Die Erzählung war ein Markstein in meiner schriftstellerischen Laufbahn. Als ich sie schrieb, hatte ich gerade mein einundzwanzigstes Lebensjahr vollendet. Ich hatte zwar schon zweieinhalb Jahre lang verschiedene Erzählungen an Zeitschriften verkauft, aber der große Wurf war mir noch nicht gelungen.
Dann zeigte mir John W. Campbell, der Herausgeber von Astounding Science Fiction, das Zitat bei Ralph Waldo Emerson, das mich bewog, »Und Finsternis wird kommen ...« zu schreiben. Wir diskutierten die Angelegenheit, dann ging ich heim, und innerhalb weniger Wochen hatte ich die Erzählung beendet.
Um es gleich vorweg zu sagen, mein schriftstellerischer Stil änderte sich weder bei dieser Erzählung noch bei meinen späteren Werken. Was meine schriftstellerische Arbeit betrifft, so bin ich ein vollkommener Amateur. Ich habe mich niemals mit formalen oder stilistischen Problemen beschäftigt, bis heute nicht. Ich schreibe meine Gedanken so nieder, wie sie mir in den Sinn kommen, und auch mit derselben Schnelligkeit.
Mr. Campbell schickte mir nie ein zustimmendes Schreiben, aber dafür schickte er mir einen Scheck, und das sehr prompt. Dagegen hatte ich selbstverständlich nichts einzuwenden, aber meine anfängliche Freude wurde rasch zunichte gemacht, als ich entdeckte, daß Mr. Campbell einen Irrtum begangen hatte.
Ich erhielt damals die großzügig bemessene Summe von einem Cent pro Wort (ich bitte den geneigten Leser, mich nicht auszulachen, denn damals war ich froh, daß ich dieses Geld bekam). Meine Erzählung war zwölf tausend Wörter lang, also erwartete ich ein Honorar von 120 Dollar. Aber der Scheck war auf 150 Dollar ausgestellt.
Ich stöhnte. Natürlich wäre es leicht gewesen, den Scheck einzulösen, ohne weitere Fragen zu stellen, aber die Zehn Gebote, die mir mein strenger, rechtschaffener Vater unermüd-lich eingetrichtert hatte, machten mir dies unmöglich. Also rief ich Mr. Campbell an und bat um einen neuen, auf 120 Dollar ausgestellten Scheck.
Es stellte sich heraus, daß gar kein Irrtum vorlag. Mr. Campbell hatte meine Erzählung so gut gefunden, daß er mein Honorar um 1/4 Cent pro Wort erhöht hatte. So viel Geld hatte ich noch nie zuvor für eine Erzählung erhalten, und noch nie zuvor war eine meiner Erzählungen als Titelgeschichte eines Science-Fiction-Heftes erschienen, wie es jetzt der Fall war.
Aber noch viel wichtiger war, daß der Kreis der Science-Fiction-Interessenten plötzlich von mir Notiz nahm. Nach einiger Zeit stellte sich heraus, daß ich einen Klassiker« geschrieben hatte. Meine Erzählung war bereits in zehn Anthologien erschienen, u. a. in einer britischen, einer holländischen, einer deutschen, einer italienischen und einer russischen.
Dann begann es mich zu irritieren, daß man mir immer wiedersagte, »Und Finsternis wird kommen ...« sei meine beste Erzählung. Ich bildete mir ein, die jahrelange Praxis hätte mich nun doch zu einem geübten Schriftsteller gemacht, dessen Stil sich von Jahr zu Jahr besserte.
Das ärgerte mich so lange, bis ich auf die Idee kam, das vorliegende Buch zu schreiben.
Ich habe »Und Finsternis wird kommen ...« bisher nie in einen Sammelband meiner Erzählungen aufgenommen, weil ich dachte, der Leser müßte gerade diese Erzählung aus den vielen Anthologien, in denen sie erschienen ist, gut kennen. Aber vielleicht entspricht das nicht den Tatsachen. Viele meiner Leser waren noch gar nicht geboren, als diese Erzählung zum erstenmal erschien, und haben vielleicht noch nie eine jener Anthologien gesehen.
Und außerdem, wenn diese wirklich meine beste Erzählung ist, dann soll sie auch in einem meiner eigenen Sammelbände erscheinen. Auch werden einige andere meiner Erzählungen hier aufgenommen, die schon Erfolge erzielt hatten, ohne bisher in einem meiner eigenen Erzählbände vertreten zu sein.
Ich habe »Und Finsternis wird kommen .« und meine anderen Erzählungen in der Reihenfolge ihres Erscheinens angeordnet. So kann der geneigte Leser selbst feststellen, ob sich mein schriftstellerisches Können im Lauf der Jahre nicht doch verbessert hat.
Ich selbst kann das leider nicht beurteilen. Dazu verstehe ich zu wenig von der Schriftstellerei.
Wenn eines Nachts in tausend Jahren die Sterne erscheinen werden, wie werden die Menschen sie bewundern und anbeten und für viele Generationen die Erinnerung an die Stadt Gottes bewahren.
- Emerson -
Aton 77, der Direktor der Saro-Universität, schob seine Unterlippe kampflustig vor und starrte den jungen Reporter wütend an.
Theremon 762 schrieb diese Wut seinen eigenen Erfolgen zu. In seinen frühen Tagen, als seine jetzt weitverbreitete und in zahlreichen Zeitungen erscheinende Kolumne noch die verrückte Idee eines Anfängers war, hatte er sich fest entschlossen, sich auf diese sogenannten »unmöglichen« Interviews zu spezialisieren. Das hatte ihm zwar mehrere zerschlagene Knochen und des öfteren ein blaues Auge eingebracht, ihm aber einen kühlen Kopf und reichliches Selbstvertrauen geschenkt.
So ließ er seine ausgestreckte Hand, die ganz offensichtlich ignoriert wurde, wieder sinken und wartete gelassen, bis sich der Zorn des alten Direktors besänftigte. Astronomen waren nun einmal merkwürdige Vögel, und wenn Atons Handlungs-weise innerhalb der letzten zwei Monate tatsächlich etwas zu bedeuten hatte, dann war der alte Direktor der merkwürdigste Vogel von allen seinen Kollegen.
Endlich fand Aton 77 seine Sprache wieder, und obwohl seine Stimme vor mühsam zurückgehaltener Erregung zitterte, befleißigte er sich auch diesmal der sorgfältigen, etwas pedantischen Redeweise, für die der berühmte Astronom bekannt war.
»Sir«, sagte er. »Sie stellen eine geradezu infernalische Unverschämtheit zur Schau, indem Sie mit diesem Vorschlag zu mir kommen.«
Der bullige Telephotograph des Observatoriums, Beenay 25, fuhr sich mit der Zungenspitze nervös über die Lippen und versuchte vermittelnd einzugreifen.
»Nun, Sir, trotz allem ...«
Der Direktor wandte sich ihm zu und hob seine weißen Brauen.
»Mischen Sie sich da nicht ein, Beenay. Ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie diesen Mann mit bösen Absichten zu mir gebracht haben, aber ich dulde jetzt keine Auflehnung mehr.«
Theremon entschied, daß es nun an der Zeit war, selbst das Wort zu ergreifen.
»Direktor Aton, wenn Sie mich vorhin vielleicht hätten zu Ende sprechen lassen, glaube ich .«
»Das glaube ich nicht, junger Mann«, erwiderte Aton, »daß irgendeine Ihrer jetzigen Ausführungen etwas zu bedeuten hat, verglichen mit Ihren täglichen Kolumnen in diesen letzten zwei Monaten. Sie haben eine Pressekampagne gegen meine eigenen Bemühungen und die meiner Kollegen angezettelt, gegen unsere Bemühungen, das Volk auf eine Bedrohung vorzubereiten, die abzuwenden es jetzt zu spät sein dürfte. Sie haben wahrlich Ihr Bestes getan, um mich und meine Mitarbeiter der Lächerlichkeit preiszugeben.«
Der Direktor ergriff ein Exemplar der Saro City Chronicle und fuchtelte Theremon damit wütend vor der Nase herum.
»Sogar ein Mann, der für seine Unverschämtheit bekannt ist wie Sie, würde gezögert haben, mit diesem Ansinnen zu mir zu kommen. Gerade Sie wollen über die Ereignisse des heutigen Tages schreiben.« Er warf die Zeitung zu Boden, ging mit großen Schritten zum Fenster und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Sie können gehen«, sagte er barsch über die Schulter und starrte dann mürrisch aus dem Fenster. Gamma, die hellste der sechs Sonnen des Planeten, näherte sich gerade dem Horizont. Gelb verdämmerte sie im Nebel, und Aton wußte, daß er Gamma niemals mehr als geistig gesunder Mann erblicken würde.
Er fuhr herum.
»Nein, warten Sie!« Er hob die Hand. »Sie sollen Ihre Story haben.«
Der Reporter, der noch keine Anstalten gemacht hatte, das Zimmer zu verlassen, ging langsam auf den alten Mann zu. Aton deutete zum Fenster hinaus.
»Von den sechs Sonnen steht nur mehr Beta am Himmel. Sehen Sie es?«
Die Frage war unnötig. Beta stand fast im Zenit. Ihr rötliches Licht tauchte das Land in ein ungewöhnliches Orange, als die hellen Strahlen der gesunkenen Gamma erstarb en. Beta stand im Aphelium. Sie war klein, kleiner, als Theremon sie jemals gesehen hatte, und in diesem Augenblick war sie die unumstrittene Königin am Himmel von Lagash.
Lagashs eigene Sonne Alpha, um die der Planet sich drehte, beschien die Antipoden. Der rote Zwerg Beta, Alphas unmittelbarer Gefährte, stand allein am Himmel, schrecklich allein.
Atons Gesicht leuchtete rot im Sonnenschein.
»In weniger als vier Stunden wird unsere Zivilisation untergehen. Und das wird geschehen, weil Beta als einzige Sonne am Himmel steht, wie Sie selbst sehen.« Er lächelte grimmig.
»Drucken Sie das! Es wird niemand mehr da sein, der Ihren Artikel liest.«
»Aber nehmen wir einmal an, es vergehen vier Stunden und noch einmal vier Stunden, ohne daß etwas passiert. Was dann?« fragte Theremon sanft.
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Es wird genug passieren.«
»Und wenn trotzdem nichts passiert?«
Ein zweites Mal mischte sich Beenay 25 ein.
»Sir, ich glaube, Sie sollten auf ihn hören.«
»Lassen Sie doch unter Ihren Mitarbeitern abstimmen, Direktor Aton«, sagte Theremon. Bewegung entstand unter den fünf noch verbliebenen Mitarbeitern des Direktors, die bis jetzt eine vorsichtig neutrale Haltung eingenommen hatten.
»Das ist nicht nötig«, sagte Aton, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Er zog seine Uhr aus der Tasche. »Da Ihrem guten Freund Beenay so viel daran liegt, gebe ich Ihnen noch fünf Minuten. Reden Sie.«
»Vielen Dank. Sehen Sie, würde es irgendeinen Unterschied machen, wenn ich mich mit eigenen Augen von der Richtigkeit Ihrer Behauptungen überzeugen könnte? Wenn Ihre Prophezeiung eintrifft, würde meine Gegenwart niemandem schaden, und in diesem Fall könnte ich meinen Artikel nie mehr schreiben. Und wenn nichts passiert, so machen Sie sich lächerlich. Es wäre sehr klug von Ihnen, die Beschreibung Ihrer Lächerlichkeit einem freundlich gesinnten Reporter zu überlassen.«
Aton schnaubte.
»Freundlich gesinnt! Meinen Sie damit sich selbst?«
»Sicher.« Theremon setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Meine Artikel klingen vielleicht manchmal ein wenig rauh, aber ich habe nie etwas dagegen gehabt, wenn man sie in Zweifel zieht. Außerdem, in diesem Jahrhundert hat es keinen Sinn, Lagash den Weltuntergang zu predigen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Leute dem Buch der
Offenbarung keinen Glauben mehr schenken. Und es ärgert sie, wenn plötzlich Wissenschaftler auftreten und ihnen weismachen wollen, daß die Kultisten letzten Endes doch recht behalten sollen .«
»So dürfen Sie das nicht betrachten, junger Mann«, unterbrach ihn Aton. »Wenn unsere Forschungsergebnisse zum Teil auch von kultistischen Erkenntnissen ergänzt wurden, so enthalten unsere Resultate doch keinerlei Mystizismus. Fakten sind Fakten, und auch hinter dem Kult stehen gewisse Fakten. Wir haben sie freigelegt und entmystifiziert. Ich versichere Ihnen, daß die Kultisten uns jetzt noch mehr hassen als Sie.«
»Ich hasse Sie nicht. Ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, daß die Öffentlichkeit verärgert ist.«
Aton zog verächtlich die Mundwinkel herab.
»Soll sie doch verärgert sein.«
»Sicher. Aber was wird morgen sein?«
»Es wird kein Morgen geben.«
»Und wenn doch? Sagen wir, es wird ein Morgen geben, nur damit wir sehen können, was passiert. Dann wird der Ärger der Öffentlichkeit sich noch in etwas viel Schlimmeres verwandeln. Die Geschäfte haben sich in den letzten zwei Monaten rückläufig entwickelt. Die Leute glauben zwar nicht wirklich, daß die Welt untergehen wird, aber sie investieren doch etwas vorsichtiger. Und der Normalverbraucher wartet mit seiner neuen Wohnungseinrichtung noch ein paar Monate. Um sicherzugehen.
Darauf kommt es an. Wenn alles vorüber ist, wird die gesamte Geschäftswelt über Sie herfallen. Und wissen Sie, was Sie sagen werden? Wenn Narren - verzeihen Sie den harten Ausdruck - jederzeit den Wohlstand des Landes bedrohen können, nur weil sie ein paar verrückte Prophezeiungen von sich geben, dann muß der Planet das Volk vor solchen Narren schützen. Die Funken werden fliegen, Sir.«
Der Direktor blickte den Reporter ernst an.
»Und was schlagen Sie in dieser Situation vor?«
»Nun ...« Theremon grinste. »Ich schlage vor, daß man sich um die Öffentlichkeit kümmern soll. Ich werde die lächerliche Seite der Angelegenheit hervorkehren. Das wird natürlich schwer für Sie zu ertragen sein, das gebe ich zu, denn ich muß Sie alle zu Idioten machen. Wenn ich aber die Leute dazu bringe, daß sie über Sie lachen, werden sie ihren Zorn vergessen. Als Gegenleistung erbittet sich mein Herausgeber nur eine exklusive Story.«
Beenay nickte.
»Sir, wir alle glauben, daß er recht hat«, platzte er heraus. »In den letzten zwei Monaten haben wir über alles nachgedacht, nur nicht über die Millionen-zu-eins-Chance, daß irgendwo in unserer Theorie oder in unseren Kalkulationen ein Fehler steckt. Aber wir müssen auch damit rechnen.«
Zustimmendes Gemurmel klang in der Gruppe von Männern auf, die den Schreibtisch umstanden, und Atons Gesicht sah aus, als hätte er etwas Bitteres im Mund und könne es nicht ausspucken.
»Dann bleiben Sie, wenn Sie wollen. Aber Sie werden so freundlich sein, uns nicht an der Ausübung unserer Pflichten zu hindern. Und außerdem werden Sie sich stets daran erinnern, daß ich hier der Chef bin. Wenn Sie also in irgendwelchen Belangen anderer Meinung sein sollten als ich, so können Sie das in Ihrem Artikel zum Ausdruck bringen, aber ansonsten erwarte ich von Ihnen Gehorsam und Respekt .«
Er hatte die Hände hinter seinem Rücken verschränkt, und sein faltiges Gesicht schob sich entschlossen vor, als er weitersprechen wollte. Aber eine helle Tenorstimme hinderte ihn daran.
»Hallo, hallo«, sagte der Neuankömmling, und seine fetten Wangen schwollen in einem breiten Grinsen noch mehr an. »Warum diese Grabesstimmung? Man wird doch nicht etwa die Nerven verlieren? Das will ich aber nicht hoffen.«
Aton starrte den Mann konsterniert an und fragte mürrisch: »Was zum Teufel machen Sie denn hier, Sheerin? Ich dachte, Sie wären im Schutzbunker.«
Sheerin lachte und ließ seinen unförmigen Körper in einen Stuhl fallen.
»Schutzbunker! Das wäre mir viel zu langweilig. Ich will hier sein, im Mittelpunkt der Geschehnisse. Ich will meine Neugierde befriedigen. Ich will die Sterne sehen, von denen die Kultisten immer wieder reden.« Er rieb sich die Hände, und sein Ton wurde ernster. »Es ist kalt draußen. Es hängen einem beinahe schon Eiszapfen aus den Nasenlöchern. Beta scheint überhaupt keine Wärme mehr zu geben, aus dieser Entfernung.«
Der weißhaarige Direktor knirschte in plötzlicher Erbitterung mit den Zähnen.
»Warum müssen Sie sich unbedingt zum Narren machen, Sheerin? Welchen Nutzen sollten wir hier von Ihnen haben?«
»Welchen Nutzen?« Er breitete in komischer Resignation die Arme aus. »Und welchen Nutzen hat man von mir im Schutzbunker? Dort brauchen Sie keinen Psychologen. Dort brauchen sie starke, tatkräftige Männer. Und ich bin hundert Pfund zu schwer, um tatkräftig zu sein. Und ich hätte auch einige Schwierigkeiten, mich fortzupflanzen. Warum sollte ich die Leute also mit mir belasten, ein unnötiges Maul mehr zu stopfen. Hier fühle ich mich besser am Platz.«
»Was hat es mit diesem Schutzbunker auf sich, Sir?« fragte Theremon kurz.
Sheerin schien den Reporter erst jetzt zu bemerken. Er runzelte die Stirn und blies seine dicken Wangen auf.
»Wer sind Sie eigentlich, Rotschopf?«
Aton preßte die Lippen zusammen.
»Das ist Theremon 762«, murmelte er unfreundlich. »Ein Reporter. Ich nehme an, Sie haben von ihm gehört.«
Der Reporter streckte die Hand aus.
»Und Sie sind sicher Sheerin 501 von der Saro-Universität. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Dann wiederholte er seine Frage. »Was hat es mit diesem Schutzbunker auf sich, Sir?«
»Nun«, sagte Sheerin. »Wir konnten einige Leute von der Richtigkeit dieser Weltuntergangsprophezeiung überzeugen und sie dazu bringen, Maßnahmen zu ergreifen. Es handelt sich um etwa dreihundert Personen, die nächsten Verwandten der Mitglieder des Personals vom Observatorium und der Universität und ein paar Außenseiter. Drei Viertel der Leute sind Frauen und Kinder.«
»Ich verstehe. Sie sollen sich verstecken, damit die Dunkelheit und die Sterne nicht über sie herfallen können. Sie sollen überleben, während der Rest der Welt zugrunde geht.«
»Wenn sie können. Es wird nicht leicht sein. Wenn die gesamte Menschheit wahnsinnig geworden ist, die Städte in Flammen aufgegangen sind, werden die Umweltbedingungen das Überleben erschweren. Aber sie haben Essen, Wasser, Obdach und Waffen .«
»Sie haben mehr«, sagte Aton. »Sie haben all unsere Forschungsberichte, außer natürlich den Aufzeichnungen, die wir heute machen werden. Diese Forschungsberichte werden für die neue Menschheit alles bedeuten, und sie müssen überleben. Der Rest kann zum Teufel gehen.«
Theremon stieß einen langen, leisen Pfiff aus und schwieg einige Minuten lang nachdenklich. Die Männer, die um den Tisch gestanden hatten, hatten ein Brettspiel gebracht und beschäftigten sich damit. Kein Wort wurde dabei gesprochen. In wilder Konzentration richteten sich alle Augen auf das Spielbrett. Theremon beobachtete die Männer aufmerksam, und nach einer Weile stand er auf und trat zu Aton, der etwas abseits saß und mit Sheerin eine leise Unterhaltung führte.
»Hören Sie«, sagte Theremon. »Gehen wir woanders hin, wo wir die anderen nicht stören. Ich habe ein paar Fragen.«
Der alte Astronom betrachtete ihn mit ärgerlichem Stirnrunzeln, doch Sheerin zirpte erfreut: »Aber gern! Reden tut mir gut. Das tut es immer. Aton erzählte mir gerade von Ihren Sorgen wegen der Reaktion des Planeten, falls die Vorhersagen sich als falsch erweisen sollten. Ich stimme mit Ihnen überein. Ich lese Ihre Artikel übrigens regelmäßig, und im allgemeinen gefällt mir Ihr Standpunkt.«
»Bitte, Sheerin«, sagte Aton verdrießlich.
»Wie? Ach ja, sicher. Wir werden in den nächsten Raum gehen. Dort gibt es auch bequemere Sessel.«
Es gab bequemere Sessel im nächsten Raum. Außerdem hingen dicke, rote Vorhänge vor den Fenstern, und ein kastanienbrauner Teppich bedeckte den Boden. Das ziegelrote Licht, das Beta in das Zimmer warf, gab allen Farben das Aussehen von getrocknetem Blut.
Theremon schauderte.
»Ich würde alles geben für ein bißchen weißes Licht, nur ein paar Sekunden lang. Ich wollte, Gamma und Delta stünden am Himmel.«
»Welche Fragen wollen Sie mir stellen?« fragte Aton. »Denken Sie daran, daß unsere Zeit begrenzt ist. In etwa eineinhalb Stunden gehen wir nach oben, und dann werden wir nicht mehr viel Zeit zum Reden haben.«
Theremon lehnte sich zurück und faltete die Hände über der Brust.
»Sie und Ihre Männer wirken so verdammt ernst, daß ich allmählich selbst an die Richtigkeit Ihrer Vorhersage glaube. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie mir die Hintergründe des bevorstehenden Weltuntergangs erklärten?«
»Soll das heißen«, explodierte Aton, »daß Sie mich der Lächerlichkeit preisgeben wollten, ohne überhaupt zu wissen, worauf unsere Forschung abzielt?«
Der Reporter grinste unschuldig.
»So schlimm ist es nicht, Sir. Im allgemeinen weiß ich schon, worum es geht. Sie sagen, in wenigen Stunden würde eine weltweite Finsternis hereinbrechen, und die gesamte Menschheit würde dem Wahnsinn verfallen. Ich möchte aber gern wissen, auf welcher wissenschaftlichen Basis Ihre Behauptungen stehen.«
»Verzichten Sie lieber darauf«, mischte sich Sheerin ein. »Wenn Sie Aton solche Fragen stellen und er überhaupt gewillt ist, Ihnen zu antworten, wird er Ihnen seitenlange Berechnungen und graphische Darstellungen zeigen, aus denen Sie niemals klug werden. Aber wenn Sie mich fragen, dann kann ich es Ihnen erklären, vom Standpunkt des Laien aus gesehen.«
»Gut. Dann frage ich Sie.«
»Dann will ich zuerst einmal etwas zu trinken haben.« Er rieb sich die Hände und sah Aton an.
»Wasser?« meinte Aton.
»Sind Sie wahnsinnig?«
»Seien Sie nicht wahnsinnig. Heute gibt es keinen Alkohol. Es würde zu leicht sein, meine Männer betrunken zu machen. Ich kann es mir nicht leisten, sie in Versuchung zu führen.«
Der Psychologe brummte etwas Unverständliches vor sich hin, dann richtete er seine durchdringenden Augen auf There-mon.
»Sie wissen sicher, daß die Geschichte der Zivilisation von Lagash einen zyklischen Charakter aufweist?«
»Ich weiß«, entgegnete Theremon vorsichtig, »daß das eine Theorie ist, die die Archäologen zur Zeit vertreten. Akzeptiert man sie bereits als Tatsache?«
»Fast. In unserem Jahrhundert stimmen fast alle Wissenschaftler mit dieser Theorie überein. Der zyklische Charakter ist, oder besser gesagt war, eines der großen Geheimnisse. Wir konnten Reihen von Zivilisationen feststellen, genau neun, und wir bemerkten Anzeichen von mehreren anderen Zivilisationen. Alle haben etwa denselben Entwicklungsgrad erreicht wie unsere Zivilisation, und alle wurden ausnahmslos vom Feuer zerstört, als sie am Höhepunkt ihrer Kultur angelangt waren.
Und niemand konnte sagen, warum das so war. Alle Kulturzentren wurden restlos vom Feuer verschluckt, und nichts blieb übrig, das auf die Ursache dieser Zerstörung schließen ließ.«
Theremon hörte angespannt zu. »Gab es da nicht auch ein Steinzeitalter?«
»Möglich. Aber praktisch wissen wir nichts davon, außer daß die Menschen dieses Zeitalters etwas höher entwickelt waren als relativ intelligente Affen. Aber das können wir außer acht lassen.«
»Ich verstehe. Fahren Sie fort.«
»Es gab mehrere Erklärungen für diese sich immer wiederholenden Katastrophen, aber sie waren alle mehr oder weniger Ausgeburten der Phantasie. Manche sagen, es gäbe da einen periodischen Feuerregen, andere behaupten, daß Lagash immer wieder durch eine Sonne fliegt, und noch wildere Dinge hat man sich erzählt. Aber es gibt eine Theorie, die sich von allen anderen unterscheidet, die mehrere Jahrhunderte hindurch überliefert worden ist.«
»Ich weiß. Sie meinen diesen Mythos von den >Sternen<, den die Kultisten in ihrem Buch der Offenbarung beschreiben.«
»Genau«, sagte Sheerin zufrieden. »Die Kultisten behaupten, daß Lagash alle zweitausendundfünfzig Jahre in eine große Höhle eindringt, so daß alle Sonnen verschwinden und völlige Finsternis den Planeten umgibt. Und dann, sagen sie, tauchen die sogenannten Sterne auf, rauben den Menschen den Verstand und treiben sie in den Wahnsinn, so daß die Menschheit selbst die Zivilisation zerstört, die sie aufgebaut hat. Natürlich vermischen sie das alles mit religiösen und mythischen Begriffen, aber die Sache mit den Sternen ist die zentrale Idee.«
Sheerin machte eine Pause und holte tief Atem.
»Und jetzt kommen wir zu der Theorie von der universellen Schwerkraft.« Er sprach diesen Satz so prononciert aus, daß Aton sich vom Fenster abwandte, laut schnaubte und aus dem Zimmer stapfte.
Die beiden Männer starrten ihm nach, und Theremon fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nichts Besonderes«, erwiderte Sheerin. »Zwei der Männer hätten schon vor mehreren Stunden erscheinen sollen, und sie sind immer noch nicht da. Er hat natürlich sehr wenig Hilfskräfte, denn alle, die nicht unbedingt wichtig sind, befinden sich im Schutzbunker.«
»Und Sie glauben nicht, daß die beiden sich aus dem Staub gemacht haben?«
»Wer? Faro und Yimot? Sicher nicht. Immerhin, wenn Sie nicht innerhalb von einer Stunde hier sind, dürfte es einige Schwierigkeiten geben.« Plötzlich stand er auf, und seine Augen blitzten. »Wie dem auch sei, solange Aton nicht hier ist ...«
Er ging auf den Zehenspitzen zum nächsten Fenster, bückte sich und zog aus der niederen Kommode unter dem Fensterbrett eine Flasche, deren rote Flüssigkeit verführerisch gurgelte, als Sheerin sie schüttelte.
»Daran hat Aton sicher nicht gedacht«, sagte er, als er zum Tisch zurücktrottete. »Hier! Wir haben nur ein Glas, aber als Gast können Sie es haben. Ich trinke aus der Flasche.« Sorgfältig goß er etwas von der Flüssigkeit in ein kleines Glas.
Theremon wollte protestieren, aber Sheerin blickte ihn streng an.
»Respekt vor dem Alter, junger Mann.«
Mit ängstlichem Gesicht lehnte Theremon sich zurück.
»Also gut, Sie alter Galgenvogel.«
Der Adamsapfel des Psychologen hüpfte, als er die Flasche an den Mund setzte und den Kopf weit zurücklegte. Dann gab er ein zufriedenes Grunzen von sich und leckte sich über die Lippen.
»Was wissen Sie von der Schwerkraft?« nahm er das Thema wieder auf.
»Nicht viel. Nur daß es sich dabei um einen verhältnismäßig neuen Wissenszweig handelt und daß er so problematisch ist, daß nur etwa zwölf Männer in Lagash etwas davon verstehen.«
»Unsinn! Ich kann Ihnen die gesamten Probleme in einem einzigen Satz darlegen. Das Gesetz der universellen Schwerkraft besagt, daß eine Kohäsionskraft zwischen allen Körpern im Universum besteht, und zwar verhält sich die Stärke dieser Kohäsionskraft zwischen zwei beliebigen Körpern proportional zu der Summe ihres Gewichts, dividiert durch das Quadrat ihrer Entfernung voneinander.«
»Ist das alles?«
»Das ist genug! Man hat vierhundert Jahre gebraucht, um darauf zu kommen.«
»Warum so lange? Es klingt doch ganz simpel, zumindest aus Ihrem Mund.«
»Weil die großen Naturgesetze sich nicht in einem plötzlichen Geistesblitz enthüllen. Es ist die Zusammenarbeit von Millionen Wissenschaftlern erforderlich, und zwar mehrere Jahrhunderte lang. Seit Genovi 41 entdeckte, daß Lagash sich um die Sonne Alpha dreht statt umgekehrt, und das war vor vier Jahrhunderten, arbeiten die Astronomen unablässig an der Erforschung des Sonnensystems. Die vollständigen Bewegungen der sechs Sonnen wurden aufgezeichnet und analysiert. Eine Theorie nach der anderen trat auf, wurde untersucht, nochmals untersucht, modifiziert, verworfen, zu neuem Leben erweckt und auf andere Dinge angewandt. Es war eine Teufelsarbeit.«
Theremon nickte gedankenvoll und hielt Sheerin das Glas hin, damit er noch mehr Alkohol eingoß. Aber der Psychologe ließ nur wenige rubinfarbene Tropfen in das Glas gleiten.
»Vor zwanzig Jahren«, fuhr er fort, nachdem er sich selbst die Kehle befeuchtet hatte, »konnte endgültig bewiesen werden, daß das Gesetz von der universellen Schwerkraft genau auf die Kreisläufe der sechs Sonnen zutrifft. Es war ein großer Triumph der Wissenschaft.«
Sheerin stand auf und ging zum Fenster. Fest hielt er die Flasche umklammert.
»Und jetzt kommen wir zur Hauptsache. In der letzten Dekade wurden die Bewegungen der sechs Sonnen gemäß dem Gesetz der universellen Schwerkraft festgehalten. Aber plötzlich stimmten die Kreisläufe nicht mehr mit dem Gesetz überein, auch nicht, wenn man die Abweichungen von der Laufbahn, die die anderen Sonnen verursachen können, in Betracht zieht. Entweder hat das Gesetz keine Gültigkeit mehr, oder ein anderer, noch unbekannter Faktor hat die Hand im Spiel.«
Theremon trat neben Sheerin an das Fenster und starrte hinaus auf die bewaldeten Hügel, hinter denen die Turmspitzen von Saro City sich blutrot vom Horizont abhoben. Der Reporter fühlte, wie die Anspannung und Unsicherheit in ihm wuchsen, als er einen kurzen Blick auf Beta war. Rötlich glühte die Sonne im Zenit, zwergenhaft und böse.
»Sprechen Sie weiter, Sir«, sagte Theremon leise.
»Jahrelang tappten die Astronomen im dunklen. Eine Theorie erwies sich haltloser als die andere - bis Aton auf die Idee kam, sich an die Kultisten zu wenden. Das Oberhaupt der Kultisten, Sor 5, hatte Zugang zu gewissen Forschungsergebnissen, die das Problem beträchtlich vereinfachen halfen. Aton hatte eine neue Spur gefunden.
Angenommen, es gibt einen anderen nicht leuchtenden Planeten, ähnlich wie Lagash. Sie wissen, daß er nur mittels reflektierten Lichtes leuchten würde. Und wenn dieser Planet aus bläulichem Gestein bestünde, wie es bei Lagash größtenteils der Fall ist, dann würde er im rötlichen Himmel, beschienen von den ewigen Strahlen der Sonnen, völlig unsichtbar sein, gänzlich ausgelöscht.«
Theremon pfiff vor sich hin.
»Sehr kompliziert.«
»Keineswegs. Hören Sie weiter. Nehmen wir einmal an, dieser Körper kreist in einer solchen Entfernung um Lagash und besitzt ein solches Gewicht, daß seine Anziehungskraft die Abweichung der Umlaufbahn Lagashs von der Theorie verursacht - wissen Sie, was dann geschehen würde?«
Der Reporter schüttelte den Kopf.
»Nun, manchmal gerät dieser Planet in die Umlaufbahn einer Sonne.« Sheerin leerte die Flasche mit einem Schluck.
»Und ich nehme an, das passiert jetzt«, sagte Theremon.
»Ja. Und nur eine Sonne liegt auf seiner Strecke.« Er wies mit dem Daumen auf den fahlen rötlichen Ball am Himmel. »Beta. Und es hat sich gezeigt, daß die Finsternis nur dann eintritt, wenn Beta allein am Himmel steht und die größtmögliche Entfernung von Lagash erreicht hat und der Mond sich unveränderlich auf dem Punkt seiner geringsten Entfernung befindet. Die Finsternis, die entsteht, wenn der Mond auf einem Punkt angelangt ist, dessen Entfernung von Lagash siebenmal den Durchmesser von Beta genommen beträgt, wird ganz Lagash einhüllen. Und kein Fleck auf dem Planeten wird den Auswirkungen dieser Finsternis entgehen, die alle zweitau-sendundneunundvierzig Jahre eintritt.«
Theremons Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
»Und das ist meine Story?«
Der Psychologe nickte.
»Das ist alles. Die Finsternis wird etwa in einer Dreiviertelstunde eintreten. Dann wird das ganze Universum sich verdunkeln. Und dann treten vielleicht diese mysteriösen Sterne auf, dann Wahnsinn und das Ende des Zyklus.«
Er runzelte nachdenklich die Stirn.
»Wir im Observatorium hatten zwei Monate lang Zeit. Aber das war zu wenig, um Lagash zu überzeugen, daß Gefahr droht. Vielleicht hätten dazu nicht einmal zwei Jahrhunderte ausgereicht. Aber unsere Berichte liegen im Schutzbunker, und heute werden wir die Finsternis photographieren. Der nächste Zyklus kann beginnen, und von Anfang an wird die Wahrheit bekannt sein. Wenn die nächste Finsternis kommt, wird die Menschheit darauf vorbereitet sein. Auch das gehört zu Ihrer Story.«
Eine schwache Brise bewegte die Vorhänge, als Theremon das Fenster öffnete und sich hinausbeugte. Kalt strich der Wind durch sein Haar, als er auf das purpurfarbene Sonnenlicht auf seiner Hand starrte. Dann drehte er sich in plötzlicher Auflehnung um.
»Welche Kraft liegt in dieser Dunkelheit, die mich zum Wahnsinn treiben kann?«
Sheerin lächelte und drehte die leere Flasche zerstreut zwischen seinen Händen.
»Haben Sie schon jemals eine solche Finsternis erlebt, junger Mann?«
Der Reporter lehnte sich an die Wand und überlegte.
»Nein. Aber ich kann es mir vorstellen. Es ist - ach ...« Seine Hände glitten vage durch die Luft. Dann grinste er. »Es ist eben kein Licht da. Wie in einer dunklen Höhle.«
»Waren Sie schon jemals in einer Höhle?«
»In einer Höhle? Nein.«
»Das dachte ich mir. Ich habe es letzte Woche versucht. Nur, um es einmal zu sehen. Aber ich bin schleunigst wieder hinausgerannt. Ich war so weit vorgedrungen, daß der Eingang der Höhle nur mehr ein unklarer heller Fleck war. Und rings um mich nur Schwärze. Ich hätte nie gedacht, daß ich bei meinem Gewicht so schnell laufen kann.«
Theremon verzog die Lippen.
»Nun, ich glaube nicht, daß ich davongerannt wäre.«
Der Psychologe betrachtete den jungen Mann mit verärgertem Stirnrunzeln.
»Reden Sie nicht so groß daher. Ziehen Sie lieber den Vorhang zu.«
Theremon blickte ihn überrascht an und fragte: »Warum? Wenn vier oder fünf Sonnen da draußen stünden, dann würde ich noch verstehen, daß Sie das Licht hier drinnen angenehmer machen wollen. Aber jetzt?«
»Ziehen Sie den Vorhang vor, und setzen Sie sich hierher.«
»Wie Sie wünschen.« Theremon griff nach der Vorhangschnur, und der rote Stoff glitt über das große Fenster. Die Messingringe rasselten über die Vorhangstange, und düsterer roter Schatten kroch in den Raum.
Hohl klangen Theremons Schritte durch die Stille. Er ging zum Tisch und blieb auf halbem Weg stehen.
»Ich kann Sie nicht mehr sehen, Sir«, flüsterte er.
»Tasten Sie sich vor«, befahl Sheerin mit gepreßter Stimme.
»Aber ich kann Sie nicht sehen.« Der Reporter atmete schwer. »Ich kann überhaupt nichts mehr sehen.«
»Haben Sie etwas anderes erwartet?« lautete die grimmige Antwort. »Kommen Sie her, und setzen Sie sich.«
Wieder wurden Schritte hörbar, näherten sich langsam und unentschlossen. Dann ertönte ein Geräusch, wie wenn jemand gegen einen Stuhl stößt. Theremons Stimme klang dünn.
»Da bin ich. Ich fühle mich - eh - ganz gut.«
»Es gefällt Ihnen, nicht wahr?«
»N-nein. Es ist grauenhaft. Die Wände scheinen zu ...« Er brach ab. »Sie scheinen mich zu umzingeln. Und ich will sie zurückstoßen. Aber ich spüre nicht, daß ich wahnsinnig werde. Tatsächlich, das Gefühl, das ich im Augenblick habe, ist gar nicht so schlimm.«
»Gut. Ziehen Sie die Vorhänge wieder zurück.«
Vorsichtige Schritte tappten durch die Dunkelheit, There-mons Körper streifte den Vorhang, als er nach der Schnur suchte. Mit triumphierendem Klirren rollten die Ringe über die Vorhangstange, und rotes Licht durchflutete den Raum. Mit einem Freudenschrei blickte Theremon zur Sonne auf.
Sheerin wischte mit dem Handrücken den Schweiß von sei-ner Stirn und sagte zitternd: »Dabei war das nur ganz einfach ein dunkles Zimmer.«
»Man kann es ertragen«, sagte Theremon fröhlich.
»Ja, ein dunkles Zimmer. Aber waren Sie auf der hundertjährigen Ausstellung in Jonglor vor zwei Jahren?«
»Nein. Es hätte sich für mich nicht gelohnt, deshalb sechstausend Meilen weit zu reisen.«
»Aber ich war da. Sie haben doch sicher von dem mysteriösen Tunnel< gehört, der im ersten Monat im Vergnügungszentrum alle Rekorde brach.«
»Ja. Da gab es doch einen Skandal, nicht wahr?«
»Nun ja, aber es wurde alles vertuscht. Sehen Sie, dieser >mysteriöse Tunnel< war nichts anderes als ein Tunnel von einer Meile Länge, ohne jedes Licht. Man bestieg ein kleines offenes Auto und ratterte fünfzehn Minuten lang durch die Dunkelheit. Dieses Vergnügen war sehr beliebt.«
»Beliebt?«
»Sicher. Es liegt eine gewisse Faszination darin, sich zu fürchten, wenn man die Furcht als Spiel betrachtet. Ein Baby kommt mit drei instinktiven Ängsten auf die Welt: es fürchtet sich vor Lärm, vor dem Fallen und vor der Dunkelheit. Deshalb ist es auch so unerhört lustig, jemanden anzuspringen und >Buh< zu schreien. Deshalb macht es so viel Spaß, auf einem schwankenden Schiff zu fahren. Und deshalb hatte der >myste-riöse Tunnel< auch so viel Erfolg. Atemlos und zitternd kamen die Leute aus dem Tunnel, halbtot vor Angst, und trotzdem strömten sie immer wieder zur Kasse, um durch den Tunnel fahren zu können.«
»Warten Sie, ich erinnere mich jetzt. Manche Leute waren doch tot, als sie den Tunnel verließen, nicht wahr? Es gab einige Gerüchte, und dann wurde der Tunnel geschlossen.«
Der Psychologe schnaufte verächtlich.
»Pah! Zwei oder drei sind gestorben. Das war gar nichts. Sie haben den Familien der Toten Geld gegeben und den Stadtrat von Jonglor bewegen, die Sache zu vergessen. Sie sagten, daß Leute, die ein schwaches Herz haben und trotzdem durch den Tunnel fahren, selbst für die Gefahr verantwortlich gemacht werden müssen. Und außerdem, so etwas würde nicht mehr vorkommen. Ein Doktor wurde in den Kassenraum gesetzt, und jeder Kunde mußte sich vor Antritt der Fahrt untersuchen lassen. Das war natürlich eine ausgezeichnete Reklame für den Tunnel.«
»Und weiter?«
»Da war noch etwas anderes. Manche Leute kamen aus dem Tunnel und waren völlig in Ordnung. Sie weigerten sich nur, irgendwelche Gebäude zu betreten, seien es nun Paläste, Villen, Wohnblöcke, Mietskasernen, Sommerhäuschen, Hütten, Bretterbuden oder Zelte.«
Theremon blickte erschrocken auf.
»Sie meinen, daß sie sich nur noch im Freien aufhalten wollten? Aber wo schliefen sie?«
»Im Freien.«
»Man hätte sie doch mit Gewalt in ein Gebäude bringen können.«
»Das hat man auch getan. Aber dann wurden diese Leute zu rasenden Hysterikern und rannten mit dem Kopf gegen die Wand. Wenn man sie in einen geschlossenen Raum gebracht hatte, mußte man sie entweder in eine Zwangsjacke stecken oder ihnen ein starkes Betäubungsmittel geben.«
»Sie waren also wahnsinnig.«
»Allerdings. Von zehn Personen, die den Tunnel verließen, befand sich eine in diesem sonderbaren Zustand. Man rief Psychologen zu Hilfe, aber das nützte nichts. Die Ausstellung mußte geschlossen werden.« Er breitete die Arme aus.
»Aber was war denn los mit diesen Leuten?«
»Dasselbe wie mit Ihnen, als Sie das Gefühl hatten, die Wände würden Sie umzingeln, wenn der Raum im Dunkeln liegt. Es gibt einen psychologischen Ausdruck für die instinktive
Furcht des Menschen vor der Dunkelheit. Wir nennen es Klaustrophobie, denn das Fehlen von Licht steht fast immer im Zusammenhang mit geschlossenen Räumen, so daß die Furcht vor dem einen mit der vor dem anderen identisch ist. Verstehen Sie?«
»Und die Leute, die krank aus dem Tunnel kamen?«
»Diese Leute hatten unglücklicherweise nicht genug geistige Widerstandskraft, um die Klaustrophobie, die sie im finsteren Tunnel befiel, zu überwinden. Fünfzehn Minuten ohne Licht ist eine lange Zeit. Sie befanden sich nur zwei oder drei Minuten lang im Dunkeln, und ich glaube, es hat Sie ganz schön aufgeregt.
Die Leute, die aus dem Tunnel kamen, hatten eine sogenannte klaustrophobische Fixierung. Ihre latente Furcht vor der Dunkelheit oder vor geschlossenen Räumen war aktiv geworden und, soweit wir es jetzt beurteilen können, permanent. Das können fünfzehn Minuten in absoluter Dunkelheit bewirken.«
Langes Schweigen herrschte nach diesen Worten, und langsam zog sich Theremons Stirn in Falten.
»Ich kann nicht glauben, daß es so schlimm ist.«
»Sie wollen es nicht glauben«, sagte Sheerin ärgerlich. »Schauen Sie doch aus dem Fenster!«
Theremon gehorchte, und der Psychologe sprach weiter.
»Stellen Sie sich das vor - Dunkelheit, überall. Kein Licht, so weit Ihr Auge reicht. Die Häuser, die Bäume, die Felder, die Erde, der Himmel - schwarz! Und dann brechen Sterne herein, soviel ich weiß, was für Sterne das auch immer sein mögen. Können Sie sich das vorstellen?«
»Ja, das kann ich«, stellte Theremon zornig fest.
Sheerin hieb mit plötzlicher Wut die Faust auf den Tisch.
»Sie lügen. Sie können es sich nicht vorstellen. Ihr Gehirn ist dazu nicht fähig. Und ebensowenig kann es die Unendlichkeit oder die Ewigkeit begreifen. Sie können nur darüber reden. Alles, was von der Wirklichkeit, wie Sie sie verstehen, ab-weicht, versetzt Sie in Aufregung. Und wenn die Wirklichkeit dann hereinbricht, wird ihr Gehirn mit den Phänomenen konfrontiert, die außerhalb seines Fassungsvermögens liegen. Sie werden wahnsinnig werden, völlig und für immer! Da steht ganz außer Frage.«
Und traurig fügte er hinzu: »Und wieder werden Jahrtausende mühevoller Arbeit in ein Nichts aufgehen. Morgen wird es auf ganz Lagash keine einzige Stadt mehr geben.«
Theremon gewann einen Teil seines geistigen Gleichgewichts wieder.
»Das wird nicht geschehen. Ich verstehe noch immer nicht, daß ich verrückt werden soll, nur weil keine Sonne mehr am Himmel steht. Aber sogar, wenn das wirklich eintreffen sollte und wenn auch alle anderen Menschen wahnsinnig werden, warum werden dann die Städte zerstört? Werden wir sie zertrümmern?«
Verärgert starrte Sheerin ihn an.
»Wenn Sie sich in völliger Dunkelheit befinden, was wünschen Sie sich dann sehnlicher als Licht? Licht!«
»Und?«
»Und wie bekommen Sie Licht?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Theremon mit ausdruckslosem Gesicht.
»Was ist der einzige Weg, um Licht zu erhalten, wenn die Sonne verschwunden ist?«
»Wie soll ich das wissen?«
Sie standen voreinander, das Gesicht des einen dicht vor dem des anderen.
»Sie verbrennen etwas, Mister«, sagte Sheerin. »Haben Sie schon einmal einen Waldbrand gesehen? Haben Sie schon einmal gezeltet und Fleisch über einem Campfeuer gekocht? Brennendes Holz spendet nicht nur Wärme, müssen Sie wissen. Es spendet auch Licht, und die Menschen wissen das. Und wenn es dunkel ist, wollen sie Licht haben. Und das werden sie auch bekommen.«
»Sie werden also Holz anzünden?«
»Sie werden alles anzünden, was sie nur finden. Sie wollen Licht haben. Sie müssen irgend etwas verbrennen. Holz werden sie nicht gleich zur Hand haben, also werden sie sich auf das Nächstliegende stürzen. Sie werden ihr Licht haben, und die Städte werden in Flammen aufgehen.«
Wütend starrten sie sich in die Augen, als ob es sich um eine persönliche Meinungsverschiedenheit handelte, als ob es darum ging, wer den stärkeren Willen hat. Schließlich wandte Theremon sich wortlos ab. Sein Atem ging rasch und heftig, und er bemerkte den plötzlichen Lärm kaum, der durch die geschlossene Tür aus dem Nebenraum drang.
Sheerin begann zu sprechen, und es kostete ihn einige Anstrengung, seine Stimme nüchtern klingen zu lassen.
»Ich glaube, ich habe Yimots Stimme gehört. Wahrscheinlich sind er und Faro zurückgekehrt. Gehen wir und fragen wir sie, was sie aufgehalten hat.«
»In Ordnung«, flüsterte Theremon. Er machte einen tiefen Atemzug, und sein Körper schüttelte sich. Die Spannung war gebrochen.
Im Nebenzimmer tobte tumultartiger Lärm. Die Mitglieder des Stabes drängten sich um die beiden Männer, die gerade aus ihren Mänteln schlüpften und versuchten, das Fragengewirr abzuwehren, das über sie hereinbrach.
Aton bahnte sich einen Weg durch die Menge und blickte die beiden Neuankömmlinge verärgert an.
»Habt ihr bemerkt, daß wir nur noch eine halbe Stunde Zeit haben? Wo seid ihr gewesen?«
Faro 24 setzte sich und rieb sich die Hände. Seine Wangen waren gerötet von der Kälte, die draußen herrschte.
»Yimot und ich haben soeben ein kleines verrücktes Experiment beendet, das wir uns selbst ausgedacht haben. Wir haben versucht, ob wir ein Arrangement konstruieren können, mit dessen Hilfe wir das Auftreten der Dunkelheit und der Sterne simulieren. Es wäre ein Vorteil, wenn man schon vorher feststellen kann, wie das aussieht.«
Verwirrtes Gemurmel erhob sich unter den Zuhörern und plötzlich trat ein interessierter Ausdruck in Atons Augen.
»Davon war noch nie die Rede. Wie seid ihr denn darauf gekommen?«
»Nun«, sagte Faro, »Yimot und ich sind schon vor einiger Zeit auf die Idee gekommen, und wir haben in unserer Freizeit daran gearbeitet. Yimot kannte ein Haus mit einem kuppelför-migen Dach unten in der Stadt. Ich glaube, es wurde früher als Museum benutzt. Jedenfalls, wir kauften es, und ...«
»Woher habt ihr das Geld dazu genommen?« unterbrach ihn Aton mit gebieterischer Stimme.
»Von unseren Bankkonten«, entgegnete Yimot 70. »Es kostete zweitausend Kreditpapiere.« Verteidigend setzte er hinzu: »Was soll das? Morgen sind zweitausend Kreditpapiere nichts weiter als zweitausend Blatt Papier. Das ist alles.«
»Sicher«, stimmte Faro zu. »Wir kauften also das Haus und kleideten es von oben bis unten mit schwarzem Samt aus, um möglichst vollkommene Dunkelheit zu erzielen. Dann bohrten wir kleine Löcher in die Decke und durch das Dach und verschlossen sie mit kleinen Metalldeckeln, die durch einen Schalter alle gleichzeitig geöffnet und geschlossen werden können. Das haben wir natürlich nicht alles allein gemacht. Wir zogen einen Zimmermann, einen Elektriker und ein paar andere Handwerker zu Rate. Geld spielte ja keine Rolle mehr. Das Wichtigste war, daß das Licht durch diese Löcher im Dach schien und wir auf diese Weise einen sternenähnlichen Effekt erreichten.«
Eine atemlose Pause folgte. Dann sagte Aton steif: »Ihr hattet kein Recht, das privat zu machen .«
Faro sah verlegen aus.
»Sicher, Sir, ich weiß. Aber um es frei herauszusagen, Yimot und ich dachten, daß das Experiment einigermaßen gefährlich sei. Wenn der angestrebte Effekt wirklich eintraf, mußten wir ja befürchten, wahnsinnig zu werden. Nach Sheerins Aussage stand das immerhin im Bereich der Möglichkeit, und dieses Risiko wollten wir allein tragen. Wenn wir unseren klaren Kopf behalten sollten, hätten wir natürlich eine Methode zu entwickeln versucht, wie man eine Immunität den wirklichen Gegebenheiten gegenüber erzielen könnte. Dann hätten wir sie alle mit den Ergebnissen unseres Versuchs bekannt gemacht. Aber die Sache klappte nicht so ganz .«
»Warum nicht? Was ist geschehen?«
»Wir schlossen uns ein«, begann Yimot zu erzählen, »und bemühten uns, unsere Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es war ein recht kribbliges Gefühl, denn durch die totale Finsternis meinten wir, die Decke müsse auf uns herabfallen und die Wände würden immer näher rücken. Aber wir konnten das überwinden und betätigten den Schalter. Die Deckel öffneten sich, und über die ganze Decke verstreut glitzerten winzige Lichtpunkte .«
»Und?«
»Nun, eh, nichts. Das ist es ja gerade. Es passierte überhaupt nichts. Es war ganz einfach ein Dach mit Löchern darin, und genauso sah es auch aus. Wir haben es immer wieder von neuem versucht. Deshalb haben wir uns auch so lange aufgehalten. Aber es war immer wieder dasselbe.«
Erschrockenes Schweigen folgte, und alle Augen wandten sich Sheerin zu, der reglos, mit offenem Mund dasaß.
Theremon fand als erster die Sprache wieder.
»Sie wissen doch, daß damit Ihre ganze Theorie ins Wanken gerät, nicht wahr, Sheerin?« Er grinste erleichtert.
Aber Sheerin hob die Hand.
»Jetzt wartet mal. Laßt mich nachdenken.« Nach wenigen Sekunden schnippte er mit den Fingern, und als er den Kopf hob, war weder Überraschung noch Unsicherheit in seinen Augen. »Natürlich .«
Er konnte nicht mehr zu Ende sprechen. Irgendwo oberhalb ihrer Köpfe ertönte ein schrilles Klirren, und Beenay sprang auf und rannte zur Treppe.
»Was zum Teufel .«
Die anderen folgten ihm.
Dann geschah alles sehr schnell. Oben in der Kuppel warf Beenay einen entsetzten Blick auf die zerschmetterten photographischen Platten und den Mann, der sich darüber beugte. Dann stürzte er sich wütend auf den Eindringling und packte ihn am Kragen. Eine wilde Prügelei setzte ein, und als auch die anderen Mitglieder des Stabes sich in den Kampf warfen, war der Fremde bald unter einem halben Dutzend zorniger Männer begraben.
Aton traf als letzter ein.
»Laßt ihn los«, befahl er keuchend.
Widerwillig wichen die Männer zurück, und schwer atmend rappelte sich der Fremde auf. Seine Kleider waren zerrissen, und seine Stirn blutete. Sein kurzer, lockiger blonder Bart war sorgfältig nach der Mode der Kultisten gestutzt.
Wieder packte Beenay den Mann am Kragen und schüttelte ihn wütend hin und her.
»Jetzt rede, du miese Ratte! Was fällt dir ein, diese Platten .«
»Ich wollte sie nicht zerstören«, erwiderte der Kultist kühl. »Es war ein Zufall.«
Beenay folgte dem Blick des Mannes.
»Ich verstehe. Du warst hinter den Kameras selbst her. Es war ein Glück für dich, daß du über die Platten gefallen bist. Denn wenn du der klickenden Bertha oder irgendeiner anderen etwas angetan hättest, wärst du ganz langsam und qualvoll gestorben. Ungefähr so ...« Er holte mit der Faust aus.
Aton packte ihn am Arm.
»Hör auf! Laß ihn los!«
Der junge Techniker zauderte. Nur widerstrebend ließ er den Arm sinken. Aton schob ihn beiseite und trat vor den Kultisten.
»Sie sind Latimer, nicht wahr?«
Der Kultist verbeugte sich steif und wies auf das Abzeichen an seiner Hüfte.
»Ich bin Latimer 25, Adjutant dritter Klasse Seiner Durchlaucht Sor 5.«
Aton hob die weißen Brauen.
»Sie waren doch letzte Woche dabei, als Seine Durchlaucht mich besuchte, oder?«
Latimer verbeugte sich ein zweites Mal.
»Nun, was wollen Sie also hier?«, fragte Aton.
»Nichts, das Sie mir aus freiem Willen geben würden.«
»Hat Sor 5 Sie geschickt, oder war das Ihre eigene Idee?«
»Diese Frage werde ich nicht beantworten.«
»Haben wir noch weiteren Besuch von Ihren Leuten zu erwarten?«
»Auch diese Frage werde ich nicht beantworten.«
Aton blickte auf seine Uhr und sagte verärgert: »Jetzt reden Sie endlich, Mann. Was will Ihr Herr von mir? Ich habe meine Pflichten in unserer Abmachung erfüllt.«
Latimer lächelte schwach, sagte aber nichts.
»Ich bat ihn um Angaben«, fuhr Aton mürrisch fort, »die ich nur von Kultisten erhalten konnte. Und ich bekam sie. Was das betrifft, so danke ich Ihnen. Als Gegenleistung versprach ich, die essentielle Wahrheit des kultistischen Glaubensbekenntnisses zu beweisen.«
»Es besteht keine Notwendigkeit, das zu beweisen«, kam die stolze Antwort. »Unsere Glaubenswahrheit ist durch das Buch der Offenbarung längst bewiesen worden.«
»Für die Handvoll Kultisten, ja. Tun Sie nicht so, als würden Sie mich mißverstehen. Ich habe Ihnen angeboten, Ihrem Glauben einen wissenschaftlichen Hintergrund zu schaffen.
Und das habe ich auch getan.«
Die Augen des Kultisten verengten sich.
»Ja, das haben Sie getan. Und dabei sind Sie mit der Schlauheit eines Fuchses zu Werke gegangen. Sie untermauerten unseren Glauben mit wissenschaftlichen Erklärungen, und gleichzeitig negierten Sie seine Notwendigkeit. Sie machten aus der Dunkelheit und den Sternen ein naturwissenschaftliches Phänomen und entkleideten alles seiner wahrhaften Bedeutung. Das war Blasphemie.«
»Wenn das so ist, dann ist es nicht meine Schuld. Die Fakten existieren. Ich kann nichts anderes tun, als sie feststellen.«
»Ihre >Fakten< sind Betrug und Täuschung.«
Aton stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf.
»Wie können Sie das wissen?«
Die Antwort kam mit der unwandelbaren Sicherheit bedingungslosen Glaubens.
»Ich weiß es!«
Der Direktor lief rot an, und Beenay begann eindringlich mit ihm zu flüstern. Mit einer Handbewegung schnitt ihm Aton das Wort ab.
»Und was will Sor 5 von uns? Ich nehme an, er glaubt immer noch, daß wir das Heil unzähliger Seelen aufs Spiel setzen, wenn wir versuchen, die Welt zu Maßnahmen gegen den drohenden Wahnsinn zu überreden.«
»Der Versuch allein hat schon Schaden genug angerichtet, und Ihre lasterhaften Bemühungen, Informationen mit Hilfe Ihrer teuflischen Instrumente zu gewinnen, müssen gestoppt werden. Wir gehorchen dem Willen der Sterne, und ich bedau-re zutiefst, daß mein Ungeschick mich daran gehindert hat, ihr höllisches Werk zu vernichten.«
»Das hätte Ihnen nicht viel genützt«, erwiderte Aton. »Wir haben all unsere Forschungsergebnisse gesammelt, nur der letzte Beweis fehlt uns noch. Aber die anderen Angaben sind wohl verwahrt, und es besteht keine Möglichkeit, sie zu ver-nichten.« Er lächelte grimmig. »Aber das hat nichts damit zu tun, daß Sie zum Einbrecher geworden sind.« Er wandte sich an seine Männer.
»Jemand soll die Polizei von Saro City rufen.«
Sheerin stieß einen entsetzten Schrei aus.
»Verdammt, Aton, haben Sie den Verstand verloren? Dazu haben wir keine Zeit mehr.« Er sprang nach vorn. »Lassen Sie mich das erledigen.«
Aton starrte den Psychologen an.
»Wir haben auch keine Zeit mehr für Ihre Spaße, Sheerin. Würden Sie so freundlich sein, mir selbst die Entscheidung zu überlassen, was hier geschehen soll? Sie sind hier nur ein Außenseiter. Vergessen Sie das nicht.«
Sheerin verzog verächtlich die Lippen.
»Warum sollten wir uns die unnötige Mühe machen, die Polizei zu rufen? Beta wird in wenigen Minuten verlöschen. Und wenn dieser junge Mann uns sein Ehrenwort gibt, daß er keine Schwierigkeiten machen wird ...«
»Das werde ich nicht tun«, antwortete der Kultist prompt. »Sie können tun, was Sie wollen, und ich bin fair genug, Sie zu warnen, daß ich die erste beste Gelegenheit ergreifen werde, um meine Aufgabe hier zu vollenden. Wenn Sie sich auf mein Ehrenwort verlassen wollen, rufen Sie lieber die Polizei.«
Sheerin lächelte freundlich.
»Sie verfluchter Kerl! Sie sind wohl wild entschlossen, was? Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Sehen Sie diesen jungen Mann dort am Fenster? Das ist ein starker, rauher Bursche, und er kann ausgezeichnet mit seinen Fäusten umgehen. Er gehört nicht zu unserem Stab, und wenn die Dunkelheit einsetzt, wird er keine andere Aufgabe haben, als Sie im Auge zu behalten. Und ich werde neben ihm stehen. Ich bin zwar ein bißchen zu schwerfällig, um wirksame Fausthiebe zu verteilen, aber irgendwie werde ich ihm schon helfen können.«
»Was haben Sie vor?« fragte Latimer frostig.
»Das will ich Ihnen sagen«, antwortete Sheerin. »Sobald die Finsternis einsetzt, werden Theremon und ich Sie in ein kleines Kabinett bringen, das nur eine Tür mit einem riesiggroßen Schloß und kein einziges Fenster hat. Dort werden Sie bleiben, solange der ganze Zauber dauert.«
»Und nachher«, keuchte Latimer, »wird niemand mehr da sein, der mich wieder freiläßt. Ich weiß ebensogut wie Sie, was es bedeutet, wenn die Sterne kommen. Ich weiß es sogar besser als Sie. Wenn Sie den Verstand verloren haben, sind Sie nicht mehr in der Lage mich zu befreien. Ich soll ersticken oder langsam verhungern, nicht wahr? So etwas Ähnliches habe ich von euch Wissenschaftlern erwartet. Aber trotzdem gebe ich euch nicht mein Ehrenwort. Das ist eine Frage des Prinzips, und ich werde sie nicht weiter erörtern.«
Aton schien verwirrt. Seine blassen Augen blickten den Psychologen besorgt an.
»Wirklich, Sheerin, ihn einzusperren ...«
Sheerin bedeutete ihm ungeduldig, zu schweigen.
»Ich glaube keine Sekunde lang, daß es wirklich soweit kommen wird. Latimer hat nur einen cleveren Bluff versucht. Aber ich bin nicht nur Psychologe, weil dieses Wort so gut klingt.« Er grinste den Kultisten an. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich so grausam bin, Sie langsam verhungern zu lassen? Mein lieber Latimer, wenn ich Sie in das Kabinett sperre, werden Sie weder die Dunkelheit noch die Sterne sehen. Man muß nicht viel von den Fundamenten des kultistischen Glaubensbekenntnisses wissen, um zu begreifen, daß Sie Ihre unsterbliche Seele verlieren, wenn Sie das Erscheinen der Sterne nicht mit eigenen Augen sehen können. Nun, ich will glauben, daß Sie ein ehrenhafter Mann sind. Ich akzeptiere also Ihr Ehrenwort, daß Sie uns keinerlei Schwierigkeiten mehr machen werden.«
Eine Ader pochte an Latimers Schläfe, und er schien in sich zusammenzusinken, als er leise sagte: »Sie haben mein Ehren-wort.« Und mit plötzlicher Wut fügte er hinzu: »Aber es ist mir ein Trost, daß Sie alle für Ihre Taten heute verdammt werden.« Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zu dem hohen, dreibeinigen Stuhl neben der Tür.
Sheerin nickte dem Reporter zu.
»Holen Sie sich einen Stuhl, und setzten Sie sich neben ihn, Theremon. Nur zur Sicherheit - He, Theremon!«
Aber der Reporter bewegte sich nicht. Er war blaß bis in die Lippen geworden.
»Sehen Sie!« Sein Finger wies zum Himmel, und seine Stimme klang gebrochen.
Alle Augen blickten in die Richtung, in die der Finger zeigte, alle Männer hielten gleichzeitig den Atem an und starrten reglos in den Himmel.
Auf der einen Seite von Beta fehlte ein Stück.
Das winzige schwarze Stück war vielleicht so groß wie ein Fingernagel, aber den entsetzten Beobachtern schien es so bedrohlich wie der Einbruch der Verdammnis.
Nur einen Augenblick lang hatten sie zu Beta aufgeblickt, dann erklang bestürztes Stimmengewirr, aber gleich darauf setzte eine zwar hastige, aber geordnete Aktivität ein. Jeder der Männer hatte exakte Vorschriften, was er tun mußte. In diesem kritischen Augenblick war keine Zeit für Emotionen. Diese Männer waren Wissenschaftler, die eine Aufgabe zu erfüllen hatten. Sogar Aton widmete sich sofort seiner Arbeit.
Sheerin sagte prosaisch: »Der erste Kontakt hätte schon vor fünfzehn Minuten erfolgen müssen. Etwas früh, aber gerade richtig, wenn man die Unsicherheiten in der Berechnung in Betracht zieht.«
Er sah Theremon an, der immer noch starr aus dem Fenster blickte, näherte sich ihm auf den Zehenspitzen und zog ihn sanft mit sich.
»Aton ist wütend«, flüsterte er. »Sie verschwinden besser von hier. Er hat den ersten Kontakt verpaßt, wegen der Streite-rei mit Latimer. Und wenn Sie ihm jetzt in die Quere kommen, wird er Sie aus dem Fenster werfen.«
Theremon nickte kurz und setzte sich. Sheerin starrte ihn überrascht an.
»Zum Teufel, Mann«, rief der Psychologe aus. »Sie zittern ja.«
»Eh?« Theremon leckte sich über die trockenen Lippen und versuchte zu lächeln. »Ich fühle mich nicht sehr gut, wirklich nicht.«
Sheerins Augen verhärteten sich.
»Wollen Sie jetzt etwa die Nerven verlieren?«
»Nein«, schrie Theremon in plötzlicher Wut. »Geben Sie mir eine Chance, bitte. Ich habe dieses Geschwätz wirklich nicht geglaubt, bis zu diesem Augenblick nicht. Geben Sie mir eine Chance, damit ich mich an die veränderten Umstände gewöhnen kann. Sie konnten sich ja zwei Monate lang darauf vorbereiten.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte Sheerin nachdenklich. »Hören Sie! Haben Sie eine Familie? Eltern, Frau, Kinder?«
Theremon schüttelte den Kopf.
»Sie reden von dem Bunker, nehme ich an. Aber da müssen Sie sich meinetwegen keine Sorgen machen. Ich habe eine Schwester, aber sie ist zweitausend Meilen weit weg. Ich kenne nicht einmal ihre genaue Adresse.«
»Und was ist mit Ihnen selbst? Sie haben noch Zeit genug, in den Bunker zu gehen. Seit ich weg bin, haben Sie dort ohnehin noch Platz für einen Mann. Außerdem werden Sie hier nicht gebraucht. Und im Bunker sind Sie sicher eine verdammt nette Ergänzung.«
Theremon blickte müde zu dem anderen auf.
»Sie halten mich für schrecklich hartnäckig, nicht wahr? Aber begreifen Sie doch endlich, daß ich ein Reporter bin. Ich muß einen Artikel schreiben, und das werde ich auch tun.«
Ein schwaches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Psy-chologen.
»Ich verstehe. Berufsehre, nicht wahr?«
»So können Sie es nennen. Aber Mann, ich würde meinen rechten Arm für eine zweite Flasche von dem Gesöff geben, von dem Sie vorhin den Großteil geschluckt haben. Wenn jemals ein Mann einen Drink gebraucht hat ...«
Er brach ab. Sheerin stieß ihn heftig an.
»Hören Sie das?« Er wies mit dem Kinn auf den Kultisten, der aus dem Fenster starrte und alles um sich herum vergessen zu haben schien. Wilde Begeisterung zeigte sich auf seinem Gesicht, und er summte in eintönigem Singsang vor sich hin.
»Was sagt er?« fragte der Reporter flüsternd.
»Er zitiert das Buch der Offenbarung, fünftes Kapitel«, erwiderte Sheerin. Dann fügte er eindringlich hinzu: »Seien Sie still, hören Sie zu, sage ich Ihnen.«
Die Stimme des Kultisten schwoll immer mehr an, und mit wachsender Inbrunst betete er: »Und es geschah, daß in diesen Tagen die Sonne Beta allein am Himmel Wache hielt, für immer längere Fristen bei jeder Umdrehung. Endlich schien sie so lange, wie eine halbe Umdrehung währte, fahl und kalt auf Lagash.
Und die Menschen versammelten sich auf den öffentlichen Plätzen, um zu staunen und zu beraten, denn eine seltsame Niedergeschlagenheit hatte sich ihrer bemächtigt. Ihr Geist war unruhig und ihre Rede wirr, denn die Seelen der Menschen erwarteten die Ankunft der Sterne.
Und in der Stadt Trigon trat um die Mittagsstunde Vendret 2 vor die Menschen hin und sprach: >Hört, ihr Sünder. Wenn ihr die Wege der Gerechtigkeit verachtet habt, so ist jetzt die Zeit der Abrechnung gekommen. Denn die Höhle nähert sich, um Lagash zu verschlingen.<
Und indem er sprach, berührte der Mund der Höhle den Rand der Sonne Beta, so daß sie sich den Blicken von ganz Lagash entzog. Laut hallten die Schreie der Menschen, als Beta ver-schwand, und groß war die Herzensangst, die über sie hereinbrach.
Und es geschah, daß die Dunkelheit der Höhle ganz Lagash umhüllte, und nirgends gab es ein Licht. Die Menschen waren blind, und keiner konnte mehr seinen Nachbarn erblicken, obwohl er dessen Atem in seinem Gesicht verspürte.
Und in der Schwärze erschienen die Sterne, ungezählt, und es erklang Musik von solcher Schönheit, daß die Blätter der Bäume vor Bewunderung aufschrien.
Und in diesem selben Augenblick verließen die Seelen die Menschen, und die verlassenen Körper wurden zu reißenden Bestien, die mit wildem Geschrei durch die schwarzen Straßen von Lagash streiften.
Und dann fuhr von den Sternen die Himmlische Flamme herab, und wo sie den Boden berührte, verbrannten die Städte von Lagash, so daß nichts von den Menschen und ihren Werken übrig blieb.
Und dann .«
Jetzt änderte sich Latimers Tonfall. Zwar hatte er den Blick nicht gehoben, aber irgendwie war er sich der gebannten Aufmerksamkeit seiner beiden Zuhörer bewußt geworden. Leichthin, ohne Atempausen sprach er weiter, und immer fließender kamen die Silben über seine Lippen.
Der überraschte Theremon wandte kein Auge von ihm. Die Worte begannen vertraut zu klingen, eine kaum merkliche Verschiebung der Akzente, eine winzige Veränderung in der Betonung der Vokale, nicht mehr. Und trotzdem war Latimer völlig unverständlich geworden.
Sheerin lächelte schlau.
»Er hat zur Sprache aus einem anderen Zyklus Zuflucht genommen. Das ist wahrscheinlich die Sprache aus ihrem traditionsreichen zweiten Zyklus. Wie Sie wissen, ist das die Sprache, in der das Buch der Offenbarung ursprünglich geschrieben worden war.«
»Das macht nichts. Ich habe genug gehört.« Theremon schob seinen Stuhl zurück, und seine Hände, die das Haar aus seiner Stirn strichen, zitterten nicht mehr. »Ich fühle mich jetzt besser.«
»Wirklich?« Sheerin schien überrascht.
»Ja. Vorhin war ich ziemlich nervös. Zuerst Ihre Geschichte, und dann hat mir der Einbruch der Dunkelheit fast den Rest gegeben. Aber das .« Er wies mit dem Daumen geringschätzig auf den blonden Kultisten. »... diese Art von Märchen hat mir mein Kindermädchen erzählt. Über diesen Unsinn habe ich mein ganzes Leben lang gelacht. Und ich werde mich auch jetzt nicht davon erschrecken lassen.«
Er holte tief Luft und sagte mit hektischer Heiterkeit: »Aber wenn ich in dieser guten Verfassung bleiben will, muß ich meinen Stuhl vom Fenster wegrücken.«
»Tun Sie das«, sagte Sheerin, »aber sprechen Sie etwas leiser. Aton hat gerade seinen Kopf aus der Box gesteckt, in die er sich da drüben vergräbt, und hat Sie angesehen, als ob er Sie umbringen wolle.«
Theremon verzog die Lippen.
»Ich habe den alten Burschen ganz vergessen.« Vorsichtig entfernte er seinen Stuhl vom Fenster, warf einen verdrießlichen Blick über die Schulter und sagte: »Ich habe da so eine Idee, daß man sich gegen den Sternenwahnsinn irgendwie immun machen könnte.«
Der Psychologe antwortete nicht sofort. Beta hatte den Zenit nun überschritten, und das Quadrat aus blutigrotem Sonnenlicht, das das Fenster auf den Boden gezeichnet hatte, war jetzt in Sheerins Schoß gewandert. Gedankenvoll starrte er auf die trübe Farbe des Lichtvierecks, dann beugte er sich vor und blinzelte zur Sonne hinauf.
Die schwarze Kerbe auf der einen Seite von Beta nahm bereits ein Drittel der Gesamtfläche der Sonne ein. Er schauderte, und als er sich wieder aufrichtete, hatten seine dicken Wangen ihre blühende Farbe verloren.
Mit entschuldigendem Lächeln entfernte er seinen Sessel ebenfalls vom Fenster.
»Wahrscheinlich versuchen jetzt zwei Millionen Bewohner von Saro City verzweifelt, in einer gigantischen Wiederbelebungsaktion, ihre verschütteten kultistischen Gefühle zu wecken.« Dann setzte er ironisch hinzu: »Der Kult erlebt jetzt eine Stunde lang eine beispiellose Blütezeit. Nun, wovon sprachen Sie vorhin?«
»Ich meine, wie konnten die Kultisten ihr Buch der Offenbarung über mehrere Zyklen hinweg erhalten? Es muß doch irgendeine Art von Immunität geben, denn wenn jeder dem Wahnsinn verfällt, wer schreibt dann das Buch im nächsten Zyklus von neuem nieder?«
Sheerin blickte seinen Gesprächspartner bedauernd an.
»Nun junger Mann, es gibt keinen Augenzeugen, der diese Frage beantworten könnte. Aber wir haben ein paar verdammt gute Vorstellungen, wie das vor sich gehen mag. Es gibt drei Arten von Menschen, die die Dunkelheit relativ unbeschadet überstehen. Zuerst einmal die wenigen, die die Sterne überhaupt nicht zu Gesicht bekommen: Sie verstecken sich oder trinken sich zu Beginn der Finsternis einen Rausch an, so daß sie bis zum Ende im Stumpfsinn dahindämmern. Diese Leute können wir ausschalten, denn das sind keine wirklichen Zeugen.
Dann sind da die Kinder unter sechs Jahren, für die die Welt als Ganzes zu neu und fremd ist, als daß die Dunkelheit und die Sterne sie ernstlich erschrecken könnten. Für die Kinder bedeuten diese Phänomene nur neue Beobachtungen in einer Welt, die voller Überraschungen steckt. Verstehen Sie?«
Der andere nickte skeptisch.
»Ich glaube, ja.«
»Drittens gibt es Menschen, deren Geist zu grobkörnig ist, um sich restlos zu verwirren. Die Unempfindlichen werden kaum vom Wahnsinn befallen. Das sind Menschen wie die arbeitsgebeugten Bauern früherer Zeiten. Nun, die Kinder haben flüchtige Erinnerungen, und wenn man diese mit dem verwirrten, unzusammenhängenden Geschwätz halbirrer Schwachköpfe kombiniert, hat man die neue Grundlage des Buches der Offenbarung.
Man baut das Buch also in erster Linie auf den Aussagen der Menschen auf, die sich am wenigsten als Berichterstatter eignen: Kinder und Schwachsinnige. Wahrscheinlich hat das Buch der Offenbarung im Lauf der Zyklen einige Veränderungen erfahren.«
»Glauben Sie«, unterbrach ihn Theremon, »daß die Kultisten das Buch durch die Zyklen hindurch auf ähnliche Weise überliefert haben wie wir unsere Beobachtungen um das Geheimnis der Schwerkraft?«
Sheerin zuckte mit den Schultern.
»Kann sein. Aber ihre genaue Methode spielt keine Rolle. Irgendwie bewerkstelligen sie die Sache. Was ich sagen möchte, ist, daß das Buch gar nichts anderes sein kann als ein wildes, verdrehtes Durcheinander, wenn es auch auf Tatsachen basiert. Können Sie sich zum Beispiel an Yimots und Faros Experiment mit den Löchern im Dach erinnern, das nicht funktioniert hat?«
»Ja.«
»Wissen Sie, warum es nicht ...« Er brach ab und sprang alarmiert auf. Aton näherte sich. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske äußerster Bestürzung. »Was ist geschehen?«
Aton zog ihn beiseite, und Sheerin fühlte, wie sich die Finger des Direktors in seinen Ellbogen preßten.
»Nicht so laut.« Atons Stimme klang gequält. »Ich habe gerade durch meinen privaten Telefonanschluß eine Nachricht aus dem Schutzbunker erhalten ...«
Sheerin unterbrach ihn ängstlich.
»Haben sie Schwierigkeiten?«
»Sie nicht«, erwiderte Aton mit deutlicher Betonung. »Sie haben sich schon vor geraumer Zeit eingeschlossen und kommen erst übermorgen wieder heraus. Sie sind sicher. Aber die Stadt, Sheerin - sie ist ein Trümmerhaufen. Haben Sie gar keine Idee .« Die Worte erstickten ihm im Hals.
»Weiter«, fuhr ihn Sheerin ungeduldig an. »Was soll geschehen? Es wird mit jeder Minute schlimmer. Warum zittern Sie?« Er musterte Aton mißtrauisch. »Wie fühlen Sie sich?«
Atons Augen funkelten ärgerlich auf, als er die versteckte Anschuldigung bemerkte. Doch dann trat wieder der besorgte Ausdruck in seinen Blick.
»Verstehen Sie denn nicht? Die Kultisten sind aktiv geworden. Sie hetzen die Leute auf, das Observatorium zu stürmen, sie versprechen ihnen Gnade, Heil und Erlösung, sie versprechen ihnen einfach alles. Was sollen wir tun, Sheerin?«
Sheerin senkte den Kopf. Nachdenklich starrte er seine Zehenspitzen an. Er rieb sich das Kinn, dann blickte er auf und sagte: »Tun? Gar nichts können wir tun. Wissen die Männer Bescheid?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Gut. Sagen Sie ihnen auch weiterhin nichts. Wie lange dauerte es noch bis zur totalen Finsternis?«
»Nicht mehr ganz eine Stunde.«
»Wir können nichts tun als hoffen. Es kostet Zeit, einen wirkungsvollen Mob zu organisieren, und es kostet noch mehr Zeit, ihn hier heraus zu treiben. Wir sind fünf Meilen von der Stadt entfernt ...« Er blickte aus dem Fenster, die Hügel hinab, betrachtete die Felder, die in die weißen Häusergruppen der Vorstädte mündeten. Die Metropole selbst war ein unklarer Fleck am Horizont, ein Nebel im schwindenden Schein von Beta.
Ohne sich umzudrehen, wiederholte er: »Es kostet Zeit. Arbeiten Sie weiter, und beten Sie, daß die totale Finsternis vor dem Mob eintrifft.«
Beta war in der Mitte durchschnitten. Die Schwärze schnitt eine leicht konkave Linie in den noch hellen Teil der Sonne. Es war, wie wenn sich ein gigantisches Augenlid langsam über dem Licht der Welt schließen würde.
Die leisen Gespräche, die den Raum erfüllten, schwanden aus seinem Bewußtsein, und er spürte nur noch das dichte Schweigen draußen auf den Feldern. Alle Insekten schienen vor Schreck verstummt zu sein, und die Dinge zeichneten sich trüb im roten Licht ab.
Eine Stimme an seinem Ohr ließ ihn auffahren.
»Stimmt irgend etwas nicht?«, fragte Theremon.
»Eh? - Doch, doch, es ist alles in Ordnung. Setzen wir uns wieder.« Sie kehrten in ihre Ecken zurück, aber der Psychologe schwieg eine Zeitlang. Er hob die Hand und lockerte seinen Hemdkragen, drehte den Hals hin und her, fand aber keine Erleichterung. Plötzlich blickte er auf.
»Haben Sie Atembeschwerden?«
Der Reporter riß die Augen weit auf und machte einige tiefe Atemzüge.
»Nein. Warum?«
»Ich glaube, ich habe zu lange aus dem Fenster gesehen. Die Dunkelheit hat mich erwischt. Atemnot ist eines der ersten Anzeichen für einen klaustrophobischen Anfall.«
Theremon holte noch einmal tief Atem.
»Nun, mich hat es noch nicht erwischt. Sehen Sie, da kommt einer von den Burschen.«
Beenay hatte sich zwischen das Fenster und die beiden Männer in der Ecke geschoben, und Sheerin blinzelte ihm ängstlich entgegen.
»Hallo, Beenay.«
Der Astronom verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und lächelte kraftlos.
»Macht es euch etwas aus, wenn ich mich eine Weile zu euch setze und mich am Gespräch beteilige? Meine Kameras stehen.
Ich habe nichts zu tun, bis die totale Finsternis einsetzt.« Er brach ab und blickte zu dem Kultisten hinüber, der vor einer Viertelstunde ein kleines, in Leder gebundenes Buch aus seiner Tasche gezogen hatte und sich seither eifrig darin vertiefte. »Diese Ratte hat keinen Ärger mehr gemacht, oder?«
Sheerin schüttelte den Kopf. Seine Schultern strafften sich, und er runzelte konzentriert die Stirn, als er sich zwang, gleichmäßig zu atmen.
»Haben Sie Atembeschwerden, Beenay?« fragte er.
Beenay sog die Luft ein.
»Es kommt mir hier nicht schwül vor.«
»Ein kleiner Anfall von Klaustrophobie«, erklärte Sheerin entschuldigend.
»Oh! Bei mir ist es anders. Ich habe das Gefühl, daß meine Augen in meinem Hirn verschwinden. Die Dinge werden immer undeutlicher, nichts ist mehr klar. Und es ist kalt.«
»Ja, es ist kalt. Das stimmt. Das ist keine Illusion.« Theremon schnitt eine Grimasse. »Meine Zehen fühlen sich an, als hätte ich sie in einem Kühlschrank aufbewahrt.«
»Wir müssen unsere Gedanken mit unwesentlichen Dingen beschäftigen. Vor einiger Zeit wollte ich Ihnen erzählen, warum Faros und Yimots Experiment nicht klappte, There-mon.«
»Sie haben damit begonnen«, erwiderte Theremon. Er umklammerte sein rechtes Knie mit beiden Armen und stützte das Kinn darauf.
»Die beiden begingen den Irrtum, das Buch der Offenbarung wörtlich zu nehmen. Es hat gar keinen Sinn, den Sternen irgendwelche physischen Einflüsse zuzuschreiben. Wenn die totale Finsternis eintritt, wird der Mensch von der absoluten Notwendigkeit getrieben, Licht zu schaffen. Dieser Wunsch nach Licht läßt vielleicht die Sterne in der Vorstellung des menschlichen Gehirns entstehen. Vielleicht existieren die Sterne gar nicht wirklich.«
»Mit anderen Worten«, warf Theremon ein, »Sie meinen, daß die Sterne das Ergebnis des Wahnsinns sind und nicht aus natürlichen Ursachen entstehen. Wenn das so ist, nützen uns da Beenays Photographien?«
»Sie können beweisen, daß es sich nur um eine Illusion handelt. Oder sie beweisen das Gegenteil. Dann allerdings ...«
Beenay hatte seinen Stuhl näher gerückt, und ein Ausdruck plötzlicher Begeisterung lag auf seinem Gesicht.
»Es freut mich, daß ihr beide dieses Thema aufgegriffen habt.« Seine Augen wurden schmal, und er hob einen Finger. »Ich habe über diese Sterne nachgedacht, und ich habe da eine wirklich schlaue Idee. Natürlich ist das Blödsinn, und ich habe auch nicht vor, die Idee weiter zu verfolgen, aber vielleicht ist sie ganz interessant. Wollen Sie sie hören?«
Widerstrebend lehnte sich Sheerin zurück und sagte: »Okay, fangen Sie an. Wir hören.«
»Nun, angenommen, es gibt noch andere Sonnen im Universum. Er machte eine kleine verschämte Pause, dann sprach er weiter. »Ich meine Sonnen, die so weit weg sind, daß man sie nicht sehen kann, weil sie zu trüb sind. Es klingt vielleicht so, als hätte ich zuviel Science Fiction gelesen.«
»Muß gar nicht sein. Die Existenz dieser fernen Sonnen kann durch das Gesetz von der Schwerkraft bewiesen werden.«
»Nicht, wenn sie sehr weit sind, vielleicht vier Lichtjahre von uns entfernt, oder sogar noch weiter. Wir werden niemals imstande sein, ihre Bahnen festzustellen, weil sie für uns zu klein sind. Und jetzt nehmen wir einmal an, es gibt eine ganze Menge solcher Sonnen. Vielleicht ein oder zwei Dutzend.«
Theremon stieß einen Pfiff aus.
»Was für eine exzellente Idee für einen Sonntagsartikel. Zwei Dutzend Sonnen im Universum, acht Lichtjahre weit weg. Die Leser würden das geradezu verschlingen.«
»War ja nur ein Einfall von mir«, sagte Beenay grinsend. »Aber jetzt kommt das Wichtigste. Während der Dunkelheit müßten diese Sonnen sichtbar werden, denn es existiert kein Sonnenlicht mehr, das sie auslöscht. Weil sie so weit weg sind, erscheinen sie uns winzig klein, wie Murmeln. Natürlich reden die Kultisten von Millionen Sternen, aber das ist wahrscheinlich übertrieben. Im Universum kann gar nicht so viel Platz sein, daß da Millionen Sterne kreisen, ohne aneinander zu stoßen.«
Sheerin hatte mit wachsendem Interesse zugehört.
»Sie haben es getroffen, Beenay. Und die Übertreibung ist nur natürlich. Wie Sie vielleicht wissen, können unsere Sinne keine Zahl erfassen, die höher ist als fünf. Was darüber hinausgeht, bezeichnen wir mit dem Sammelbegriff >viel<. Dann kann uns ein Dutzend leicht wie eine Million erscheinen. Eine verdammt gute Idee!«
»Und ich habe noch eine andere schlaue kleine Idee«, sagte Beenay. »Haben Sie sich schon einmal vor Augen gehalten, wie einfach das Problem der Schwerkraft wird, wenn man nur ein hinlänglich einfaches System hat? Angenommen, Sie haben ein Universum, in dem ein Planet nur eine Sonne hat. Der Planet würde in einer vollkommenen Ellipse seine Bahn ziehen, und das genaue Maß der Schwerkraft wäre so einfach festzustellen, daß man ein Axiom aufstellen könnte. Die Astronomen auf einer solchen Welt hätten alle Probleme der Schwerkraft geklärt, bevor sie überhaupt das Teleskop erfunden hätten. Die Beobachtungen des bloßen Auges hätten genügt.«
»Aber wäre ein solches System in dynamischer Beziehung beständig?« fragte Sheerin skeptisch.
»Sicher! Man nennt es den >Eins-plus-eins-Fall<. Es ist mathematisch ausgearbeitet worden. Aber mich interessieren seine philosophischen Aspekte.«
»Es macht Spaß, über so etwas nachzudenken«, gab Sheerin zu. »Als hübsche Abstraktion. Wie ein perfektes Gas oder eine absolute Null.«
»Natürlich«, fuhr Beenay fort, »ist auf einem solchen Planeten die Entstehung von Leben unmöglich, weil zuwenig Licht und zuwenig Wärme vorhanden sind. Durch die Rotation herrscht den halben Tag lang totale Finsternis. Man kann nicht erwarten, daß sich unter diesen Bedingungen Leben entwickelt, das fundamental von Licht abhängig ist. Außerdem ...«
Sheerins Stuhl fiel um, als der Psychologe aufsprang.
»Aton hat die Lichter gebracht.«
»Huh!« sagte Beenay, wandte sich um und grinste vor Erleichterung von einem Ohr zum anderen.
Aton hielt ein halbes Dutzend fußlange, einen Zoll dicke Stangen im Arm.
»An die Arbeit, alle! Sheerin, kommen Sie und helfen Sie mir.«
Sheerin trottete an die Seite des alten Mannes, und schweigend befestigten die beiden die Stäbe in Metallhaltern, die an den Wänden hingen.
Feierlich, als beginge er eine sakrale Handlung, riß Sheerin ein großes Streichholz an und reichte es Aton, der die Flamme an das obere Ende des ersten Stabes hielt.
Die Flamme umspielte eine Weile zögernd die Spitze, bis ein plötzliches, knisterndes Aufflackern Atons faltiges Gesicht in gelbes Licht tauchte. Er ließ das Streichholz sinken, und spontane Beifallsrufe ließen die Fenster erzittern.
Sechs Zoll hohe Flammen zuckten aus der Spitze des Stabes empor. Auch die anderen Stäbe wurden entzündet, bis sechs Feuer den Raum gelb erhellten.
Das Licht war trüb, trüber sogar als das dürftige Sonnenlicht. Wie verrückt wirbelten die Flammen hin und her, gebaren schwankende Schatten. Die Fackeln rauchten stark, und es roch wie in einer Küche, wenn das Essen angebrannt ist. Aber sie spendeten gelbes Licht.
Sie genossen das gelbe Licht, nachdem sie vier Stunden im düsteren, schwermütigen Schein von Beta verbracht hatten.
Sogar Latimer hob die Augen von seinem Buch und blickte verwundert um sich.
Sheerin wärmte seine Hände an einer Flamme, achtete nicht auf den Ruß, der seine Finger mit feinem grauen Staub überzog, und flüsterte hingerissen vor sich hin: »Wie schön! Wie schön! Ich habe noch nie zuvor bemerkt, was Gelb für eine wundervolle Farbe ist.«
Aber Theremon betrachtete die Fackel mißtrauisch. Er rümpfte die Nase, als er den ranzigen Geruch bemerkte und fragte: »Was ist das?«
»Holz«, sagte Sheerin kurz.
»Nein, das ist es nicht. Die Stäbe verbrennen nicht. Die obere Spitze ist verkohlt, und die Flamme scheint aus dem Nichts emporzuschießen.«
»Das ist ja gerade das Schöne. Das ist ein wunderbarer, kunstvoller Licht-Mechanismus. Wir haben ein paar hundert davon hergestellt, aber die meisten wurden natürlich in den Schutzbunker gebracht.« Er wandte sich zu Theremon und wischte seine rußigen Hände mit einem Taschentuch ab. »Man nimmt starkes Schilfrohr, trocknet es sorgfältig, weicht es in tierischem Fett ein, dann zündet man das Ganze an, und das Fett verbrennt nach und nach. Diese Fackeln brennen eine halbe Stunde lang ohne Unterbrechung. Großartig, nicht wahr? Diese Methode wurde von einem jungen Gelehrten auf der Saro-Universität entwickelt.«
Inzwischen hatte die Aufregung sich wieder gelegt. Latimer hatte seinen Stuhl unter eine Fackel gestellt und las wieder in seinem Buch. Seine Lippen bewegten sich monoton, während er Gebete zu den Sternen sprach. Beenay hatte sich wieder zu seinen Kameras begeben, und Theremon nutzte die Gelegenheit, um sich Notizen für den Artikel zu machen, den er am nächsten Tag für die Saro City Chronicle schreiben wollte, eine Beschäftigung, der er schon seit zwei Stunden nachging, äußerst methodisch, äußerst gewissenhaft und, wie er sehr wohl wußte, äußerst sinnlos.
Aber, wie Sheerin amüsiert bei sich feststellte, das Notizenmachen lenkte den Reporter von der Tatsache ab, daß der Himmel sich jetzt mit schrecklichem, tiefem Purpurrot überzog, als ob er eine gigantische, frischgeschälte Runkelrübe wäre.
Die Luft wurde dichter. Wie ein fühlbares Wesen trat die Dunkelheit in den Raum, und der tanzende Kreis der gelben Lichter hob sich immer schärfer vom dämmernden Grau dahinter ab. Immer ätzender stieg der Rauch auf, und die Fackeln gaben kleine kichernde Laute von sich, als sie immer tiefer herabbrannten. Der leise Schritt eines Mannes, der seinen Arbeitstisch umkreiste, auf zögernden Zehenspitzen, gelegentliches tiefes Atemholen, wenn wieder einmal jemand versuchte, in dieser Welt, die sich in die Schatten zurückzog, nicht die Fassung zu verlieren.
Es war Theremon, der zuerst den merkwürdigen Lärm hörte. Es war ein vages Geräusch, kaum wahrnehmbar, hätte nicht diese Totenstille unter der Kuppel geherrscht.
Der Reporter richtete sich auf und steckte sein Notizbuch ein. Er hielt den Atem an und lauschte. Dann schob er sich widerstrebend zwischen dem Sonnenteleskop und einer von Beenay Kameras hindurch und trat zum Fenster.
Die Stille zerriß, als Theremon aufschrie.
»Sheerin!«
Augenblicklich ruhte die Arbeit. Sheerin eilte an die Seite des Reporters, gefolgt von Aton. Sogar Yimot, der hoch oben auf seinem Beobachtungssitz hinter dem riesigen Sonnenteleskop saß, hörte mit der Arbeit auf und sah herab.
Beta war nur noch ein glimmernder Splitter und warf einen letzten verzweifelten Blick auf Lagash. Die Stadt am östlichen Horizont verlor sich in Dunkelheit, und die Straße von Saro City zum Observatorium war ein trübroter Streifen, zu beiden Seiten von Wald gesäumt, dessen Bäume nicht mehr einzeln erkennbar waren, sondern zu einer einzigen schattigen Masse verschmolzen.
Aber es war diese Straße, die die Aufmerksamkeit auf sich zog, denn auf ihr wälzte sich eine andere, ungleich drohendere schattige Masse heran.
»Die Wahnsinnigen aus der Stadt!« schrie Aton mit heiserer Stimme. »Sie kommen!«
»Wie lange dauert es noch bis zur totalen Finsternis?« fragte Sheerin.
»Fünfzehn Minuten ... Aber in fünf Minuten werden sie hier sein.«
»Keine Sorge. Die Männer sollen weiterarbeiten. Wir halten sie zurück. Das Observatorium ist wie ein Fort gebaut. Aton, behalten Sie ihren jungen Kultisten im Auge, nur zur Sicherheit. Kommen Sie, Theremon.«
Sheerin verschwand durch die Tür, und Theremon folgte ihm auf den Fersen. Die Wendeltreppe schlängelte sich in naßkaltes, ödes Grau hinab. Nach fünfzig Fuß verschwand das trübe, flackernde gelbe Licht, das durch die offene Tür der Kuppel fiel, und von oben und unten kamen ihnen dieselben dunklen Schatten entgegen.
Sheerin blieb stehen, und seine feiste Hand krallte sich in seine Brust. Seine Augen traten aus den Höhlen, und seine Stimme glich einem trockenen Husten.
»Ich kann nicht mehr - atmen ... Gehen Sie - allein hinunter. Schließen Sie alle Türen .«
Theremon stieg ein paar Stufen hinab, dann wandte er sich um.
»Warten Sie! Können Sie es eine Minute aushalten?« Er keuchte jetzt selbst. Wie dicker Sirup quoll die Luft in seine Lungen und wieder heraus, und der Gedanke, allein seinen Weg durch das geheimnisvolle Dunkel da unten finden zu müssen, versetzte ihn in Panik.
Denn Theremon fürchtete sich vor der Dunkelheit.
»Bleiben Sie hier«, sagte er. »In einer Sekunde bin ich wieder hier.«
Er jagte hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal, sein Herz klopfte zum Zerspringen, aber nicht allein von der Anstrengung. Er taumelte in die Kuppel, riß eine Fackel von der Wand. Sie roch verbrannt, und der Rauch schmerzte in seinen Augen, so daß er fast erblindete. Aber er umklammerte die Fackel, als wolle er sie vor Freude küssen, und die Flamme flatterte hinter ihm her, als er die Stufen wieder hinabstürzte.
Sheerin öffnete die Augen und stöhnte, als Theremon sich über ihn beugte. Theremon schüttelte ihn unsanft.
»Vorwärts! Wir haben Licht.«
Er stützte den zitternden Psychologen am Ellbogen, und im schützenden Kreis des Lichtes setzten sie ihren Weg fort.
Die Büros im Erdgeschoß waren immer noch erleuchtet, und Theremon fühlte, wie seine Furcht nachließ.
»Hier«, sagte er barsch und reichte Sheerin die Fackel. »Hören Sie die Wahnsinnigen draußen?«
Heiseres Brüllen, wortlose Schreie.
Aber Sheerin hatte recht. Das Observatorium war wie eine Festung gebaut. Es war im vorigen Jahrhundert errichtet worden, als der neogavottische Architekturstil seinen häßlichen Höhepunkt erreicht hatte. Stabilität und Dauerhaftigkeit war das Ziel der Baumeister gewesen, nicht Schönheit.
Die Fenster waren durch Gitter von dicken Eisenstäben geschützt, die tief in den Fensterbrettern aus Beton verankert waren. Die Wände bestanden aus festem Mauerwerk, das kein Erdbeben erschüttern konnte. Die Haupttür bestand aus schweren Eichenholzplatten, die durch Eisen verstärkt waren. The-remon schob die Riegel vor, die mit dumpfem Geräusch in die Halterung fielen.
Am anderen Ende des Korridors stieß Sheerin einen schwachen Fluch aus. Er zeigte auf das Schloß des Hintereingangs, das mit einem Brecheisen ruiniert worden war.
»Jetzt wissen wir, wie Latimer hereingekommen ist«, sagte der Psychologe.
»Stehen Sie nicht hier herum«, schrie Theremon ungeduldig. »Helfen Sie mir, die Möbel davorzustellen - und fuchteln Sie nicht immer mit der Fackel vor meinen Augen herum. Der Rauch bringt mich noch um.«
Er rammte einen schweren Tisch vor die Tür, und innerhalb von zwei Minuten war eine Barrikade errichtet, die ihren Mangel an Schönheit und Symmetrie durch unbesiegbare Massivität wettmachte.
Aus weiter Ferne, undeutlich, konnten sie das Hämmern nackter Fäuste gegen die Tür vernehmen, und das Schreien und Rufen schien aus einer anderen Wirklichkeit zu kommen.
Der Mob von Saro City hatte sich aufgemacht, um das Observatorium zu zerstören und dadurch kultistische Erlösung zu gewinnen. Aber die Furcht trieb sie zum Wahnsinn, lahmte ihre Gehirne. Sie dachten nicht an Waffen, nicht an Organisation, nicht an Autos. Zu Fuß waren sie herbeigeeilt, mit den bloßen Händen griffen sie das Observatorium an.
Und jetzt umkreiste der Mob das Gebäude, im letzten Schein von Beta, im letzten rubinroten Flammentropfen, der matt über einer Menschheit flackerte, die nur mehr aus allumfassender Angst bestand.
»Steigen wir wieder in die Kuppel hinauf«, stöhnte Theremon.
In der Kuppel war nur Yimot hinter seinem Sonnenteleskop sitzen geblieben. Die anderen tummelten sich um die Kameras herum, und Beenay gab mit heiserer Stimme seine Anweisungen.
»Paßt jetzt gut auf, alle! Ich knipse Beta, kurz bevor die totale Finsternis einsetzt, und wechsle die Platte. Jeder von euch steht hinter einer Kamera. Ihr wißt Bescheid . Die Belichtungszeiten .«
Zustimmendes, atemloses Gemurmel.
Beenay legte eine Hand über seine Augen.
»Brennen die Fackeln noch immer? Keine Sorge, ich sehe sie!« Er lehnte sich müde gegen einen Stuhl. »Denkt daran. Versucht nicht, gute Schnappschüsse zu machen. Verschwendet keine Zeit, indem ihr euch bemüht, zwei Sterne auf einmal vor die Linse zu kriegen. Einer genügt. Und - und wenn ihr fühlt, daß euch die Sinne schwinden, weg von den Kameras!«
An der Tür flüsterte Sheerin zu dem Reporter: »Führen Sie mich zu Aton. Ich sehe ihn nicht.«
Theremon antwortete nicht sofort. Die undeutlichen Umrisse der Astronomen schwankten vor seinen Augen, und die Fak-keln an den Wänden waren nur noch gelbe Punkte.
»Es ist dunkel«, wimmerte er.
Sheerin hob die Hand.
»Aton!« Er stolperte vorwärts. »Aton!«
Theremon folgte ihm und ergriff seinen Arm.
»Warten Sie, ich führe Sie.« Irgendwie gelang es ihm, den Raum zu durchqueren. Er verschloß die Augen vor der Dunkelheit und den Verstand vor dem Chaos, das in den Schatten lag.
Niemand hörte oder achtete auf die beiden Männer. Sheerin taumelte gegen eine Wand.
»Aton!«
Der Psychologe fühlte, wie ihn zitternde Hände berührten und sich wieder zurückzogen. Eine Stimme flüsterte: »Sind das Sie, Sheerin?«
»Aton!« Er bemühte sich, ruhig zu atmen. »Machen Sie sich keine Sorge wegen des Mobs. Das Gebäude wird ihm standhalten.«
Latimer, der Kultist, war aufgestanden. Sein Gesicht verzerrte sich vor Verzweiflung. Er hatte ein Gelübde getan, und wenn er es brach, so bedeutete das, daß seiner Seele Sterblichkeit drohte, auch wenn man ihn gezwungen hatte, sein Wort zu brechen. Bald würden die Sterne kommen! Er konnte nicht dabeistehen und zulassen ... Er hatte doch sein Wort gegeben.
Beenays Gesicht war von düsterer Röte überzogen, als er zum letzten Streifen von Beta aufblickte, der noch am Himmel übriggeblieben war. Und Latimer faßte seinen Entschluß, als er sah, wie Beenay sich wieder über die Kamera beugte. Seine Fingernägel gruben sich in die Handflächen, als sein Körper sich anspannte.
Er taumelte, als er vorstürzte. Er sah nichts, nur Schatten sprangen ihm entgegen. Der Boden schwand unter seinen Füßen. Und dann war jemand über ihm, und er brach zusammen, als sich Hände um seinen Hals krallten.
Latimer zog das Knie an und stieß es hart gegen seinen Angreifer.
»Lassen Sie mich los, oder ich töte Sie!«
Theremon schrie auf und krächzte durch einen Schmerzschleier, der ihn fast blind machte: »Du heimtückische Ratte!«
Dann stürmte alles zugleich auf ihn ein. Er vernahm Beenays Schrei: »Ich habe es! An die Kameras, Leute!« Und der letzte Faden des Sonnenlichts verdünnte sich und verlöschte endlich ganz.
Gleichzeitig hörte Theremon Beenays letztes ersticktes Keuchen, Sheerins wunderlichen kleinen Schrei, sein hysterisches Kichern, das rasselnd abbrach - und eine plötzliche Stille, eine sonderbare, tödliche Stille, die von draußen hereindrang.
Und Latimer hing schlaff in Theremons sich lockerndem Griff. Der Reporter starrte in die weit geöffneten schwarzen Augen des Kultisten, in denen sich die gelben Punkte der Fackeln spiegelten. Er sah die Schaumblasen vor Latimers Mund und hörte das animalische Wimmern, das sich aus dem Hals des Kultisten rang.
Langsam überkam ihn die Faszination der Angst, und er stützte sich auf einen Arm. Er blickte zum Fenster, das schwarz war wie geronnenes Blut.
Und durch die Schwärze schienen die Sterne!
Das waren nicht die matten dreitausendsechshundert Sterne, die man von der Erde aus mit bloßem Auge sehen kann. Lagash befand sich im Mittelpunkt eines gigantischen Schwarms. Dreißigtausend mächtige Sonnen schienen herab, und ihr Glanz ließ das Herz erstarren und war in seiner schrecklichen Gleichgültigkeit viel eisiger als der bittere Wind, der über die kalte, furchtbar öde Welt wehte.
Theremon taumelte auf die Füße, sein Hals verengte sich, er konnte kaum mehr atmen. Alle Muskeln seines Körpers zuckten vor Grauen und unerträglicher Angst. Er wurde wahnsinnig, und er wußte es, und ein letzter gesunder Funke in ihm kämpfte schreiend und erbittert und hoffnungslos gegen den schwarzen Schrecken. Es war entsetzlich, dem Wahnsinn zu verfallen und es zu wissen, zu wissen, daß man in einer Minute zwar noch physisch da sein, daß das eigentliche Wesen aber gestorben sein würde, ertrunken in finsterem Wahn. Denn jetzt war die Dunkelheit gekommen - die Dunkelheit und die Kälte und das Verderben. Die leuchtenden Wände des Universums waren zertrümmert, und ihre schrecklichen schwarzen Fragmente sanken herab, um ihn zu begraben, zu zerquetschen, auszulöschen.
Er stieß gegen jemanden, der auf allen vieren kroch, stolperte über ihn, seine Hände griffen nach seinem gepeinigten Hals, und er taumelte auf die Fackeln zu. Sie waren das einzige, das sein Wahnsinn ihn noch erkennen ließ.
»Licht!« schrie er.
Irgendwo wimmerte Aton wie ein zu Tode verängstigtes Kind.
»Die Sterne - all die Sterne - wir wußten nichts - wir wußten überhaupt nichts. Wir dachten, sechs Sterne im Universum ... wir bemerkten die Sterne nicht ... Dunkelheit für immer - die Wände brechen ein, und wir wissen nichts, können nichts wissen, überhaupt nichts .«
Jemand griff nach einer Fackel. Sie fiel herab und verlöschte. Und in diesem Augenblick sprang der schreckliche Glanz der Sterne näher und näher.
Draußen, am Horizont, in Richtung wo Saro City lag, wuchs ein karmesinrotes Glühen, schwoll zu leuchtender Helligkeit an. Aber es waren keine Sonnenstrahlen. Die lange Nacht war wieder gekommen ...