment mal . . .« Mitrofani runzelte die Stirn. »Demnach müsste ja Naina den Kaufmann und seinen Sohn getötet und ihnen die Köpfe abgeschnitten haben. Unsinn!«
»Nein, getötet hat sie sie nicht. Aber sie wusste, wer es getan hat, und sie wusste von den Köpfen.«
»Die Fürstin als Mittäterin? Aber weshalb?«
»Nicht Mittäterin, eher Augenzeugin. Zufällig. Wie konnte das geschehen?« Pelagia blickte den Geistlichen nicht an. Sie bewegte die Brauen, krauste die sommersprossige Nase, kurzum, sie dachte nach. »Sie ging abends und sogar nachts oft allein im Park spazieren. Nicht außergewöhnlich bei einem romantischen Mädchen. Offenbar hat sie gesehen, wie der Mörder die Köpfe vergrub.«
Mitrofani schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sie hat es gesehen und verschwiegen? Das ist doch ein teuflischer Frevel.«
»Genau!«, rief die Nonne. »Teuflisch! Darum geht es! ›Liebe ist immer ein Frevels das waren ihre Worte.«
»Was denn, war sie Diabolus verfallen?«, wunderte sich der Bischof.
»Aber nicht doch, Vater, nicht Diabolus, der Liebe war sie verfallen.«
»Ich verstehe nicht . . .«
»Natürlich.« Pelagia machte eine abwehrende Handbewegung und tat, als spreche sie mit sich selbst. »Ein leidenschaftliches junges Mädchen, mit Phantasie, voll unverbrauchter Gefühle. Von Kind an verwöhnt, exzentrisch, auch grausam. Sie lebte wie im Traum dahin und liebte den einzigen passablen Mann ihrer Umgebung, Schirjajew, sprach mit ihm über das Schöne und Ewige, träumte davon, Schauspielerin zu werden. Darüber wäre sie eine alte Jungfer geworden, denn Marja Tatistschewa ist eine Dame von robuster Gesundheit, und bis zu ihrem Tode hätte sich Schirjajew nicht von Drosdowka weggerührt und auch nicht um Nainas Hand angehalten. Aus seiner Sicht wäre es wohl unsittlich gewesen, jemanden zu nötigen, der von ihm abhängig war. Das Dilemma besteht darin, dass er voller Skrupel ist. Er liebt Naina leidenschaftlich, aber an ihrer Keuschheit hat er sich nicht vergriffen. Was er aber hätte tun sollen«, fügte Pelagia halblaut hinzu. »Dann würde sie vielleicht noch leben.«
»Hör auf, der Unzucht das Wort zu reden«, rief der Bischof seine geistliche Tochter zur Ordnung. »Und schweife nicht ab. Sprich zur Sache.«
»Dann ist plötzlich Poggio aufgetaucht, ein Mann aus der großen weiten Welt. Und der hatte keine Skrupel. Er verdrehte der Fürstin den Kopf, verführte sie. Obwohl das nicht schwer war, denn sie war schon überreif. Sie vergaß ihre Theaterträume und wollte nun Malerin werden. Aber zu der Zeit, als ich nach Drosdowka kam, waren Paris und Palette bereits Vergangenheit, und auch Poggio war abgetan. Naina ging mürrisch und schweigsam umher, benahm sich geheimnisvoll und sprach in Rätseln. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie nicht ganz bei Sinnen war. Und so muss es auch gewesen sein. Dass sie nicht davor zurückschreckte, die Hunde zu töten, dass sie das Leben ihrer Großmutter aufs Spiel setzte und sie auch wirklich beinahe ins Grab gebracht hätte, kann nur eins bedeuten – sie hatte sich besinnungslos verliebt und alle anderen Gefühle ausgeschaltet.«
»In wen, in Bubenzow?«, fragte der Bischof, der Pelagias Gedankengängen kaum folgen konnte. »Er war doch nur zu einem kurzen Besuch in Drosdowka. Allerdings versteht er sich meisterlich auf Frauen. Natürlich, er kann sie verlockt haben, ganz bestimmt sogar. Aber was hat Wonifatjew damit zu tun?«
»Ganz einfach. An dem Abend, an dem der Wald verkauft wurde, hatte Sytnikow zunächst bei den Nachbarn in Drosdowka gesessen, auf der Veranda Tee getrunken und von dem Kaufmann, von dem bevorstehenden Geschäft erzählt. Zu der Zeit war auch Bubenzow dort. Er hatte mit Sytnikow eine Auseinandersetzung über die Bräuche der Altgläubigen, man hat mir davon erzählt. Dann, als Sytnikow beleidigt gegangen war . . .«
»Ja, ja!«, unterbrach der Bischof sie aufgeregt. »Lass mich zu Ende führen! Das verliebte und wahrscheinlich schon verführte Fräulein spazierte nachts durch den Park. Vielleicht konnte sie vor Leidenschaft nicht schlafen, vielleicht wartete sie auf den Angebeteten. Sie sah, wie er die Köpfe vergrub, und dachte, es sei ein satanisches Ritual und Bubenzow der Satan. Und da sie ihn maßlos liebte, beschloss sie, sich in das Heer Satans einzureihen! Sie warf sich dem Dämon an die Brust, schwor ihm . . .«
»Ach, Bischöfliche Gnaden, was Ihr Euch so ausdenkt!« Pelagia fuchtelte mit den Händen. »Ihr solltet Romane für Zeitschriften schreiben. Nichts hat sie ihm geschworen. Es ist sogar anzunehmen, dass sie vor Entsetzen erstarrte und sich nicht zu erkennen gab. Sie hat ihm in meiner Gegenwart mehrmals Andeutungen gemacht, die ich erst jetzt verstehe, aber Bubenzow hat nur gelächelt und die Achseln gezuckt. Er kam offenbar gar nicht auf die Idee, dass sie alles wusste. Und für den Satan hat sie ihn damals, in der Nacht des Verbrechens, wohl kaum gehalten. Sicherlich war sie verwirrt und wusste nicht, was sie denken und tun sollte. Aber die Liebe einer Frau ist fähig, alles zu rechtfertigen. Ich erinnere mich, dass Naina sagte: ›Die Liebe ist auch ein Verbrechens wobei sie das Wort ›auch‹ betonte. Sie hatte beschlossen, ihren Liebsten zu schützen. Darum tat sie den Hunden Gift ins Futter. Ich habe gesehen, mit was für einem Blick sie Bubenzow empfing, als er wieder nach Drosdowka kam: einem sehr eigenartigen, sogar angewiderten Blick. Doch das änderte sich schlagartig, als er von dem Syten-Fall sprach. Ich konnte nur staunen: Naina war wie ausgewechselt. Sie lebte auf, ihre Wangen röteten sich, und sie sah Bubenzow mit ganz anderen Augen an – voll Vergötterung und Begeisterung. Sie hatte begriffen, warum er die Köpfe abgeschnitten hatte. Anstatt voller Entsetzen vor ihm zurückzuschaudern, geriet sie in Verzückung. Ihr Liebster war kein einfacher Räuber, nein, er besaß unglaublichen Ehrgeiz und spielte mit Menschen wie ein wahrer Dämon. Darum ihre Worte: ›Wladimir Lwowitsch, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht.‹ Sie deklamierte aus Lermontows ›Dämon‹, und als er von Bedrohung und einer Leibwache sprach, sagte sie: ›Die beste Wache ist die Liebe.‹ Dann gab sie ihm zu verstehen, dass sie ihm treu zur Seite stehen werde, aber er begriff es nicht.« Pelagia seufzte traurig. »Eine Frau, eine richtige Frau, aufopferungsvoll und blind vor Liebe.«
»Wage nicht, um eine solche Liebe zu seufzen«, unterbrach Mitrofani sie mürrisch. »Eine solche Liebe wird dir nicht mehr werden. Sie ist gestorben, deine Liebe. Statt ihrer ist dir eine andere, höhere Liebe gegeben. Du bist die Braut Christi. Vergiss das nicht.«
Die Nonne lächelte über den strengen Ton des Geistlichen.
»Ja, ich habe mit meiner Liebe mehr Glück als die arme Naina. Dass Bubenzow ein Bösewicht, ein Verbrecher, ein Teufel in Menschengestalt ist, das hat sie ihm alles verziehen. Nicht verziehen hat sie ihm, was keine Frau verzeihen kann: kalte, kränkende Gleichgültigkeit. Ich wundere mich über Bubenzow. Er hat es sich doch bei all seinen Vorhaben zur Gewohnheit gemacht, das schwache Geschlecht auszunutzen, und er kennt sich mit Frauenherzen aus. Wieso hat er die Gefahr, die ihm von Naina drohte, nicht rechtzeitig erkannt und eine solche Unvorsichtigkeit begangen? Anfangs brauchte er sie, vielleicht aus Erwägungen, die mit dem Erbe der Generalswitwe zusammenhingen. Doch dann hatte er wohl eine Möglichkeit gefunden, ohne deren Enkelin auszukommen. Oder Naina war ihm zu ermüdend mit ihrer überspannten Leidenschaft und ihren Gefühlsausbrüchen. So oder anders trieb Bubenzow das Fräulein mit seiner Kälte zum Äußersten. Schon allein daraus wird klar, dass er von ihren Erkenntnissen nichts ahnte und ihre Anspielungen ihrem Hang zu melodramatischen Auftritten zuschrieb. Auf der Soiree bei Olimpiada Schestago sah er ein Photo, das ihn beunruhigte. Das Photo hieß ›Ein regnerischer Morgen‹. Eine Parkecke nach dem Regen: Gras, Gebüsch, eine kleine Espe – nichts Besonderes. Keiner der anderen Gäste beachtete das Bild, zumal es weitaus interessantere Photos gab. Aber wenn sich nun jemand früher oder später dieses gefährliche Photo genauer ansah? Es musste vernichtet werden, und das konnte nur durch ein ablenkendes Manöver geschehen, damit die Ermittlung von Anfang an in eine falsche Richtung ging.«
»Was war denn so Entsetzliches auf diesem Bild?«
»Ich nehme an, darauf war die Espe zu sehen, unter der die Köpfe vergraben lagen. Das Photo wurde wahrscheinlich am Morgen nach dem Doppelmord gemacht. Der Baum, obzwar schon dem Tod geweiht, denn seine Wurzeln waren von der Hacke beschädigt, war noch nicht verdorrt und sah lebendig aus. Das Wichtigste jedoch – am Baum lehnte die Hacke, die der Mörder dort vergessen hatte. Oder sie lag im Gras – das weiß ich nicht. Einer von den Bewohnern Drosdowkas oder von den ständigen Gästen hätte dieses seltsame Detail bemerken, es zu dem unbegreiflichen Welken des Baums in Beziehung setzen, sich an den zertrampelten Rasen und den Tod Sakussais erinnern und dadurch dem Verbrecher auf die Spur kommen können.«
»Ja, ja.« Der Geistliche nickte. »Wo mag die Hacke hingekommen sein?«
»Vielleicht hat der Mörder sie am nächsten Tag weggebracht. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass es Naina war.«
»Demnach hat Bubenzow nur wegen dieses Photos Poggio ermordet und die Ausstellung vernichtet?«
»Ja, zweifellos. Denn von allen Bildern und allen Platten ist nur der ›Regnerische Morgen‹ verschwunden. Die skandalösen Bildchen mit der nackten Naina haben den Verbrecher überhaupt nicht interessiert. Aber der Skandal kam Bubenzow zustatten: der Verdacht fiel auf Schirjajew.«
»Ja, so ist es gewesen.« Mitrofani neigte den Kopf, prüfte, ob alles zusammenpasste, und war zufrieden. »Aber mit der Ermordung Nainas ging Bubenzow ein großes Risiko ein. Denn diesen Mord konnte Schirjajew nicht begangen haben – er wurde zu der Zeit bei der Polizei verhört.«
»Schirjajew schied auch als Poggios Mörder aus, nachdem Naina öffentlich erklärt hatte, dass er die Nacht mit ihr verbracht habe. Bubenzow musste das Risiko eingehen, weil Naina ihm während des Untersuchungsexperiments direkt zu verstehen gab, dass sie alles wusste und ihn nicht weiter decken würde. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen sagte, sie habe gedroht, die Schulden zu begleichen? Und das hätte sie getan, weil sie sich von der teuflischen Versuchung freigemacht hatte und dem Dämon nicht länger dienen wollte. Vielleicht war sie mit ihrer Geduld am Ende, oder ihr Stolz war erwacht. Oder sie hatte ihre Wahl getroffen – zu Gunsten von Schirjajew. Allerdings spielte sie mit dem Feuer. Bubenzow konnte sie nicht mehr am Leben lassen, nicht einen Tag. Und er tötete sie. Und ihr Dienstmädchen. Was bedeutet einem solchen verworfenen Geist ein kleines Menschenleben?«
»Auch dich hätte er fast getötet«, sagte Mitrofani mit leiser, drohender Stimme, und sein Blick loderte.
»Ja. Sogar zweimal.«
Pelagia stieß einen Seufzer aus und erzählte, wie in Drosdowka, als sie den Bischof zum Parktor begleitet hatte und auf der Allee zurückging, jemand sie erwürgen wollte.
»Ich habe es damals niemandem erzählt, denn das hätte Bubenzow in den Kram gepasst. Er hätte es wieder auf die Syten geschoben. Welch ein Geschenk für die synodalen Ermittler – Überfall auf eine Nonne! Bubenzow hatte erst am Abend zuvor erzählt, dass die Syten auf einsamen Landstraßen ihren Opfern einen Sack über den Kopf stülpen. Jetzt verstehe ich, wer mich erwürgen wollte und warum. Erinnern Sie sich, als ich Naina vor allen entlarvte, sagte ich, dass ich es dabei nicht bewenden lassen würde.«
»Ja, ich erinnere mich.« Der Bischof nickte. »Du hast gesagt, dass da ein Geheimnis walte, das du noch klären müsstest.«
»Das war dumm von mir, unvorsichtig«, sagte Pelagia, senkte bescheiden die Augen und fügte hinzu: »Also hat Bubenzow meine Fähigkeiten hoch eingeschätzt, wenn er mich ausschalten wollte.«
Mitrofani donnerte drohend:
»Gott ist barmherzig und verzeiht alle möglichen Untaten, sogar noch schlimmere als diese. Aber ich bin nicht Gott, sondern ein sündiger Mensch, und deinetwegen werde ich Bubenzow zu Staub zermahlen. Sage mir nur, kann ich nach dem Gesetz handeln oder muss ich mir andere Mittel einfallen lassen? Du hast doch beide Male nicht gesehen, wer dich überfallen hat. Also gibt es auch keine Beweise?«
»Nur indirekte.«
Pelagia fühlte sich so weit gekräftigt, um sich im Bett aufzusetzen. Der Bischof schob ihr ein Kissen in den Rücken.
»Wir haben drei Verbrechen, die eindeutig miteinander zu tun haben: Zuerst wurden Vater und Sohn Wonifatjew ermordet, dann Arkadi Poggio, dann Naina Telianowa und ihr Dienstmädchen«, erklärte Pelagia. »Aus den schon genannten Gründen gehört Bubenzow in allen drei Fällen zu den Verdächtigen. Richtig?«
»Aber bei all diesen Ereignissen waren auch noch andere in der Nähe«, wandte der Bischof ein. »In Drosdowka und auf der Abendgesellschaft der Postmeistersgattin waren außerdem Schirjajew, Pjotr Telianow, Sytnikow und dieser Reimeschmied, wie heißt er gleich . . . Krasnow! Sie alle hätten Gründe haben können, Wonifatjew und seinen Sohn umzubringen. Und die übrigen zwei Morde geschahen aus Angst vor Entlarvung.«
»Richtig, Vater. Aber Pjotr Telianow scheidet aus, weil er an dem Tag, an dem die Wonifatjews zu Sytnikow kamen, noch in der Stadt war. Das wurde in meinem Beisein erzählt, ich habe es mir gemerkt. Was Krasnow und Sytnikow angeht, so hätten sie Wonifatjew natürlich töten können. Der Erste wegen der fünfunddreißigtausend. Der Zweite . . . na, sagen wir, weil er sich mit seinem Gast in die Haare geraten war. Aber der Haken dabei ist, dass die Fürstin weder den einen noch den anderen gedeckt hätte.«
»Einverstanden. Aber was ist mit Schirjajew?«, fragte der Bischof mehr der Ordnung halber.
»Vater, wir hatten doch schon festgestellt, dass er den Mord in der Warrawkin-Gasse nicht begehen konnte, weil er noch in Haft war.«
»Ja, richtig. Also konnte außer Bubenzow niemand alle drei Morde verüben?«
»So ist es. Aber nicht drei Morde, sondern fünf«, berichtigte Pelagia. »Denn der erste und der letzte waren Doppelmorde. Bei gründlicher Überlegung bleibt als Verdächtiger nur Bubenzow. Bedenken Sie, dass er in der Nacht, in der Poggio ermordet wurde, ganz allein war; Murad Dshurajew zog stockbetrunken durch die Kneipen, und der Sekretär Selig versuchte, den Raufbold zur Vernunft zu bringen. Vielleicht hatte Bubenzow seinen Diener zum Trinken verleitet, weil er wusste, wie das enden würde?«
Die Nonne breitete die Arme aus.
»Das ist alles, was wir haben. Unter gewöhnlichen Umständen wäre es ausreichend für eine Verhaftung, aber Bubenzow ist ein besonderer Fall. Selbst wenn Berditschewski einen Haftbefehl ausstellt, fürchte ich, dass Polizeimeister Lagrange ihn nicht ausführt. Er wird sagen, es gäbe keine eindeutigen Beweise. Für ihn ist Bubenzow Zar und Gott in einem. Nein, aus der Verhaftung wird nichts.«
»Das muss dich nicht bekümmern«, sagte Mitrofani. »Du hast dein Teil getan. Ruh dich jetzt aus und sammle Kräfte. Ich ordne an, dass du nicht behelligt wirst, und wenn du etwas brauchst, ziehst du an dieser Samtschnur. Dann kommt sofort ein Zellendiener und erfüllt dir jeden Wunsch.«
Der Bischof zeigte, wie sie an der Schnur ziehen musste, und gleich darauf erschien im Türspalt ein fades Gesicht mit dünnem Bart und schwarzer Kappe.
»Patapi, schick nach Matwej Berditschewski. Und zwar hurtig.«
Matwej Berditschewski war sehr aufgeregt.
Nicht wegen des Polizeimeisters – der war butterweich. Das heißt, zuerst, als er den Haftbefehl sah, war er kreideweiß geworden und ins Schwitzen gekommen, doch dann setzte Berditschewski ihm auseinander, dass nach dem Scheitern der Syten-Angelegenheit der Synodalinspektor sowieso erledigt war, und da fasste Lagrange Mut und nahm sich der Sache mit äußerster Umsicht an.
Nicht Zweifel an der Loyalität der Polizei beunruhigten den Staatsanwalt, sondern die große Verantwortung und mehr noch die Fragwürdigkeit der Beweise. Eigentlich gab es fast keine Beweise, nur Verdachtsmomente, auf denen keine wirkliche Anklage aufzubauen war. Nun, Bubenzow war an dem einen wie an dem anderen Tatort gewesen, er konnte den einen wie den anderen Mord begangen haben, doch was folgte daraus? Ein guter Verteidiger würde solche Mutmaßungen zerpflücken. Hier musste größere Vorarbeit geleistet werden, und Berditschewski war nicht sicher, ob er das schaffen würde. Für einen Moment beneidete er sogar die Ermittler früherer Zeiten. Die hatten es leicht gehabt. Man schnappte einen Verdächtigen, legte ihn auf den Streckbock, und er gestand ganz von selbst. Natürlich dachte der fortschrittliche und zivilisierte Berditschewski nicht im Ernst an Folter, doch ohne ein Geständnis des Angeklagten war hier nichts zu machen, und das war von Bubenzow nicht zu erwarten. Berditschewski setzte seine ganze Hoffnung auf das Verhör von Bubenzows Spießgesellen Selig und Dshurajew. Man musste jeden einzeln bearbeiten, vielleicht ergaben sich irgendwelche Widersprüche, Angriffspunkte, Fäden, an denen man ziehen und womöglich das ganze Knäuel entwirren konnte.
Ein Fluchtversuch wäre gut, noch besser Widerstand bei der Verhaftung, träumte Berditschewski vor sich hin, als sie schon zur Festnahme fuhren.
Für alle Fälle – immerhin ging es um die Verhaftung eines Mörders – hatten sie die Operation nach allen Regeln der Kunst vorbereitet. Lagrange hatte drei Dutzend Polizisten zusammengeholt, ihnen befohlen, die Revolver zu fetten, und höchstselbst überprüft, ob sie noch wussten, wie man damit schießt. Bevor sie losfuhren, hatte der Polizeimeister einen richtigen Plan auf Papier gezeichnet.
»Der Kreis hier, Matwej Benzionowitsch, ist der Platz. Die punktierte Linie ist die Umzäunung, dahinter der Hof des ›Großfürsten‹. Das große Quadrat ist das Hauptgebäude des Hotels, das kleine der Generalsflügel. Bubenzow ist dort, meine Männer haben das überprüft. Die Hälfte der Leute stelle ich auf den Platz, die übrigen verstecken sich hinter der Umzäunung. Hinein gehen nur wir beide und noch zwei, drei Männer . . .«
»Nein«, unterbrach ihn Berditschewski. »Ich gehe allein hinein. Wenn wir mit solch einer Meute anrücken, sehen sie uns durchs Fenster und vernichten, Gott behüte, die Beweise, die ich dort zu finden hoffe. Ich tue so, als wollte ich Bubenzow eine Visite abstatten. Dann sage ich ihm, dass der Gouverneur ihn umgehend zu sprechen wünsche. Aber sowie ich mit ihm auf den Hof herauskomme, nehmen wir den Guten fest. Sollte etwas schief gehen, rufe ich, damit Sie mir zu Hilfe kommen.«
»Warum wollen Sie Ihre Kehle anstrengen?« Der gezähmte Lagrange schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Da haben Sie meine Trillerpfeife. Pfeifen Sie, und schon stehe ich vor Ihnen, wie aus der Erde gewachsen.«
Doch außer sachlichen Erwägungen hatte Berditschewski auch persönliche Gründe, Bubenzow eigenhändig zu ergreifen. Er wollte dem infamen Petersburger gar zu gern den denkwürdigen Nasenstüber heimzahlen. Voller Vorfreude, unwürdig eines Christenmenschen, aber darum nicht weniger süß, malte er sich aus, wie Bubenzows hochmütige Visage erbleichte und sich verzerrte, wenn er, Berditschewski, lässig hinwerfen würde:
»Legen Sie, bitte schön, die Hände auf den Rücken. Ich erkläre Sie für verhaftet.«
Oder noch besser, in weltmännischem Ton:
»Sehen Sie, mein Herr, Sie sind verhaftet. Wie fatal.«
Doch als er nun allein den Hof überquerte, war ihm nicht wohl. Im Bauch krampfte es, und die Kehle war trocken.
Um sich Mut zu machen, blieb er kurz auf der Vortreppe des Flügels stehen. In dem schmucken eingeschossigen Häuschen befand sich das beste Appartement des Hotels, vorgesehen für hochmögende Personen, die in staatlichem Auftrag das Gouvernement bereisten, desgleichen für Wohlhabende, die es als anstößig empfanden, mit den übrigen Hotelgästen unter einem Dach zu nächtigen.
Die Stores im Flügel waren zugezogen, und Berditschewski bekam einen Schreck – womöglich hatte sich Lagrange geirrt, und Bubenzow war gar nicht da?
Die Angst um das Gelingen des Plans vertrieb die nervliche Schwäche, und Berditschewski, der eigentlich erst läuten wollte, stieß einfach die Tür auf und ging hinein.
Von der Diele kam er in ein großes Zimmer, voll gestellt mit offenen Truhen und Koffern. An einem Tisch saßen Selig und Dshurajew und schoben auf einem Brett weiße und schwarze Steine hin und her. Wahrscheinlich Nardy, mutmaßte Berditschewski, der nur Schach und Preference gelten ließ.
»Melden Sie Herrn Bubenzow, dass der steilvertretende Staatsanwalt Berditschewski ihn unverzüglich zu sprechen wünscht«, sagte er in eisigem Ton zu dem Sekretär.
Der verneigte sich ehrerbietig und verschwand hinter der Tür, die zu den inneren Gemächern führte. Der Tscherkesse warf einen flüchtigen Blick auf den Besucher und starrte wieder auf das Brett, wobei er Unverständliches vor sich hin brabbelte. Bemerkenswert war, dass der Wilde nicht einmal im Raum die Pelzmütze und den Dolch ablegte.
Selig kam zurück und sagte:
»Wenn ich bitten darf.«
Bubenzow saß missgelaunt am Tisch und schrieb etwas. Er erhob sich nicht und grüßte nicht. Nur für einen Moment riss er den Blick vom Papier und fragte:
»Was wollen Sie?«
Diese unverhohlene Flegelhaftigkeit beruhigte Berditschewski vollends, denn er wusste: Hunde, die bellen, beißen nicht. Bubenzow konnte nicht mehr zubeißen, seine Beißerchen waren stumpf geworden.
»Gedenken Sie abzureisen?«, erkundigte sich Berditschewski höflich.
»Ja.« Bubenzow warf wütend den Federhalter hin, und auf das grüne Tuch spritzte Tinte. »Da der Gouverneur auf Ihren Antrag hin die Ermittlung einstellen ließ, habe ich hier nichts mehr zu tun. Macht nichts, meine Herren Sawolshsker, ich fahre nach Petersburg und komme wieder. Und dann nehme ich euer Armenhaus auseinander.«
Noch nie hatte Berditschewski den Synodalinspektor so gereizt gesehen. Wo war nur dessen träge Herablassung geblieben?
»Das wird nicht gehen«, sagte Berditschewski scheinbar bekümmert und seufzte.
»Was wird nicht gehen?«
»Abzureisen.« Berditschewski spielte sich in seine Rolle ein und breitete die Arme aus. »Der Gouverneur bittet Sie, ihn umgehend aufzusuchen. Ja, er befiehlt es.«
»Befiehlt?«, brauste Bubenzow auf. »Ich pfeife auf seine Befehle!«
»Wie belieben, aber Seine Exzellenz haben angeordnet, dass Sie das Gouvernement nicht verlassen dürfen, solange Sie keine zufrieden stellende Erklärung abgeben hinsichtlich der ungesetzlichen Inhaftierung der Syten-Ältesten und der Tötung der drei Syten, die ihre Ältesten zu befreien versuchten.«
»Blödsinn! Alle wissen, dass die Syten mit der Waffe in der Hand die Vertreter der Macht angegriffen haben. Die sind selber schuld. Und was die ungesetzliche Inhaftierung der Ältesten angeht – das werden wir noch sehen. Sie decken Götzenanbeter? Na schön, der Oberprokuror wird Sie dafür zur Rechenschaft ziehen.« Bubenzow erhob sich und legte den Gehrock an. »Zum Teufel mit Ihnen. Ich werde bei Ihrem Gaggenau vorbeifahren. Nicht seinetwegen, sondern wegen Ljudmila Platonowna. Ein nettes Frauchen. Ich werde ihr zum Abschied das Händchen küssen.«
Bubenzows Augen bekamen einen unguten Glanz – offensichtlich beabsichtigte er, dem Gouverneur zu guter Letzt noch einen demütigenden Streich zu spielen.
Das könnte Ihnen so passen, dachte Berditschewski und unterdrückte mit Mühe ein triumphierendes Lächeln. Da haben Sie sich geschnitten, mein Herr.
Sie gingen. Die Spießgesellen des Inspektors spielten nicht mehr Nardy. Selig war mit dem Gepäck beschäftigt, der Tscherkesse stand am Fenster und spähte auf den Hof.
Plötzlich geschah etwas Unverhofftes. Mehr noch – etwas Unwahrscheinliches und Unvorstellbares.
Mit zwei katzenhaften Sprüngen war Dshurajew bei Berditschewski und packte ihn mit seinen kurzen eisenharten Fingern an der Gurgel.
»Värrat!«, schrie er heiser. »Wolodja, gäh nicht. Ein Hinterhalt!«
»Was faselst du?« Bubenzow starrte ihn an. »Bist du übergeschnappt? «
Berditschewski zog die Pfeife aus der Tasche und blies aus aller Kraft hinein. Im nächsten Augenblick ertönte auf dem Hof das Getrappel vieler Stiefel.
Mit einem Schlag seiner sehnigen Hand streckte der Kaukasier Berditschewski zu Boden, stürzte zu einem der Koffer und griff sich einen langläufigen Revolver.
»Halt!«, schrie Bubenzow, aber zu spät.
Dshurajew hatte mit dem Lauf die Fensterscheibe eingeschlagen und feuerte dreimal hinaus. Gellendes Geheul, und im nächsten Moment wurde vom Hof zurückgeschossen, in so dichter Folge, dass von den Wänden und der Decke Stuck spritzte, auf dem Klavier eine Vase mit Chrysanthemen zersprang und die Wanduhr plötzlich mit verzweifeltem Getöse auseinander flog.
Selig ließ sich auf den Boden plumpsen und kroch zur Tür. Bubenzow ging in die Hocke. Als die Schießerei ein wenig nachließ, sagte er verächtlich:
»Murad, du bist ein Esel! Nun löffle die Suppe auch aus, die du dir eingebrockt hast. Ich gehe durch den Hinterausgang zum Pferdestall. Dann reite ich nach Petersburg. Das schaff ich schon. Und du feure noch ein bisschen, damit ich wegkomme, und ergib dich dann. Ich werde dich herausholen. Verstanden?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in gebückter Haltung. Selig kroch ihm auf dem Bauch hinterher.
»Värstanden, Wolodja, nicht so schwär«, sagte der Tscherkesse leise. »Aber Murad kann sich nicht ärgäbän.«
Er zielte und schoss. Im Hof schrie wieder jemand, und darauf folgten Salven. Einen günstigen Moment abpassend, feuerte der Kaukasier noch einmal, aber diesmal hatte er kein Glück. Die Mütze fiel vom kahl rasierten graublauen Schädel, und auf der Wange hatte sich eine rote Furche eingekerbt, aus der Blut sickerte. Murad wischte mit dem Ärmel seines schmutzigen Beschmet wütend das Blut weg und schoss über das Fensterbrett.
Berditschewski focht einen qualvollen inneren Kampf aus. Auf der einen Seite war lediglich die Pflicht, auf der anderen waren die Ehefrau, zwölf (eigentlich schon fast dreizehn) Kinderchen und als Zugabe das eigene Leben. Die Gewichte waren ungleich verteilt. Berditschewski beschloss, sich still zu verhalten, schließlich konnte man Bubenzow immer noch verfolgen. Aber kaum hatte er diesen rettenden Entschluss gefasst, trat eine Kampfpause ein, und sich bekreuzigend schrie er verzweifelt:
»Lagrange, Hinterausgang!«
Murad drehte sich drohend um, und Berditschewski sah ein riesiges schwarzes Loch, das direkt auf seine Nasenwurzel starrte. Trocken knackte der Hahn, dann noch einmal, der Tscherkesse fluchte in seiner Sprache und warf den nutzlosen Revolver weg.
Doch die wundersame Rettung war ein Trugschluss, denn der Kaukasier zückte seinen gewaltigen Dolch und stürzte sich auf den armen Berditschewski. Der schlug den furchtbaren Menschen auf den Wangenknochen, aber das war, als schlage die Faust gegen Stein. Gebannt von dem geheimnisvollen Geflimmer der breiten Klinge, erstarrte der stellvertretende Staatsanwalt.
Der Tscherkesse packte seinen Gefangenen am Genick, setzte ihm den kalten Stahl an die Gurgel und sagte, einen Geruch von Blut und Knoblauch verströmend:
»Später stäch ich dich ab, nicht jätzt. Sonst töten sie mich sofort. Wenn Wolodja Vorsprung hat, stäch ich dich ab.«
Berditschewski kniff die Augen zu, er konnte die wahnsinnigen Augen, den schwarzen Bart und die blutende Wange nicht mehr sehen.
Draußen schrie Lagrange:
»Fahr die Droschke in die Kupetscheskaja! Ihr drei, marsch zu den Stadttoren. Die Schlagbäume runter! Jelissejew, nimm dir vier Mann und ab zum Pferdestall!«
Jetzt kommt Bubenzow nicht mehr weg, dachte Berditschewski, doch Trost brachte ihm das nicht. Er kriegte kaum Luft, so fest hielt ihn Murad im Würgegriff. Vor Entsetzen wurde ihm übel, und ihn durchzuckte sogar der Gedanke: Soll er doch zustechen, dann hat die Qual ein Ende.
Über das Fensterbrett schob sich vorsichtig der Kopf von Lagrange.
»Herr Berditschewski, sind Sie am Leben?«
Dshurajew antwortete:
»Wenn du dich einmischst, ist är tot.«
Da wurde der Polizeimeister mutiger, hob die Hand mit dem Revolver über das Fensterbrett und sagte grienend:
»Na, Dshurajew, hast du alle Kugeln verschossen? Ich habe mitgezählt. Wenn du Seiner Hochwohlgeboren ein Härchen krümmst, knall ich dich ab wie einen tollwütigen Hund. Lebendig nehm ich dich nicht gefangen. Das schwör ich bei Gott dem Herrn.«
»Murad fürchtet nicht dän Tod«, antwortete der verächtlich und hielt Berditschewski wie einen Schild vor sich.
Lagrange kletterte langsam aufs Fensterbrett.
»Das lügst du, mein Lieber. Den Knochenmann fürchtet jeder.«
Er setzte sich vorsichtig aufs Fensterbrett.
»Noch ein Schritt, und ich stäche ihn ab«, versprach der Tscherkesse leise.
»Schon gut«, beruhigte ihn der Polizeimeister. »Ich lege meinen Revolver hier hin.«
Er legte wirklich die Waffe an die Kante des Fensterbretts, so dass die Mündung über dem Boden schwebte, und schlug ein Bein über das andere.
»Dshurajew, einigen wir uns gütlich.« Lagrange holte ein Etui hervor und steckte sich eine Papirossa an. »Du hast mir zwei Männer durchlöchert. Dafür müsste ich dich auf der Stelle umlegen. Aber wenn du jetzt Seine Hochwohlgeboren loslässt und dich ergibst, bring ich dich lebendig ins Gefängnis. Und wir werden dich nicht mal schlagen, mein Offiziersehrenwort.«
Dshurajew knurrte nur.
»Na, habt ihr ihn?«, fragte Lagrange in den Hof hinaus.
Ihm wurde etwas geantwortet, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
»Ach, ihr Strolche, ihr habt ihn entwischen lassen?«, brüllte der Oberst aufgebracht und hieb mit der Faust auf das Fensterbrett, doch so ungeschickt, dass er genau den Revolverlauf traf.
In völliger Übereinstimmung mit den physikalischen Gesetzen vollführte der Revolver einen raffinierten Salto in der Luft und krachte mitten in der Stube auf den Boden.
Der Tscherkesse ließ seinen Gefangenen los und war mit einem Raubtiersprung bei der Waffe.
Und da zeigte sich, dass der fliegende Revolver ein Trick des gewieften Polizeimeisters war. Wie durch Hexerei hielt Lagrange einen zweiten, kleineren Revolver in der Hand, und der spie Feuer und Qualm gegen Dshurajew.
Die Kugeln schleuderten den Kaukasier gegen die Wand, aber er sprang sofort wieder auf die Beine und rückte mit dem Dolch gegen den Polizeimeister vor.
Lagrange zielte genauer, schoss noch dreimal und traf jedes Mal, doch Murad fiel nicht, aber jeder Schritt machte ihm jetzt größere Mühe.
Als der Tscherkesse nur noch einen Meter von Lagrange entfernt war, sprang dieser auf den Boden, setzte Murad die Mündung direkt an die Stirn, und die obere Schädelhälfte flog in Splittern auseinander.
Der Tote schwankte und stürzte endlich zu Boden.
»Ist der zählebig, der Teufel«, sagte der Polizeimeister, über den Leichnam gebeugt und schüttelte verwundert den Kopf. »Geradezu ein Wiedergänger. Sehen Sie, er klappert noch mit den Augen. Das glaubt einem keiner.«
Dann trat er zu Berditschewski, der nach all den Erschütterungen halb tot war, und hockte sich neben ihn.
»Alle Achtung, Matwej Benzionowitsch, Sie sind ein Draufgänger.« Er wiegte respektvoll den Kopf. »Dass Sie keine Angst hatten, das vom Hinterausgang zu rufen!«
»Aber es hat nichts genützt«, sagte Berditschewski mit schwacher Stimme. »Bubenzow ist trotzdem entkommen.«
Lagrange lachte, dass seine weißen Zähne blitzten.
»Aber woher denn! Wir haben ihn gefasst, auch seinen sauberen Sekretär. Direkt im Pferdestall.«
»Im Ernst?« Berditschewski verstand überhaupt nichts mehr.
»Ich habe absichtlich geflucht, für den Tscherkessen. Damit der Trick mit dem fliegenden Revolver echter aussah.«
Vor Begeisterung und Erleichterung fand Berditschewski nicht gleich die richtigen Worte.
»Ich . . . Wirklich, Felix Stanislawowitsch, Sie sind mein Retter . . . Das werde ich Ihnen nicht vergessen . . .«
»Das wünsche ich mir sehr.« Der wackere Polizeimeister blickte Berditschewski forschend in die Augen. »Ich werde Ihnen auch künftig treu und redlich dienen, Ehrenwort. Aber hängen Sie die Geschichte mit dem Schmiergeld nicht an die große Glocke, verdammt soll sie sein. Der Teufel hat mich geritten. Ich habe das Geld dem Kaufmann zurückgegeben. Legen Sie beim Bischof und beim Gouverneur ein gutes Wörtchen für mich ein, ja?«
Berditschewski stieß einen Stoßseufzer aus, er dachte daran, wie er gegen die bei Beamten verbreitete Bestechlichkeit gewettert hatte, die wie Distelgestrüpp alle guten Absichten durchwucherte; und nahmen sie kein Geld, dann zumindest kleine Geschenke.
Und ein gerettetes Leben – ist das kein Geschenk?
Der Prozess über die Sawolshsker Morde fand in dem erstaunlich geräumigen und geschmackvollen neuen Gebäude des Gouvernementsgerichts statt. Anton von Gaggenau hatte selbst den architektonischen Entwurf bestätigt und den Bau persönlich beaufsichtigt, weil er ihm eine besondere Bedeutung beimaß. Er pflegte zu sagen, dass man aus dem Äußeren eines Gerichtsgebäudes schließen könne, ob die Gesetzlichkeit in dem jeweiligen Ort geachtet werde. In Russland seien die Gerichtsgebäude schmutzig, eng, schäbig, darum geschehe in ihnen so viel Unrecht und Missbrauch. Der Gouverneur vertrat unbeirrt die vielleicht naive Überzeugung: Wenn ein Gerichtssaal eine gewisse Ähnlichkeit mit einem sauberen und schönen Gottestempel habe, werde es dort auch bedeutend weniger Rechtsverletzungen geben. Und noch eine Erwägung hatte den Gouverneur bewogen, für den Bau eine so beträchtliche Summe bereitzustellen: Das neue Gerichtsgebäude sollte das goldene Jahrhundert der Sawolshsker Geschichte markieren, das sich auf dem festen Fundament von Gesetzlichkeit und Rechtlichkeit gründete.
Der Bau war gerade rechtzeitig fertig geworden, denn in dem früheren Gerichtssaal hätten nicht einmal die Ehrengäste Platz gefunden, die zu dem Prozess erschienen. Der neue Tempel der Themis fasste mühelos an die fünfhundert Zuschauer. Das war natürlich nur ein kleiner Teil derer, die der Verhandlung des Aufsehen erregenden Falles beiwohnen wollten, doch für die notwendigen Leute reichten die Plätze (zu diesen Leuten gehörten außer den offiziellen Personen und den Ehrengästen die Creme der Sawolshsker Gesellschaft, zahlreiche Journalisten, Schriftsteller aus der Hauptstadt und Vertreter des juristischen Standes, die wie Heuschrecken aus ganz Russland zu diesem gerichtlichen Turnier geströmt waren). Die außerordentliche Präsenz der Juristen erklärte sich auch daraus, dass als Verteidiger Lomejko persönlich gewonnen werden konnte, eine Leuchte der russischen Anwaltschaft und europäische Berühmtheit. Allen war noch sein vorjähriger Triumph gegenwärtig, als er Freispruch für die Schauspielerin Granatowa erwirkte, diese hatte die Ehefrau ihres Liebhabers, des Theaterunternehmers Anatoliski, erschossen.
Gegen einen so gefährlichen Gegner konnte der beschränkte Gouvernementsstaatsanwalt natürlich nicht antreten, und der Bischof, im Bunde mit dem Gouverneur, nötigte teils durch Überredung, teils durch Gewalt Berditschewski, das Amt des öffentlichen Anklägers zu übernehmen. Diese Wahl wurde auch dadurch befördert, dass Berditschewski sich durch seinen Einsatz bei der Festnahme der gefährlichen Verbrecher den Ruhm eines Helden erworben hatte, zumindest im Gouvernement.
Die Reputation eines Draufgängers und eines Mannes der Tat war Berditschewski unsagbar angenehm, denn in der Tiefe seiner Seele wusste er sehr wohl, dass er sie nicht verdiente. Aber der Preis für den Ruhm war nicht gering.
Vor Aufregung verlor der stellvertretende Staatsanwalt schon zwei Wochen vor dem Prozess Schlaf und Appetit. Er wusste selbst nicht, wen er mehr fürchten sollte: den gewieften Lomejko, die scharfzüngigen Zeitungsreporter oder den Zorn des allmächtigen Oberprokurors Konstantin Petrowitsch. Letzterer hatte eine ganze Delegation unter der Leitung des stellvertretenden Oberprokurors Heller zur Verhandlung entsandt, denn der Sawolshsker Skandal hatte dem Prestige der höchsten Glaubenshüter-Instanz des Reiches schweren Schaden zugefügt.
Zum ersten Mal musste Berditschewski vor einem breiten (und auch hohen) Publikum auftreten. Nun, wenn er stotterte oder mit zitternder Stimme spräche, wäre das nicht weiter schlimm, man würde es einem Staatsanwalt der Provinz nachsehen. Schlimmer war, dass die Anklage auf schwachen Füßen stand.
Auf Rat seines Anwalts hatte Bubenzow während der Ermittlung keine Aussagen gemacht. Frech schwieg er, betrachtete den schwitzenden Berditschewski wie eine Assel, polierte sich die Fingernägel, gähnte. In seine Zelle zurückgekehrt, schrieb er Beschwerden an höhere Instanzen.
Selig wiederum, unter dem Verdacht der Beihilfe verhaftet, redete viel, teilte aber nichts Nützliches mit. Zumeist klagte er über seine Gesundheit und schwafelte über Göttliches. Also mussten die Beweggründe des Verbrechens während der Verhandlung aufgedeckt werden.
So war der Stand der Dinge an dem Tag, an dem sich vor den glücklichen Besitzern von Gastkarten die hohen Türen des neuen Gerichtsgebäudes öffneten und die Verhandlung begann, die nicht nur in die Annalen unseres Gouvernements eingehen sollte, sondern auch in die Lehrbücher der Jurisprudenz.
Die Anordnung der Plätze im Saal unterschied sich von der sonst üblichen dadurch, dass hinter dem Richtertisch noch zwei Reihen Sessel für die angesehensten Gäste aufgestellt waren. Da saßen der stellvertretende Oberpro-kuror des Heiligen Synods und seine zwei nächsten Gehilfen, der Gouverneur und der Adelsmarschall, beide mit Gattin, die Gouverneure der beiden Nachbargouvernements (selbstredend ebenfalls mit Gattin) und Bischof Mitrofani, hinter dessen Schultern wie ein schwarzes Vögelchen eine Nonne hervorschaute, die vom Saal einstweilen überhaupt nicht wahrgenommen wurde.
Den Vorsitz führte der geachtetste und gelehrteste unserer Richter, der im Generalsrang war. Alle wussten, dass er aus Altersgründen bereits den Abschied eingereicht hatte, und erwarteten von ihm völlige Unvoreingenommenheit. Für jeden Juristen ist es schmeichelhaft, eine lange und würdige Karriere mit einem so herausragenden Prozess zu beschließen. Die beiden anderen Mitglieder des Gerichts waren hoch angesehene Friedensrichter, der eine noch jung, der andere wohl älter als der Vorsitzende.
Den hauptstädtischen Anwalt Lomejko begrüßte das Publikum mit lebhaftem Beifall, und er wuchs in die Höhe und Breite wie ein aufgehender Hefeteig. Bescheiden und würdevoll verneigte er sich vor dem Gericht, vor den Zuschauern und mit betontem Respekt vor Bischof Mitrofani, was bei den Einwohnern sehr gut ankam. Guri Samsonowitsch Lomejko hatte wohl selbst Ähnlichkeit mit dem Bischof – ebenso stattlich, klaräugig, mit grau meliertem Vollbart.
Auch der Staatsanwalt wurde freundlich begrüßt, wenn auch vorwiegend von den Ortsansässigen, die ihm dafür lauter applaudierten als der hauptstädtischen Koryphäe. Berditschewski, blass, mit blauen Lippen, verbeugte sich steif und raschelte mit einem dicken Stoß von Papieren.
Sodann wurden in langwieriger Prozedur die Geschworenen vorgestellt, und hier bewies der Verteidiger eine erstaunliche Härte, indem er entschieden zwei altgläubige Kaufleute, einen Ältesten der Syten und merkwürdigerweise sogar den Direktor des Gymnasiums ablehnte. Der Ankläger legte keinen Protest gegen solches Ansinnen ein, er gab mit seiner ganzen Haltung zu verstehen, dass die Zusammensetzung der Geschworenen keine Bedeutung habe, denn der Fall sei ohnehin klar.
In diesem Sinne hielt Berditschewski auch sein Plädoyer. Er begann erwartungsgemäß verworren und unbeholfen und schnäuzte sich gar beim zweiten Satz, aber dann fing er sich (besonders als ihm teilnahmsvoll applaudiert wurde) und sprach im Weiteren gewandt, glatt und zuweilen sogar beseelt.
Er hatte sich sorgfältig vorbereitet und die wichtigsten Passagen auswendig gelernt. Gegen Ende der zweiten Stunde legte er eine effektvolle Pause ein, zeigte mit drohend erhobenem Finger auf den Angeklagten und richtete die Augen himmelwärts, ohne lächerlich zu wirken, was kaum einem Staatsanwalt gelingt. Sein Plädoyer wurde viele Male von Beifall unterbrochen, und einmal erntete er sogar eine Ovation (als er aufs anrührendste über die verführte und verlassene Fürstin Telianowa sprach – hier konnten etliche Damen ein Schluchzen nicht unterdrücken).
Es war ein vorzügliches Plädoyer mit feinsten psychologischen Nuancen und umwerfenden rhetorischen Fragen. Wir hätten es gern ausführlich wiedergegeben, aber das würde zu viel Platz einnehmen, denn es dauerte mehr als drei Stunden. Auch fügte es den uns bereits bekannten, etwas unausgegorenen Schlussfolgerungen von Schwester Pelagia kaum etwas Neues hinzu, aber es verlieh ihnen mehr Gewicht, Überzeugungskraft und sogar Glanz. Mit Bedauern verzichten wir auf die ganze Psychologie und die Beispiele rhetorischer Kunst und beschränken uns auf die Hauptpunkte der Anklage.
Also, dem Angeklagten Bubenzow wurde zur Last gelegt: der Mord an dem Kaufmann Wonifatjew und seinem minderjährigen Sohn, der Mord an dem Petersburger Photokünstler Arkadi Poggio, der Mord an der Fürstin Naina Telianowa und ihrem Dienstmädchen Jewdokia Syskina und schließlich Widerstand bei der Festnahme, was die schwere Verwundung zweier Polizisten zur Folge hatte, von denen einer inzwischen verstorben war. Der Staatsanwalt bat das Gericht, Bubenzow zu unbefristeter Zwangsarbeit zu verurteilen und seinen Komplizen Selig, der zweifellos von den Verbrechen seines Vorgesetzten gewusst hatte und sich der Verhaftung durch Flucht hatte entziehen wollen, zu einem Jahr Gefängnis mit anschließender Verbannung.
Berditschewski nahm wieder Platz, er war heiser, aber zufrieden mit sich. Ihm wurde schöner Beifall gespendet, sogar von den angereisten Juristen, was ein erfreuliches Zeichen war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen fragenden Blick auf den Bischof, der seinen Protege während des Plädoyers mehrfach durch ein Neigen des Kopfes und ein wohlwollendes Senken der Augenlider ermuntert hatte. Auch jetzt beantwortete er den Blick des Staatsanwalts mit einem billigenden Nicken. Ja, Berditschewskis Plädoyer war in der Tat gelungen.
Die Verhandlung wurde nach einer Pause fortgesetzt, die angereisten Rechtskundigen hatten sie genutzt, um den Fall zu erörtern. Die Mehrheit neigte zu der Ansicht, dass die Anklage vernünftig aufgebaut war und der hinterwäldlerische Staatsanwalt mit seinem Plädoyer dem Verteidiger eine harte Nuss zu knacken gegeben hatte. Doch Lomejko war nicht der Mann, der sich davon schrecken ließ, wahrscheinlich würde er mit seiner virtuosen Rhetorik brillieren und den Wortkünstler der Provinz in den Schatten stellen.
Aber das von allen anerkannte Genie des großen Anwalts bestand gerade darin, dass er die in ihn gelegten Erwartungen nicht erfüllte, sondern – übertraf.
Der Anfang seines Plädoyers war, gelinde gesagt, merkwürdig.
Lomejko trat nach vorn und stellte sich so hin, dass er den Zuschauern den Rücken zuwandte, den Geschworenen die Seite, das Gesicht aber dem Gericht, was ganz ungewöhnlich war. Er breitete halb verlegen, halb verdrossen die Arme aus und verharrte eine ganze Weile in dieser wunderlichen Haltung, ohne ein Wort zu sagen.
Im Saal, der schon zur Ruhe gekommen war, wurde getuschelt, Stühle knarrten, aber der Verteidiger schwieg noch immer. Er hob erst an zu sprechen, als der Vorsitzende befremdet auf seinem Stuhl herumrutschte und im Saal wieder angespannte Stille eingetreten war.
»Ich weiß nicht . . . ich weiß nicht, was ich zu dem Plädoyer des verehrten Anklägers sagen soll«, wandte sich Lomejko in leisem vertraulichem Ton an das Gericht und verkündete unvermittelt: »Wissen Sie, ich bin nämlich gar nicht so weit von hier aufgewachsen. Ich habe meine Kindheit am hiesigen Fluss verbracht. Ich habe diese Luft in mich eingesaugt, bin mit ihr groß geworden . . . Dann bin ich weggefahren, in ein lautes, geschäftiges Leben eingetaucht, aber, wissen Sie, meine Seele blieb immer dem Fluss verbunden. Ich sage ohne Pathos, was ich denke. Hier, inmitten dichter Wälder und bescheidener, unergiebiger Felder, schlägt das eigentliche Herz Russlands. Deshalb, meine Herren«, hier veränderte sich die Stimme des Redenden kaum merklich, gewann allmählich an Elastizität, Kraft und vielleicht auch unterschwelliger Drohung, »deshalb, meine Herren, macht es mich krank, wenn ich von Erscheinungen asiatischer Roheit erfahre, wie sie leider allzu oft in der tiefen russischen Provinz Vorkommen. Ich habe viel Gutes über Sawolshsk und die hier eingeführte Ordnung gehört, darum glaube ich aufrichtig, dass das hohe Gericht keinen Anlass geben wird, der Voreingenommenheit und des Lokalpatriotismus verdächtigt zu werden. Leider war es gerade dieser unappetitliche Geruch, der mir und den Gästen Ihrer Stadt aus den Äußerungen meines verehrten Opponenten entgegenschlug.«
Dieser Anfang machte die Richter einerseits wütend, andererseits nervös angesichts der in ihre Notizblöcke kritzelnden Reporter, der Zeitungszeichner und der unnachsichtigen Publizisten, die hier die öffentliche Meinung des unermesslichen Imperiums vertraten.
Der Anwalt aber hatte sich inzwischen von den Richtern abgewandt und fixierte nun die Geschworenen. Zu ihnen sprach er ganz schlicht und ohne jeden drohenden Unterton:
»Meine Herren, ich möchte ein übriges Mal auf das verweisen, was Sie natürlich auch ohne mich wissen. Heute findet das wichtigste Ereignis in Ihrem Leben als Bürger statt. Einen solchen Prozess hat es in Ihrer stillen Stadt noch nie gegeben und wird es hoffentlich nie wieder geben. Ich habe Sie lange mit Fragen gequält und etliche als Geschworene abgewiesen, aber ich tat es ausschließlich im Interesse der Rechtsprechung. Ich verstehe sehr wohl, dass Sie alle lebendige Menschen sind. Jeder hat sich wahrscheinlich schon seine Meinung gebildet, Sie haben mit Ihren Angehörigen, Freunden und Bekannten über die Umstände des Falls gesprochen . . . Ich bitte Sie inständig nur um eines.« Er faltete die Hände wie zum Gebet. »Verurteilen Sie die beiden Angeklagten nicht im Voraus. Sie sind ohnehin schon gegen sie eingenommen, weil Sie in ihnen die Verkörperung einer fremden und feindseligen Kraft sehen, deren Name Petersburg ist. Dieser Kraft begegnen Sie mit Argwohn und Misstrauen, häufig leider zu Recht. Ich räume ein, dass Bubenzow den einen oder anderen von Ihnen gekränkt oder erzürnt hat. Er ist ein komplizierter, unbequemer Mensch. Solche geraten immer in vertrackte Situationen – manchmal aus eigener Schuld, manchmal durch eine Laune des ungerechten Schicksals. Wenn das Gericht mir eine kurze Abschweifung von dem zu verhandelnden Fall erlaubt, werde ich Ihnen eine kleine Geschichte über Wladimir Bubenzow erzählen. Übrigens ist es gar keine Abschweifung, denn Sie haben über ein menschliches Schicksal zu befinden und müssen wissen, was für ein Mensch er ist. . .«
Der Verteidiger machte wieder eine Pause, als prüfe er, ob man ihm aufmerksam zuhörte. Man hörte ihm höchst aufmerksam zu – es herrschte völlige Stille, bis auf leises Stühleknarren.
»Vielleicht zeigt diese Geschichte meinen Klienten in einem noch ungünstigeren Licht, aber ich erzähle sie trotzdem, denn sie macht seinen Charakter sehr augenfällig . . . Also, mit fünfzehn Jahren verliebte sich Wladimir Bubenzow. Leidenschaftlich, besinnungslos, wie das in früher Jugend so ist. In wen, fragen Sie? Darin liegt eben die Unvernunft, denn die Herzensdame des jungen Pagen war eine Großfürstin, ich werde ihren Namen nicht nennen, denn sie ist jetzt die Gattin eines europäischen gekrönten Hauptes.«
Durch die Reihen der Journalisten ging ein Raunen – sie überlegten, von wem die Rede sein könnte, und hatten es wohl bald heraus.
»Wladimir Bubenzow schrieb Ihrer kaiserlichen Hoheit zuerst einen Liebesbrief, später wurde er nächtens unter dem Fenster ihres Schlafgemachs erwischt. Die Folge war ein äußerst unangenehmer Skandal. Um im Pagenkorps bleiben zu dürfen, sollte der Knabe seinen Vorgesetzten um Verzeihung bitten. Er weigerte sich strikt und wurde relegiert, damit war ihm der Weg zu einer glänzenden Hofkarriere verbaut. Ich habe diese lang zurückliegende Geschichte erwähnt, damit Sie die wesentliche Besonderheit im Charakter meines Mandanten besser verstehen. Er ist ein stolzer Mann, meine Herren, und daran ist nicht zu rütteln. Wenn gegen ihn ungeheuerliche, ja, absurde Beschuldigungen erhoben werden, verschmäht er es, sich zu rechtfertigen. Er schweigt stolz.«
Es ist anzunehmen, dass diese »kleine Geschichte« sich nicht so sehr an die Geschworenen richtete, größtenteils ältere und gesetzte Männer, sondern vor allem an die weibliche Hälfte des Publikums, deren Haltung bei solchen Prozessen gewöhnlich die Atmosphäre bestimmt. Die Frauen, die auch schon vorher Bubenzow mit gierigem Interesse betrachtet hatten, würdigten die Anekdote nach Gebühr, und ihre Neugier erfuhr eine gewisse Metamorphose – war sie zuvor überwiegend beklommen gewesen, so wurde sie jetzt überwiegend teilnahmsvoll.
Nachdem der geschickte Advokat diesen wichtigen, wenn auch unauffälligen Sieg errungen hatte, offenbarte er sogleich seine Schläue.
»Ach, wie schade, dass Vertreterinnen des schönen Geschlechts nicht als Geschworene zugelassen sind«, sagte er mit einem zutiefst aufrichtigen Seufzer. »Sie sind weitaus barmherziger als die Männer. Aber ich, meine Herren Geschworenen, bitte Sie keineswegs um Barmherzigkeit oder, Gott behüte, um Nachsicht für Wladimir Bubenzow.«
Es ergab sich von selbst, dass von dem zweiten Angeklagten kaum die Rede war. Entweder war der demutsvolle Selig für den Löwen der Anwaltschaft ohne Interesse, oder Lomejko ging davon aus, dass ein Freispruch der Hauptfigur ganz natürlich auch Seligs Haftentlassung nach sich ziehen würde.
»Ihre Nachsicht würde diesen stolzen Mann nur peinigen. Vor allem deshalb« (hier tönte die Stimme des Verteidigers plötzlich wie eine Bronzeglocke), »weil er Ihrer Nachsicht nicht bedarf!!«
Einige Geschworene runzelten bei diesen Worten die Brauen, Lomejko aber flog mit behenden Schritten zu dem langen Tisch, an dem die zwölf Volksvertreter saßen, und bat mit sanfter Stimme:
»Schonen Sie ihn nicht. Vergessen Sie nur Ihren Groll gegen ihn. Sie haben nicht über seinen schlechten Charakter zu urteilen, nicht über seine Ausschweifung und seinen Ehrgeiz, sondern über schreckliche, grauenhafte Verbrechen, die, das versichere ich Ihnen, Bubenzow nicht begangen hat. Was ich Ihnen im Folgenden beweisen werde.«
Es stellte sich heraus, dass alles Bisherige nur die Ouvertüre zur eigentlichen Verteidigung gewesen war. Die Zuhörer setzten sich raschelnd bequemer zurecht und machten sich auf ein langes Plädoyer gefasst, aber Lomejko trug seine Argumentation in weniger als einer Viertelstunde vor.
»Meine Herren, Sie haben das endlose Plädoyer des Anklägers gehört, das eher dem Geheul von Hamlets Vater glich als einem seriösen juristischen Diskurs.«
Im Umkreis des stellvertretenden Oberprokurors wurde beifällig gelacht.
»Ich habe gesehen, meine Herren, dass dieses Plädoyer Sie leider beeindruckt hat. Dabei war es ausschließlich auf billiger Effekthascherei aufgebaut. Das Fehlen von Beweisen wurde durch literarisch aufgeputzte Banalitäten und Vermutungen kaschiert, hinter denen nichts steht. Ich möchte niemanden kränken, aber das war ein Musterbeispiel für provinzielle Schwülstigkeit in ihrer schlimmsten Form. In Moskau oder Petersburg ist derartiges Geschwätz längst aus der Mode. Dort hätte man unseren Ankläger einfach ausgepfiffen, wie es eine miserable Schauspielerleistung auch verdient.«
Berditschewski lief rot an und wandte sich empört zu dem Vorsitzenden um, doch der machte ein ratloses Gesicht. Offenbar waren auch die Geschworenen verwirrt.
»Und nun zur Sache.« Der Zauberer wechselte erneut den Ton, der nun nicht mehr giftig und mitleidig war, sondern trocken und sachlich. Jetzt sprach ein pedantischer Gelehrter, der wissenschaftlich fundierte und jedem auch nur halbwegs verständigen Menschen einleuchtende Fakten vortrug. »Meine Herren, ich werde Ihnen erzählen, wie es wirklich war. Ich kannte die Wahrheit von Anfang an, habe aber meine Mandanten angewiesen, Stillschweigen zu bewahren, weil die hiesigen Ermittler nicht unparteiisch sind, weil sie nach Rache dürsten und sicherlich die Umstände des Falls verzerrt hätten, wie das die beamteten Rechtsverdreher seit eh und je in unserem leidgeprüften Russland so gern tun.«
Den Beifall, mit dem der liberale Teil des Publikums diese Bemerkung würdigte, ließ Lomejko völlig unbeachtet. Er wartete, bis er verebbt war, und fuhr fort:
»Nacht, eine öde Landstraße. Durch graue Wolken schimmert unheilverkündend der Mond, es riecht nach Regen, Wind heult. Zwei Menschen gehen die Straße entlang: ein bärtiger, mit kreisrund geschnittenem Haar, der andere noch ein Kind. Der Mann hält den Knaben umfasst, dieser lehnt das blonde Köpfchen an die Schulter des Vaters und schlummert im Gehen. Ringsum Stille – kein Mensch, keine Bewegung, nur aus dem Wald schallt das wehmütige Rufen einer Eule . . .«
Lomejko bedeckte die Augen mit der Hand, und es hatte den Anschein, dass sich seinem Blick lebendige Bilder boten, die er nur wiederzugeben brauchte.
»Plötzlich taucht am Straßenrand eine verschwommene Gestalt auf. Der Unbekannte hebt die Hand, als brauche er Hilfe. Arglos fragt der Kaufmann: ›Was willst du, guter Mann?‹ Und da stößt ihm der Unbekannte ein Messer in die Kehle, wirft ihn zu Boden und zieht die blutige Wunde von Ohr zu Ohr. Das Kind, vor Entsetzen versteinert, sieht weinend, wie sein Vater getötet wird. Dann steht der Unbekannte auf, packt den Knaben bei den schmalen Schultern, blickt ihm in die schreckgeweiteten Augen und stößt ihm die scharfe Klinge in den dünnen Hals. Das Flehen um Gnade geht über in ein Röcheln, ein Glucksen . . . Warten Sie, das ist noch nicht alles!«, rief der Advokat, an die hysterisch aufschluchzenden Zuhörerinnen gewandt. »Ich habe Ihnen noch nicht das schlimmste Grauen beschrieben – wie der Mörder die leblosen Körper zerstückelt, die Köpfe abtrennt. Wie die Wirbel knacken, wie eine Fontäne schwarzen Bluts hochschießt. . . Und nun sehen Sie Wladimir Lwowitsch an.« Eine abrupte Wendung, eine ausgestreckte Hand. »Und sagen Sie ehrlichen Gewissens, können Sie sich den ehemaligen Gardefähnrich, den Synodalinspektor in der Rolle eines solchen Schlächters vorstellen? Natürlich nicht! Jetzt zu dem Mord an dem Photokünstler Poggio. Zu welchen Mutmaßungen sich der Staatsanwalt auch verstiegen hat, es liegt doch völlig auf der Hand, dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt. Herr Bubenzow hat geraume Zeit in Ihrer Stadt verbracht. Sie hatten Gelegenheit, seinen Charakter und seine Angewohnheiten zu studieren. Sie kennen seine gleich bleibende Kälte und sein blasiertes Gehaben, das auf viele so abstoßend gewirkt hat. Halten Sie es wirklich für vorstellbar, dass dieser beherrschte Verstandesmensch mit einem Stativ zum Schlag ausholt, dass er in blinder Raserei Photographien zerreißt und Glasplatten zertrampelt? Sehen Sie ihn genauer an! Er ist ein feingliedriger Mensch, nicht breit in den Schultern, von zartem Körperbau. Hätte er denn die Kraft besessen, mit dem schweren Stativ einen Stoß von derart satanischer Wucht zu führen?«
Nach diesem ersten wesentlichen Argument (das Bisherige war lediglich Psychologie gewesen) begab sich Lomejko wieder in die Gefilde der Gefühle und fuhr in demselben strengen und unsentimentalen Ton fort.
»Na schön, meine Herren, lassen wir die Argumente der Logik und des Verstands vorerst beiseite, und wenden wir uns dem Herzen zu, dem Instinkt, der uns nie im Stich lässt. Es kommt vor, dass uns der Verstand beharrlich einredet: Das ist schwarz, schwarz, und wir sind schon drauf und dran, es zu glauben, aber dann kommt das Herz plötzlich zu sich, schüttelt den Kopf« (das Bild vom Herzen, das den Kopf schüttelt, war etwas zweifelhaft, aber alle waren so von seiner Rede hingerissen, dass sie nicht darauf achteten) »und ruft: ›Aber wie kann es schwarz sein, wenn es doch weiß ist!‹ Ich wende mich an die Damen im Saal. Viele von Ihnen haben mit Bubenzow gescherzt, gelacht und, ich bitte um Vergebung, kokettiert. Sie haben mit ihm musiziert, sind zum Picknick gefahren und dergleichen mehr. Halten Sie es wirklich für möglich, dass dieser Verehrer weiblicher Schönheit fähig gewesen wäre, der Fürstin Telianowa mit einem Stein den Schädel einzuschlagen? Betrachten Sie doch nur diesen entsetzlichen, groben Gegenstand.« Lomejko zeigte auf den wuchtigen Pflasterstein, der auf dem Tisch mit den Beweisstücken lag. »Können Sie sich Wladimir Lwowitsch mit einer solchen Waffe in der Hand vorstellen?«
»Nein! Niemals!«, rief Olimpiada Saweljewna laut, und viele Damen pflichteten ihr glühend bei.
»Sie bezweifeln es«, konstatierte der Verteidiger. »Und Sie haben Recht, denn der Angeklagte hat nichts von alledem getan. Sie fragen, wer hat dann all die Unglücklichen getötet? Wer ist dieses Ungeheuer? Das will ich Ihnen gern sagen. Die Herren Ermittler haben vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen, doch für einen unvoreingenommenen Menschen ohne Scheuklappen ist der Fall völlig eindeutig.«
Der Verteidiger stemmte die Hände in die Seiten, reckte den Bart in die Höhe und holte zum entscheidenden Schlag aus:
»Ja, Bubenzow ist schuldig. Aber nicht des Mordes, sondern unverzeihlicher Blindheit. Wie übrigens zahlreiche der hier Anwesenden. Er vermochte nicht das wilde Ungeheuer zu durchschauen, das lange Zeit seine Gönnerschaft genoss. Ja, ja, Sie haben mich richtig verstanden. Der Mörder war in allen Fällen Murad Dshurajew, das ist völlig klar. Ihm hat es nichts ausgemacht, dem Kaufmann und seinem Sohn die Kehle durchzuschneiden. Und die fünfunddreißigtausend, die Wonifatjew bei sich hatte, waren für Dshurajew ungeheuer viel Geld. Er war an jenem Tag in Drosdowka, erfuhr von dem Verkauf des Waldes, und alles Weitere war sehr einfach. Ein Kutscher kann sich leichter unauffällig vom Haus entfernen als ein Gast, der noch dazu im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Und auch mit dem Abtrennen der Köpfe hatte dieser Baschi-Bosuk, wie Sie verstehen werden, keine Schwierigkeiten.«
Das war zweifellos ein Treffer. Die beste Bestätigung dafür war das Gewisper, das durch den Saal ging.
»Und nun erinnern wir uns an die Umstände des Todes von Poggio. In jener Nacht randalierte Dshurajew. Er zog durch die Schänken und Kneipen, tauchte bald da, bald dort auf. Seltsamerweise dachte niemand darüber nach, warum der Kaukasier, der sonst nie trank, plötzlich rotsah. Aber es ist wieder völlig klar. Wenn es in Dshurajew etwas Menschliches gab, dann war es seine hündische Ergebenheit gegenüber seinem Herrn. Er wusste, dass Bubenzow die Frau nicht mit Poggio teilen wollte. Die Kaukasier haben zu derartigen Konflikten ein völlig anderes Verhältnis als wir zynischen und übersättigten Europäer. Wir wollen auch nicht vergessen, dass aus Dshurajews Sicht Naina Telianowa keine Giaur war, sondern die Tochter eines kaukasischen Fürsten. Man muss annehmen, dass er die Wahl seines Herrn billigte – wohl mehr als der Herr selbst.« (Diese feine Bemerkung fand volle Zustimmung bei dem weiblichen Teil des Publikums.) »Herr Selig sagte mir, er habe dem Tscherkessen von dem Skandal auf der Vernissage erzählt, von Poggios Absicht, die Fürstin Telianowa in Schande zu bringen, indem er fatale Photographien zur allgemeinen Besichtigung ausstellte. Wer von Ihnen schon mal im Kaukasus war, kann ermessen, wie ehrverletzend ein derartiges Verhalten für ein Mädchen ist und für alle, die mit ihr durch verwandtschaftliche oder andere Bande verbunden sind. Die Frau, die der Tscherkesse für die würdige Braut seines Herrn hielt, wurde, ich bitte die Damen, das grobe Wort zu verzeihen, splitterfasernackt zur Schau gestellt, zur Belustigung des Publikums.«
Oh, da ging ein Raunen durch den Saal, und die Reporter kratzten mit ihren Bleistiften übers Papier.
»Derartige Beleidigungen werden im Kaukasus mit Blut gesühnt. Daher auch die besondere Grausamkeit des Mordes, das blindwütige Vernichten der Bilder, aller, ohne Ausnahme. Nur ein unbändiges orientalisches Temperament ist zu solcher Raserei fähig. Die unhaltbaren Vermutungen, die wir vom Staatsanwalt bezüglich einer Espe und einer Hacke gehört haben, sind allenfalls für, pardon, Kriminalromane geeignet. Die Staatsanwaltschaft hat versucht, auf einem zufälligen Zusammentreffen von Umständen ein ganzes Gebäude der Anklage zu errichten. Es nimmt nicht wunder, dass diese abstruse Konstruktion beim ersten Anstoß in sich zusammengefallen ist . . . Nun, und bei dem dritten Mord ist alles noch einfacher. Dshurajew hatte den Hauptbeleidiger getötet, doch das stellte ihn nicht zufrieden. Der Rausch verflog, aber der Schmerz der Kränkung, die seinem Herrn zugefügt worden war, peinigte weiterhin sein wildes Herz. Denn die größte Kränkung war seinem Herrn von der Frau angetan worden, die beinahe seine Gattin geworden wäre. Sie hatte ihn nicht nur betrogen, sondern sich wie eine verächtliche Dirne aufgeführt. In der muselmanischen Welt werden solche Frauen bekanntlich gesteinigt. Genau das hat Dshurajew getan. Er nahm einen Stein und tötete Naina Telianowa. Und dass er bei der Gelegenheit auch das völlig unschuldige Hausmädchen umbrachte – kam es diesem Wilden etwa auf eine christliche Seele mehr oder weniger an?«
Lomejko stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Nun zum letzten Punkt. Vergessen Sie nicht, dass es Dshurajew war, der bei der Inhaftierung Widerstand leistete. Verständlich, denn er hatte dafür als einziger gewichtige Gründe.«
Lomejko schloss unspektakulär und abrupt, worin sich wahrscheinlich hauptstädtischer Chic äußerte:
»Das wäre meinerseits alles, meine Herren. Wie Sie sehen, habe ich Sie nicht so lange gequält wie der Staatsanwalt. Denn ich habe Argumente, er dagegen Sentiments. Fällen Sie eine Entscheidung, das ist Ihr Recht und Ihre Pflicht. Aber der Fall ist vollkommen klar.«
Ovationen gab es nicht, denn die Reaktion auf das Plädoyer war gemischt: Bubenzows Anhänger frohlockten unverhohlen, seine Gegner waren sichtlich verwirrt.
Der Staatsanwalt hob sogleich die Hand, und es begann der Schlagabtausch der gegnerischen Parteien.
»Dann ist Ihr Mandant also ein Unschuldslamm, das nicht einmal ahnte, was für einen Wolf im Schafpelz es sich herangezogen hatte?«, rief Berditschewski hitzig.
Viele lachten, denn mit einem Lamm hatte Bubenzow nun wirklich keine Ähnlichkeit. Ermutigt fuhr Berditschewski fort:
»Meint der Herr Verteidiger nicht auch, dass die Geschichte mit den Köpfen dem Synodalinspektor sehr gelegen kam? Kaum war Bubenzow zur Ausmerzung des Heidentums bei uns in Sawolshsk eingetroffen, da wurden auch schon Menschen ohne Kopf gefunden, genauso, wie es in der vierhundert Jahre alten Chronik steht.«
Lomejko erwiderte ironisch:
»Vielleicht hat mein Mandant auch die Chronik selbst geschrieben?«
Wieder ertönte Gelächter, lauter als beim vorigen Mal. In der Kunst des Geplänkels war Berditschewski dem schlagfertigen Hauptstädter nicht gewachsen.
»Es ist gar nicht so wichtig, wer die Morde ausgeführt hat«, ließ sich Berditschewski auf ein wesentliches Zugeständnis ein, denn er konnte die Argumente der Verteidigung nicht widerlegen. »Möglich, dass sich Bubenzow nicht selbst die Hände schmutzig gemacht hat. Aber wenn Dshurajew Blut vergoss, handelte er mit Wissen Bubenzows!«
»Haben Sie dafür Beweise?« Der Advokat kniff die Augen ein. »Oder erschüttern Sie nur die Luft, wie gehabt?«
»Der unbedarfte, ungebildete Kaukasier hätte sich eine so raffinierte Intrige nicht ausdenken können«, erregte sich Berditschewski. »Und in den Feinheiten der Photokunst kannte er sich auch schwerlich aus. Immerhin wurden nicht nur die Bilder zerrissen, sondern auch die Platten zerschlagen. Woher dieses Wissen um den photographischen Prozess? Ich erinnere daran, dass der Mörder genau das Bild und die Platte mitgenommen hat, die den Ort preisgaben, wo die Leichen vergraben waren. Wie erklären Sie das?«
Lomejko lächelte herablassend.
»Sehr einfach, Herr Kollege. Als Dshurajew die Ausstellung zertrümmerte, sah er auf einem der Bilder die Stelle, die er nur zu gut kannte. Er blickte genauer hin – da war die von ihm vergessene Hacke. Es ist nicht schwer zu erraten, was für eine Gefahr solch ein Bild für den Mörder darstellte. Das ist das ganze Rätsel. Und dann, Herr Ankläger, möchte ich ganz energisch protestieren gegen die widerwärtige Geringschätzung von Andersstämmigen, die aus Ihren Worten herauszuhören war. ›Der unbedarfte, ungebildete Kaukasier‹. Bei Ihnen kommt es so heraus, als wäre der eigentlich gar kein richtiger Mensch gewesen. Aber er war sehr wohl ein Mensch, der nur andere Traditionen und einen anderen Glauben hatte, aber durchaus eigene Ehrbegriffe, weitaus strengere als unsere. Sehr schade, dass die Polizei Dshurajew getötet hat. Ich hätte gern seine Verteidigung übernommen. Schämen Sie sich, mein Herr. Man sollte nicht jeden mit dem eigenen Maß messen, denn es leben auf der Welt nicht nur Russen.«
Für diese redlichen Worte wurde der Verteidiger belohnt mit dem stürmischen Beifall des fortschrittlichen Teils der Anwesenden, wobei am lautesten die Publizisten klatschten. Berditschewski errötete qualvoll, weil er dieselben Ansichten vertrat.
»Und der Fluchtversuch? Warum wollte Bubenzow fliehen, wenn er unschuldig ist?«, besann er sich.
Lomejko dämpfte die Stimme, als sei es ihm peinlich, auf eine so einfältige Frage zu antworten.
»Erlauben Sie, was blieb ihm denn anderes übrig, als der Tscherkesse das Feuer eröffnete? Ihre trefflichen Polizisten hätten alle drei mit Kugeln durchsiebt. Außerdem konnte Bubenzow nicht auf eine faire Untersuchung hoffen. Und wir sehen nun, wie Recht er hatte.«
Berditschewski sah, wie die Lippen des Angeklagten in einem triumphierenden Lächeln zuckten.
»Es reicht«, sagte der stellvertretende Oberprokuror vernehmlich. »Der Fall ist völlig klar.«
Berditschewski warf Mitrofani einen verzweifelten Blick zu, und der Geistliche machte ihm ein Zeichen.
»Herr Vorsitzender«, erklärte Berditschewski unverzüglich. »Ich bitte darum, einen Zeugen der Anklage anzuhören.«
Als sich herausstellte, dass der Bischof aussagen wollte, sprang der Verteidiger auf und rief:
»Ich protestiere! Der Bischof hatte mit der Ermittlung nichts zu tun, ich habe die Materialien aufmerksam studiert. Folglich beabsichtigt er mit seiner Autorität als hoch geachteter Geistlicher die Meinung der Geschworenen zu beeinflussen.«
Mitrofani lächelte, erheitert von dem Gedanken, das Gericht könnte ihm nicht das Wort erteilen. Der Vorsitzende, tiefrot im Gesicht, antwortete der hauptstädtischen Koryphäe scharf:
»Das stimmt nicht! Obwohl Bischöfliche Gnaden formal nicht an der Ermittlung beteiligt war, wissen alle sehr genau, dass er die Tätigkeit der Ermittler leitete. Überdies ist sein Scharfblick in solchen Fällen weithin bekannt, nicht nur in unserer Provinz.« Das letzte Wort betonte der Richter, um dem Anwalt seine Sticheleien heimzuzahlen. »Sondern darüber hinaus.«
»Wie Sie wünschen.« Lomejko neigte den Kopf, doch bevor er sich setzte, sagte er:
»Ich bitte Sie inständig, Bischöfliche Gnaden, missbrauchen Sie nicht Ihr Wort als Geistlicher. Es wiegt schwer, umso größer ist daher die Verantwortung.«
Der Auftritt eines solchen Zeugen stellte eine umwerfende Sensation dar, und einer der Zeichner kroch vor Eifer sogar auf dem Fußboden näher an den Geistlichen heran, um dessen majestätische Haltung beim Eid einzufangen.
Mitrofani wandte sich nicht an die Geschworenen, sondern direkt an den Verteidiger, als sehe er in ihm die Schlüsselfigur dieser erbitterten juristischen Schlacht.
»Sie sprachen von Verantwortung«, sagte er klar und laut. »Und wahrlich, Sie haben Recht. Auf jedem, der vor einem menschlichen Gericht aussagt, liegt eine große Verantwortung. Doch unvergleichlich größer ist unsere Verantwortung vor dem Jüngsten Gericht. Das scheinen Sie vergessen zu haben.«
Lomejko senkte demütig den Kopf, als wage er einem so respektablen Opponenten nicht zu widersprechen, bleibe aber bei seiner Meinung.
»Sie sind doch ein begabter Mensch und verfügen über einen scharfen Verstand«, fuhr Mitrofani vorwurfsvoll fort. »Wozu die Rabulistik? Der Kaufmann und sein Sohn, die drei armen Syten, der Künstler, die beiden jungen Frauen, der Polizist und dann noch der Kaukasier – sie alle mussten ihr Leben lassen. Und sie alle hatten irgendwie mit Bubenzow zu tun. Das werden Sie doch nicht bestreiten? Bei uns in Sawolshsk ging es still und friedlich zu. Dann erschien dieser Mann, und es war, als hätte jemand unsere gesegnete Gegend mit dem bösen Blick verhext. Plötzlich gab es Morde, gegenseitige Verdächtigungen, Hass, Gemeinheit, Zuträgerei, Zwistigkeiten in den Familien, Angst. Was ich jetzt sage, werden viele Freidenker und Gottlose für Aberglauben und Rückständigkeit halten, aber es ist die reine Wahrheit. Unter uns sind Menschen, die das Böse in sich tragen. Es gibt viele solcher Menschen, und sie sehen genauso aus wie alle übrigen. Darum haben wir keine Angst vor ihnen und gehen vertrauensvoll, mit offenen Herzen und Armen, auf sie zu.« Hier umfing der Geistliche mit einem viel sagenden Blick die Galerie, wo unsere Sawolshsker Damen saßen. »Und wir erkennen die Träger des Bösen erst, wenn es ihnen aus eigensüchtigen Gründen in den Sinn kommt, uns zu verletzen oder zu vernichten. Dann heulen und wehklagen wir, sind aber kaum mehr zu retten, denn diese bösen Menschen haben Zähne aus Stahl, Krallen aus Eisen und Herzen aus Stein.«
Der Geistliche glich jetzt einem alttestamentarischen Propheten, und seine Stimme dröhnte, als führe er im Tal des Todes von Balaklawa (Stadt auf der Krim, wo 1854 ein Gefecht zwischen Russen und Engländern stattfand. D.Ü.) eine Schwadron in den Kampf gegen englische Husaren.
»Wissen Sie, was für eine Plage unser Gouvernement heimgesucht hat? Das Böse ist zu uns gekommen. Und wir, die wir hier leben, haben das alle gefühlt, der eine früher, der andere später. Ihr Mandant ist nicht einfach ein böser Mensch, er ist ein Diener des Bösen. Sein ganzes Leben, sein ganzes Benehmen legt davon Zeugnis ab. Ein gefährlicher Diener, denn er ist klug, gerissen, wendig, verwegen und schön. Ja, ja, schön. Der Teufel hat ihn mit einer honigsüßen Sprache, einer einlullenden Stimme, mit Macht über die Schwachen und vielen anderen Gaben ausgestattet.«
Hier leistete sich Bubenzow ein starkes Stück: Er formte mit den Fingern hinter dem Rücken des Geistlichen zwei Hörner und streckte die Zunge heraus. Der eine und andere prustete, doch auf die meisten Anwesenden machte dieser Ausfall einen äußerst unangenehmen Eindruck.
»Sehen wir uns diejenigen seiner Taten an, die nicht einmal Sie bestreiten können«, fuhr der Bischof fort, nach wie vor nur an den Anwalt gewandt. »Sie sagten, den Kaufmann Wonifatjew und seinen Sohn habe nicht er getötet, sondern sein Bedienter. Nehmen wir an, nehmen wir nur einmal an, dass es wirklich so ist. Dieses schlimme Verbrechen hat Bubenzow zum Vorwand genommen, um ein noch schlimmeres zu begehen: Er erhob eine falsche Anschuldigung gegen ein ganzes Volk, löste eine Welle des Hasses und der Intoleranz aus und veranstaltete eine schändliche und widerliche Jagd auf Andersgläubige. Und wie behandelte er Naina Telianowa? Er verführte sie, zerstörte ihr Leben und verhöhnte ihr zwar sündhaftes, doch aufrichtiges Gefühl. Und er hat sie nicht aus Liebe verführt, nicht einmal aus Leidenschaft, sondern aus einer flüchtigen Laune heraus oder, schlimmer noch, aus Eigennutz. Bubenzow hat Naina Telianowa willentlich oder unwillentlich zu widerwärtigen Taten und zur Mittäterschaft an einem ungeheuerlichen Mord angestiftet. Danach hat er sie getötet. Ja, ja, er hat Naina Telianowa, ihr Hausmädchen und den Künstler auf dem Gewissen.«
Das konnte Lomejko nicht mehr dulden, denn er sah, was für eine Wirkung die Rede des Bischofs auf die Geschworenen hatte.
»Aber erlauben Sie!«, schrie er und erhob sich. »Das meinen Sie im übertragenen Sinn, aber das Gesetz erkennt so etwas nicht an! Herr Vorsitzender, das ist eine Verletzung der Verfahrensregeln! Ich protestiere!«
»Man kann es auch im direkten Sinne verstehen«, sagte Mitrofani bedeutend leiser. »Was hatten Sie denn für Argumente, mit denen Sie die Anklage zu entkräften versuchten? Der schmächtige Bubenzow hätte gar nicht die Kraft gehabt, Poggios Brust mit dem schweren Stativ zu durchbohren? Sie sprachen, wenn ich mich recht entsinne, von satanischer Kraft‹? Ein sehr passender Ausdruck. Denn auch ich denke an satanische Kraft, wenn ich sehe, welch böse Energie und teuflische Unersättlichkeit Herr Bubenzow hier in unserem Gouvernement an den Tag gelegt hat. Ja, er ist feingliedrig und hager, aber Menschen von solcher Beschaffenheit verfügen bekanntlich über einen besonderen Vorrat an nervlicher Energie. Wut oder Raserei befähigt sie zu wahren Wundern an Kraft, was auch die medizinische Wissenschaft bestätigt. Aber warum in die Ferne schweifen.« Der Bischof tat, als sei ihm gerade erst ein treffendes Beispiel eingefallen. »Sie selbst haben das im vergangenen Jahr im Prozess gegen die Kleinbürgerin Baranowa sehr anschaulich beschrieben. Ihre Mandantin, eine siebzehnjährige Näherin, hatte mit bloßen Händen ihren Peiniger erwürgt und in der Hitze des Gefechts die achtundneunzig Kilogramm schwere Leiche sogar noch zum Teich geschleift. Ich habe in der Presse Ihr Plädoyer gelesen, das der Baranowa ein mildes Urteil eintrug. Erinnern Sie sich, dass Sie von ›nervlicher Raserei‹ sprachen?«
Das war ein vernichtender Schlag, vor allem deshalb, weil er Lomejko völlig unverhofft traf. Wer hätte gedacht, dass ein Provinzgeistlicher so gut informiert war?
Aber Mitrofani war schon weiter.
»Da Sie die Materialien des Falls gelesen haben, ist Ihnen bekannt, dass jemand versuchte, die Nonne Pelagia Lissizyna zu ermorden, nachdem sie Naina Telianowas Anschlag auf die weißen Bulldoggen aufgedeckt hatte. Unter den Sachbeweisen sind ein Sack und ein Strick, die Tatwaffen. Bubenzow war bei der Entlarvung der Fürstin Telianowa zugegen, Murad Dshurajew jedoch nicht. Wenn Dshurajew der alleinige Mörder war, woher wusste er, dass Schwester Pelagia ihm gefährlich werden konnte?«
Der Anwalt warf einen fragenden Blick auf Bubenzow – der zuckte nur die Achseln.
»Und dann . . .« Mitrofani machte eine Pause, womit er zu verstehen gab, dass gleich das Wichtigste folgen würde. »Sagen Sie, Herr Verteidiger, in wen war Naina Telianowa verliebt, in Dshurajew oder in Bubenzow?«
Das Publikum erfasste den Sinn der Frage nicht sofort, aber Lomejko erbleichte und zupfte sich den Bart.
»Die Toten, Herr Advokat, vermögen auch Zeugnis abzulegen. Gott der Herr hat ihnen eine solche Kraft verliehen. Über all Ihren Wortspielen haben Sie das Wesentliche außer Acht gelassen: Naina Telianowa hätte so Aberwitziges – Stillschweigen über die vergrabenen Köpfe, Tötung der Hunde – nur für den Mann getan, den sie von ganzem Herzen liebte. Aber nicht für den unkultivierten Tscherkessen, den Sie uns so hartnäckig als den Mörder präsentieren. Was sagen Sie dazu? Wer sieht hier den Wald vor lauter Bäumen nicht?«
Es verging eine halbe Minute, eine Minute. Die juristische Koryphäe schwieg. Der Saal hielt den Atem an, denn alle fühlten, dass sich in diesen Augenblicken der Prozess entschied.
Da wandte sich Mitrofani zum erstenmal an den Angeklagten und fragte scharf:
»Und was sagen Sie darauf, Herr Verbrecher?«
Bubenzow fuhr hoch und öffnete den Mund, um zu antworten, aber in diesem Moment geschah etwas, das auch Mitrofani nicht voraussehen konnte.
»Aaaah!«, ertönte ein gellendes Geschrei, genauer, Geheul, und Tichon Selig, der bislang mucksmäuschenstill dagesessen hatte, so dass man ihn schon fast vergessen hatte, lief um die Barriere der Anklagebank herum zur Saalmitte.
Er plumpste auf die Knie, verneigte sich dreimal bis zum Boden vor dem Gericht, den Geschworenen und den Zuschauern und wurde von einem krampfhaften Schluchzen geschüttelt. Zwei Polizisten fassten ihn unter den Armen und versuchten ihn auf die Füße zu stellen, doch er wollte partout nicht aufstehen, so dass sie ihn zur Anklagebank zurückschleifen mussten.
»Sündig bin ich durch und durch!«, greinte der übergeschnappte Sekretär. »Weh mir Verruchtem!«
Der Richter läutete drohend das Glöckchen, und Selig verneigte sich wieder bußfertig.
»Euer Barmherzigkeit«, schluchzte er. »Lassen Sie mich ein aufrichtiges Wort sagen.«
Er wandte sich seinem Banknachbarn zu, faltete die Hände wie zum Gebet und rief:
»Bekennen Sie Ihre Schuld, Wladimir Lwowitsch! Vergeben Sie mir Schwachkopf, aber ich habe keine Kraft mehr. Viel Sünde haben wir beide auf uns geladen, oh, so viel! Seine Bischöfliche Gnaden haben die Wahrheit gesprochen von den bösen Menschen, genau das sind wir allzumal. Bei Gott dem Allmächtigen flehe ich Sie an, bereuen Sie!«
Die Polizisten mussten Bubenzow an den Schultern packen und konnten selbst zu zweit den wutbleichen Inspektor kaum festhalten, was aufs überzeugendste Mitrofanis Worte von der Kraft nervlicher Raserei bestätigte.
Der Bischof schritt hoheitsvoll zu seinem Platz. Ihm wurde nicht applaudiert, das wagte man nicht, doch die respektvolle Stille, die den Geistlichen begleitete, war triumphaler als jede Ovation.
»Sie möchten eine Aussage machen?«, fragte der Vorsitzende.
»Ja, das möchte ich!« Selig fuhr sich mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht. »Ganz und gar offenherzig! Ich will die Seele erleichtern!«
Er stand auf und hob mit zitternder Stimme an:
»Wahrlich, das Böse ist allüberall, und ich bin sein ruchloser Diener. Schuldig ist Wladimir Lwowitsch, Herr Bubenzow, an all diesen schrecklichen Morden, er hat getötet. Aber auch ich habe gefehlt und bin schuldig, sintemal ich geschwiegen, vertuscht und Vorschub geleistet habe – aus Schwäche und aus Angst um mein Leben!«
Bubenzow riss sich mit solcher Kraft los, dass die Polizisten zur Seite flogen, aber ihnen kamen noch zwei zu Hilfe, und zu viert zwangen sie den Tobenden auf den Platz zurück. Bewegen konnte er sich nicht mehr, aber er rief:
»Bist du verrückt geworden, Unterleibchen?«
»Da sehen Sie’s«, sagte Selig und flog am ganzen Leib. »Auch jetzt überfällt mich ein Zittern, wenn ich seine Stimme höre. Wahrlich, er ist der Satan. Voller Verlockung und Verführung. Ihm ist eine große Macht über Menschen gegeben. Und ich Wurm habe der Versuchung nicht widerstanden, als ich begriff, was für Fittiche ihn trugen. In diese friedliche Stadt ist er eingefallen, um sie in Staub, Asche und Stöhnen zu verwandeln – und alles zu seiner eigenen Erhebung. Er wollte zu den Gipfeln irdischer Macht aufsteigen, und dafür hätte er vor nichts Halt gemacht. Er sagte zu mir: ›Unterleibchen, halte dich an meinem Rockschoß fest und lass nicht los. Ich werde mich emporschwingen und dich mitnehmen.‹ Aber er sagte auch: ›Pass auf, Unterleibchen, wenn du dich gegen mich stellst, zerquetsche ich dich wie eine Laus.‹ Und er hätte mich zerquetscht, er ist so ein Mensch. Er hat mich benebelt und eingeschüchtert, hat mich verleitet, und ich wurde sein treuer Hund. Niedrig und gemein habe ich gehandelt, Sünde getan. Das Einzige, womit ich mich nicht besudelte, sind Mord und Totschlag, aber auch das nur wegen meiner schwachen Nerven . . .«
Selig konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen, so dass ihm der Gerichtsdiener Wasser geben musste. Als er sich etwas beruhigt hatte, fuhr er fort.
»Er machte noch Späße und spottete: ›Über einen Ehrgeizigen sagt man, dass er über Leichen geht, aber ich klettere wirklich über diese Leichen nach ganz oben.‹ Ich könnte noch viel darüber erzählen, wie er die unglücklichen Syten gequält und eingeschüchtert hat. Und ich hab’s ihm nachgetan, wollte mir seine Anerkennung verdienen . . . Und mit den Wonifatjews war es so. Wladimir Lwowitsch hat schreckliche Schulden, noch von früheren Zeiten her. Hier, in Sawolshsk, ist er einherstolziert wie ein Löwe, aber in Petersburg ist er eher wie ein Hase herumgehuscht, musste sich vor seinen Gläubigern verstecken. Das war auch seiner Karriere abträglich, der Oberprokuror persönlich hat ihn ins Gebet genommen, dass sich derlei nicht ziemt für einen Synodalbeamten. Und als wir nun bei der Generalswitwe in Drosdowka wohnten, kam das Gespräch auf den angereisten Kaufmann. Wladimir Lwowitsch nahm mich beiseite und flüsterte: ›Frag den Sytnikow, wie viel er für den Wald haben will.‹«
»Was lügst du da zusammen?«, rief Bubenzow außer sich vor Wut, und der Richter verwarnte ihn: Noch ein Wort, und er werde aus dem Saal geführt.
»Was soll ich jetzt noch lügen?« Selig blickte sich ängstlich nach seinem einstigen Gönner um. »Jetzt muss ich die Wahrheit sagen. So ist das. Wie er erfuhr, dass Wonifatjew dreißigtausend bekommen wird, vielleicht auch vierzigtausend, glühten seine Augen. Ich saß da und dachte mir nichts weiter dabei. Als Sytnikow nach dem Streit mit Wladimir Lwowitsch wegging, sagte der zu mir: ›Geh ihm nach und bitte ihn, mir nicht böse zu sein, und frage ihn auch gleich, ob er seinen Gast nicht herbringen will, wär doch interessant, sich so einen Wilden anzugucken.‹ Ich dachte, es geht ihm um die Sache, denn er wollte ja den Altgläubigen zu Leibe rücken. Erst später hatte er die Eingebung, sich die Heiden vorzunehmen. Also, ich komme zurück und berichte ihm: Nein, er bringt den Altgläubigen nicht her. Der Kaufmann will nach Abschluss des Handels gleich weiter, trotz der späten Stunde. Aha, sagt Wladimir Lwowitsch, er schien das Interesse verloren zu haben. Nachts klopfte ich an seine Tür, denn mir war da eine Idee gekommen, eine lästerliche Idee, was für eine, sage ich nicht, denn ich schäme mich, und es tut auch nichts zur Sache. Also, ich klopfte, klopfte, er machte nicht auf. Zuerst habe ich mich gewundert, alldieweil er einen leichten Schlaf hat. Aber dann dachte ich mir, dass er bestimmt bei dem Fräulein schläft.«
Selig wischte sich mit seiner Pranke die Stirn und trank einen Schluck Wasser.
»Und wie ich am Morgen zu ihm kam, sah ich, dass sein Havelock nass war, vor Tagesanbruch hatte es geregnet. Aber ich maß dem dazumal keine Bedeutung bei. Ein paar Tage vergingen, die Leichen ohne Kopf wurden gefunden, und Wladimir Lwowitsch hat sofort vom Opferritual der Syten geredet. Er kannte sich mit ihrer Religion und ihren Sitten so gut aus, dass ich nur gestaunt habe. Und natürlich hab ich mich auch gefreut. Das kam ja unserm Auftrag entgegen . . .«
Der Redende stockte.
»Nein, ich will hier nicht heucheln. Es soll wie bei der Beichte sein. An mir nagte der Wurm des Zweifels, von Anfang an. Es läuft alles zu glatt, habe ich mir gedacht. Als ob uns der Beelzebub in die Hand spielt. . . Dass Wladimir Lwowitsch den Leichen selber die Köpfe abgeschnitten haben könnte, ist mir natürlich nicht in den Sinn gekommen. Aber nun hat sich eins zum andern gefügt, und ich musste an Sytnikow denken, an das leere Zimmer und den nassen Havelock . . . Auch das mit dem Photokünstler ist jetzt verständlich. Deshalb hat er Murad betrunken gemacht, niemand sonst. Damit ich ihm nicht im Wege bin, sondern die ganze Nacht wie ein Hündchen hinter dem Murad herlaufe, von einer Kneipe in die andre. Ich glaube, Wladimir Lwowitsch hatte schon damals den Hintergedanken, im Falle eines Falles die Morde auf Murad abzuwälzen. Weshalb sonst benutzte er das Stativ?« Selig zeigte auf das Beweisstück. »Es wäre ja auch einfacher gegangen. Wladimir Lwowitsch ist sehr kräftig, er sieht nur so mickrig aus, ist aber ganz muskulös, und wenn er in Rage gerät, verhüte Gott, dass man ihm da in die Hände fällt. . . Zu guter Letzt hat er sich vor mir überhaupt nicht mehr geniert. Als ihm die Gräfin Telianowa bei dem Untersuchungsexperiment offen drohte, war er finster wie eine Gewitterwolke. Er ging im Zimmer auf und ab und grübelte, dann sagte er plötzlich: ›Ich geh jetzt in die Nacht hinaus. Wenn jemand nach mir fragt, sag ihm, ich hätte mich schlafen gelegt.‹ Er kam erst gegen Morgen zurück. Ganz durchnässt und schmutzig . . .«
Seligs Aussage wurde auf ganz empörende und ungehörige Weise unterbrochen.
Die nachlassende Wachsamkeit der Polizisten ausnutzend, schwang sich Bubenzow leicht, ja, graziös über die Barriere, flog auf seinen ungetreuen Spießgesellen zu und schlug ihn mit aller Kraft aufs Ohr, warf ihn sodann zu Boden und krallte ihm die kleinen, aber eisenharten Hände in die Kehle.
Die Polizisten eilten Selig zu Hilfe, es kam zu einer abscheulichen Szene, und die Verhandlung musste unterbrochen werden.
Als der Prozess weiterging, saßen die beiden Angeklagten getrennt, Bubenzow außerdem zwischen zwei Polizisten und mit Handfesseln. Das Aussehen des Inspektors war gar nicht mehr synodal: Auf der Stirn prangte ein großer Bluterguss, der Kragen war zerrissen, die Augen glänzten fiebrig, kurzum, ein wahrer Satan.
Selig hatte noch mehr gelitten. Ein Ohr war geschwollen und stand ab, die Nase glich einer Rübe (Bubenzow hatte es noch fertig gebracht, seine Zähne hineinzuschlagen), am schlimmsten aber war, dass er nicht mehr reden konnte, denn die eisernen Finger des Inspektors hatten ihm den Kehlkopf beschädigt. Selig machte zwar den Versuch, aber sein Geächze und Gekrächze war nicht zu verstehen, und der Vorsitzende Richter beschloss, den Ärmsten nicht weiter zu quälen, zumal der Fall ohnehin klar war.
Der Richter fragte mehr der Ordnung halber, ob von den Anwesenden noch jemand über Kenntnisse verfüge, die geeignet seien, die Anklage oder die Verteidigung zu unterstützen.
In diesem Moment übergab ihm der Gerichtsdiener einen Zettel. Der Richter las ihn, hob erstaunt die Brauen, zuckte die Achseln und verkündete:
»Es hat sich noch ein Zeuge gemeldet. Genauer, eine Zeugin. Pelagia Lissizyna. Laut Gesetz bin ich verpflichtet, ihr das Wort zu erteilen. Möchten Sie die Anklage unterstützen?«
Er blickte über den Brillenrand in den Saal, um zu sehen, ob sich jemand erhob.
Unruhe im Publikum, denn die Zeugin erhob sich hinter dem Richtertisch aus einem der Sessel für die Ehrengäste.
Die kleine Gestalt in Schwarz wurde murrend empfangen. Alle waren müde vom langen Sitzen und von den Gemütsbewegungen, und was konnte jetzt noch Neues kommen? Mehr als lebenslängliche Zwangsarbeit würde der Angeklagte ohnehin nicht erhalten, aber auch keinesfalls weniger. Selbst der Bischof schüttelte missbilligend den Kopf, wohl in der Annahme, seine geistliche Tochter sei der Versuchung eitler Ruhmsucht erlegen.
Pelagias Rede war nicht lang, aber von entscheidender Bedeutung für den Prozess, darum wollen wir sie vollständig und wortwörtlich anführen und lassen vorübergehend das leidenschaftslose Protokoll sprechen. Gerichtsstenograf war der Sohn unseres Priors, Leonid Krestowosdwishenski, ein sehr befähigter Jüngling, dem viele eine glänzende literarische Laufbahn Voraussagen, doch das Protokoll verfertigte er äußerst penibel, ohne Ausschmückung, ließ sich höchstens hin und wieder zu einer Anmerkung hinreißen, so dass dieses offizielle Dokument ein wenig an ein Theaterstück erinnert. Hinzugefügt sei nur, dass Pelagia sehr leise sprach, so dass in den hinteren Reihen viele nicht alles verstanden.
Also, nachdem die Zeugin den Eid gesprochen hatte, machte sie ihre Aussage.
»Lissizyna: Herr Richter, Herren Geschworene, Bubenzow hat die Morde, die ihm zur Last gelegt werden, nicht begangen.
Im Saal Lärm und Geschrei. Bei den Geschworenen Aufregung.
Vorsitzender: Eine interessante Erklärung. Wer war es dann?
Lissizyna: Bubenzow ist natürlich ein Unmensch, Bischöfliche Gnaden hat das alles sehr richtig beschrieben, aber er ist kein Mörder. Die Wonifatjews, den Photokünstler, Naina Telianowa und ihr Stubenmädchen hat dieser Mann dort getötet. Auch mich hat er zweimal versucht umzubringen, aber der Herr hat mich bewahrt.
Sie zeigt auf den Angeklagten Selig. Der will etwas rufen, ist aber wegen seines beschädigten Kehlkopfs dazu nicht imstande. Tumult im Saal.
Vorsitzender (das Glöckchen läutend): Was für Begründungen haben Sie für eine solche Erklärung?
Lissizyna: Darf ich zuerst erklären, warum Bubenzow nicht der Mörder ist? Zunächst die Sache mit den Köpfen . . . Mir hat keine Ruhe gelassen, dass Bubenzow Nainas Anspielungen und Drohungen so ruhig aufnahm und die junge Frau mit seiner Gleichgültigkeit nur noch mehr aufbrachte. Weshalb sollte er so mit dem Feuer spielen? Ein Wort von ihm hätte genügt, und sie wäre ganz fügsam geworden. Unverständlich. Andererseits hätte die Fürstin keinen anderen als Bubenzow in dieser schrecklichen Angelegenheit gedeckt, und aus ihrem Auftreten war ersichtlich, dass sie etwas Besonderes über ihn wusste. Heute, als Seine Bischöfliche Gnaden unsere Aufmerksamkeit auf diesen Umstand lenkte und nachwies, dass der Verdacht gegen Murad Dshurajew unbegründet ist, fiel mir plötzlich ein, was Naina nach dem Untersuchungsexperiment zu Bubenzow sagte. ›Derselbe Havelock, dieselbe Schirmmütze. Wie sie im Mondlicht geblinkt hat . . .‹ Keiner der Anwesenden konnte mit diesen Worten etwas anfangen, es waren ja auch alle daran gewöhnt, dass die Fürstin in Rätseln sprach. Aber jetzt ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Als Naina das sagte, ging Bubenzow schon zur Tür, und sie sah ihn von hinten. Verstehen Sie?
Vorsitzender: Gar nichts verstehe ich. Aber fahren Sie fort.
Lissizyna: Ja doch! Ich sehe jetzt ganz deutlich, wie alles war. In der Nacht, in der die Wonifatjews ermordet wurden, ging Naina im Park spazieren. Vielleicht hoffte sie, Bubenzow würde herauskommen, doch der war zu dieser Zeit schon gegen sie abgekühlt, da er einen Plan ausgeheckt hatte, sich ohne ihr Zutun das Erbe von Frau Tatistschewa zu erschleichen. Vielleicht konnte sie auch aus verständlicher Erregung nicht schlafen. Da sah sie plötzlich zwischen den Bäumen Bubenzow, genauer, seine Silhouette: Havelock, die bekannte Schirmmütze. Wahrscheinlich rief sie ihn nicht an, weil er zu weit weg war. Bubenzow benahm sich so geheimnisvoll, dass die Fürstin beschloss, sich nicht zu erkennen zu geben und ihm zu folgen. Ich weiß nicht, ob der Mörder zu diesem Zeitpunkt die Leichen bereits in den Fluss geworfen hatte, aber dass er die abgeschnittenen Köpfe vergrub, hat Naina zweifellos gesehen. Als empfindsame, phantasiebegabte Frau hielt sie diese unwahrscheinliche Szene sicherlich für ein mystisches Ritual. Oder sie erstarrte vor Entsetzen, was unter solchen Umständen auch natürlich wäre. In diesem Zustand – eine Mischung von Entsetzen und Erstarrung – sah ich sie drei Tage später, als ich nach Drosdowka kam. Naina Telianowa hütete geflissentlich das Geheimnis der vergrabenen Köpfe, wofür sie sogar die weißen Bulldoggen töten musste, an denen ihre Großmutter so hing. Dennoch hatte Bubenzow sie sehr verstört. Als er aber wieder in Drosdowka erschien und darüber sprach, dass er die Ermittlung gegen die blutgierigen Heiden aufgenommen hatte, dachte sie, jetzt seinen Plan verstanden zu haben: einen ungeheuerlich dreisten und hinreißend unmenschlichen Plan. Damals sprach sie auch vom Dämon. Wahrscheinlich fand sie, dass satanische Spiele mit dem Schicksal von Menschen eine weitaus berauschendere Kunst seien als Theater und Malerei. Sie ist nicht die Erste, die dieser Versuchung erlag.
Vorsitzender: Das klingt alles sehr glaubhaft. Aber woraus schließen Sie, dass Selig der Mörder ist?
Lissizyna: Er gab hier an, dass er Sytnikow nach dem Kaufmann ausgefragt hatte. Nur von ihm wissen wir, dass er in Bubenzows Auftrag handelte. Und außerdem, Bubenzow steckt zwar bis über die Ohren in Schulden, aber mit den fünfunddreißigtausend wäre er nicht weit gekommen. In der Stadt wird erzählt, dass seine Schulden in die Hunderttausende gehen. Hätte er sich wegen einer für seine Begriffe so geringfügigen Summe etwa die Hände schmutzig gemacht? Anders Selig. Für ihn sind fünfunddreißigtausend ein Vermögen. Doch außer Bereicherung verfolgte er noch ein anderes Ziel: Er wollte seinem Gönner bei der Karriere behilflich sein und zusammen mit ihm die Leiter hochklettern. So schnitt er die Köpfe nicht nur ab, um die Spuren zu verwischen, sondern verknüpfte damit weiter reichende Pläne. Vielleicht hat er Bubenzow erst auf die Idee gebracht, die kopflosen Leichen gegen die Syten zu verwenden. (Erregung im Saal) Selig ist ein vorausschauender Mensch. Bevor er ein Verbrechen beging, traf er jedes Mal Vorsichtsmaßregeln. Als er sich auf den Weg machte, um die Wonifatjews zu töten, trug er für alle Fälle den Havelock und die Schirmmütze seines Chefs. Er könnte ja gesehen werden. Und er wurde gesehen! Und ganz sicher war es Selig, der in der Nacht, in der Poggio ermordet wurde, Dshurajew betrunken machte. Es war für ihn ein Leichtes, sich für ein Stündchen zu entfernen, während der Tscherkesse in der nächsten Kneipe trank.
Vorsitzender: ›Es war für ihn ein Leichtes‹ ist aber kein Beweis.
Lissizyna: Sie haben Recht, Euer Ehren. Aber wenn Sie mir erlauben . . . (geht zum Tisch mit den Beweisstücken und nimmt das Photostativ; tritt zu Bubenzow) Wladimir Lwowitsch, bitte strecken Sie die Hände vor. (Der Angeklagte Bubenzow sitzt unbeweglich und blickt die Nonne an. Dann streckt er die gefesselten Hände über die Barriere.) Versuchen Sie, das Stativ mit den Fingern zu umfassen. Sehen Sie, meine Herren? Er hat zu kleine Hände. Er hätte das schwere Stativ einfach nicht fest genug halten können, um einen Stoß von solcher Gewalt zu führen. Daraus folgt, dass er Poggio nicht getötet hat.
Tumult im Saal. Rufe: ›Das stimmt!‹, ›Tüchtig, die Nonne!‹ und dergleichen. Der Vorsitzende läutet das Glöckchen.
Lissizyna: Erlauben Sie mir noch eine Demonstration. (tritt mit dem Stativ zu dem Angeklagten Selig) Nun probieren Sie es, Tichon Jeremejewitsch.
Selig versteckt die Hände, die bislang auf dem Geländer der Barriere lagen, rasch hinter dem Rücken. Viele im Saal springen auf. Der Vorsitzende läutet das Glöckchen.
Lissizyna: Das Stativ ist so kompakt, dass ein gewöhnlicher Mann es nicht zu umfassen vermag, Herr Selig jedoch hat außergewöhnlich große Hände. Ihm macht das keine Schwierigkeit . . . Ich habe noch eine Bitte an das Gericht. Wäre es möglich, bei Herrn Selig eine Leibesuntersuchung vorzunehmen? Vor allem seine rechte Hüfte und den Oberschenkel genau zu betrachten. Als mir in Drosdowka im Park jemand einen Sack über den Kopf warf, habe ich den Angreifer zweimal mit meinen Stricknadeln ins Bein gestochen. Ziemlich tief. Die vier Einstiche müssen noch zu sehen sein.
Selig (springt auf und krächzt): Hexe! Hexe!
Nachdem Schwester Pelagia gesprochen hatte, wurde die Verhandlung fortgesetzt, aber der Ausgang stand fest, und die Aufmerksamkeit des Publikums irrte ab. Selig wurde zur Leibesuntersuchung hinausgeführt, und richtig – er hatte auf der rechten Hüfte vier rosa Punkte. Es kam zwischen den Parteien nicht zu Diskussionen, denn der Staatsanwalt war von den jähen Wendungen etwas abgestumpft, und der Verteidiger sah recht zufrieden aus: Um seinen Mandanten stand es nicht schlecht, und für das Schicksal Seligs fühlte er sich nicht verantwortlich.
So seltsam es ist, aber Selig begann nicht zu weinen und zu winseln. Auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne, die Morde begangen zu haben, schüttelte er nur den Kopf. Er saß mit unbewegtem Gesicht, hielt die Augen halb geschlossen und schien weder die Frage des Richters noch die Antwort der Geschworenen, noch das Urteil zu hören. Sein runzliges Gesichtchen hatte sich geglättet und sogar eine gewisse Bedeutsamkeit gewonnen. Bubenzow hingegen wirkte ausgesprochen nervös; er rutschte auf seinem Platz hin und her, blickte bald zu seinem Sekretär, bald mit gerecktem Hals zu Schwester Pelagia, und sein Gesicht hatte einen verdutzten, ja, dümmlichen Ausdruck. Die Nonne saß da, ohne bis zum Ende der Verhandlung ein einziges Mal die Augen zu heben, so dass sie Bubenzows Verhalten wahrscheinlich gar nicht wahrnahm.
Das Urteil verwunderte niemanden. Tichon Selig, der sich nicht schuldig bekannt und das geraubte Geld nicht zurückgegeben hatte, wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Bubenzow wurde freigesprochen, und schon eine Stunde später verließ er unsere Gouvernementshauptstadt, in den Augen der meisten mit Schande bedeckt, von einigen Frauen insgeheim beweint.
Nach und nach kam Sawolshsk wieder zur Ruhe, so, als wäre ein Stein in einen Teich gefallen und hätte das Wasser aufgewühlt. Spritzer schossen auf, Wellen zogen Kreise, aber bald verebbten sie, das Wasser besänftigte und glättete sich, und der Teich schlief wieder ein, obwohl noch klingende Bläschen an die Oberfläche stiegen.
Ljudmila von Gaggenau erschien nach langer Zeit beim Bischof zur Beichte. Verweint ging sie von ihm weg, mit geröteten, aber klaren Augen. Danach hatte Mitrofani auch ein längeres Gespräch mit dem Gouverneur, dem er zu verstehen gab, dass er keinen Grund habe, sich zu beunruhigen. Zwar hatte der Geistliche nicht das Beichtgeheimnis verletzt und auch mehr in Andeutungen gesprochen, dennoch erlegte er sich hinterher eine strenge Kirchenbuße auf.
Berditschewski bat den Gouverneur um Nachsicht für den Polizeimeister Lagrange, erhielt aber eine Absage. Damit hätte er seine Dankespflicht als erfüllt ansehen können, doch er ging auch noch zum Bischof, ohne jede Hoffnung, einzig zur Beruhigung seines Gewissens. Mitrofani nahm die Fürsprache erstaunlicherweise mit Verständnis auf und sagte: »Man muss Lagrange nicht vor Gericht stellen. Auch nicht aus dem Dienst jagen. Ich denke, er ist kein verlorener Mensch. Er hätte es ja auch sehr einfach so arrangieren können, dass Murad dich umgebracht hätte, dann wäre er aus allem heraus gewesen. Richte ihm aus, dass ich mit dem Gouverneur rede.« Der Polizeimeister blieb im Amt und geht nun auch zum Bischof zur Beichte.
Doch noch früher, direkt am Prozesstag, kam es zu einem Vorfall, der gesondert erwähnt werden muss.
Als die Geschworenen sich zur Beratung zurückgezogen hatten und im Saal alle auf einmal losredeten, um ihre Eindrücke vom Prozess und ihre Vermutungen über den Urteilsspruch auszutauschen, meinte der Bischof es seiner Würde schuldig zu sein, sich dem Geschnatter zu entziehen, und suchte auf Einladung des Richters das Zimmer für Ehrengäste auf. Er bedeutete Schwester Pelagia, ihm zu folgen. Verdrossen schritt er durch den Korridor, blickte auf seine Füße und stieß den Bischofsstab zornig auf den Boden.
Als sie unter vier Augen waren, küsste die Nonne dem Geistlichen schuldbewusst die Hand und sagte etwas konfus:
»Ihr habt Recht, Vater, Bubenzow ist ein böser Mensch und eine Ausgeburt der Hölle. Jetzt kommt er frei, und obwohl seine synodale Karriere beendet ist, wird er noch viel Böses tun. Er besitzt eine große Kraft. Er wird seine Wunden lecken und von neuem Hass und Kummer säen. Aber man kann doch nicht Unrecht mit Unrecht ausrotten! Ich habe erst im allerletzten Moment begriffen, wie es wirklich war, sonst hätte ich unbedingt Euren Segen für meinen Auftritt erbeten. Genauer, ich hätte Euch gebeten, als Zeuge zu sprechen. Aber es war keine Zeit mehr, der Richter war schon im Begriff, sich an die Geschworenen zu wenden. Darum habe ich gesprochen. Nun ist es so gekommen, dass ich Euch vor aller Öffentlichkeit in ein ungünstiges Licht gestellt habe. Könnt Ihr mir verzeihen?«
Sie blickte den Bischof ängstlich, fast verzweifelt an. Mitrofani stieß einen Stoßseufzer aus und strich seiner geistlichen Tochter über den Kopf.
»Dass du mich als eitlen Dummkopf vorgeführt hast, geschieht mir ganz recht. Damit ich mir nicht zu viel einbilde. Und mir keinen fremden Lorbeer aneigne. Ich kenne diese sündhafte Schwäche an mir, und ich bin dafür gestraft worden. Aber das wäre halb so schlimm. Du beschämst mich, Pelagia, beschämst mich sehr. Und erschreckst mich. Wie gefällig alles aussieht, wenn man die Welt durch gefärbtes Glas betrachtet. Und man wählt die Farbe, die einem gefällt. Und dann erscheint dir dein persönlicher Feind plötzlich als Verbrecher und Feind des ganzen Menschengeschlechts, und dein Freund, auch wenn er noch so sündig ist, als lichter Engel. Mögen die Politiker die Welt durch gefärbte Gläser betrachten, ein Geistlicher darf das nicht. Für ihn muss das Glas farblos sein, und am besten wäre gar kein Glas . . .« Der Bischof wiegte bekümmert den Kopf. »Und dass man Böses nicht mit Bösem ausrotten kann, auch damit hast du Recht. Man würde nur das eine Übel durch ein anderes, noch größeres, ersetzen. Aber das Bubenzowsche Böse ist von ganz besonderer Art. Es vergeht sich nicht am Gesetz, sondern an der menschlichen Seele. Auf dem Gerichtsweg ist diesem Bösen nicht beizukommen, das vermag nur Gottes Kirche. Es ist die Pflicht der Kirche, über das Böse zu wachen und es zu entlarven.«
Die Nonne fuhr zusammen und sagte hastig:
»Aber ich denke, Vater, dass Gottes Kirche eine ganz andere Bestimmung hat. Dass es nicht notwendig ist, über das Böse zu wachen und es zu entlarven. Denn daraus entsteht nur Angst. Wir sollten uns nicht mit dem Bösen beschäftigen, sondern mit dem Guten. Sanftheit und Liebe sind vonnöten. Aus Angst erwächst niemals Gutes.«
»So urteilst du über die Gottesfurcht?«, fragte der Bischof drohend. »Besinne dich, Pelagia!«
»Gott soll man nicht fürchten, sondern lieben. Und die Menschen sollten auch die Kirche nicht fürchten, sondern lieben. Die Kirche mit irdischer Macht zu verflechten ist erst recht Sünde.«
»Was ist daran Sünde?«, fragte Mitrofani weniger verärgert als verwundert. »Geht es Sawolshsk schlechter, wenn der Gouverneur auf mich hört?«
Leider konnten sie nicht zu Ende sprechen, denn der aufgeregte Berditschewski schaute herein und verkündete:
»Bischöfliche Gnaden, alles vorbei! Die Geschworenen sind gleich wiedergekommen. Selig ist schuldig – einstimmig. Bubenzow nicht schuldig – auch einstimmig. Die Reporter haben nicht einmal das Urteil abgewartet. Sie drängen sich hier im Korridor und warten auf Sie.«
»Auf uns?« Die Stimme des Geistlichen vibrierte. »Nun ja, dann werde ich den bitteren Kelch bis zur Neige leeren, geschieht mir recht.« Er stand entschlossen auf und fasste Pelagia bei der Hand. »Geh du als Erste hinaus. Das ist deine Stunde. Aber spreize dich nicht zu sehr. Denke daran, dass du Christi Braut bist.«
Kaum trat Pelagia in den Korridor, wurde sie von Magnesiumblitzen geblendet, sie machte zwei Schritte und blieb ratlos stehen. Vor sich sah sie viele aufgelebte Männergesichter, die meisten glatt rasiert, aber mit gezwirbeltem Schnurrbart.
Kräftige Schultern schubsten die Nonne zur Seite. Gehröcke und Jacketts umringten den gebeugten Bischof.
Ein unschöner Mann mit vorstehenden Backenknochen, Zarenko persönlich, der berühmte Petersburger Publizist, sagte respektvoll:
»Bischöfliche Gnaden, Ihre erhabene Weisheit hat das Publikum tief beeindruckt. Sie haben eine fulminante Rede gehalten und das Böse in Gestalt von Inspektor Bubenzow entlarvt. Zwar kann er sich dem Gericht der Menschen entziehen, doch vor dem Gericht Gottes ist er schuldig. Den unbedeutenden Mörder, den gewöhnlichen Verbrecher zu entlarven haben Sie Ihrer Gehilfin überlassen, was sie auch trefflich getan hat, zweifellos nach Ihren Weisungen.«
»Nein, nein, von sich aus!«, rief Mitrofani erschrocken. »Es war Pelagia!«
Diese rührende Bekundung von Bescheidenheit wurde mit verstehendem Lächeln aufgenommen, und etliche Reporter notierten sogleich die Worte des Bischofs, in denen sie bewundernswerte Demut und eine Absage an die Eitelkeit sahen.
»Selbstverständlich.« Auch Zarenko lächelte. »Sie haben nichts damit zu tun. Ebenso wie in allen vorangegangenen Fällen, die mit Ihrer Beteiligung gelöst wurden, gebührt das Verdienst Ihrer Schwester Polixena.«
»Pelagia«, berichtigte der Geistliche verwirrt und suchte mit den Augen seine Gehilfin.
Pelagia stand am geöffneten Fenster, mit dem Rücken zu den Journalisten. War sie verstimmt? Gekränkt?
Wir können den Leser beruhigen. Sie war keineswegs gekränkt. Sie stand einfach da und blickte hinaus, weil draußen der Vorfall seinen Anfang nahm, den wir schon erwähnten.
Der Platz, auf den die Fenster des Bezirksgerichts gingen, war zu dieser vorabendlichen Stunde fast menschenleer. An der Laterne strichen träge zwei Hofhunde herum, ein kleiner Junge, angetan mit einem langen Kittel und Stiefeln, hüpfte auf einem Bein über eine Pfütze. Doch am anderen Ende, wo die Kleine Kupetscheskaja in den Platz mündete, klapperten Hufe über das Pflaster, rumpelten Räder, klirrte Pferdegeschirr. Das Getöse kam geschwind näher, und schon bald waren zwei schaumbedeckte Schimmel zu erkennen, die eine gefederte Kutsche zogen. Auf dem Bock stand peitschenschwingend ein eingestaubter Mönch in einer schwarzen, im Wind wehenden Kutte, barhäuptig und mit langen zerzausten Zotteln, und etwas später war zu sehen, dass seine Stirn voller Blut war und die Augen herausquollen. Die wenigen Passanten, die dieses Bild sahen, blieben wie angewurzelt stehen.
Vor dem Gerichtsgebäude zog der Mönch die Zügel an, brachte die Pferde zum Stehen, sprang auf die Erde und rief Pelagia zu . . .
Doch wir wollen nicht verraten, was er rief, denn das ist der Beginn einer ganz anderen Geschichte, die noch erstaunlicher ist als die Geschichte der weißen Bulldogge.
Pelagia drehte sich rasch zu dem Geistlichen um. Der sah den seltsamen Mönch nicht und hörte nicht seinen Ruf, spürte aber sofort Ungutes. Sanft, doch energisch schob er den Korrespondenten beiseite und . . .