Hinter den tröstlichen Mauern der Zentrale von Terra Import auf Kollidor beschäftigte sich Commander Leon Warshow nervös mit den Psychoberichten auf seinem spiegelglatten Schreibtisch. Commander Warshow dachte über Raumfahrer Matthew Falk nach, und über sich selbst. Commander Warshow war im Begriff, ganz berechenbar zu reagieren.
Personalleutnant Krisch hatte ihm die Geschichte von Falk vor einer Stunde mitgeteilt, und Warshow tat das, was man von ihm erwartete. Er wartete auf den Jungen, nachdem er ihn im Anschluß an eine hastige Besprechung mit Cullinan, dem düsteren Psycho-Offizier der ›Magyar‹, zu sich bestellt hatte.
Eine Ordonnanzstimme tönte aus dem Wechselsprechgerät: »Raumfahrer Falk ist hier, Sir.«
»Er soll ein paar Minuten warten«, sagte Warshow zu hastig. »Ich lasse ihn rufen.«
Eine taktische Verzögerung. Warshow fragte sich, warum er, ein Offizier, vor einem Gespräch mit einem Mannschaftsdienstgrad so verkrampft war, und blätterte die Unterlagen über Matt Falk durch.
›Vollwaise 2543… Akademie… zwei Jahre Kommerzdienst, Militärvertrag… Verletzung auf dem Weg nach Kollidor…‹
Beigefügt waren ausführliche medizinische Berichte über Falks Verletzung, und Dr. Sigstroms Bestätigung. Dazu eine sehr positive Disziplinarliste und ein guter Psycho-Umriß.
Warshow drückte auf die Taste.
»Schicken Sie Falk herein«, sagte er.
Der Photonenstrahl klickte, und die Tür ging auf. Matt Falk kam herein und starrte seinen Vorgesetzten mit steinernem Gesicht an; Warshow funkelte zurück und betrachtete den jungen Mann, als habe er ihn nie zuvor gesehen. Falk war gerade fünfundzwanzig, sehr hochgewachsen und hellblond, mit breiten, muskulösen Schultern und scharfen, blauen Augen. Die Narbe an der linken Gesichtshälfte war fast unsichtbar, aber nicht einmal chemotherapeutische Inkubation hatte die glatte Gleichmäßigkeit der Kieferpartie wiederherstellen können. Falks Gesicht wirkte sonderbar schief; die unverletzte rechte Kieferhälfte zog sich glatt und fest zum Kondylus, während die linke noch unbestimmbare, aber deutlich vorhandene Spuren des schrecklichen Schiffsunfalls verriet.
»Sie brauchen mich, Commander?«
»Wir verlassen Kollidor morgen, Matt«, sagte Warshow leise. »Leutnant Krisch sagte mir, daß Sie nicht ins Schiff zurückgekommen sind, um Ihre Sachen zu packen. Warum nicht?«
Das Kinn, das demoliert und wieder aufgebaut worden war, zitterte ein wenig.
»Sie wissen doch, Sir. Ich fliege nicht zur Erde zurück, Sir. Ich bleibe hier… bei Thetona.«
Eisige Stille. Dann sagte Warshow mit berechnender Grausamkeit: »Sie sind also wirklich scharf auf das Plattgesicht, wie?«
»Mag sein«, murmelte Falk. »Das Plattgesicht. Na und?« Seine leise Stimme klang trotzig und verbittert.
Warshows Anspannung nahm zu. Er versuchte, die Aufgabe vorsichtig zu lösen, ohne dem jungen Falk weitere psychopersönliche Schäden zuzufügen. Ein psychotisches Besatzungsmitglied auf einer fremden Welt zurückzulassen, war ausgeschlossen — aber Falk zwangsweise aus dem festen Geflecht von Beziehungen zu reißen, das ihn mit Kollidor verband, würde Narben nicht nur bei einem Besatzungsmitglied, sondern auch beim Kapitän hinterlassen.
Schwitzend sagte Warshow: »Sie sind von der Erde, Matt. Wollen Sie nicht —?«
»Nach Hause? Nein.«
Der Commander grinste schwach.
»Das klingt aber sehr endgültig, mein Junge.«
»Ist es auch«, sagte Falk steif. »Sie wissen, warum ich hierbleiben will. Und ich bleibe hier. Darf ich mich jetzt entschuldigen, Sir?«
Warshow trommelte auf die Tischplatte, zögerte kurz und nickte dann.
»Wegtreten, Mr. Falk.« Es hatte wenig Sinn, zu verlängern, was er jetzt als von Anfang an zweckloses Gespräch begriff. Er wartete ein paar Augenblicke, als Falk gegangen war, dann schaltete er die Sprechanlage ein. »Schicken Sie bitte Major Cullinan herein.«
Der Psycho-Experte erschien sofort.
»Also?«
»Der Junge will bleiben«, sagte Warshow. »Vollständige und einseitige Fixierung. Na los, durchbrechen Sie sie.«
Cullinan zuckte die Achseln.
»Wir müssen ihn vielleicht hierlassen, darauf läuft es hinaus. Haben Sie das Mädchen gesehen?«
»Kollidorerin. Ein fremdes Wesen. Häßlich wie die Sünde. Ich habe ihr Bild gesehen. Er hatte es über seiner Koje hängen, bis er auszog. Und wir können ihn nicht hierlassen, Major.«
Cullinan zog eine buschige Braue hoch.
»Wir können versuchen, Falk zurückzuholen, wenn Sie darauf bestehen — aber es wird nichts nützen. Es geht nicht, ohne ihn zu verkrüppeln.«
Warshow pfiff vor sich hin und mied den Blick Cullinans.
»Ich bestehe darauf«, sagte er schließlich. »Es gibt keine Alternative.« Er drückte auf die Taste. »Leutnant Krisch, bitte.«
Nach einer Pause sagte er: »Krisch, hier Warshow. Sagen Sie den Leuten, daß der Start um vier Tage verschoben ist. Molhaus soll die Umlaufbahn neu berechnen. Ja, vier Tage. Vier.« Warshow starrte auf die Akte Falk und zog die Brauen zusammen. Cullinan schüttelte traurig den Kopf und rieb sich die beginnende Glatze.
»Ein drastischer Schritt, Leon.«
»Ich weiß, aber ich lasse Falk nicht zurück.« Warshow stand auf, sah Cullinan unsicher an und fügte hinzu: »Wollen Sie mitkommen? Ich fahre nach Kollidor City.«
»Wozu?«
»Ich möchte mit dem Mädchen reden«, sagte Warshow.
Später, im wirren Netz zielloser Straßen der fremden Stadt, bedauerte Warshow, daß er Cullinan nicht befohlen hatte, ihn zu begleiten. Er zwängte sich durch Schwärme ruhiger, häßlicher, breitgesichtiger Kollidorer.
Was sollte er tun, wenn er schließlich die Wohnung von Falk und seinem Kollidorer Mädchen erreicht hatte? Warshow war nicht daran gewöhnt, zwischenmenschliche Situationen dieser Art am Boden zu bewältigen. Er wußte nicht, was er zu dem Mädchen sagen sollte. Mit Falk glaubte er zurechtkommen zu können.
›Die Beziehung zwischen Commander und Besatzungsmitglied ist wie die zwischen Eltern und Kind‹, stand im Handbuch. Warshow grinste unsicher. Er kam sich gar nicht väterlich vor.
Er ging weiter. Kollidor City breitete sich vor ihm aus wie ein verworrenes Wollknäuel, das in fünf Richtungen gleichzeitig auseinanderrollte; die Straßen schienen völlig willkürlich angelegt worden zu sein. Aber Warshow kannte die Stadt gut. Das war bereits seine dritte Dienstzeit im Sektor Kollidor; dreimal hatte er Fracht von der Erde mitgebracht, dreimal gewartet, während sein Schiff mit Exportgütern Kollidors beladen wurde.
Am Himmel brannte die ferne blau-weiße Sonne. Kollidor war der dreizehnte Planet in seinem System; er flog auf einer Bahn um den grellen Stern, die fast vier Milliarden Meilen von ihm entfernt war.
Warshows Nase rann ein wenig; das erinnerte ihn daran, daß die regelmäßige Anti-Heuschnupfen-Spritze fällig war. Er war, wie seine ganze Besatzung, bereits gründlich gegen die meisten Arten fremder Krankheiten geschützt, die ihnen bei dieser Reise begegnen mochten.
Aber wie schützt man jemanden wie Falk? fragte sich Warshow düster. Der Commander wußte keine Antwort darauf. Normalerweise schien es nicht erforderlich zu sein, Raumfahrer dagegen zu impfen, daß sie sich in Frauen von fremden Planeten verliebten, aber —
»Guten Tag, Commander Warshow«, sagte eine trockene Stimme plötzlich.
Warshow schaute sich überrascht und verärgert um. Der Mann, der hinter ihm stand, war groß, mager, mit harten, wulstigen Backenknochen, die grotesk aus pergamentartiger, kreideweißer Haut ragten. Warshow erkannte die genetische Struktur und den Mann. Es war Domnik Kross, ein Händler von der früheren Terra-Kolonie auf Rigel IX.
»Hallo, Kross«, sagte Warshow mürrisch und blieb stehen.
»Was führt Sie in die Stadt, Commander? Ich dachte, Sie wollten packen und starten.«
»Wir — verschieben um vier Tage.«
»So? Haben Sie etwas Brauchbares, das zu berichten sich lohnt? Nicht, daß ich — «
»Geben Sie’s auf, Kross. Wir sind mit dem Handel für diese Saison fertig. Sie haben freies Feld. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, ja?« Er ging schneller, aber der Rigelaner hielt mit schiefem Lächeln Schritt.
»Sie wirken verstört, Commander.«
Warshow sah den anderen ungeduldig an und wünschte sich, vor dem Rigelaner offen reden zu können.
»Ich bin streng geheim unterwegs, Kross. Bestehen Sie darauf, mich zu begleiten?«
Die schmalen Lippen grinsten kalt.
»Durchaus nicht, Commander Warshow. Ich wollte nur höflich sein und Sie ein Stück begleiten, um Neuigkeiten auszutauschen. Wenn Sie in vier Tagen fliegen, sind wir schließlich keine Konkurrenten mehr, und — «
»Genau.«
»Was hört man von einem Ihrer Besatzungsmitglieder? Er soll mit einer Eingeborenen zusammenleben?« fragte Kross plötzlich.
Warshow fuhr herum und funkelte den anderen an.
»Nichts!« fauchte er. »Hören Sie? Nichts daran ist wahr!«
Kross lachte leise in sich hinein, und Warshow begriff, daß er in der tödlich-kalten Rivalität zwischen Terraner und Rigelaner, zwischen Mensch und Sohn des Menschen, eindeutig einen Punkt verloren hatte. Die genetische Drift war für die Domnik Krosses verantwortlich — ein wenig Chromosomenlooping auf einem kolonisierten Planeten, eine Spur Inzucht über zehn Generationen hinweg, und es war eine neue Nebengattung entstanden: eine fremde Nebengattung, die wenig Zuneigung für ihre Vorfahren aufbrachte.
Sie erreichten eine Gabelung, und der Commander wandte sich impulsiv nach links. Erleichtert stellte er fest, daß Kross ihm nicht folgte.
»Bis zum nächsten Jahr!« sagte der Rigelaner.
Warshow brummte etwas und ging die schmutzige Straße entlang, froh darüber, Kross so schnell losgeworden zu sein. Die Rigelaner waren üble Kunden, dachte er. Sie waren immer eifersüchtig auf die Mutterwelt und ihre Menschen, stets bemüht, ihnen auf Welten wie Kollidor bei gewinnbringenden Unternehmungen zuvorzukommen.
Wegen Kross gehe ich jetzt dorthin, wo ich hinwill, überlegte Warshow. Der Druck durch die Rigelaner zwang die Menschen, in der ganzen Galaxis den Schein zu wahren. Die Bürde der Erdbewohner, nannten die Terraner das inoffiziell. Einen Deserteur auf Kollidor zurückzulassen, würde das Prestige der Erde in den Augen des ganzen Universums gefährden — und die schlauen Rigelaner würden dafür sorgen, daß man es überall erfuhr.
Warshow kam sich eingeengt vor. Als er sich der Wohnung näherte, wo Falk untergekommen war, spürte er, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief.
»Ja, bitte?«
Warshow stand an der Tür, ein wenig entsetzt von Anblick und Geruch. Eine Kollidorerin stand vor ihm. Guter Gott, dachte er. Eine Schönheit ist sie wirklich nicht.
»Ich bin — Commander Warshow«, sagte er, »Von der ›Magyar‹. Matts Schiff. Darf ich hereinkommen?«
Der schließmuskelartige Mund verzog sich zu dem, was Warshow wohl als freundliches Lächeln ansehen sollte.
»Gewiß. Ich hatte schon gehofft, daß Sie kommen. Matt spricht viel von Ihnen.« Sie trat von der Tür zurück, und Warshow trat ein. Der scharfe, durchdringende Geruch stieg ihm in die Nase. Es war eine ungestrichene Zweizimmerwohnung; hinter dem Zimmer, in dem sie standen, sah Warshow ein zweites, etwas größer und unordentlicher, mit Küchengeräten. Ungespültes Geschirr war im Spülbecken gestapelt. Zu seiner Überraschung sah er in dem zweiten Raum ein ungemachtes Bett… und ein zweites im Vorderzimmer. Einzelbetten. Er runzelte betroffen die Stirn und wandte sich dem Mädchen zu.
Sie war fast so groß wie er und viel breiter. Ihre braune Haut war dick und matt und glich eher einem Fell; ihr Gesicht war breit und schlicht, mit zwei flachen, glanzlosen Augen, einer grotesken Nasenknolle und einem viellippigen Netzmund. Das Mädchen trug ein formloses schwarzes Gewand, das bis auf die dicken Knöchel hinunterhing. Sie mochte ein Gipfel kollidorischer Schönheit sein, Warshow konnte das nicht beurteilen, aber ihre Reize schienen bei einem normalen Menschen kaum großes Begehren auslösen zu können.
»Sie sind Thetona, ist das richtig?«
»Ja, Commander Warshow.« Dumpfe, tonlose Stimme.
»Darf ich mich setzen?« fragte er. Er machte Umschweife und zögerte, setzte sich umständlich und schlug die Beine übereinander. Das Mädchen starrte ihn an wie eine Kuh, blieb aber stehen.
Nach einer peinlichen Pause sagte sie: »Sie wollen, daß Matt mitfliegt, nicht wahr?«
Warshow wurde rot und biß die Zähne zusammen.
»Ja. Unser Schiff startet in vier Tagen. Ich bin hergekommen, um ihn zu holen.«
»Er ist nicht da«, sagte sie.
»Ich weiß. Er ist im Stützpunkt. Er wird bald wiederkommen.«
»Sie haben ihm nichts getan?« fragte sie ängstlich.
Er schüttelte den Kopf.
»Ihm fehlt nichts.« Er sah sie scharf an. »Er liebt Sie, nicht wahr?«
»Ja.« Aber die Antwort wirkte zögernd.
»Und Sie lieben ihn?«
»O ja«, sagte Thetona herzlich. »Gewiß.«
»Verstehe.« Warshow befeuchtete die Lippen. Es würde schwierig werden. »Vielleicht erzählen Sie mir, wie Sie sich verliebt haben? Ich bin neugierig.«
Sie lächelte — jedenfalls nahm er an, daß es ein Lächeln war.
»Ich habe ihn zwei Tage nach Ihrer Ankunft kennengelernt. Ich ging durch die Straßen und sah ihn. Er saß am Straßenrand und weinte.«
»Was?«
Ihre flachen Augen schienen sich zu trüben.
»Saß da und schluchzte. Es war das erstemal, daß ich einen Menschen von der Erde gesehen habe — weinend, meine ich. Er tat mir furchtbar leid. Ich ging zu ihm. Er war wie ein kleiner Junge, der sich verirrt hat.«
Warshow hob erstaunt den Kopf und starrte ungläubig in das Gesicht des fremden Wesens. Verdammt! dachte er. Das Mädchen ist beinahe menschlich! Beinahe —
»War er krank?« fragte er heiser. »Warum hat er geweint?«
»Er war einsam«, sagte Thetona ruhig. »Er hatte Angst. Vor mir, vor Ihnen, vor allen. Ich sprach mit ihm, dort am Straßenrand, viele Minuten lang. Dann bat er mich, mitkommen zu dürfen. Ich wohne hier allein. Er kam mit. Und — seitdem ist er hiergewesen.«
»Und er will für immer hierbleiben?«
Der breite Kopf wackelte bestätigend.
»Wir mögen einander sehr. Er ist einsam, er braucht jemanden, mit dem — «
»Das genügt«, sagte Falks Stimme plötzlich.
Warshow fuhr herum. Falk stand mit finsterem Gesicht unter der Tür. Die Narbe an seinem Gesicht wirkte entzündet, obwohl Warshow sicher war, daß das nicht sein konnte.
»Was machen Sie hier?« fragte Falk.
»Ich besuche Thetona«, sagte Warshow gelassen. »Ich habe nicht erwartet, daß Sie so schnell zurückkommen.«
»Das weiß ich. Ich ging einfach, als Cullinan mich anhalten wollte. Vielleicht gehen Sie jetzt.«
»Sie sprechen mit einem Vorgesetzten«, sagte Warshow. »Wenn ich — «
»Ich bin vor zehn Minuten ausgetreten«, knurrte Falk. »Sie sind nicht mein Vorgesetzter! Verschwinden Sie!«
Warshow erstarrte. Er sah flehend zu dem Mädchen hinüber, das ihre sechsfingrige, dicke Hand auf Falks Schulter legte und seinen Arm streichelte. Falk machte sich los.
»Nicht«, sagte er. »Also — gehen Sie jetzt? Thetona und ich wollen allein sein.«
»Bitte, gehen Sie, Commander Warshow«, sagte das Mädchen leise. »Regen Sie ihn nicht auf.«
»Aufregen? Wer ist aufgeregt?« brüllte Falk. »Ich — «
Warshow saß ausdruckslos da, bewertete und analysierte, und beachtete im Augenblick nicht, was vorging.
Falk würde zur Behandlung ins Schiff zurückgebracht werden müssen. Es gab keine Alternative, das sah Warshow ein. Die sonderbare Beziehung zu dem fremden Wesen mußte zerrissen werden.
Er stand auf und hob die Hand.
»Mr. Falk, lassen Sie mich etwas sagen.«
»Nur zu, aber schnell, weil ich Sie in zwei Minuten hinauswerfe.«
»Ich brauche keine zwei Minuten«, sagte Warshow. »Ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß Sie festgenommen und hiermit angewiesen sind, unter meiner Obhut auf der Stelle zum Stützpunkt zurückzukehren. Wenn Sie sich weigern, wird es erforderlich sein — « Der Satz wurde nicht ganz ausgesprochen. Falks Augen blitzten zornig, und er war mit drei langen Schritten bei Warshow. Er packte den kleineren Commander an den Schultern und schüttelte ihn heftig.
»Hinaus!« kreischte er.
Warshow lächelte bedauernd, trat einen Schritt zurück und zog die Betäubungspistole aus dem Gürtel. Er feuerte einen starken, schnellen Strahl auf Falk ab, und als der große Mann zu Boden sank, fing Warshow ihn auf und ließ ihn auf einen Stuhl gleiten.
Thetona fing an zu weinen. Große Tropfen bernsteinfarbener Flüs sigkeit drangen aus ihren Augen und rollten über ihre Backen.
»Bedaure«, sagte Warshow. »Das mußte sein.«
Es mußte sein. Es mußte sein.
Es mußte sein.
Warshow ging in seiner Kabine hin und her, und sein Blick zuckte nervös von der Nietenreihe an der Decke zu den grauen Wänden, zu dem schlafenden Matt Falk, und schließlich zu dem wartenden, finsteren Gesicht von Cullinan.
»Wollen Sie ihn wecken?« fragte Cullinan.
»Nein. Noch nicht.« Warshow marschierte hin und her und versuchte seine Handlungen vor sich zu rechtfertigen. Es vergingen Minuten. Schließlich trat Cullinan hinter dem Feldbett hervor, wo Falk lag, und griff nach Warshows Arm.
»Leon, sagen Sie doch, was mit Ihnen los ist.«
»Fangen Sie nicht bei mir an!« fauchte Warshow. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Das war nicht mein Ernst.«
»Sie haben ihn vor zwei Stunden ins Schiff gebracht«, sagte Cullinan. »Meinen Sie nicht, daß wir etwas tun sollten?«
»Was können wir denn tun?« fuhr Warshow ihn an. »Sollen wir ihn wieder diesem Wesen zurückgeben? Ihn umbringen? Vielleicht ist das die beste Lösung — stopfen wir ihn in die Konverter und starten wir.«
Falk regte sich.
»Bestrahlen Sie ihn noch einmal«, sagte Warshow hohl. »Die Betäubung läßt nach.«
Cullinan gebrauchte seine Waffe, und Falk erschlaffte.
»Wir können ihn nicht ewig schlafen lassen«, meinte Cullinan.
»Nein, das können wir nicht.« Die Zeit wurde knapp. In drei Tagen sollte der Start stattfinden, und er wagte nicht, ihn noch einmal zu verschieben. Aber wenn sie Falk zurückließen und es sich herumsprach, daß ein verrückter Erdbewohner auf Kollidor herumlief, oder daß Erdbewohner überhaupt verrückt werden konnten —
Und darauf gab es keine Antwort.
»Therapie«, sagte Cullinan leise.
»Für eine Analyse bleibt keine Zeit«, erklärte Warshow sofort. »Drei Tage, das ist alles.«
»Ich meine nichts Vollständiges. Aber wenn wir ihm eine Hemmdroge geben, seine Feindseligkeit bei Gesprächen mit uns herausfiltern und ihn durch seine Erinnerungen führen, könnten wir auf etwas stoßen, das uns weiterbringt.«
Warshow fröstelte.
»Gehirnbaggern, wie?«
»Meinetwegen, nennen Sie es so. Aber holen wir heraus, was ihn umgeworfen hat, sonst ruiniert uns das alle. Sie, mich — und das Mädchen.«
»Sie glauben, daß wir es finden?«
»Wir können es versuchen. Kein Erdbewohner, der bei Verstand ist, würde eine sexuelle Beziehung dieser Art wollen — oder irgendeine Gefühlsbindung zu einem fremden Wesen. Wenn wir finden, was ihn dazu gebracht hat, können wir seine neurotische Fixierung vielleicht durch brechen und erreichen, daß er freiwillig mitfliegt. Es sei denn, Sie sind bereit, ihn zurückzulassen. Ich verbiete jedenfalls, daß er in diesem Zustand mitgenommen wird.«
»Versteht sich.« Warshow wischte sich den Schweiß ab und sah hinüber zu Falk, der unter der Wirkung des Betäubungsstrahls weiterträumte. »Ein Versuch lohnt sich. Wenn Sie glauben, daß Sie es schaffen, bitte. Ich übergebe ihn in Ihre Hände.«
Cullinan lächelte.
»Das ist der einzige Weg. Wir erforschen, was mit ihm geschehen ist, und zeigen es ihm. Das müßte die Schale knacken.«
»Hoffentlich«, sagte Warshow. »Es liegt an Ihnen. Wecken Sie ihn und bringen Sie ihn zum Reden. Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Eine schwere Wolke drogenhaltiger Luft hing in der Kabine, als Cullinan seine Vorbereitungen abschloß. Falk regte sich und begann sich ins Bewußtsein hochzutasten. Cullinan reichte Warshow einen Ultraschall-Injektor, der mit einer klaren, funkelnden Flüssigkeit gefüllt war.
Gerade, als Falk die Augen öffnen zu wollen schien, beugte Cullinan sich über ihn und begann leise, ruhig, beruhigend zu sprechen. Falks Stirnrunzeln verschwand, und er beruhigte sich.
»Geben Sie ihm die Droge«, flüsterte Cullinan. Warshow berührte zögernd Falks gebräunten Unterarm mit dem Injektor. Das Mittel verschwand unter der Haut. Warshow gab ihm drei Kubikzentimeter.
Falk stöhnte leise.
»Es wird ein paar Minuten dauern«, sagte Cullinan.
Der Uhrzeiger rotierte langsam. Nach einer Weile zuckten Falks schlafschwere Lider. Er öffnete die Augen und blickte hinauf, anscheinend, ohne etwas zu sehen.
»Hallo, Matt. Wir sind hier, um mit Ihnen zu reden«, sagte Cullinan. »Oder vielmehr, wir wollen, daß Sie mit uns reden.«
»Ja«, sagte Falk.
»Fangen wir mit Ihrer Mutter an, ja? Sagen Sie uns, was Sie von Ihrer Mutter in Erinnerung haben. Gehen Sie zurück.«
»Meine — Mutter?« Die Frage schien Falk zu verwirren, und er blieb fast eine Minute stumm. Dann befeuchtete er die Lippen. »Was wollen Sie über sie wissen?«
»Sagen Sie uns alles«, drängte Cullinan.
Es blieb still. Warshow ertappte sich dabei, daß er den Atem anhielt.
Schließlich begann Falk zu sprechen.
Warm. Geborgen. Halt mich. Mama.
Bin ganz allein. Es ist Nacht, und ich weine. Mein Bein ist eingeschlafen, und die Nachtluft riecht kalt. Ich bin drei Jahre alt und ganz allein.
Hältst du mich fest, Mama?
Ich höre Mama die Treppe heraufkommen. Wir haben ein altes Haus mit Treppen, in der Nähe des Raumflughafens, wo die großen Schiffe starten. Mama hält mich jetzt fest, und ich spüre ihren sanften Duft. Mama ist groß und rosig und weich. Papa ist auch rosig, aber er riecht nicht warm. Onkel ist genauso.
Ah, ah, Baby, sagt sie. Sie ist im Zimmer und hält mich fest. Das ist gut. Ich werde ganz schläfrig. In ein paar Minuten werde ich einschlafen. Ich mag meine Mama sehr.
»Ist das Ihre erste Erinnerung an Ihre Mutter?« fragte Cullinan. »Nein. Ich glaube, es gibt noch eine frühere.«
Dunkel hier. Dunkel und sehr warm und feucht und schön. Ich bewege mich nicht. Ich bin ganz allein hier, und ich weiß nicht, wo ich bin. Es ist, als schwimme man im Meer. In einem großen Meer. Die ganze Welt ist ein Meer. Es ist schön hier, wirklich schön. Ich weine nicht.
Jetzt tauchen blaue Nadeln in der Schwärze auf. Farben… aller Art. Rot und grün und zitronengelb, und ich bewege mich! Da ist Schmerz und Druck und — oh! — es wird kalt. Ich ersticke! Ich klammere mich fest, aber ich werde in der Luft hier draußen ertrinken! Ich —
»Das genügt«, sagte Cullinan hastig. »Geburtstrauma«, erklärte er Warshow. »Scheußlich. Braucht er nicht noch einmal alles durchzumachen.«
Warshow fröstelte ein wenig und wischte sich die Stirn.
»Soll ich weitererzählen?« fragte Falk. »Ja.«
Ich bin vier, und draußen regnet es. Die ganze Welt ist grau geworden. Mama und Papa sind fort, und ich bin wieder allein. Onkel ist unten. Ich kenne Onkel gar nicht richtig, aber er scheint die ganze Zeit hierzusein. Mama und Papa sind viel fort. Allein sein ist wie ein kalter Regensturm. Es regnet hier viel.
Ich liege in meinem Bett und denke an Mama. Ich will Mama haben. Mama ist irgendwo hingeflogen. Wenn ich groß bin, will ich auch fortfliegen — irgendwohin, wo es warm und hell ist und nicht regnet.
Unten läutet das Telefon. In meinem Kopf kann ich sehen, wie der Bildschirm hell und bunt wird, und ich versuche mir Mamas Gesicht auf dem Bildschirm vorzustellen. Aber ich kann es nicht. Ich höre Onkels Stimme, leise und murmelnd. Ich entscheide, daß ich Onkel nicht mag, und fange an zu weinen.
Onkel ist hier und sagt mir, ich sei zu groß zum Weinen. Ich soll nicht mehr weinen. Ich sage ihm, daß ich Mama haben will.
Onkel macht einen bösen Mund, und ich weine lautet.
Ruhig, sagt er. Still, Matt. Na, na, Matty.
Er ordnet meine Decken, aber ich ziehe die Beine an und bringe sie wieder durcheinander, weil ich weiß, daß ihn das ärgert. Ich ärgere ihn gern, weil er nicht Mama oder Papa ist. Aber diesmal scheint er sich nicht zu ärgern. Er richtet sie wieder gerade und streicht mir über die Stirn. Seine Hand ist schweißfeucht.
Ich will Mama, sage ich.
Er sieht lange auf mich hinunter. Dann sagt er mir, Mama kommt nicht zurück.
Nie mehr? frage ich.
Nein, sagt er. Nie mehr.
Ich glaube ihm nicht, weine aber nicht, weil ich ihm nicht verraten will, daß er mich erschrecken kann. Wie ist es mit Papa, sage ich. Hol ihn.
Papa wird auch nicht wiederkommen, sagt er.
Ich glaube dir nicht, sage ich. Ich mag dich nicht, Onkel. Ich hasse dich.
Er schüttelt den Kopf und hustet. Du solltest lieber lernen, mich zu mögen, sagt er. Du hast sonst niemand mehr.
Ich verstehe ihn nicht, aber was er sagt, gefällt mir nicht. Ich stoße die Decken vom Bett, und er hebt sie auf. Ich stoße sie wieder hinunter, und er schlägt mich.
Dann bückt er sich schnell und küßt mich, aber er riecht nicht gut, und ich fange an zu weinen. Der Regen kommt. Ich will Mama, schreie ich, aber Mama kommt nie. Niemals.
Falk verstummte für Augenblicke und schloß die Augen.
»War sie tot?« fragte Cullinan.
»Sie war tot«, sagte Falk. »Sie und Vater wurden bei einem Flugzeugabsturz getötet, als sie von einem Urlaub aus Bangkok zurückkamen. Ich war damals vier Jahre alt. Mein Onkel zog mich auf. Wir kamen nicht gut miteinander aus, und als ich vierzehn war, steckte er mich in die Militärakademie. Ich blieb vier Jahre dort, studierte zwei Jahre Technik und ging zu Terra Import. Zwei Jahre Dienst auf Denufar, dann versetzt zu Commander Warshows Schiff ›Magyar‹, wo — wo — « Er verstummte plötzlich.
Cullinan sah Warshow an und sagte: »Jetzt ist er aufgewärmt, und wir werden gleich ins Schwarze treffen.« Zu Falk sagte er: »Erzählen Sie uns, wie Sie Thetona kennengelernt haben.«
Ich bin allein auf Kollidor und laufe allein herum. Es ist eine große, weitverzweigte Stadt mit seltsamen, konischen Häusern und wirren Straßen, aber tief darunter kann ich sehen, daß es ist wie auf der Erde. Die Leute sind Leute. Sie sehen recht bizarr aus, aber sie haben einen Kopf und zwei Arme und zwei Beine, so daß sie menschlicher aussehen als Wesen, die ich schon gesehen habe.
Warshow hat uns den Nachmittag freigegeben. Ich weiß nicht, warum ich das Schiff verlassen habe, aber ich bin allein hier in der Stadt. Allein. Verdammt, allein!
Die Straßen sind gepflastert, aber die Gehsteige nicht. Plötzlich bin ich sehr müde und werde schwindlig. Ich setze mich an den Rand des Gehsteigs und lege das Gesicht in die Hände. Die fremden Wesen gehen einfach vorbei, wie in jeder Großstadt.
Mama, denke ich.
Dann denke ich: Woher kam das?
Und plötzlich flutet eine große, leere Einsamkeit in mir hoch und überschwemmt mich, und ich fange an zu weinen. Ich habe nicht mehr geweint seit — schon lange nicht mehr. Aber jetzt weine ich, heisere, stockende Schluchzer, und die Tränen laufen mir übers Gesicht und tropfen mir in die Mundwinkel. Tränen schmecken salzig, glaube ich. Ein bißchen wie Regentropfen.
Mein Gesicht beginnt zu schmerzen, wo ich im Schiff den Unfall hatte. Es fängt am Ohr an und fegt wie eine blaue Flamme seitlich hinunter, den ganzen Körper bis zum Oberschenkel, und es tut höllisch weh. Die Ärzte haben mir gesagt, ich werde keine Schmerzen mehr haben. Sie lügen.
Ich spüre meine Einsamkeit wie einen Raumanzug um mich, der mich von allem trennt. Mama, denke ich wieder. Ein Teil von mir sagt: Benimm dich wie ein Erwachsener, aber dieser Teil wird immer stiller. Ich weine weiter und möchte verzweifelt meine Mutter wiederhaben. Jetzt begreife ich, daß ich meine Mutter gar nicht richtig gekannt habe, bis auf ein paar Jahre.
Dann spüre ich einen dumpfen, ein wenig Übelkeit erregenden Geruch, und ich weiß, daß eines der Wesen in meiner Nähe ist. Man wird mich packen und fortschleppen wie einen Betrunkenen. Warshow wird mich fertigmachen.
Du weinst, sagt eine freundliche Stimme.
Die kollidorische Sprache ist warm und fließend und leicht zu lernen, aber das klingt besonders warm. Ich drehe mich um, und da steht diese große Eingeborene.
Ja, ich weine, sage ich, und wende den Blick ab. Ihre großen Hände fassen mich, und ich fröstle ein bißchen. Es fühlt sich seltsam an, von einem fremden weiblichen Wesen berührt zu werden.
Sie setzt sich zu mir. Du siehst traurig aus, sagt sie.
Das bin ich auch, antworte ich.
Warum bist du so traurig?
Das könntest du nie verstehen, sage ich. Ich drehe den Kopf zur Seite und spüre die Tränen, und sie greift impulsiv nach mir. Ich übergebe mich beinahe bei dem Geruch, aber in ein, zwei Minuten merke ich, daß er auf fremdartige Weise süß und angenehm ist.
Sie trägt eine Art Kartoffelsack, und er riecht ziemlich stark. Sie zieht aber meinen Kopf auf ihre großen, warmen Brüste und behält ihn dort.
Wie heißt du, unglücklicher Erdbewohner?
Falk, sage ich. Matthew Falk.
Ich bin Thetona, sagt sie. Ich lebe allein. Bist du einsam?
Ich weiß nicht, sage ich. Ich weiß es wirklich nicht.
Aber wie kannst du nicht wissen, ob du einsam bist, sagt sie.
Sie hebt meinen Kopf von ihrer Brust, und unsere Blicke begegnen sich. Wirklich romantisch. Sie hat Augen wie matte Halbdollars. Wir sehen uns an, sie hebt die Hand und wischt mir die Tränen aus den Augen.
Sie lächelt. Ich nehme an, daß es ein Lächeln ist. Sie hat ungefähr dreißig Kerben, in kreisförmiger Anordnung unter der Nase, und das ist ein Mund. Alle Kerben kräuseln sich. Dahinter sehe ich helle, nadelspitze Zähne.
Ich sehe wieder in ihre Augen, und diesmal wirken sie nicht mehr so matt. Sie sind hell wie die Zähne, tief und warm.
Warm. Ihr Geruch ist warm. Alles an ihr ist warm.
Ich fange wieder an zu weinen — zwanghaft, ohne zu wissen, warum, ohne zu wissen, was eigentlich mit mir los ist. Sie scheint zu flackern, und ich glaube, eine Frau von Terra dort sitzen zu sehen, die mich wiegt. Ich blinzle. Nichts als eine häßliche Frau von einem anderen Planeten.
Nur ist sie nicht mehr häßlich. Sie ist warm und schön, auf fremdartige Weise, und der Teil von mir, der widerspricht, ist ganz winzig und leise. Ich höre ihn schreien: Nein — dann verstummt er und verlischt.
In mir explodiert etwas Sonderbares. Ich lasse es zu. Es birst wie eine Blume — ein Rose oder ein Veilchen, und das ist es, was ich statt ihrer rieche.
Ich lege die Arme um sie.
Willst du mit in mein Haus kommen, sagt sie.
Ja, ja, sage ich. Ja!
Falk verstummt mitten im Wort, und seine trüben Augen fielen zu. Cullinan drückte einmal ab, und der angespannte Körper erschlaffte.
»Nun?« fragte Warshow. Seine Stimme klang trocken und rauh. »Ich fühle mich unrein, nachdem ich das gehört habe.«
»Liegt nahe«, sagte Cullinan. »Es ist eines der übelsten Dinge, die ich je entdeckt habe. Und Sie begreifen es nicht, wie?«
Der Commander schüttelte langsam den Kopf.
»Nein. Warum hat er es getan? Er liebt sie — aber warum?«
Cullinan lachte leise.
»Sie werden es sehen. Aber ich möchte noch andere Leute hierhaben, wenn ich es aus ihm heraushole. Als erstes das Mädchen — und dann Sigstrom.«
»Den Doktor? Wozu denn das?«
»Weil er, wenn ich recht habe, sehr interessiert sein wird.« Cullinan grinste rätselhaft. »Lassen wir Falk ausruhen, ja? Nach dem vielen Reden hat er es nötig.«
»Ich auch«, sagte Warshow.
Vier Personen schauten stumm zu, als Falk ein zweites Mal in die Drogentrance glitt. Warshow studierte das Gesicht Thetonas, um eine Spur der Wärme zu finden, von der Falk gesprochen hatte. Und ja, Warshow sah, daß sie da war. Hinter ihr saß Sigstrom, der Chefarzt des Schiffes. Rechts neben ihm Cullinan. Und auf dem Bett in der Ecke lag Matt Falk.
»Matt, hören Sie mich?« fragte Cullinan. »Ich möchte, daß Sie etwas zurückgehen… Sie sind jetzt an Bord des Schiffes. Die Zeit: vor etwa einem Monat. Sie arbeiten im Konverter teil, Sie und Dave Murff, mit heißem Stoff. Sind Sie soweit?«
»Ja«, sagte Falk. »Ich weiß, was Sie meinen.«
Ich bin im Konvertersektor AA und hole Thorium aus dem Lager, um die Reaktoren zu füttern; das Schiff muß fliegen. Dave Murff ist bei mir. Wir sind ein gutes Team mit den ferngesteuerten Armen.
Wir heben die Klumpen radioaktiven Materials hoch und schieben sie mit den Armen in den Reaktor. Es ist nicht einfach, die ferngesteuerten Mechanikhände zu lenken, aber ich habe keine Angst. Das ist mein Beruf, und ich weiß, was ich zu tun habe.
Ich denke aber an diesen Schweinehund Warshow. Ich habe nichts Besonderes gegen ihn, aber er reizt mich. Komisch, wie er sich jedesmal verkrampft, wenn er Befehle erteilen muß. Erinnert mich an meinen Onkel. Ja, mein Onkel. Mit dem habe ich ihn vergleichen wollen.
Mag Warshow nicht besonders. Wenn er jetzt hereinkäme, gäbe ich ihm mit dem Fernlenkarm vielleicht eins drauf — nicht fest, nur soviel, daß sein Fell ein bißchen zischt. Nur so. Ich wollte meinen Onkel immer schlagen, nur so.
He, schreit Murff. Zieh Arm Zwei wieder zurück.
Keine Sorge, sage ich. Geh nicht das erstemal mit dem Ding um, du Idiot.
Ich bin gut geschützt, aber die Luft riecht komisch, so, als ionisiere sie das Thorium, und ich frage mich, ob etwas nicht in Ordnung ist.
Ich drehe Arm Zwei herum und kippe das Thorium in den Reaktor. Das grüne Licht leuchtet auf und sagt mir, daß ich genau getroffen habe; der heiße Stoff fällt jetzt in den Reaktor hinunter und treibt die Neutronen heraus.
Dann gibt Murff das Signal, ich tauche den Arm ins Lager und hole mit Arm Eins wieder einen Klumpen herauf.
He, schreit er wieder, und Arm Zwei, der leere, rutscht mir weg.
Der große Arm schwebt durch die Luft, und ich sehe die kleinen Finger mit den zarten Metallgelenken, die eben noch ein Stück Thorium 233 umfaßt hatten. Sie scheinen nach mir zu greifen.
Ich schreie. Mein Gott, schreie ich. Murff brüllt auch, als ich die Kontrolle ganz verliere, versucht hinter die Steuertafel zu kommen und den Armgriff zu packen. Aber ich bin ihm im Weg und völlig erstarrt, so daß er es nicht schafft. Er duckt sich und wirft sich auf den Boden, als der große, mechanische Arm durch die Abschirmung kracht.
Ich kann mich nicht bewegen.
Ich bleibe stehen. Die kleinen Finger treffen mich am Kiefer, und ich schreie. Ich brenne. Die metallene Hand fährt an meiner linken Seite hinunter, berührt mich kaum, und es ist, als schneide eine weißglühende Rasierklinge in mein Fleisch.
Es ist zu schmerzhaft, um verspürt zu werden. Meine Nerven schalten ab. Sie übertragen meinem Gehirn nichts mehr.
Und jetzt stößt der Schmerz auf mich herab. Hilfe! Ich brenne! Hilfe!
»Aufhören«, sagte Cullinan scharf, und Falks schreckliches Kreischen verstummte. »Redigieren Sie den Schmerz heraus und machen Sie weiter. Was geschieht, wenn Sie aufwachen?«
Stimmen. Ich höre sie über mir, als ich aus dem Leichentuch aus Schmerzen auftauche.
Strahlungsverbrennungen, sagt eine tiefe, brüchige Stimme. Es ist Doc Sigstrom. Der Doc sagt, er ist furchtbar verbrannt, Leon. Ich glaube nicht, daß er am Leben bleibt.
Verdammt, sagt eine andere Stimme. Commander Warshow. Er muß am Leben bleiben, sagt Warshow. Ich habe noch nie einen Mann verloren. Zwanzig Jahre, ohne einen einzigen Mann zu verlieren.
Der Fernlenkarm hat ihn voll erwischt, sagt eine dritte Stimme. Psycho-Offizier Cullinan, glaube ich. Er hat die Kontrolle verloren, fährt Cullinan fort. Sehr merkwürdig.
Ja, denke ich. Sehr merkwürdig. Ich war nur einen Augenblick nicht bei der Sache, und der Arm schien lebendig zu werden.
Ich spüre, wie der Schmerz an mir auf- und abschießt. Mein halber Kopf scheint zu fehlen, und mein Arm wird geröstet. Wo ist der Schwefelregen, denke ich.
Dann sagt Doc Sigstrom: Wir werden ein Nährbad versuchen müssen.
Was ist das, fragt Warshow.
Neue Methode, antwortet Sigstrom. Chemotherapeutische Inkubation. Eintauchen in Hormonlösungen. Man verwendet das auf der Erde bei schweren Strahlungsverbrennungen vom Typ Eins. Ich glaube nicht, daß man es im Weltraum schon versucht hat, aber man sollte es tun. Er befindet sich im freien Fall. Die Schwerkraft kann sich nicht auswirken.
Wenn es ihn rettet, bin ich dafür, sagt Warshow.
Dann verblaßt alles. Die Zeit geht weiter — eine Ewigkeit in der Hölle, mit der flammenden Qual, die an meiner Seite auf- und abfegt. Ich höre ab und zu Leute reden, dann spüre ich, wie man mich wegträgt. Man schiebt mir Schläuche hinein, um mich zu ernähren. Ich frage mich, wie ich aussehe, mit meinem halbverbrannten Körper.
Plötzlich kühle Wärme. Ja, es klingt eigenartig. Aber es ist warm und nährend und doch auch kühl, es badet mich und nimmt mir das sengende Gefühl.
Ich versuche nicht, die Augen zu öffnen, aber ich weiß, daß ich von Dunkelheit umgeben bin. Ich bin völlig regungslos, inmitten der Dunkelheit, und doch weiß ich, daß außerhalb von mir das Schiff weiter Richtung Kollidor rast, mich umschließend und haltend.
Ich bin im Inneren des Schiffes, werde sanft und sicher gewiegt. Ich bin im Innern von etwas, das im Innern des Schiffes ist. Rad im Rad; Tür in Tür. Puppen in der Puppe.
Weiche Flüssigkeit schlappt über mich, schiebt sich dorthin, wo das Gewebe zerfetzt und versengt ist und das Fleisch vor Hitze Blasen warf. Jede Zelle wird gestreichelt, mein Körper Organ um Organ gebadet, so stelle ich mich wieder her.
Ich schwebe auf und in einem Ozean. Mein Körper heilt schnell. Der Schmerz hört auf.
Ich bin mir des Zeitablaufs überhaupt nicht bewußt. Minuten zerfließen in Minuten ohne Unterbrechung; die Zeit strömt unablässig, und ich werde in ein sanftes, endloses Dasein eingelullt. Glück, denke ich. Sicherheit. Friede.
Es gefällt mir hier.
Rings um mich Flüssigkeit. Darum ein Metallgeflecht. Darum ein kugelförmiges Raumschiff, und darum das Universum. Und um das Universum? Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Ich bin hier sicher, wo es keinen Schmerz, keine Furcht gibt.
Schwärze. Völlige, totale Schwärze. Sicherheit gleich Schwärze und Weichheit und Stille. Aber dann —
Was tun sie?
Was geschieht da?
Blaue Lichtpfeile vor der Dunkelheit, und jetzt ein Farbenwirbel. Grün, rot, gelb. Lichter platzen herein und blenden mich. Gerüche, Fühlen, Lärm.
Die Wiege schwankt. Ich bewege mich.
Nein. Sie ziehen mich heraus. Hinaus!
Es wird kalt, und ich kann nicht atmen. Ich ersticke! Ich versuche, mich festzuklammern, aber sie lassen nicht los! Sie ziehen mich immer weiter heraus, hinaus, hinaus in die Welt von Feuer und Schmerz!
Ich wehre mich. Ich will nicht. Aber es nützt nichts. Ich bin endlich hinausgezerrt.
Ich schaue mich um. Zwei verschwommene Gestalten über mir. Ich wische mir die Augen, und alles wird klar. Warshow und Sigstrom, das sind die beiden.
Sigstrom lächelt und sagt dröhnend: Na, das ist ja wunderbar verheilt!
Ein Wunder, sagt Warshow. Ein Wunder.
Ich schwanke. Ich möchte stürzen, aber ich liege schon. Sie reden weiter, und ich fange vor Wut an zu weinen.
Aber es gibt keinen Weg zurück. Es ist vorbei. Alles, alles vorbei.
Falks Stimme erstarb plötzlich. Warshow kämpfte gegen eine schier unüberwindliche Übelkeit an. Sein Gesicht fühlte sich kalt und klamm an, und er drehte den Kopf, um die blassen, nervösen Gesichter Sigstroms und Cullinans anzublicken. Hinter ihnen saß Thetona mit ausdrucksloser Miene.
Cullinan brach das lange Schweigen.
»Leon, Sie haben schon bei der ersten Sitzung zugehört. Haben Sie wiedererkannt, was er uns eben erzählte?«
»Das Geburtstrauma«, sagte Warshow tonlos.
»Offensichtlich«, sagte Sigstrom. Er fuhr mit zitternden Fingern durch seine dichte, weiße Mähne. »Die Chemotherapie… für ihn war das die Gebärmutter. Wir haben ihn zurück in den Mutterschoß getan.«
»Und ihn wieder herausgezogen«, sagte Warshow. »Wir haben ihn zur Welt gebracht. Und dann suchte er nach einer Mutter.«
Cullinan nickte zu Thetona hinüber.
»Er hat auch eine gefunden.«
Warshow befeuchtete die Lippen.
»Tja-a, nun haben wir die Antwort. Was fangen wir damit an?«
»Wir spielen ihm das Ganze auf Band vor. Sein bewußter Intellekt sieht seine Beziehung zu Thetona als das, was sie ist — der neurotische Zugriff eines erwachsenen Mannes, der in einen künstlichen Mutterschoß gezwungen wurde und nach einer Mutter sucht. Sobald wir das aus seinem Keller sozusagen in den Speicher geholt haben, glaube ich, wird er wieder in Ordnung sein.«
»Aber seine Mutter war das Schiff«, sagte Warshow. »Dort hat sich der Inkubationstank — der Mutterschoß — befunden.«
»Das Schiff hat ihn ausgestoßen. Sie sind ein Onkel-Image gewesen, nicht ein Mutter-Ersatz. Das hat er selbst gesagt. Er suchte anderswo und fand Thetona. Spielen wir ihm die Bänder vor.«
Viel später saß Matt Falk ihnen in der Kabine gegenüber. Er hatte seine eigene Stimme von seiner Vergangenheit erzählen hören. Jetzt wußte er Bescheid.
Es blieb lange still, als das letzte Band abgelaufen war und Falks Stimme gesagt hatte: »Alles, alles vorbei. Und ich bin schrecklich allein.«
Die Worte schienen in der Luft zu hängen. Schließlich sagte Falk mit kalter, toter Stimme: »Danke.«
»Danke?« wiederholte Warshow dumpf.
»Ja. Danke dafür, daß man mir die Augen geöffnet und mir fürsorglich gezeigt hat, was hinter meinem Leid war. Gewiß — danke.« Das Gesicht des Jungen war mürrisch und verbittert.
»Sie verstehen natürlich, warum es notwendig war«, sagte Cullinan. »Warum wir — «
»Ja, ich weiß, warum«, sagte Falk. »Und jetzt kann ich mit euch zur Erde zurückfliegen, und euer Gewissen ist rein.« Er warf einen Blick auf Thetona, die ihn mit sichtbar verstörter Neugier betrachtete. Falk fröstelte ein wenig, als sein Blick dem ihren begegnete. Warshow bemerkte die Reaktion und nickte. Die Therapie hatte Erfolg gehabt.
»Ich war glücklich«, sagte Falk leise. »Bis ihr zu der Ansicht gekommen seid, daß ihr mich mit zur Erde zurücknehmen müßt. Und da habt ihr mich durch die Mangel gedreht und mir alle Psychosen ausgequetscht, und — und — «
Thetona machte zwei schwerfällige Schritte auf ihn zu und legte die Arme um seine Schultern.
»Nein«, murmelte er und machte sich los. »Siehst du nicht, daß es vorbei ist?«
»Matt — « sagte Warshow.
»Sparen Sie sich das ›Matt‹, Käpt’n! Ich bin jetzt heraus aus dem Mutterschoß und wieder im Dienst.« Er sah Warshow traurig an. »Thetona und ich hatten etwas Gutes, Warmes und Schönes, und Sie haben es zerstört. Man kann es auch nicht wieder zusammensetzen. Okay. Ich bin bereit, wieder zur Erde zurückzufliegen.« Er stakte hinaus. Warshow starrte Cullinan und Thetona mit grauem Gesicht an und senkte die Augen. Er hatte gekämpft, um Matt Falk zu behalten, und gewonnen — oder doch nicht? Aber im Geist? Falk würde ihm das nie verzeihen. Warshow zuckte die Achseln und dachte an das Handbuch. Er hatte nicht vor, sich von Falks düsteren Augen weiterhin aufregen zu lassen. Man hatte damit rechnen müssen, daß der Junge verbittert sein würde. Kein Kind vergibt dem Elternteil, das ihn aus dem Mutterschoß reißt.
»Kommen Sie, Thetona«, sagte er zu dem Mädchen. »Kommen Sie. Ich bringe Sie in die Stadt zurück.«