TEIL EINS

Eins

Bewusstlos in die nahezu fensterlose Orbitalstation von Isis dekantiert, sehnte Zoe sich jetzt nach einem ersten Blick auf ihre neue Welt. Das Verlangen war in der Tat so groß, dass sie einen ernsthaften Bruch des Protokolls erwog.

Auf jeden x-beliebigen Bildschirm ließ sich ein Bild von Isis zaubern, keine Frage. Und solche Bilder hatte sie viele Jahre lang zu sehen bekommen, täglich manchmal — Bilder, die entweder von der IOS[4] nach Sol übertragen oder durch Planeteninterferometrie gewonnen wurden.

Aber das war nicht genug. Sie war jetzt endlich vor Ort: kaum ein paar hundert Kilometer von der Oberfläche entfernt, im niedrigen Orbit. Sie war in einem Augenblick weiter gereist als ein herkömmlicher Raumfahrer zeitlebens reisen konnte. Sie hatte die äußerste Grenze der menschlichen Diaspora erreicht, den schwindelerregenden Rand des Abgrunds, und sie verdiente einen direkten Blick auf den Planeten, der sie so weit hinausgelockt hatte — oder?

Damals hatten die Astronomen vom ›ersten Licht‹ geredet — dem ersten Blick durch ein nagelneues optisches Instrument. Zoe hatte Isis durch allerhand optisches Instrumentarium gesehen, aber noch nie mit bloßen Augen. Jetzt wünschte sie sich diesen direkten Blick, ihr ganz persönliches ›erstes Licht‹.

Stattdessen hatte sie drei Tage im Krankenrevier der IOS unter überflüssiger Beobachtung verbracht und eine Woche lang die ihr zugewiesene Kabine gehütet und auf einen Platz im Dienstplan gewartet. Zehn Tage seit Ankunft: keine Anweisungen, kein Terminplan, nur ein knapper Gruß der Direktion. Bis heute hatte sie nur die freundlichen, konkaven Wände und Stahlböden ihres Kabuffs und ihres Rehazimmers in der Medizinischen gesehen. Die einzigen offiziellen Mitteilungen, die sie bekommen hatte, waren eine Liste der Essenszeiten, ein Zugangscode, ihre Residenznummer und ein Abzeichen mit ihrem Namen.

Folglich nahm Zoe all ihren Mut zusammen und vereinbarte einen Termin mit Kenyon Degrandpre, dem Leiter des Außenpostens. Sie staunte über ihre Unverschämtheit. Wahrscheinlich hätte sie erst mit ihrem Abteilungsleiter reden sollen… doch niemand hatte ihr gesagt, wer das war oder wo er oder sie zu finden war.

Die Isis-Orbitalstation war aus Elementen früher Higgs-Kugeln zusammengesetzt und glich einer Perlenkette. Die Karten an den Korridorwänden erinnerten Zoe an die Darstellungen von Benzolringen in Chemietexten; die Fusionsflaschen des Außenpostens und die Wärmetauscher ragten wie komplexe Nebenketten aus dem symmetrischen Kern. Am Morgen ihres Termins mit Degrandpre verließ Zoe ihre winzige Kabine am Grund von Habitat Sieben und folgte dem Ringkorridor einen Kilometer in Rotationsrichtung, was nahezu der halbe Umfang der IOS war. Im Ringkorridor roch es nach heißem Metall und wiederaufbereiteter Luft, wie in einem Kuiper-Habitat, aber ohne den stets gegenwärtigen Beigeschmack von Eis in der Luft. Schotts dräuten wie massive Fallbeile; die Gänge waren eng und hatten weder Charme noch Fenster. Dieser Ort war nicht so seelenlos und unkultiviert wie Phoenix gewesen war, er war aber auch keine typische Kuiper-Welt, voller Farben und lärmender Kinder. Hier dominierte terrestrische Ästhetik: kompromisslose Funktionalität, erzwungen durch strikte Frachtbeschränkungen.

Fenster waren Luxus, vermutete Zoe. Nach den IOS-Plänen, die sie an ihrem Terminal studiert hatte, hatte das Büro des Projektleiters eines der wenigen zugänglichen Direktsichtfenster; der Keil aus drei Zoll dickem, polarisiertem Glas saß in der Außenwand. Die übrigen Fenster der Station waren winzige Scharten in den Andockbuchten, ein Bereich, zu dem Zoe noch keinen Zutritt hatte. Egal. Sie musste mit Degrandpre reden. Das Fenster war bloß… ein willkommener Nebeneffekt.


* * *

Dem Namen nach hätte er durchaus von Adel sein können — gab es nicht Degrandpres unter den brasilianischen Grundbesitzern? —, doch Kenyon Degrandpre war keine gut aussehende oder imposante Erscheinung. Ein Manager von Rang, aber nicht von Adel. Sein Kopf war zu lang, die Nase zu flach. Zoes Erfahrungen mit den oberen Rängen des Kartells hatten sie gelehrt, dass gut aussehende Manager durchaus eine gewisse Großzügigkeit an den Tag legten; unansehnliche — obwohl auch diese Beschreibung nicht ganz auf Degrandpre zutraf, zumindest nicht nach terrestrischem Maßstab —, unansehnliche Männer pochten eher auf Bestimmungen und nährten ihren Groll. Sie wusste hundertprozentig, hatte es immer schon gewusst, dass die Bürokratie des Kartells hauptsächlich aus solchen sturen Zeitgenossen bestand. Aber ein Mann, der eine Isis-Orbitalstation, genau genommen das ganze Isis-Projekt leitete — er musste doch flexibler sein. Oder?

Vielleicht nicht. Degrandpre hob kurz seinen voluminösen Kopf und winkte Zoe zu einem Stuhl, doch er studierte weiterhin den Bildschirm.

Zoe stellte sich stattdessen ans Fenster. Fenster war zu viel gesagt. Vermutlich machten die brutalen Frachtbeschränkungen der Higgs-Schleudern selbst einen so bescheidenen Luxus unerschwinglich teuer. Dennoch, das war jetzt das erste Mal, dass sie den Planeten ohne Umschweife zu Gesicht bekam. Unmittelbares Licht, dachte Zoe aufgeregt. Erstes Licht.

Die IOS hatte eben den Terminator des Planeten überquert. Das flache Licht der Morgendämmerung malte die Wolken in kräftigem Helldunkel. Über der dunklen Zone flackerten Blitze, schwelende Funken auf Samt.

Zoe hatte schon andere Planeten gesehen. Sie hatte die Erde aus dem Orbit gesehen, es gab Gemeinsamkeiten. Sie war ein Jahr lang auf Europa gewesen, um sich mit Drucklaborverfahren vertraut zu machen, und die gigantische Kugel von Jupiter hatte viel mehr Himmel beansprucht und das auf weit eindrucksvollere Weise.

Aber das hier war Isis. Dieses glitzernde Sonnenlicht rührte von einem Stern, der nicht Sol hieß. Hier war eine lebendige Welt, die nie den Abdruck eines nackten Menschenfußes gesehen hatte, eine fremde Welt, die vor Leben strotzte; ein wimmelnder Wassertropfen, der eine fremde Sonne umkreiste. So schön wie die Erde. Und unsäglich tödlicher.

»Gibt es ein Problem«, sagte Degrandpre schließlich, »oder sind Sie wegen des Ausblicks hier? Sie wären nicht der Erste, Bürgerin Fisher.«

Degrandpres Stimme hatte die Schärfe terrestrischer Autorität. Sein Englisch war fein geschliffen. Zoe meinte in den zurückgenommenen Konsonanten einen Hauch von Beijing-Elite-Schule zu hören.

Sie holte Luft. »Ich bin schon seit zehn Tagen hier. Abgesehen vom Reha-Manager auf Habitat Sieben und der Belegschaft der Cafeteria habe ich noch mit keinem Verantwortlichen gesprochen. Ich weiß nicht, bei wem ich mich melden soll. Die Leute, die meine Arbeit direkt beaufsichtigen sollen, sind auf dem Planeten — wo ich eigentlich auch sein sollte.«

Degrandpre begann mit dem Stift zu klopfen und setzte sich zurück. Seine Kleidung war von welkem Grau, die unvermeidliche Kacho-Uniform, ein steifer, schwarzer Kragen, der den dicken Bauernhals umschloss. Stuhl aus Holz, Schreibtisch aus Holz, ein Plüschteppich und ein mehrschichtiger Dienstanzug; das alles war von der Erde hierher geschafft worden - Zoe dachte mit Schaudern an die Kosten. Er fragte: »Fühlen Sie sich vernachlässigt?«

»Nein, nicht vernachlässigt. Ich wollte mich nur vergewissern…«

»Dass wir Sie nicht vergessen haben.«

»Ja… so ist es, Manager.«

Degrandpre fuhr fort, mit dem Stift gegen den Bildschirm zu klopfen, ein Geräusch, das Zoe an Eis denken ließ, das in einem warmen Glas zersprang. Er schien zugleich amüsiert und verärgert zu sein. »Erlauben Sie mir eine Frage, Bürgerin Fisher. Glauben Sie wirklich, in einem Außenposten dieser Größenordnung, wo über jedes Gramm Rechenschaft abgelegt und jeder Sou bewilligt werden muss, da könne jemand verloren gehen?«

Sie wurde rot. »So habe ich darüber noch nicht nachgedacht.«

»In den letzten sechs Wochen sind vier Shuttles zwischen uns und den Bodenstationen geflogen. Jeder Flug erfordert langwierige Quarantänemaßnahmen und ausgefuchste Prozeduren für das keimfreie Andocken. Die Flüge werden Monate im Voraus festgelegt. Leute Ihresgleichen kommen hier an und meinen, der Higgs-Transfer sei der Flaschenhals und der Abstieg zum Planeten sei verglichen damit eine Spritztour. Weit gefehlt. Ich weiß um Ihre Anwesenheit und Zweckbestimmung und Sie stehen fraglos auf der Warteliste. Aber Nachschub und Instandhaltung haben nun einmal Priorität. Das müssen Sie verstehen.«

Aber ihr wusstet doch, dass ich komme, dachte Zoe. Wieso wurde das nicht eingeplant? Oder hatte es Verzögerungen gegeben, von denen sie nichts wusste? »Entschuldigen Sie, Manager Degrandpre, aber ich habe auch keinen Terminplan gesehen. Wann ist mein Abstieg eingeplant?«

»Sie werden benachrichtigt. Ist das alles?«

»Nun… ja, Sir.« Jetzt, da sie durch das Fenster geschaut hatte.

Degrandpre musterte den rasch scrollenden Bildschirm. »Draußen wartet eine Delegation von Yambuku. Leute, mit denen Sie arbeiten werden. Sie können gerne bleiben und zuhören. Ihre Kollegen kennen lernen.« Es klang wie ein großzügiges Zugeständnis. Kalkuliert selbstverständlich. Eines dieser bei Bürokraten so beliebten Kacho-Manöver. Überrasche deinen Kontrahenten; lass dich nie überraschen.

Zoe sagte: »Yambuku?«

»Bodenstation Delta. Delta wird Yambuku genannt; Gamma ist Marburg.«

›Yambuku‹ und ›Marburg‹ hießen die ersten beschriebenen Spielarten des hämorrhagischen Fiebers, das die Erde des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwüstet hatte. Scherz eines Mikrobiologen. Höchstwahrscheinlich eines Mikrobiologen aus dem Kuiper-Gürtel. Der terrestrische Sinn für Humor hielt sich auf dem Gebiet in Grenzen.

»Setzen Sie sich«, sagte Degrandpre. »Geben Sie Obacht. Halten Sie nach Möglichkeit den Mund. Wenn Sie aber möchten, können Sie weiterhin aus dem Fenster blicken.«

Sie ignorierte seinen Sarkasmus und blickte aus dem Fenster.

Die Dämmerung hatte die verstreuten Inselketten der Westsee erreicht. Über einem aktiven Vulkan stand eine dunkle Wolke, die aussah wie eine Rußfahne. Die Große Kontinentalmasse drehte sich ins Blickfeld, ein dichter Teppich aus gemäßigten und borealen Wäldern. Hier glänzte ein uralter, blauer Kratersee im Sonnenlicht, dort ein schmaler Ausläufer polaren Eises. Wolkengipfel so weiß wie geschliffene Diamanten.

Und alles so tödlich wie Arsen.

Ihre neue Heimat.


* * *

Zwei Männer und eine Frau schlurften in den Raum und beschlagnahmten den Konferenztisch. Zoe blieb am Fenster stehen. Still sollte sie sein; das hätte er sich sparen können; überfüllte Zimmer fand sie beklemmend.

Kenyon Degrandpre stellte ihr die Neuankömmlinge als Tam Hayes, Elam Mather und Dieter Franklin vor, alle aus der Yambuku-Station, alle mit dem letzten Shuttle gekommen.

Zoe erkannte Hayes wieder, sie hatte ihn auf Fotos gesehen. Er war Leiter der Delta-Station und Seniorbiologe des Isis-Projekts — Senior dem Status, nicht dem Alter nach. Hayes war trotz seiner fünf Jahre auf Isis-Rotation noch relativ jung. Der Mann machte etwas her, dachte Zoe. Gut, er brauchte einen Haarschnitt. Der Bart erinnerte an ein Gewirr aus Kupferdraht. Hayes war das Klischee eines Wissenschaftlers aus dem Kuiper-Gürtel, ungepflegt eben. Die beiden anderen waren nicht besser.

Hayes streckte ihr die Hand hin. »Zoe Fisher! Wir haben gehofft, Sie anzutreffen.«

Zoe ergriff die Hand mit Widerwillen. Sie mochte keine Berührungen mit anderen Menschen. Hatte man Hayes nicht informiert oder war es ihm egal? Ihre Hand verschwand in seinem fleischigen Griff. »Dr. Hayes«, murmelte sie und verbarg ihr Unbehagen.

»Bitte, nennen Sie mich Tam. So viel ich weiß, werden wir zusammenarbeiten.«

»Sie können sich später noch austauschen«, sagte Degrandpre. Und zu Zoe: »Dr. Hayes und seine Mitarbeiter haben Archivmaterial gesichtet, das für den Transfer zur Erde vorgeschlagen wurde.«

Zoe verfolgte angestrengt den Wortwechsel zwischen ihm und Hayes und versuchte die einzelnen Streitpunkte herauszuhören. Die Partikelpaar-Verbindung zur Erde war eine derart enge Pipeline, mit derart strenger Bandbreitenbeschränkung, dass die Downloadkapazitäten heiß umkämpft waren und das fragliche Material sich einer Art Auslese unterziehen musste. Degrandpre war gleichsam der oberste Richter. Also war Hayes gekommen, der Leiter des Yambuku-Projekts, und lieferte eine engagierte Zusammenfassung des Datenpakets seiner Gruppe, derweil Degrandpre die nervtötende Rolle des Kartellbürokraten spielte: reserviert, gelangweilt, skeptisch. Er spielte mit dem Stift herum, schlug ein Bein übers andere und bat Hayes ein ums andere Mal, etwas zu erklären, das bis dahin völlig klar gewesen war. Schließlich sagte er: »Zeigen Sie mir das Bildmaterial.« Holografien und Fotos zu übertragen, war besonders teuer, aber sie hatten sozusagen die Funktion von ›Belegexemplaren‹ und waren in der heimatlichen Presse ziemlich beliebt.

Von oben entrollte sich ein großer zentraler Bildschirm.

Die Bilder im Yambuku-Paket waren Mikrografien von Viren, Bakterien, Prionen und biologisch aktiven Proteinketten, allesamt »OLB«, wie Hayes sich ausdrückte: noch ohne lateinischen Beinamen. Es gab auch eine Reihe herkömmlicher Fotografien zur Illustration eines Aufsatzes, den einer seiner Juniorbiologen in einem wissenschaftlichen Journal publizieren wollte. Degrandpre fragte: »Noch mehr explodierende Mäuse?«

Zoe hatte diesen Ausdruck noch nie gehört.

Hayes Miene verriet, dass er ihm missfiel. »Wir setzen lebende Tiere aus, ja.«

»Wenn ich bitten darf, Dr. Hayes.«

Hayes benutzte eine Fernsteuerung, um die Bilder aus dem Zentralspeicher der IOS abzurufen. Zoe bemerkte, wie Degrandpre sie mit einem neugierigen Blick bedachte. Wollte er sehen, wie sie reagierte? Wenn ja, warum?

Elam Mather, eine Frau mit vollem Gesicht über der grauen Laborkleidung, stand auf, um die Bilder zu kommentieren. Die kräftige Stimme klang verärgert.

»Das Konzept war, die frei vorkommenden Mikroorganismen von Isis mittels einer Serie von Mikronfiltern zu sortieren, um ihre Tödlichkeit und ihre Vorgehensweise zu evaluieren. An einem ruhigen, trockenen Tag, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, nahmen wir eine Luftprobe von außerhalb der Station. Meteorologische Details sind beigefügt. Eine erste Analyse ergab eine Menge an organischer Materie und die übliche Mischung aus Wassertröpfchen, Silikatstaub und so weiter. Eine Probe wurde durch ein Filter genötigt und in eine Isolationskammer gespritzt, in der sich eine geklonte Maus der CIBA-siebenunddreißig-Linie befand.«

Auf dem Schirm erschien ein Bild.

Zoe schluckte und sah in eine andere Richtung.

»Das Resultat«, sagte Elam Mather, »war im Grunde dasselbe wie bei einer ungefilterten Luftprobe. Binnen Minuten hatte die Maus hohes Fieber und keine zwei Stunden später zeigten sich innere Blutungen. Dann ging es schnell: Systemkollaps, Ausbluten und Gewebeverflüssigung. Mehr als ein Dutzend fremder Mikrobenspezies wurden aus dem Blut der Maus gezüchtet; wieder die üblichen Verdächtigen.

Die nächste Probe musste durch ein feineres Filter, das auf der Erde alle Sporen und Bakterien zurückhalten würde, nicht aber Viren und Prionen.

Die zweite exponierte Maus starb auch — mit dem Unterschied, dass die Vergiftung eine Spur langsamer verlief. Das Resultat blieb dasselbe.«

Eine Mischung aus Fell und Muskelgewebe in einer schwarzen, sich verästelnden Lache. Man hätte die CI-BA-37-Maus ebenso gut in eine Küchenmaschine werfen können, dachte Zoe. Wäre vielleicht freundlicher gewesen.

Es schnürte ihr die Kehle zusammen. Schon merkwürdig, dass ihr der Anblick des kleinen Kadavers so sehr zu schaffen machte. Würde sie sich übergeben müssen?

Sie verengte die Augen, um die übrigen Fotos nicht sehen zu müssen und das Gegenteil vorzutäuschen. Die Forschungsarbeit wiederholte, bestätigte und erweiterte frühere Erkenntnisse; es stand nichts wirklich Neues zur Debatte. Entweder hatte Degrandpre das Material sehen wollen oder er hatte gewollt, dass Zoe es sah.

Weil ich keine Mikrobiologin bin, dachte Zoe. Er sieht in mir den verwöhnten terrestrischen Theoretiker. Als wüsste ich nicht, worauf ich mich einlasse!

»Selbst bei allerfeinster HEPA-Filterung[5] sind die geklonten Mäuse nach wiederholter Berührung mit der Außenluft schließlich doch erkrankt. In diesem Fall betrachten wir die Stäube und Proteintrümmer als mögliche Auslöser einer allergischen Reaktion; es kommt zwar nicht zum hämorrhagischen GAU, aber es ist ein Spiel mit dem Feuer…«

Der Mann namens Dieter Franklin sagte lakonisch: »Der Planet versucht uns umzubringen. Aber das ist längst bewiesen. Das Erstaunliche ist nur, wie viel Mühe er sich damit gibt.«

Degrandpre warf Zoe einen Blick zu, der zu sagen schien: »Verstehen Sie? Isis wird Sie töten, wenn Sie es zulassen.«

Zoe verzog keine Miene. Er sollte nicht merken, dass sie Angst hatte. Den Gefallen wollte sie ihm nicht tun.


* * *

Am Tag darauf stieß sie in der Cafeteria fast mit Tam Hayes zusammen.

Die Cafeteria war so spartanisch wie jede andere Kammer auf der IOS — von Turing-Konstrukteuren zusammengesetztes Stahldeck, Schweißnähte, wo man hinsah, Möblierung mit primitiven Klappstühlen und Klapptischen. Das war unvermeidlich, jedes Artefakt hatte entweder unter obszönen Kosten von der Erde herangeschafft werden müssen oder war von Turing-Fabriken auf dem deimos-großen Mond von Isis zusammengeschustert worden. Immerhin hatte man die Cafeteria verschönert. Irgendeine Künstlerseele hatte die glatten Innenwände mit einem Montage-Stichel bearbeitet; Zoe vermutete, dass er damit zwar Zeit und Energie vergeudet hatte, aber so gut wie kein Material. Die gegenüberliegende Wand stellte einen keltischen Wandschmuck aus geknoteten Schnüren dar mit diskret eingearbeiteten Symbolen der Kuiper-Clans. Sehr hübsch, dachte sie, wenn auch ein klein wenig subversiv.

Leider war die Deckenbeleuchtung eine schmucklose Matrix aus Schwefellampen; in diesem Licht sah das Essen hell und falsch aus, beinah wie Styropor.

»Morgen, Dr. Fisher.« Hayes holte sie ein. Er trug eine Thermosschale mit klebriger, flavinoider Suppe. »Was dagegen, wenn ich mich anschließe?«

»Morgen?« Mittag, sagte ihre Uhr.

»Für mich ist hier immer noch Yambuku. Über dem Tiefland geht gerade die Sonne auf — wenn es nicht regnet. Sie können es bald mit eigenen Augen sehen.«

»Ich freue mich schon. Aus dem Orbit war nicht viel zu sehen.«

»Man ist knickerig mit Fenstern. Aber die Live-Übertragungen sind fast so gut.«

»Kameraaufnahmen hab ich zu Hause gesehen.«

Er nickte. »IOS-Fieber. Ich weiß, wie das ist. Habe selbst mal drunter gelitten.« Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber. »Sie wollen die Wirklichkeit. Aber Yambuku ist nicht viel anders, fürchte ich. Isis ist gleich unter Ihren Füßen und trotzdem sind Sie regelrecht abgeschottet. Manchmal träume ich davon, draußen spazieren zu gehen — ohne Panzeranzug, meine ich.« Er setzte hinzu: »Ich beneide Sie, Dr. Fisher. Früher oder später werden Sie genau das erleben.«

»Nennen Sie mich Zoe.« Offenbar bevorzugte er die kuipersche Ungezwungenheit, sonst würde er nicht dasitzen und sich mit ihr unterhalten.

Er reichte ihr die Hand — schon wieder. Sie ergriff sie zögernd. Seine Hand war trocken; ihre war feucht. Er sagte: »Ich bin Tam.«

Sie hatte sich vorbereitet und wusste alles über ihn. Hayes leitete Yambuku, er war Yambuku. Er war technischer Manager und Mikrobiologe, verbannt aus seiner puritanischen Kuiper-Kolonie, weil er es gewagt hatte, einen Vertrag mit dem Kartell zu unterzeichnen.

Er war fünfunddreißig Jahre alt. Richtige Jahre: Er hatte keine Verjüngungskuren gemacht. Zoe fühlte sich von den Fältchen in seinen Augenwinkeln angezogen, reizende Höhenlinienkarten. Wie bei Theos Augen, nur nicht so scharf, so tief.

»Sie beneiden mich«, sagte sie, »aber Kenyon Degrandpre scheint zu denken, dass es mit mir kein gutes Ende nimmt.«

»Naja, Degrandpre… Mit dem IOS-Geplänkel hab ich nichts zu schaffen, aber Degrandpres Familie ist terrestrisches Urgestein. Ich will ihm nicht unrecht tun. Er ist ein Manager, ein Kacho. Wenn es nach ihm ginge, würde sich hier nie etwas ändern. Es muss alles im Lot sein, die Bücher müssen stimmen, das Gesicht muss gewahrt werden, das ist sein Motto. Erwarten Sie kein Verständnis von Degrandpre.«

»Ich hatte das Gefühl, er wollte mir Angst machen.«

»Ist es ihm gelungen?«

Er hatte das scherzhaft gemeint, doch Zoe war erschrocken.

Denn, ja. Sie hatte Angst.

Sie hatte, jetzt da sie sich ihre Angst eingestand, solche Angst, dass ihr das Essen im Hals stecken blieb und sich der Magen wie eine Faust zusammenballte.

Sie hatte mehr Angst, als sie es je für möglich gehalten hätte.

»Zoe?« Hayes runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung?«

Sie beherrschte sich. »Ja.«

Sie wartete ab, dass der Thymostat seine Arbeit tat, sie mit den richtigen Neurotransmittern impfte. Es würde gleich soweit sein, da war sie sich sicher, sie musste nur Geduld haben. Die Angst würde weichen, und sie würde wieder sein wie immer.

Zwei

Die Rückkehr zu Oberfläche von Isis war normalerweise ein ermüdender Prozess, zumindest bei friedlichem Wetter — und besser ermüdend als aufregend — doch der Shuttle hatte kaum die Wolkenschicht durchbrochen, als Tam Hayes erfuhr, dass ihn eine Krise erwartete. Nicht, dass eine Krise in Yambuku etwas Ungewöhnliches war. Diese aber konnte sich als tödlich erweisen.

Hayes hatte Macabie Feya mit der Leitung der Station betraut. Mac war ein fähiger Ingenieur, ein Reformierter Mormone, Needle-Clan aus Kuiper-Republik 22, mit einer ausgesprochenen Begabung für Mikro- und Turing-Apparate, der sich so gut mit sterilen Verfahren auskannte, wie es eine Ausbildung im Kuiper-Gürtel besser nicht vermitteln konnte. Er war außerdem ein alter Yambuku-Hase, der zwei Stationsjahre hinter sich hatte und es besser hätte wissen müssen als sich in einem ungeprüften Panzeranzug nach draußen zu wagen. Doch genau das hatte Mac getan und steckte jetzt unter freiem Himmel in Schwierigkeiten.

Hoch über der westlichen Steppe trieb ein Rudel Zirruswolken. Der Shuttle glitt aus den Wolken hinaus in wässriges Tageslicht. Der Wind war friedlich, obwohl aus der fernen Sturmzelle nördlich des Flusstals Vorhänge aus Regen fielen. Das Copper-Gebirge gen Osten war fast in den Wolken verschwunden; ein paar goldene Finger tasteten über die smaragdgrünen Ausläufer. Yambuku lag an einem relativ trockenen, bewaldeten Hang im Herzen des Westkontinents, doch Isis war grundsätzlich eine feuchte Welt. Fast täglich fiel Regen, und der Wind wurde häufig zum Problem, brachte den Fahrplan der Shuttles zum Erliegen und legte die mobile Außenübertragung lahm.

Hayes trat neben den Zweiten Piloten, der kurz nickte. »Bis jetzt nichts Genaues, Dr. Hayes. Die haben alle Hände voll zu tun. Ich denke, Mac Feya war draußen, um irgendwas zu reparieren und dann bekam der Anzug ein Leck… kein offenes, aber die Dekontaminierung treibt sie um, hinzu kommt, dass der Anzug eine Panne hat und Mac nicht vom Fleck kommt.«

»Ich muss runter«, sagte Hayes.

»Wir tun, was wir können.«


* * *

Das Dock war der größte mit der Station verbundene Komplex. Die Kuppel überragte den sterilen Kern der Station, öffnete sich für die vertikale Landung und schloss sich qualvoll langsam über dem Shuttle. Die isische Atmosphäre wurde evakuiert und die Kammer mit steriler Luft geflutet. Dann die dreifache Dekontaminierung: keimtötende Aerosole, ultraviolettes Licht und Wärmestrahlung, die im Ergebnis nur knapp unter der Wiedereintrittshitze lag. Während dieser endlosen Prozedur redete Hayes mit Cai Connor; solange Hayes abwesend und Mac verhindert war, war Connor der operative Chef von Yambuku.

Connor, eine Spezialistin für Organische Chemie, war fast so erfahren wie Mac Feya. Hayes hatte keinen Zweifel, dass sie mit dem Notfall mindestens so gut umging wie er es getan hätte, doch ihm entging nicht, dass ihre Stimme stockte. »Der Kontakt mit Mac ist sporadisch. Wir haben ferngesteuerte Roboter bei ihm, aber er ist nicht kooperativ. Die Dekontaminierung wird im günstigsten Fall eine heikle Sache, und wir wollen kein Gelenk strapazieren, ein Leck reicht uns…«

»Holen Sie Luft, Cai. Von Anfang an, bitte. Ich weiß nur, dass Mac aus einem technischen Grund draußen war.«

»Es gab schon wieder eine undichte Stelle, diesmal am südlichen Roboterhangar. Sie wissen ja, wie Mac sich über diese Ringpannen aufregen konnte. Offen gesagt, er hätte nicht raus gedurft. Der Alpha-Anzug war in der Inspektion, also nahm er den Beta-Anzug, obwohl der nach der letzten Exkursion nicht mehr in der Werkstatt gewesen war. Vermutlich hätte er das nötig gehabt. Mac befand sich am Hangarschott, nahm Proben von der mangelhaften Dichtung und legte gerade eine Perle Dichtungsmaterial aus der Hand, als sich ein Servomotor in seinem rechten Bein überhitzte. Der Homöostat des Anzugs spielte verrückt, bevor er ganz ausfiel. Der große GAU. Der Servomotor schmolz ein Loch in den äußeren Panzer, und es ist gut möglich, dass die Innendichtung ein Leck hat, die Telemetrie ist da nicht eindeutig. Eins steht fest: Macs Bein hat oberhalb des Knies gekocht. Er hat Schmerzen, auch wenn ihn der Anzug mit Analgetika füttert, und die werden allmählich knapp. Außerdem redet er wirres Zeug, sodass wir nicht auf seine Hilfe zählen können.«

Hayes zuckte zusammen. Gott steh dir bei, Mac. Der Junge wurde von einem kaputten Servomotor an den Boden genagelt, hatte Verbrennungen und Schmerzen und wusste nicht — und das musste das Schlimmste sein — ob seine Bioperipherie noch intakt oder ob er praktisch schon ein toter Mann war. »Cai, der Alpha-Anzug, wie lange dauert die Inspektion noch?«

»Moment.« Sie konsultierte jemanden abseits des Wandlers. »Als Mac Alarm schlug, hab ich mich sofort um Alpha gekümmert. Der Anzug hatte die vorbereitende Diagnostik hinter sich und scheint okay, aber die gründlichen Tests dauern noch an.«

»Nehmen Sie ihn und bereiten Sie ihn vor.«

»Das könnte ein Fehler sein.«

»Bereiten Sie ihn vor, Cai, danke. Und schicken Sie den Tunnel.«

»Okay, schon unterwegs.« Cai klang erleichtert — trotz der geäußerten Zweifel; sie war froh, dass er ihr die Last der Verantwortung wieder abnahm. »Es sind nur noch zwanzig Minuten bis zur Freigabe.«

»Ich will, dass der Anzug bereitsteht, sobald ich aus dem Tunnel bin. Bis dahin tun sie, was immer sie bis jetzt getan haben — stellen Sie Mac so ruhig wie es geht und sorgen Sie dafür, dass die Roboter eine Chordalschiene zur Hand haben. Und geben Sie mir die Telemetrie durch, vielleicht kann ich mir einen Reim darauf machen.«

»Jawohl«, sagte sie rasch. Auf der Station herrschte ein zwangloser Umgangston. Cai, eine Kuiper-Freifrau reinsten Wassers, würde niemals »Sir« zu ihm sagen, wie es die terrestrischen Wissenschaftler anders nicht kannten. Es war ihre Stimme, mit der sie ihm Respekt zollte.

Und er spürte förmlich, wie die kantige Last der Verantwortung wieder in seine Schultern schnitt.

Die Neue, Zoe Fisher, das Retortenbaby, kam aus der Passagierkabine — ihr fabrikneuer Panzeranzug steckte leider noch tief im Laderaum des Shuttles. Ihre Miene war ernst, die Stirn kraus. »Gibt es irgendwas, das ich tun kann?«

»Mir aus dem Weg gehen.« Es war ihm herausgerutscht.

Sie nickte und machte kehrt.

Nicht aufgeben, Mac, dachte Hayes.

Yambuku brauchte nicht noch einen Märtyrer. Isis hatte schon zu viele Leben gefordert.


* * *

Der isische Tag war im Schnitt drei Stunden länger als der irdische, der Neigungswinkel der Drehachse des Planeten war nicht so spitz und die hiesigen Jahreszeiten milder. Die Sonne schwebte über dem Copper-Gebirge, als Hayes in seinem unsäglich klobigen Biopanzer Yambuku verließ. Der Wald ringsum war bereits zugeschüttet mit Schatten; in einer guten Stunde würde die lange isische Abenddämmerung beginnen.

Rings um die Station war der Boden kahl; ein gewaltiges Areal war brandgerodet und mit langlebigen Herbiziden versetzt worden. Yambuku, das Kernstück und die vier konzentrischen Ringe, lag wie ein verlorenes Schmuckstück auf dem verkohlten Ödland. Die Zone sollte verhindern, dass die Pflanzen über die Wände aus Gemengepresslingen wucherten, in Eingängen nisteten und Dichtungen angriffen. Doch die Zone erinnerte Hayes an etwas anderes: den leeren Raum zwischen einer Festung und der Außenmauer; an das Schussfeld.

Die Zone half nicht gegen frei schwebende Mikroorganismen — die wahrscheinlich für die ständigen Dichtungspannen sorgten — und schon begann die Vegetation wieder vorzurücken, grüne Kriechpflanzen, die sich wie zögernde Kundschafter aus dem Schutz des Waldes wagten.

Hayes, der in seiner modernen Ritterrüstung schwitzte, hatte das vertraute Gefühl, zwar in der Landschaft zu sein aber nicht dazu zu gehören. Jede Sinneswahrnehmung — das Knistern des verbrannten Bodens unter seinen Füßen, das Flüstern der Blätter im Wind —, alles wurde von den Sensoren des Anzugs übermittelt. Dicke Handschuhe, so feinfühlend und fingerfertig sie auch waren, dämpften jede Berührung; das Gesichtsfeld war eingeengt, sein Geruchssinn taub. Dieses Flusstal war so üppig und wild wie ein Sommergarten, doch er konnte es nur aus zweiter Hand erleben, als Roboter, als halber Mensch.

Es würde ihn zweifellos bei der erstbesten Gelegenheit töten.

Er folgte der gekrümmten Wandung der Station, die sich wie eine Kalksteinklippe im schrägen Sonnenlicht erhob, und erreichte schließlich die Stelle am Roboterhangar, wo Macabie Feya in der Falle saß.

Das Problem war nicht zu übersehen. Das rechte Bein war unterhalb der Hüfte durchgebrannt und hatte eine züngelnde, verkohlte Lücke in der Außenhülle hinterlassen. Die Primär- und Sekundärhydraulik unterhalb der Taille war in einem hoffnungslosen Zustand. Er hockte in einer linkischen Stellung, schien mitten in der Bewegung erstarrt.

Seit dem Unfall waren fast acht Stunden ins Land gegangen. Der Anzug hatte die Aderpressen angelegt und würde, falls nötig, eine CPR[6] durchführen und Herzstimulanzien verabreichen; selbst mit restlos ruinierten Rumpfsystemen funktionierte die Maschine noch gut. Für jemanden, der verletzt und alleine war, waren aber acht Stunden eine lange Zeit. Und das bescheidene Reservoir an Analgetika und Narkotika war nahezu erschöpft.

Vorsichtig näherte Hayes sich seinem verletzten Freund. Die Beine des Anzugs mochten blockieren, aber die kraftverstärkten Arme waren beweglich. Wenn Mac in Panik geriet, konnte er ziemlichen Schaden anrichten.

Zwei Gelände-Roboter rollten aus dem Weg, als Hayes näherkam, die Kameras guckten hin und her zwischen ihm und Macabie. Das waren natürlich Yambukus Augen. Elams Augen, genau genommen: Elam Mather führte die Roboter. Und wie friedlich alles erschien in der Stille des Spätnachmittags. Vögel schwätzten hoch oben in den Bäumen, ein schwarz glänzender Mittagskäfer spazierte über die verkohlte Rodung — wie ein winziger viktorianischer Bankier. Hayes räusperte sich. »Mac? Mac, kannst du mich hören?«

Seine Stimme wurde per Funk in Macs Kopfhörer übertragen. Wir hören die Insekten besser als die Stimme des anderen, dachte Hayes. Zwei Abgeschiedenheiten, die sich auf einem mikrobiotischen Ozean mit Handflaggen verständigen.

Keine Antwort, nur das leise Summen der Trägerwelle. Mac musste wieder das Bewusstsein verloren haben.

Hayes war jetzt so nahe, dass er das Leck im Anzug untersuchen konnte. Der Anzug bestand aus mehreren Schichten, Hydraulik und Servomotoren arbeiteten normalerweise isoliert von der feuchten menschlichen Fracht einerseits und der aggressiven isischen Biosphäre andererseits. Die Überhitzung hatte die äußere, flexible Panzerschicht wie Folie abblättern lassen und ein Gewirr aus verbrannten Isolierungen und sickernden blauen Flüssigkeiten bloßgelegt — die Wunde eines Roboters. Der weiche Nugget namens Mac Feya lag tiefer darunter — verborgen, aber in höchster Gefahr.

Hayes brauchte einen Mac, der aktiv kooperierte, oder einen Mac im sicheren Koma. Er erkundigte sich bei Elam nach den telemetrischen Daten.

»Seine Funktionen sind relativ stabil; mehr kann man nicht erwarten, Tam. Soll ich den Anzug veranlassen, die Betäubung zurückzufahren?«

»Nimm die Infusion bitte nur einen Tick zurück, Elam.«

»Bist du sicher, dass du ihn nicht erst schienen willst?«

»Bin schon dabei.«

Er hakte eine Körperschiene vom nächsten Roboter und fing an, sie mit Macs Rumpfpanzer zu verbinden. Die Roboter hätten das selbst machen können, wenn sie nur größer und flexibler gewesen wären. Aber das hier war Isis und irgendein terrestrischer Kacho hatte Gewicht- und Größenbeschränkungen für das Roboterinventar erfunden, ohne sich allzu viel Gedanken über die praktischen Konsequenzen zu machen. Hinter Mac arbeitend, verankerte Hayes die Schiene in chordalen Fassungen — sofort begann ein Datenaustausch zwischen ihr und der noch intakten Anzugelektronik.

Die Verbindung war fast komplett, als Mac aufwachte.

Im ersten Augenblick erkannte Hayes das Geräusch nicht, das in seinen Helm prallte: Das unmenschliche Brüllen, das die Audiowandler strapazierte, stammte von seinem Freund Macabie Feya. Elam versuchte es zu übertönen: »Seine Werte reißen aus! Er ist nicht stabil — du musst übernehmen, sofort.«

Grimmig presste Hayes den letzten Anker in die Fassung an Macs schaukelndem Panzer.

Er war noch dabei das Gerät zu verriegeln, als ihn Macs Ellbogen traf.

Hayes taumelte zurück, verletzt und atemlos. Sein Panzer war zwar massig, aber auf seine Weise auch verletzlich, konstruiert um vor der Biosphäre zu schützen, nicht vor einem physischen Angriff. Hayes taten die Rippen weh, er bekam keine Luft und hörte, wie sein Anzug Alarm schlug.

»Tam, du hast ein Leck in der äußeren Schicht! Zurück in die Luftschleuse, sofort!«

»Mac«, sagte Hayes.

Der wortlose Schmerzensschrei des Ingenieurs wurde ein wenig leiser.

»Mac, du verstehst mich, ja?«

Elam: »Mach das nicht, Tam!«

»Mac, hör zu. Du bist okay. Ich weiß, du hast Angst, und ich weiß, dass du zu lange hier draußen warst, und ich weiß auch, dass du Schmerzen hast. Wir sind gleich so weit, dass wir dich reinfahren können. Aber du musst dich entspannen, halt noch ein bisschen still, ja?«

Diesmal gab es eine Antwort, Hayes verstand die Worte »Scheiß Falle«.

»Hör mir zu«, sagte Hayes. Er war da, wo Mac ihn sehen konnte. Er tat einen vorsichtigen Schritt voran, die behandschuhten Hände vorgestreckt und offen. »Du hast jetzt eine Schiene am Anzug, aber die Schiene muss noch den Spagat machen. Vorher können wir dich nicht reinbringen.«

Elam, die nicht locker ließ: »Ich kann deine Sicherheit nicht mehr garantieren. Also komm zurück, jetzt.«

Hayes trat noch einen Schritt näher.

»Ich glaube, du hast mir eine Rippe gebrochen, Mac. Ruhig Blut, okay? Ich weiß, es tut weh. Aber wir haben es fast geschafft, alter Junge.«

Mac krächzte immer wieder ein und dasselbe, würgte daran.

»Du verstehst mich, Mac, ja?«

Er fasste das Schweigen als Zustimmung auf. Mit dem einen Handschuh packte er in den Schlitten und nutzte aus, was er für einen Moment der Klarheit hielt.

Mac wurde hoch- und zurückgerissen, als die Verriegelung einrastete. Dann setzte sich die Schienenelektronik über seine Motorik hinweg, streckte ihm die Arme an die Seite und hielt sie dort unverrückbar fest. Dieser unfreiwillige Bewegungsablauf musste schmerzhaft gewesen sein. Mac brüllte gegen die neuerliche Hilflosigkeit an, es war furchtbar.

Zwei kleine Roboter rollten heran, packten die Stummelflügel der Schiene und kippten sie nach hinten. Jetzt war Mac ein Fahrzeug auf Rädern und rollte bereits auf die äußere Dekontaminierungskammer des Hangars zu. Hayes hielt Schritt, ignorierte Elams Stimme an seinem Ohr und sorgte dafür, dass Mac ihn die ganze Zeit sehen konnte. Als das satte Blau der Abenddämmerung hinter den Schotts verschwand und die grelle Innenbeleuchtung aufflammte, legte Hayes seinen Helm an den von Mac.

Wenn Hayes ihn richtig verstanden hatte, hatte Mac zwei Worte geflüstert: »Zu spät.«

Während der ganzen Dekontaminierung hielt Hayes den Helm gegen Macs Helm gedrückt; ein fahlgrüner Sprühnebel aus ätzenden Antiseptika wallte von der Decke. Mac starrte durch das beschlagene Glas.

Hayes machte ihm das Daumen-nach-oben-Zeichen, in der Hoffnung, glaubhaft zu wirken.

Macs Augen waren leer und blutunterlaufen. Aus seinen Poren sickerten rubinrote Tränen. Gewebeverflüssigung und Ausbluten hatten schon eingesetzt.

Macabie Feya lag im Sterben und Hayes konnte nichts dagegen tun.

Drei

Vor allem hatte er die Frage zu lösen, wie er diesen unseligen Todesfall verpacken sollte.

Das Problem beschäftigte Kenyon Degrandpre, als er den Bericht für die monatliche, medizinische Evaluation verfasste. Er musste unbedingt mit dem Doktor reden. Nicht, dass Degrandpre krank gewesen wäre. Doch der medizinische Seniordirektor — Corbus Nefford, ein in Boston geborener Arzt mit einer langen Kartellkarriere — war im Grunde der einzige Mensch an Bord der IOS, der in Degrandpres Nomenklatur einem Freund am nächsten kam. Nefford, anders als die Kaltweltbarbaren, die in der wissenschaftlichen Besatzung den Ton angaben, verstand sich auf die Feinheiten der bürgerlichen Unterhaltung. Er war freundlich, ohne sich anzubiedern, und meistens ehrerbietig, ohne zu kriechen. Nefford besaß ein rundliches, aristokratisches Gesicht, das ihm beim beruflichen Wettkampf daheim sicher sehr zustatten gekommen war; selbst im bescheidenen Arztkittel sah er aus wie ein Verwandter der Familie.

Degrandpre betrat die kleine medizinische Abteilung und zog sich unbekümmert aus. Wie die Uniform war auch sein Körper Ausdruck von Rang und Würde. Er war nahezu unbehaart, das überschüssige Körperfett war fortcheliert, die Muskulatur deutlich aber nicht aufdringlich. An der linken Schulter trug er ein Firmentattoo des Kartells. Der schlanke Penis baumelte über der kaum erkennbaren Narbe seiner Orchidektomie[7], ein weiteres Rangabzeichen. Er trat rasch in die Diagnosekabine.

Nefford saß aufmerksam an seinem Monitor, er war nie so taktlos zu reden, bevor er angesprochen wurde.

In Degrandpres Rücken schnurrten Apparaturen, das Flirren von Kolibriflügeln. Er sagte: »Sicher haben Sie schon von dem Todesfall gehört.«

Der Arzt nickte. »Ein Leck im Anzug, wie man hört. Tragisch für Yambuku, für die ganze Belegschaft. Vermutlich muss der Panzer ersetzt werden.«

»Ganz zu schweigen von dem Ingenieur.«

»Macabie Feya. Kam vor dreißig Monaten. Gesund wie ein Pferd, aber das sind sie alle, zumindest wenn sie ankommen. Er soll selber schuld sein.«

»Er war im Freien, die Schutzkleidung war nicht durchgecheckt. Insofern, ja, es war sein Versäumnis. Aber Fehler haben es an sich, die Rangleiter hinaufzuklettern.«

»Ihnen einen Vorwurf machen, Manager? Absurd.«

»Danke für die wenig überzeugende Schützenhilfe. Wir wissen es natürlich besser.«

»Die Welt ist nicht ideal.«

»Wir haben zwei Aktivposten eingebüßt, und zwar von den teuersten. Machen wir uns nichts vor. Aber lahm gelegt ist Yambuku noch lange nicht. Exkursionen mit Fahrzeugen sind weiterhin möglich, die meisten Roboter sind in einem passablen Zustand und es gibt noch mindestens einen Anzug mit Biopanzerung, der ziemlich rasch auf Vordermann gebracht werden kann. Die Grundlagenforschung geht nahtlos weiter.«

»Und«, meinte Nefford, »Yambuku verfügt über die nagelneue Ausrüstung dieser Fisher-Frau.«

»Ist das allgemein bekannt?«

»In guten wie in schlechten Tagen. Die IOS ist ein Dorf. Die Leute reden.«

»Zu viel und zu oft.« Doch Degrandpre erwartete von Corbus Nefford ein gewisses Quantum an Klatsch und Tratsch. Denn Corbus Nefford war Arzt und Abteilungsleiter. Neffords Reisschüssel wurde nie leer. Er konnte aussprechen, was andere vielleicht für sich behielten. »Was Zoe Fisher im Gepäck hat, ist eine unerprobte Technik, die uns von einer reichlich exzentrischen Sparte des Kartells aufgenötigt wird. Die Fisher kommt mit einem dicken Handbuch von Devices & Personnel und setzt einfach ihr Leben aufs Spiel. Das macht mir Kummer. Einmal ist keinmal, aber zwei Tote, das riecht nach jemandes Inkompetenz.«

Der Doktor nickte geistesabwesend, während er in den Bildschirm murmelte. »Die Diagnostik ist beendet. Sie können sich wieder anziehen.«

Degrandpre zog sich laut denkend an. »Devices & Personnel tut so, als könnten sie nach Belieben mit unseren Prioritäten umspringen. Ich bezweifle, dass sich die Firmenbevollmächtigten diese Art von Arroganz noch lange gefallen lassen. Indessen, ich möchte, dass Zoe Fisher mindestens so lange überlebt, bis ich wieder sicher in Beijing bin. Das ist nicht mein Krieg, offen gestanden.« Nahm er den Mund zu voll? »Das ist selbstverständlich vertraulich.«

»Selbstverständlich.«

»Mit anderen Worten, kein Kombüsengeschwätz.«

»Sie können mir vertrauen, das wissen Sie doch, Kenyon.« Dass er Degrandpre beim Vornamen nannte, war keine Frechheit; er tat es mit niedergeschlagenen Augen und um sich einzuschmeicheln.

»Danke, Corbus.« Ein sanfter Rüffel. »Also, ja oder nein? Bin ich gesund?«

Nefford widmete sich merklich erleichtert seinem Bildschirm. »Ihr Knochen-Kalzium ist ausgezeichnet, Ihre Muskulatur stabil und Ihre Strahlenbelastung liegt summa summarum innerhalb der Toleranzen. Beim nächsten Mal möchte ich aber eine Blutprobe.«

»Nächstes Mal bekommen Sie eine.«


* * *

Einmal pro Kalendermonat schritt Degrandpre, die linke Hand am Halfter der Reitpeitsche, die Peripherie der Orbitalstation ab, von den Docks bis zu den Sonnengärten.

Er betrachtete diesen Kontrollgang als eine Möglichkeit, mit der IOS in Kontakt zu bleiben. Die Wartungscrew auf Zack zu halten, den Firmenstab auf Uniformverletzungen hinzuweisen — ganz allgemein Präsenz zu zeigen. (Was Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften anging, so hatte er bei den Kuiper- und Marswissenschaftlern längst die Waffen gestreckt; er schätzte sich schon glücklich, wenn sie überhaupt daran dachten, sich anzuziehen.) Probleme, die von seinem Schreibtisch aus weit entfernt zu sein schienen, wogen aus der Nähe schwerer. Und er mochte die körperliche Bewegung.

Seine Inspektion begann stets bei den schwach erhellten Frachtlagern von Modul Zehn und endete mit Modul Neun, den Gärten. Er verweilte gern in den Gärten. Wenn man ihn gefragt hätte, würde er wohl gesagt haben, dass er den gefilterten Sonnenschein genoss, der von automatisch nachgeführten Kollektoren in der Radnabe hierher gepumpt wurde, oder die feuchte Luft oder den erdigen Geruch der aeroponischen Suspensionen[8]. Und das war die reine Wahrheit. Aber nicht die ganze.

Für Kenyon Degrandpre waren die Gärten eine Art Taschenparadies.

Schon als Kind hatte er Gärten gemocht. Die ersten zwölf Lebensjahre hatte er bei seinem Vater gelebt, einem Seniormanager des Sortenarchivs in Südfrankreich. Die Gewächshäuser des Archivs bedeckten Tausende von Morgen Weideland, die Fundamente gegen den südlichen Himmel geneigt, eine Stadt aus beschlagenen Glaswänden und zischenden Lüftern.

»Paradies«, hatte sein Vater dazu gesagt. Nach der Bibel war das Paradies ein Garten namens Eden; Eden war kultiviert und vollkommen. Als die Menschheit in Ungnade fiel, fiel der Garten in Anarchie.

Auf der IOS spielten die Gärten eine noch zentralere Rolle, waren so anfällig und lebenswichtig wie ein transplantiertes Herz. Er lieferte den größten Teil der Nahrung, besorgte das Recycling der organischen Abfälle und reinigte die Luft. Weil die Gärten unentbehrlich und empfindlich waren, waren sie zumindest in Degrandpres Augen das Paradies des Alten Testaments, und zwar vor dem Sündenfall: ordentlich, kalkuliert, organisch und präzise.

Die Gärtner in ihrer gelbbraunen Montur bestätigten seine Gegenwart, indem sie ihm aus dem Weg gingen. Er schritt die langgestreckten Beete ab, hielt in einer Schneise zwischen hohen Tomatenstauden inne, um den Geruch und das blattgrüne Licht zu genießen.

Als er in den Konzern eingetreten war, hatte er noch viel vom Idealismus seines Vaters im Gepäck gehabt. Die Menschheit hatte sich zu lange mit einer verwilderten Erde abgefunden. Die Folgen waren unkontrolliertes Bevölkerungswachstum, Entartung des Klimas und Krankheiten gewesen.

Kuiper-Radikale warfen der Erde vor, sich in Untätigkeit zu ergehen. Unsinn, dachte Degrandpre. Wie lange würde ein Kuiper-Habitat oder eine marsianische Luftfarm ohne Regulierung der Eis- und Sauerstoffförderung überleben? Wie lange konnte die IOS zum Beispiel in einem Zustand der Anarchie überleben? Verhielt es sich auf der Erde so viel anders? Die Probleme waren dieselben, nur großräumiger, diffuser. Isis zum Beispiel: ein noch unkultivierter Garten. Wunderschön, wie frisch eingetroffene Kuiper-Enthusiasten immer wieder betonten. Und von Grund auf feindselig gegenüber menschlichen Lebens.

Er durchquerte den Gemüsegarten und erklomm eine Terrasse, auf der in der Nähe des Lichts raffiniert konstruierte Obstreben gediehen. Gärtner und schlanke, weiße Roboter bewegten sich wie Engel in dem üppigen Blattwerk — er lauschte dem beharrlichen Geräusch tropfenden Wassers. Die Erde, dachte Degrandpre: Fünf Jahre war er nicht mehr zu Hause gewesen; weiß Gott, was sich in seiner Abwesenheit alles zugetragen hatte. Die verhängnisvolle nordafrikanische Aquifer-Initiative hätte ihn fast die Karriere gekostet; er hatte alle uneingelösten Versprechungen eingefordert, nur damit ihn der Konzern behielt. Um seine Flexibilität zu demonstrieren, hatte er die Jobrotation akzeptiert. Es war der einzige einigermaßen verantwortungsvolle Posten gewesen, den man ihm angeboten hatte.

Und schlecht gefahren war er nicht damit. Doch zu viel Zeit war zu langsam verstrichen, die Trennung von der Erde machte ihm mehr zu schaffen als er gedacht hatte. Es war, als registrierten seine Körperzellen jeden Zoll der unsäglichen Entfernung, die die Higgs-Schleuder überbrückt hatte. Er war immerhin so weit von zu Hause entfernt, dass das Sonnenlicht, das auf diese Reben fiel, Beijing, Boston oder Südfrankreich zu seinen Lebzeiten nicht mehr erreichen würde. Seine einzige richtige Verbindung mit dem Planeten seiner Geburt war die Partikelpaar-Verbindung — ein Strohhalm.

Nach dem er greifen musste. Sein Wochenbericht war Pflicht. Er musste das Kartell davon in Kenntnis setzen, dass einer seiner Ingenieure ums Leben gekommen war.

Pech. Oder schlechtes Management. Oder kuipersche Verwegenheit, die gelegentlich ihren Tribut forderte. Genau, das war es.


* * *

Gegen Mittag hatte er den Bericht zur Übertragung eingefädelt und wandte sich anderen Aufgaben zu. Eine Delegation von Abteilungsleitern erschien, um Beschwerde zu führen: unfaire Zuteilung von Robotern und Ressourcen, die üblichen Eifersüchteleien. Die Turing-Fabriken auf dem kleinen isischen Mond hatten ihre Produktionsziele nicht erreicht, obwohl sie um zwei Anlagen erweitert worden waren. Es war eine Frage des Ausgleichs. Niemand bekam, was er wollte, aber das war unvermeidlich. Die IOS verwaltete den Mangel.

Die gute Nachricht war, dass es keinen Mangel an wirklich kritischen Dingen gab. Die Turing-Produktivität war gestiegen, auch wenn sie hinter den Erwartungen zurückblieb, und die Lebenserhaltungssysteme der IOS blieben in gutem Zustand. Die schlechten Nachrichten kamen hauptsächlich vom Bodenprojektmanager, der eine Flut von Dichtungspannen meldete, von Reparaturen und geschrumpften Redundanzen, insbesondere aus den kontinentalen und den Tiefsee-Außenposten. (Die kleine arktische Station berichtete nur von routinemäßigen Wartungsarbeiten.) Das konnte unangenehm werden, denn die Bodenstationen benutzten ein erschreckend großes Sortiment an exotischen Materialien, die von zu Hause importiert wurden; die Bestände wieder aufzufüllen würde vom Kartell einige Ausflüchte verlangen, ein Mehr an Fracht war nicht leicht zu begründen. Doch es hätte schlimmer kommen können.

Er beschwichtigte die Juniormanager mit Versprechungen, entließ sie schließlich und suchte seine Kabine auf.

Allein.

Er hasste die soziale Isolierung auf der IOS, doch die Lösung dieses Problems hieß wie immer: Disziplin. Das war der Fehler, den das Kartell vor mehr als einem Jahrhundert gemacht hatte, nämlich mit den Genen von Freiwilligen aus dem Kuiper-Gürtel herumzupfuschen, anstatt die Leute in der Kunst der Selbstdisziplin zu unterweisen.

Die Kabinenwand zeigte den Planeten Isis, blau auf schwarzem Samt. Wie satt er das Bild hatte. Er stellte das Display auf eine neutrale, weiße Lumineszenz, die automatisch eindunkeln würde, sobald er eingeschlafen war.


* * *

Der Palmtop zirpte und Degrandpre wachte auf. Es war früher Morgen.

Die eingegangene Nachricht war bernsteinfarben markiert, wichtig aber nicht dringend. Er ließ sie warten, duschte und zog sich an. Dann schickte er den kleinen Personalroboter zur Kombüse und ließ sich wie immer das Frühstück holen.

Er ließ den Bildschirm scrollen, las das Material nur ungern. Es war die Antwort auf seinen Bericht. Flüchtiges Bedauern, was den Tod von Macabie Feya anging. Transferplanänderungen. Revidierte Frachtlisten für die nächsten sechs Monate.

Und am Ende ein kleiner aber tödlicher Stich.

Mit der nächsten Personalrotation kam ein ›Beobachter‹ an Bord. Ein Beobachter von Devices & Personnel, ein Mann namens Avrion Theophilus.

Das Beängstigende war, dass der Mann keinen Rang zu haben schien.

Auf der Erde war ein Mann ohne Titel entweder arm oder sehr einflussreich. Ein Bauer oder ein Adliger.

Und Bauern kamen nicht nach Isis.

Vier

Zoe kam in den Gemeinschaftsraum, um an der Verbrennung von Macabie Feyas Leichnam teilzunehmen.

Tam Hayes hatte die Belegschaft hierher beordert. Der Raum war so groß, dass Zoe sich der Versammlung ohne allzu große klaustrophobische Regungen anschließen konnte. Hayes hatte eine Wand freigemacht und die Vertäfelung in einen Bildschirm verwandelt, der die westliche Rodung zeigte, wo ferngesteuerte Roboter aus hiesigem Holz eine Totenbahre gezimmert hatten. Es war, als blicke man durch ein großes Aussichtsfenster. In Wahrheit lag der Gemeinschaftsraum mitten im sterilen Kern von Yambuku, von Isis durch Zwiebelschalen aus Hochrisikolaboratorien und Roboterhangars isoliert.

Mac Feya, hoffnungslos kontaminiert, war auf seinem Weg in die Station nicht über den Roboterhangar hinausgekommen. In seinem Leichnam hausten unzählige isische Mikroorganismen; de facto handelte es sich bei ihm um äußerst gefährlichen Bioabfall. Elam Mather hatte einen ferngesteuerten Medizinroboter benutzt, um den sterbenden Mac ruhig zu stellen und zu betäuben, ein grausamer aber zum Glück kurzer Prozess; nachdem exemplarische Gewebeproben entnommen und in die Glove-Box-Tresore[9] geschleust worden waren, hatte sie die Leiche auf die Rodung hinausschaffen lassen.

Zoe sah nicht zu genau hin. Man hatte den kostbaren Biopanzer zurückbehalten und Mac Feya in ein weißes Tuch gehüllt, wohl um dem Leichnam ein gewisses Maß an Würde zu verleihen. Doch der Körper unter dem Leichentuch war offensichtlich in Auflösung begriffen, wurde von isischen Mikroorganismen verdaut und mit unheimlicher Geschwindigkeit zu einer sirupartigen schwarzen Masse verarbeitet. Wie die CIBA-37-Maus, dachte Zoe. Zoe saß steif auf ihrem Stuhl und sträubte sich, diesen Todesfall als Omen zu betrachten. Höchstens als Warnung: Die isische Biosphäre ließ nicht mit sich spaßen. Sie war weder bösartig, noch wollte sie den Menschen Böses. Nicht Isis war das Problem, sondern die Menschen. Wir sind anfällig, dachte Zoe; wir haben uns in einem jüngeren und weniger umkämpften Biotop entwickelt. Hier sind wir Säuglinge.

Als die ersten Sonden Isis erreichten, hatte man große Mühe darauf verwendet, den Planeten vor menschlicher Kontamination zu bewahren. Doch es gab keinen terrestrischen Organismus, den die isische Biosphäre nicht hätte bändigen und verschlingen können; gegen das gewaltige Arsenal an Enzymen und Giften konnten die zarten Proteinhüllen irdischen Lebens nichts ausrichten. Isis hatte nicht anders gekonnt, als Macabie Feya zu töten.

»Der Planet hasst dich nicht«, hatte Theo einmal gesagt. »Aber seine Intimitäten sind verhängnisvoll.«

Zoe blickte über die Bahre hinweg auf den fernen Baldachin aus Wipfeln. Die Bäume waren gewunden, hatten dünne Stämme und reckten ihre Hauptäste wie große, grüne Hände. Der Wald war ihr Revier, dachte Zoe, daran würde sich nichts ändern. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, sich auf langfristiges Alleinsein in den Wäldern von Isis vorzubereiten. Wenn eine hiesige Spezies benannt werden sollte, konnte sie sie benennen; innerhalb eines breiten Spektrums von Gattungen konnte sie sogar vorläufige Doppelnamen für neue Spezies vergeben. Doch das hier war kein Lehrbuch, kein interaktives Programm und auch keine virtuelle Realität. Die reale Realität war mit einem Mal überwältigend, selbst wenn sie nur auf Umwegen in die abgekapselte Sicherheit des Gemeinschaftsraums fand: reale Brisen spielten mit den Blättern, reale Schatten verfinsterten den Waldboden. Nur noch ein paar dünne Wände trennten sie von Isis — endlich, endlich.

Und draußen lauerte der Tod. Realer Tod. Die Ergriffenheit im Raum war erschreckend. Dieter Franklin weinte mit gesenktem Kopf; Elam Mather und andere machten keinen Hehl aus ihren Tränen.

Zwei Geheimnisse, dachte Zoe. Isis und Trauer. Den Planeten kannte sie besser. Was würde sie empfinden, falls jemand starb, der ihr nahe stand? Doch es gab niemanden, der ihr nahe stand. Hatte nie jemanden gegeben. Bis auf Theo, streng und distanziert wie ein Adler, ihren Lehrer und Retter. Was, wenn da draußen Theos Leichnam verbrannt würde? Würde sie dann auch weinen? Als sie jung war, hatte sie oft geweint, vor allem während der nur dunkel erinnerten Zeit in dem Teheraner Findelheim. Von dem Theo sie erlöst hatte. Ohne Theo… ja, ohne Theo wäre sie verloren.

Frei, raunte ein verräterischer Teil von ihr.

Der Gedanke war beunruhigend.

Tam Hayes, groß gewachsen und dunkel in seiner Yambuku-Montur, verlas einen kurzen ehrenden Nachruf. Dann sprach Ambrosic, ein junger Biochemiker und jetzt, da Mac nicht mehr da war, der letzte Reformierte Mormone in Yambuku, ein formelles Gebet für den Toten.

Auf ein verborgenes Signal hin übergossen die beteiligten Roboter die Bahre mit Kohlenwasserstoffverbindungen und setzten sie mit einer Stichflamme in Brand. Ein Außenmikrophon übertrug das Geräusch mit entsetzlicher Reinheit, das WUSCH der Entzündung und danach das träge Knistern von brennendem Holz.

Die Hitze trug die Asche von Macabie Feya hoch in den isischen Sonnenschein. Wind trug den Rauch mit sich fort. Mac Feyas Phosphate würden den Boden düngen, dachte Zoe. Jahreszeit um Jahreszeit, Atom um Atom würde die Biosphäre sich seiner bemächtigen.


* * *

Zoe hatte man vor allem wegen des MLA-Projekts[10] geschickt, doch bis zu dem Tag, da sie die Station verlassen würde, gehörte sie zur Belegschaft und musste sich nützlich machen. Sie war weder Mikrobiologe noch Ingenieur, aber es gab eine Menge schlichter Arbeiten zu erledigen — Filterwechsel, Lagerinventur, Schreibkram — und sie hielt sich für all diese Aufgaben zur Verfügung. Und mit jedem Tag, während der Schock von Mac Feyas Tod verebbte, wurde sie… was? Wenn nicht ein Mitglied der Yambuku-Familie, dann doch ein willkommenes Accessoire.

Heute, eine Woche nach der Bestattung, hatte Zoe acht Stunden mit der Lagerinventur zugebracht, was trotz der hilfreichen Roboter eine Menge Körpereinsatz bedeutete. Nach einer stillen Mahlzeit in der Mensa zog sie sich in ihre Kabine zurück. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als heiß zu duschen und früh ins Bett zu gehen… doch kaum hatte sie die Wassertemperatur gewählt, als Elam Mather anklopfte.

Elam trug Feierabendkleidung, lockere, gelbbraune Shorts mit Bluse. Das freundliche Lächeln schien zu meinen, was es sagte. »Ich habe hier den Dienstplan für morgen. Dachte, Sie würden gerne mal reinschauen. Oder gerne mal reden. Störe ich?«

Zoe bat sie herein. Die Kabine war klein, eine Bettrolle und ein Pult und eine Wand mit Bildschirmfunktion. Etwa einmal im Monat fädelte die Erde komprimierte terrestrische Unterhaltung durch die Partikelpaar-Verbindung. An diesem Abend saß der größte Teil der Belegschaft im Gemeinschaftsraum und sah sich die Novosibersk Brevities an. Zoes Bildschirm blickte durch eine Außenkamera, und das einzige Schauspiel, nach dem ihr zumute war, war die verträumte Sichel des kleinen isischen Mondes, die vor den südlichen Sternen kreuzte.

Elam trat ein, wie sie immer eintrat: raubeinig, Arme herunterhängend, groß selbst nach Kuiper-Maßstäben. »Ich mach mir nicht viel aus leichter Unterhaltung«, sagte sie. »Sie vermutlich auch nicht.«

Zoe wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Elam pochte nicht auf ihren Rang, war aber eine Schlüsselfigur in Yambuku, die nur noch Tam Hayes über sich hatte. Zu Hause wäre alles ganz klar gewesen. Juniormanager hatten zu tun, was Zoe sagte, und Zoe hatte zu tun, was Seniormanager sagten — und alle miteinander hatten sich der Familie zu fügen. So einfach war das.

Der Dienstplan bestand aus mehreren Blättern, Elam ließ sie aufs Pult fallen. »Ist wie ausgestorben, wenn das Unterhaltungspaket ankommt.«

»Ich glaube, diesmal ist Tanz angesagt.«

»Ah-ah. Sie scheinen genauso begeistert wie ich. Ich bin nun mal ein altes Kuiper-Fossil. Wo ich herkomme, da wird selbst getanzt, nicht bloß zugeguckt.«

Zoe wusste keine Antwort. Sie tanzte nicht.

Elam warf einen Blick auf den aktiven Wandschirm. Zoe fuhr ihn mit maximaler Auflösung; man hätte meinen können, die Kabinenwand habe sich aufgelöst und lasse die isische Nacht herein. Die Grenzlichter von Yambuku erfassten die nächsten Bäume und stellten sie taghell vor den samtschwarzen Wald. »Nichts für ungut, Zoe, aber Sie sind manchmal wie ein Gespenst. Sie sind zwar hier, aber ihre Gedanken sind draußen.«

»Darauf bin ich trainiert.«

Elam runzelte die Stirn und sah beiseite.

Zoe setzte hinzu: »Hab ich etwas Falsches gesagt?«

»Wie bitte? Oh — nein, Zoe. Nichts Falsches. Wie gesagt, ich bin nur ein altes Kuiper-Fossil.«

»Sie haben meine Personalakte gelesen«, riet Zoe.

»Zum Teil. Gehört zu meinem Job.«

»Ich kann mir denken, wie sich das liest. Einzige Überlebende einer klonalen Gruppe, bestimmt für den Dienst auf Isis, drei Jahre lang verschollen in einem Findelheim, leichte Aversion gegen menschlichen Kontakt. Launisch und, wie ich vermute, sehr terrestrisch. Aber ich bin…«

Sie wollte sagen, nicht anders als jeder andere. Doch das wäre gelogen gewesen, oder? Selbst auf der Erde hatte sie ein bisschen abseits gestanden. Das hatte einfach zur Ausbildung gehört.

»… auf dem besten Wege, mich hier einzuleben.«

»Ich weiß«, sagte Elam. »Und ich weiß das zu schätzen. Es tut mir Leid, wenn wir schlechte Eisbrecher waren. Es lag auch an dem Unfall mit Mac, mit Ihrem Lebenslauf hat das nichts zu tun.«

Zoe registrierte das Adverb. Auch. Das war fair. Die meisten Wissenschaftler in Yambuku stammten aus dem Kuiper-Gürtel. Das alte Commonwealth Settlement Ministry[11] hatte die ersten Habitate auf den Kuiperwelten mit Bürgern besiedelt, die genetisch für eine langfristige Isolation und die klaustrophobische Enge in den Wasser-Bergwerken konditioniert waren. Unglücklicherweise war der Sequenz-Tausch fehlerhaft gewesen. Und der Fehler im veränderten Genom war unentdeckt geblieben, weil niemand mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte: eine spät auftretende neurologische Degeneration, eine angeborene Plaquebildung an der Nervenhülle, schwer aufzuhalten, geschweige denn zu heilen. Diejenigen aus dieser Siedlergeneration, die die Unbilden der Pionierzeit überlebt hatten, waren weit weg von der Erde in unzulänglichen klinischen Einrichtungen schreiend gestorben. Ein hastiges Programm, das den Sequenzfehler flickte, hatte die Kinder dieser Generation vor demselben Schicksal bewahren können. Die meisten jedenfalls.

Kuiper-Veteranen würden sagen, dass sie weniger die genetische Konditionierung als solche fürchteten als vielmehr das plumpe terrestrische Herumpfuschen an den Genen. Doch die Familiengeschichte machte das Ganze zu einer kitzligen Angelegenheit. Zoe war ein zweckbestimmter Klon, zugeschnitten auf die Belange des Kartells. Ihre Kollegen aus dem Kuiper-Gürtel mussten das abscheulich finden.

»Ich will damit sagen, Zoe, dass all das kaum noch eine Rolle spielt. Jetzt, wo Sie einer von uns sind. Ob Sie wollen oder nicht. Wir hocken hier am Grund eines feindseligen biologischen Ozeans und Yambuku ist eine Bathysphäre. Ein Leck, und wir gehen alle hops. In so einer Umgebung ist man aufeinander angewiesen.«

Zoe nickte. »Ich verstehe. Ich tue mein Bestes, Elam. Aber ich… ich kann es nicht gut mit anderen.«

Elam berührte sie am Arm und Zoe zwang sich, nicht zurückzuzucken. Die Hand der Älteren war warm, trocken und rau.

»Was ich damit sagen will, Zoe: Wenn Sie eine Freundin brauchen, auf mich können Sie zählen.«

»Danke, Elam. Und es tut mir Leid, wenn es unverschämt klingt. Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Aber… ich möchte keine Freundin.«

Elam lächelte. »Ist schon okay. Von ›möchten‹ war keine Rede.«


* * *

Die Zeit verging und mit jedem Tag kam sie ihrer Befreiung aus der Enge von Yambuku um einen Schritt näher.

Draußen wich eine regnerische Woche hellem Sonnenschein. Die Werkstatt legte letzte Hand an Zoes Außenanzug, kopierte seine Dateien, prüfte seine Kapazitäten und checkte die Funktionsliste Punkt für Punkt durch.

Zoe übte sich in Geduld, lernte die Vornamen der sechzehn gegenwärtig in Yambuku lebenden Menschen auswendig. Von diesen kam sie am besten mit Elam Mather, Tam Hayes, den Werkstatt-Ingenieuren Tia, Kwame und Paul und dem Planetologen Dieter Franklin aus.

»Wir stehen kurz vor dem Stapellauf unserer neuen Technik«, sagte Tam Hayes zu ihr. »Die Techniker sind beeindruckt. Wir sollten uns auf etwas Neues gefasst machen, das ist weit mehr als neu.«

Zoe schob einen Frachtkarren durch die lange, fensterlose Enge des Süd-Quartiers. Die Räder rasselten auf dem Boden aus poliertem Stahl. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es hier ausgesehen hatte, als die Roboter und Turing-Konstrukteure alles zusammengebaut hatten. Eine Katakombe aus Metall, an der sich mechanische Spinnen zu schaffen machten, derweil Stahl- und Metacarbon™- Platten an ferngelenkten Fallschirmen aus dem Orbit fielen.

Laut Hayes war es heute vorwiegend sonnig und warm. Etwas, das man von der zeitlosen Monotonie dieses Korridors nicht sagen konnte. »An solchen Tagen«, sagte Hayes, »da schicken wir häufig die Libellen raus.«

Zoe sah von der Arbeit auf.

»Interessiert?«, fragte Hayes.

Und ob.


* * *

»Ihre Akte sagt, Sie kennen sich mit diesen Sensorien aus. Ist das korrekt?«

Zoe passte das Geschirr ihrer Kopfform an. »Ja.«

»Und Sie kennen das Gelände?«

»Aus Simulationen.«

»Okay. Nennen wir es Testausflug. Sie lassen mich nicht aus den Augen, zu keiner Zeit, und Sie tun, was ich sage.«

Der Raum, von dem aus die Telepräsenz gesteuert wurde, war nicht größer als Zoes Kabine. Zoe war sich der Tatsache bewusst, dass Tam Hayes neben ihr saß. Im ultrareinen Innern von Yambuku roch alles viel intensiver. Sie konnte ihn riechen — ein sauberer Geruch, Seife und gewaschene Baumwolle und sein persönlicher, unverkennbarer Geruch nach… Frühlingsheu. Und leider auch sich selbst: nervös und angespannt. Sie aktivierte das Kopfgeschirr und der Raum floh aus ihrem Bewusstsein — aber nicht die Gerüche.

Hayes aktivierte die Fernsteuerung, und aus einem Hangar an der Peripherie des Shuttledocks erhoben sich zwei Libellen in den windstillen Mittag.

Die zarten Flügel der Telesensorien glitzerten vor photoelektrischen Chitonzellen[12], mikroskopisch kleinen Prismen. Der lange, dünne Rumpf abwärts gekrümmt, um Stabilität zu halten, derweil die ›Tierchen‹ auf der Stelle traten.

Zoe, den Kopf im Geschirr und die Hände an den Kontrollen, sah, was ihr Telesensorium sah: Yambuku von oben und dahinter den bewaldeten unendlich tiefen, weiten Senkungsgraben, einen lückenlosen Baldachin aus Grün, gesprenkelt mit zarten Wolkenschatten.

Ihr Herz hämmerte. Wieder war eine Wand gefallen. Zwischen ihr und Isis standen viele Wände, doch mit jedem Tag weniger und bald keine einzige mehr; bis auf die unempfindliche Membran ihres Außenanzugs. Die beiden Domänen, ihr terrestrisches Ökosystem aus Blut und Gewebe und die unergründliche isische Biosphäre würden sich so nahe kommen, wie es die Technik erlaubte. Sie sehnte sich, ihre neue Welt zu berühren, die fremde Brise auf der Haut zu spüren. Das Gefühl war verblüffend intensiv.

Tam Hayes redete. Er saß neben ihr an der Konsole, doch seine Stimme schien aus dem strahlend blauen Himmel zu tönen. »Wir wollen nichts überstürzen. Bleiben Sie mir auf den Fersen. Wenn Sie meine Libelle aus den Augen verlieren, benutzen Sie die optische Zielerfassung. Und haben Sie keine Scheu zu fragen. Fertig, Zoe?«

Dämlicherweise nickte sie. Doch mit dem Kopf im Geschirr konnte er lediglich ihre Libelle sehen, ein Mikrogerät, das dem seinen aufs Haar glich. »Fertig«, sagte sie mit Verspätung. Die Hand am Steuerknüppel zitterte. Das hochempfindliche Telesensorium vibrierte im Sonnenlicht.

»Auf dreitausend Meter fürs Erste. Damit Sie einen Überblick bekommen.«

So rasch, wie er es sagte, schraubte sich Hayes Libelle vertikal in den Himmel. Auf Anhieb schraubte Zoe ihre eigene Libelle nach oben, klebte nicht an ihm, hielt aber Schritt und zeigte, was sie konnte. In der oberen linken Ecke ihres Kopfgeschirrs schillerte die rubinrote Höhenanzeige.

Bei dreitausend Metern hielten sie inne. Hier oben war es ziemlich windig, und die Libellen tanzten auf und ab wie schwebende Möwen.

»Höhe ist die beste Verteidigung«, sagte Hayes. »Diese Tierchen sind teuer und hier oben gibt es keine Insektenfresser. Am gefährlichsten sind Vögel. Jeder große Vogel innerhalb eines Kilometers löst einen Alarm aus, zumindest unter freiem Himmel. Unten im Wald ist das schon schwieriger. Wenn es irgend geht, halten Sie Abstand von Bäumen und bleiben Sie mindestens fünf oder sechs Meter über dem Boden. Grundsätzlich wachsam bleiben und die Anzeigen im Auge behalten.«

Das alles wusste sie. »Wohin des Wegs?«

»Zur Gräberkolonie. Wohin sonst?«

»Einfach so?«

»Einfach so.«

Zoe mochte diesen Mann.

Die Libellen übertrugen nur audiovisuelle Informationen. Sie flogen westwärts, aber Zoe hatte nicht das Gefühl zu fliegen. Ihr Sitzfleisch spürte nach wie vor den Widerstand des Stuhls, sie spürte nach wie vor ihre solide Präsenz in der Kontrollkabine. Doch die Bilder, die sie sah, waren hochauflösend, von großer Farbtiefe und dreidimensional. Und sie konnte deutlich hören, was die Libellen hörten: in dieser Höhe nur ein sanftes Brausen der Luft; tiefer vielleicht das Rieseln von Wasser, die Schreie von Tieren.

Zusammen flogen sie über das glänzende Band des Copper-River, so getauft von Hayes’ Vorgänger nach dessen Kuiper-Clan. An den trägen Tümpeln des sandigen Ufers hatten sich große Vögel und kleine Raubtiere versammelt, um zu trinken. Sie entdeckte eine Herde von Epidonten, die sich im seichten Wasser sonnten. Hinter dem Fluss wuchs der Wald wieder lückenlos zusammen, Samen- und Sporenbäume wogten wie ein einziges grünes Laken auf die Ausläufer des Copper-Gebirges zu.

»Alles ist so vertraut«, sagte Zoe leise.

»Könnte man meinen.« Die Stimme von Hayes kam aus dem leeren Himmel neben ihr. »Fast wie äquatoriale Erde, aber nur aus dieser Höhe. Man darf nicht vergessen, dass Isis eine total andere Evolution durchgemacht hat. Die Arbeit der letzten sechs Monate legt nahe, dass das Leben hier sehr viel länger einzellig geblieben ist als auf der Erde. In terrestrischen Organismen ist die Zelle eine Proteinfabrik in einer Proteinfestung. Isische Zellen sind das auch, nur besser geschützt, tüchtiger und viel komplexer. Sie synthetisieren ein schwindelerregendes Arsenal an organischen Stoffen und existieren unter viel unwirtlicheren Bedingungen. Auf makroskopischer Ebene — bei vielzelligen Organismen — ist der funktionale Unterschied geringer. Es kommt auf die Komplexität an. Ein Fleischfresser ist ein Fleischfresser und der Vergleich mit Pflanzenfressern ist kein Kunststück. Nimmt man die mikroskopische Ebene, die fundamentale Biosphäre des Planeten, dann kommt einem Isis viel, viel fremder vor. Und gefährlicher.«

Zoe sagte: »Ich meinte die Landschaft. Ich bin hier schon so oft geflogen, in unzähligen Simulationen.«

»Simulationen sind Simulationen.«

»Realitätsnahen Simulationen.«

»Trotzdem. Ist schon was anderes, wenn die Landschaft wirklich lebt.«

Lebt, dachte Zoe. Ja, das war der Unterschied. Selbst die besten Simulationen waren so etwas wie Karten. Das hier war das wirkliche Territorium, beweglich, veränderlich. Ein Abschnitt im uralten Dialog zwischen Leben und Zeit.

Hayes lotste sie tiefer hinunter. Vor ihr blitzte seine Libelle, brillanthell in der Mittagssonne. Voraus die Ausläufer der Gebirgskette, bewaldete Hügel, gefurcht von Bächen. Während das Land anstieg, wechselte der Wald von wasserliebenden Rebstöcken, Kelchpflanzen und Fassbäumen zu kleineren Fettpflanzen, wie sie im steinigen Hochland gediehen. Immer wieder kleine Inseln, die an Aloe Vera erinnerten, niedrige Pflanzen mit fleischigen, smaragdgrünen Sternen. Zoe deklamierte genüsslich die lateinischen Namen, hätte es aber begrüßt, wenn die Vegetation die gemeinen Namen aus einer isischen Sprache hätte beziehen können, wenn es denn je eine isische Sprache gegeben hatte. Ob man die Gluck-und-Murmel-Vokalisationen der Gräber wirklich als ›Sprache‹ bezeichnen durfte, war eine der Fragen, denen Zoe auf den Grund gehen wollte.

Die Gräberkolonie sah von hier oben exakt so aus wie in den Simulationen: eine Ansammlung von gefleckten Erdhügeln in einer ausgetrampelten Lichtung. Dazwischen die verkohlten Reste von Feuerstellen. Hayes flog einmal um die Kolonie herum, ehe er sich langsam nach unten schraubte, nicht ohne den Himmel im Auge zu behalten; die Abfallhaufen der Gräber mochten Raubvögel anlocken. Doch die Luft war rein. Zoe setzte sich impulsiv vor ihn. Was Hayes sich gefallen ließ. Sie achtete darauf, die unsichtbare Leine nicht zu überdehnen.

Sie wollte die Gräber sehen.

Über die Partikelpaar-Verbindung waren nur unbewegte Bilder zur Erde gelangt. Sie hatte Fotoserien gesehen und nicht nur das: Bilder von einer Teleautopsie an einem Gräber, der von einem Raubtier getötet und dessen Leiche von Robotern geborgen und von chirurgischen Telesensorien seziert worden war. Ein paar tiefgefrorene blaurote Proben befanden sich noch im Glove-Box-Archiv von Yambuku. Zoe hatte sich Tonaufzeichnungen von den Vokalisationen angehört und nach Anhaltspunkten für eine interne Grammatik gefahndet. (Die Ergebnisse waren bestenfalls widersprüchlich.) Sie kannte die Gräber so gut wie ein externer Beobachter sie kennen konnte. Aber leibhaftig zu Gesicht bekommen hatte sie noch keinen.

Hayes schien ihre Erregung zu verstehen, ihre Ungeduld. Seine Libelle schwebte sichernd in ihrer Nähe. »Bloß nicht zu nahe, Zoe, und achten Sie auf Ihre Anzeigen.«

Die Gräber waren die am meisten verbreitete Wirbeltierspezies auf Isis. Sie waren auf den beiden größeren Kontinenten und etlichen Inselketten vertreten; die Siedlungen waren häufig so komplex, dass man sie aus dem Orbit erkennen konnte.

Sie errichteten Erdhügel und höhlten Kalkstein aus. Ihre Technik war primitiv: Flintklingen, Feuer und Speere. Ihre Sprache — wenn es denn eine war — war nicht minder primitiv. Sie schienen sich durch Vokalisieren zu verständigen, aber nicht oft und fast nie im Austausch — das heißt, sie signalisierten, aber sie unterhielten sich nicht.

Jedes gründlichere Studium der Gräber wurde durch die toxische Biosphäre des Planeten behindert; es war unmöglich, mit den Gräbern unmittelbar in Kontakt zu treten; auch Telesensorien und Roboter konnten nicht herausfinden, was in den tief durchtunnelten Erdhügeln passierte, in denen die Gräber einen Großteil des Tages verbrachten.

Als Zoe an den Baumwipfeln vorbeitauchte, brach eine Kakophonie von Vogelrufen über sie herein. Von den oberen Ästen baumelten Blüten, die wie riesige, blaue Orchideen aussahen, keine Blumen, sondern eine konkurrierende Spezies, ein saprophytischer Parasit, dessen Staubblatt wie ein pinkrosa Finger aus der Blüte ragte, besetzt mit abertausend kupferroten Pollen.

Sie ließ sich noch tiefer in ein von Schatten und Licht gesprenkeltes Reich sinken, wo sich farnähnliche Pflanzen aus feuchten Spalten zwischen Baumwurzeln entrollten. Nicht zu tief, warnte Hayes, denn von jedem Baumstumpf und aus jedem Loch konnte eine Sonnenechse oder ein Triraptor schnellen, um die Libelle zwischen den Zähnen zu zermalmen. Sie schwebte in dem großzügigen Schattenreich zwischen zwei riesigen Puzzlebäumen, die Flügel leise schwirrend, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gräberkolonie.

Die Kolonie war alt, wohl etabliert. Nach der letzten groben Zählung lebten hier nahezu hundertfünfzig Gräber. Es gab reichlich Wild, im Westen Obstbäume, und einen klaren Bach, der aus dem Hochgebirge kam und in der Regenzeit fast zum Fluss wurde. Im Westen lag auch eine Wiese aus einem buschigen, goldgelb blühenden Kraut, auf der die Gräber ihre Exkremente hinterließen und ihre Toten begruben. Die Kolonie an sich bestand aus einer Ansammlung von Hügeln aus Steinen und rotem Lehm, jeder Hügel mindestens fünfzig Meter im Durchmesser, überwachsen mit Buschwerk und Pilzgeflecht.

Die Öffnungen waren eng und dunkel, befestigt mit einem betonartigen Material, das aus Lehm oder Kreide, vermengt mit Urin, geknetet wurde.

Zwei Gräber hielten sich auf der Lichtung rings um die Erdhügel auf, kauerten über ihrer Arbeit wie ausgebleichte, weiße Rollasseln. Der eine Gräber unterhielt das Gemeinschaftsfeuer und nährte die Flammen mit Windbruch und getrockneten Blättern. Der andere schabte am Ende eines langen Steckens, eines Speers, und drehte die Spitze immer wieder über dem Feuer. Ihre Bewegungen waren sparsam. Zoe fragte sich, ob sie sich wohl langweilten. Der harte Boden war übersät von Flintsteinen und Faustkeilen.

»Schön sind sie gerade nicht«, sagte Hayes.

Sie hatte ganz vergessen, dass er neben ihr saß. Beim Klang der Stimme fuhr sie zusammen: zu nah, zu intim. Ihre Libelle schwankte ein bisschen.

Einer der Gräber sah kurz auf, schwarze huschende Augen. Er war mindestens fünfzehn Meter entfernt.

»Ich finde schon«, raunte Zoe (wieso raunte sie?).

»Dass sie schön sind, meine ich. Nicht auf abstrakte Weise. Wunderbar funktional, wunderbar zugeschnitten auf das, was sie tun.«

»So kann man es auch sehen.«

Sie zuckte die Achseln, wieder eine unnütze Geste. Die Gräber waren schön, basta. Ob Hayes das nun so oder anders sah.

Eine härtere, strengere Evolution hatte sie geformt. Einer der Gräber richtete sich auf, und Zoe gefiel die Vielseitigkeit, die Isis diesen Wesen mitgegeben hatte, die Vielseitigkeit eines lebendigen Schweizer Offiziersmessers. Aufrecht maß der Gräber anderthalb Meter. Der gewölbte graue Kopf ragte nach Schildkrötenart aus einem fleischigen Kragen. Die schwarzen hoch empfindlichen Augen drehten sich in Kugelfassungen. Die oberen Arme, die Grabarme mit ihren spatenförmigen Fingern, hingen schlaff von den Schultergelenken. Einer von den kleineren Armen packte mit seinen vielgliedrigen Daumen den neuen Speer. Die knorpeligen Bauchlamellen dehnten sich und zogen sich zusammen, wenn der Gräber sich bewegte; er schien für seine Größe zu flexibel, wie ein Riesentausendfüßer.

Der schnabelförmige Mund öffnete sich und entließ eine Reihe von gedämpften Schnalzern. Der Gefährte reagierte nicht. Selbstgespräche?

»Das ist der Alte«, klärte Hayes sie auf.

»Wie bitte?«

»Der mit dem Speer. Wir nennen ihn ›der Alte‹.«

»Die Gräber haben Namen bekommen?«

»Nur wenn sie leicht wiederzuerkennen sind. Der Alte wegen der Schnurrhaare. Lange, weiße Tastorgane. Via Telesensorium waren wir alle schon mal hier, die meisten mehr als einmal, und der Alte macht von Zeit zu Zeit einen Gegenbesuch.«

»Er kommt zur Station?« Wieso hatte das nicht in den Berichten gestanden? Degrandpres Informationspolitik vermutlich; zoologische Daten, die der Rentabilitätsstatistik geopfert wurden.

»Alle paar Tage, bei Einbruch der Dunkelheit, da drückt er sich an der Peripherie herum, späht uns aus. Starrt die Roboter an, die noch unterwegs sind.«

»Also sind sie neugierig auf uns.«

»Naja, der Alte jedenfalls. Vielleicht. Vielleicht liegen wir aber auch bloß zwischen ihm und seinen bevorzugten Fischgründen. Sie wollen doch nicht vom Verhalten eines einzelnen Exemplars auf die Population schließen.«

Zoe flog einen Zickzackkreis, um noch einmal die Aufmerksamkeit des Gräbers auf sich zu lenken. Augenblicklich drehten sich die Augen in ihre Richtung.

Das Gefühl, gesehen zu werden, war irgendwie erschreckend. Zoe schauderte in ihrem Stuhl an der Steuerkonsole.

»Apropos Einbruch der Dunkelheit«, sagte Hayes, »die nächtlichen Insektenfresser gehen auf die Jagd, sobald die Schatten lang werden. Wir sollten uns auf den Heimweg machen.«

Aber ich bin doch zu Hause, dachte Zoe.

Fünf

Man nannte Hayes den ›Mönch von Yambuku‹ — zum einen, weil kaum jemand so lange auf Isis gewesen war wie er, zum anderen, weil ihn seine Arbeit ununterbrochen in Schach hielt. Er erfüllte die Aufgaben des Managements gewissenhaft, fand aber, dass sie ihn von der eigentlichen Arbeit abhielten. Was er genoss, waren die seltenen Gelegenheiten, da er im Labor sein konnte, um sich voll und ganz der Mikroanatomie isischer Zellen zu widmen.

Was das Leben auf Isis erreicht hatte, hatte es mit der DNS erreicht. Wie das terrestrische Leben benutzten auch die isischen Organismen diese langen Molekülketten, um Erbinformationen zu speichern und zu verändern. Doch die DNS war ein chiffrierbares Molekül, ein leeres Buch, und in diese leeren Bücher hatten Erde und Isis ihre sehr verschiedenen Lebensläufe geschrieben.

Es gab keinen Hinweis auf ein umfassendes Massensterben auf Isis. Anfangs war es im isischen Sonnensystem so stürmisch zugegangen wie in der Umgebung jedes anderen jungen Sterns auch; einschlagende Kometen hatten Isis Wasser und organische Moleküle beschert. Und irgendein späteres Ereignis, vielleicht die simple Gegenwart eines Gasriesen im äußeren System, der doppelt so groß war wie Jupiter, hatte große Mengen Urgestein und Eis hinweggefegt, zumindest so weit nach draußen, wie der Eisring des isischen Systems entfernt war, der hiesige Kuiper-Gürtel. Das Leben hier war auf einer weit friedlicheren Welt entstanden als das irdische.

Das Leben auf Isis war ein längerer, tieferer Strom. Seine Geschichte war träge und entfaltete sich komplizierter, wurde nicht von Eiszeiten und Kometeneinschlägen dominiert, sondern von Wellen räuberischen und parasitären Verhaltens. Das isische Ökosystem war eine Art unabgeschlossene, bewaffnete Entspannungspolitik. Die Waffen waren schrecklich, die Verteidigung genial.

Was den Planeten vor allem zu einem gigantischen Arzneimittelreservoir machte. Ein Großteil der Unterhaltskosten für Yambuku wurde von terrestrischen Pharmakollektiven getragen, die zum Kartell gehörten. Und das war ein zusätzliches Problem. Alles, was aus Yambuku kam, musste vor den Buchprüfern des Kartells bestehen. Es blieb kein Raum für die reine Wissenschaft, was man die Kuiper-Leute deutlich spüren ließ. Hayes nahm an, dass ihn das Kartell ganz besonders mochte, weil er nicht wieder zur Erde gewechselt war und sofort eine ganze Reihe von Artikeln in unabhängigen akademischen Journalen veröffentlicht hatte. Und somit preisgab — wie das Kartell es sah —, wofür man bezahlt hatte.

Er beendete die Arbeit, die Mikroautopsie einer bakteriellen Entität, die auf den äußeren Dichtungen gewachsen war, speicherte die Resultate und säuberte die Glove-Box für die Nachmittagsschicht.

Er sah auf, als Elam das Labor betrat. Er wusste inzwischen ganz genau, wie ihre Schritte klangen. Die Yambuku-Belegschaft bestand aus sechzehn Leuten, die meisten hielten sich an die jährliche Rotation, wiewohl einige, hauptsächlich er und Elam Mather, die letzten fünf Jahre zum weitaus größten Teil in Yambuku verbracht hatten. Kuiperleute ertrugen die Enge solcher Stationen viel leichter als Terrestrier oder Marsleute, weshalb die meisten hier aus dem Kuiper-Gürtel kamen — auch wenn sie hier ausschließlich als Angestellte des Kartells arbeiteten.

»Frische Post von oben«, sagte Elam, ihren Palmtop in der Hand. »Willst du gleich oder später reinschauen?«

Er seufzte und überließ seine Glove-Box Tonya Cooper, einer assistierenden Mikrobiologin, die an einem Arbeitstisch stand und ungeduldig mit dem Fuß geklopft hatte.

»Ich denke, wir können das beim Lunch erledigen, oder?«

»Warum nicht.«


* * *

Elam nahm den Palmtop mit in die Kantine, ignorierte ihn aber, solange sie aßen. Die Nahrung in Yambuku bestand aus verschiedenen Sorten unattraktiver nahrhafter Nuggets, die aus den Nebenerträgen der IOS-Gärten zusammengestellt waren. »Komprimiertes Protein«, sagte Elam dazu, oder weniger freundlich: »Kompost.«

»Wir müssen eine weniger aktive Substanz für die Dichtungen finden«, sagte er.

»Ist das möglich?«

Er zuckte die Achseln. »Fragen wir die Ingenieure. Wir verbringen jedenfalls mehr Zeit mit Instandsetzungsarbeiten als mit Grundlagenforschung. Und gehen überflüssige Risiken ein.«

Riskieren unser Leben, dachte er. Yambuku kam ihm unheimlich still vor ohne die polternde Stimme von Mac.

Elam nahm den Palmtop und klappte ihn auf. Hayes rückte näher.

»Punkt Eins«, sagte sie. »Laut Tia und Kwame ist Zoes Anzug fertig für den Testspaziergang. Zoe kann es natürlich nicht erwarten. Was wir wollen, ist ein minutiös überwachter Spaziergang auf der Rodung, in Begleitung eines Partners in konventioneller Rüstung und mit einem massiven Aufgebot an Robotern.«

»Und Zoe will nach Belieben im Wald herumwandern.«

»Erraten.«

Er lächelte. »Ich kann ihr das ausreden. Und den Begleiter mache ich.«

»Ah-ah.« Elam bedachte ihn mit einem grüblerischen Blick.

»Was soll das heißen — ›ah-ah‹?«

»Was weißt du über unsere Zoe?«

»Das Wesentliche. Sie stammt aus dem Klonbestand der alten Genom-Kollektion und wurde aufgezogen von Devices & Personnel.«

»In deren Augen sie auch nur ein Gerät ist. Eins kommt zum anderen, Tam. Sieh es mal mit den Augen des Konzerns. Die linguistischen Nuancen der Gräber oder die Taxonomie der isischen Flora geht denen doch am Arsch vorbei. Zoe ist nicht deshalb hier.«

Er teilte nicht ihr Faible für terrestrische Politik. »Devices & Personnel flirtet mal wieder mit dem Kartell?«

»Da steckt mehr dahinter. Die beiden Fraktionen waren schon immer Rivalen, aber Devices & Personnel ist seit dem Jahrhundertwechsel auf dem absteigenden Ast. Ich vermute, man sieht in Isis eine Chance, der Bürokratie des Konzerns zuvorzukommen. Sollte Zoes neuer ›Ausgehanzug‹ sein Versprechen halten, wäre das eine Revolution — der menschlichen Präsenz auf Isis wäre praktisch keine Grenze mehr gesetzt.«

»Elam, wir haben nicht mal unsere Außendichtungen im Griff.«

»Und das ist der Punkt. Zoes Gerät ist nicht bloß eine neue Technik, es ist ein Dutzend neuer Techniken — hochwirksame osmotische Filter, spannungsresistente, polymere Membranen, die biologisch inaktiver sind als alles, was wir kennen… das ist schon fast ein Staatsstreich.«

»Halleluja.«

»Nein, ich meine das wörtlich. Seit zwei Jahrzehnten macht das Kartell Verluste mit Isis, und es wird und wird nicht besser. Wenn Devices & Personnel hier einsteigt und aus Isis über Nacht eine lohnende Sache macht, dann können sie den Kartellrat auf ihre Seite und die Hardliner zum Schweigen bringen.«

Hayes fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Erd-Politik, Elam. Was sollen wir damit?«

»Wenn das funktioniert, heißt das, wir bekommen eine ganz neue Garnitur von Kachos mit neuen Prioritäten. Das wär noch nicht das Schlimmste. Auf lange Sicht könnte das dauerhafte Besiedlung heißen. Es könnte bedeuten, dass Isis wegen seiner biologischen und genetischen Ressourcen im Handumdrehen zu einer gigantischen Hexenküche wird. Und es würde zu neunundneunzig Prozent bedeuten, dass die Kuiper-Leute sich zurückziehen.«

»Meinst du?«

»Naja, warum sind wir denn hier? Einmal, weil die Konzernleute an Devices & Personnel vorbei unseren wissenschaftlichen Verstand ausbeuten können. Zum anderen, weil wir es gewöhnt sind, in kleinen Gruppen und in abgekapselten Habitaten zu arbeiten. Sollte Devices & Personnel allerdings die Absicht haben, mit einer seiner Umwelt-Schnittstellen Isis für jedermann zu öffnen — und das ohne demütigende Liaison mit den Kuiper-Republiken —, dann wird ihnen das Kartell aus der Hand fressen. Und wir sind Schnee von gestern. Ganz zu schweigen von der Zukunft echter Wissenschaft auf diesem Planeten. Sie sind nicht interessiert, Wissen zu verbreiten, sie werden sich alles und jedes patentieren lassen. Und die Sterne ohne uns erobern.«

»Du gehst davon aus, dass Zoe eingeweiht ist?«

»Zoe ist ein Werkzeug. Sie hält das alles für ein exo-zoologisches Projekt. Aber sie gehört Devices & Personnel, und zwar mit Haut und Haaren. Lies die Akte noch mal — das Kleingedruckte. Sie wurde dekantiert und in einer erstklassigen D&P-Kinderkrippe aufgezogen. Bis zum Alter von zwölf. Dann wurde sie plötzlich zusammen mit vier Klongeschwistern in ein Teheraner Waisenheim gesteckt.«

»Viele werden so abgeschoben. Bürokratie.«

»Tja. Aber sieh dir das Datum an. August zweiunddreißig — das Kartell hat die Hälfte des Führungsstabs von D&P wegen Aufwiegelung festnehmen lassen. Ein Machtkampf. September zweiunddreißig werden Zoe und ihre Geschwister nach Teheran verschoben. Januar fünfunddreißig — wieder eine drastische Personalveränderung, diesmal in der oberen Kartelletage. Etliche Devices-&-Personnel-Kachoswerden wieder eingestellt, zurückgeholt aus den Reha-Farmen und zu Helden gestempelt. März fünfunddreißig holt D&P unsere Zoe aus dem Waisenheim.«

»Nur Zoe?«

»Die Geschwister haben nicht überlebt. Ein iranisches Waisenheim ist nicht gerade das Lunar Hilton. Zoe weiß nur, dass sie gerettet wurde. Sie haben sich ihre Loyalität erkauft, billig.«

»Billig für D&P. Für sie ging sicher ein Albtraum zu Ende.«

»Kann ich nicht beurteilen.«

Er nickte. »Ihre Sozialisation ist nicht gerade vom Besten.«

»Sie ist Opfer und Werkzeug, aufgewachsen mit Versprechungen und Theorien und Thymostaten und anderem Schund. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf. Lass die Dinge nicht zu nahe an dich ran.«

Ich lasse die Dinge nie zu nahe an mich ran, dachte Hayes. Welche Dinge? »Sie ist ziemlich fern der Heimat, Elam.«

»Nicht so fern, wie du denkst. Sie hat einen Betreuer, einen D&P-Kacho namens Avrion Theophilus. Er war ihr Trainer, ihr Lehrer und ihr Vaterersatz nach Teheran. Und nach diesem Terminplan hier wird er uns mit seinem Besuch beehren.«


* * *

Die Nacht brach herein, live zu sehen auf exakt elf Bildschirmen in der Yambuku-Station. Hayes hatte eine längere Sitzung mit Dieter Franklin. Der groß gewachsene Planetologe trank zu viel Kaffee und führte seine Lieblingstheorien über die mikrotubuläre Struktur isischer Mikrozellen spazieren. Interessant, aber nicht interessant genug, um Hayes noch nach Mitternacht wachzuhalten.

Die Station war nachts stiller. Komisch, dachte Hayes, alle folgten diesen circadianen Biorhythmen, obwohl die isische Stunde deutlich länger war als die irdische. Er machte seinen Rundgang durch die Korridore rings um den Kernbereich von Yambuku, das Ritual eines Verantwortlichen, dann ging er zu Bett.


* * *

Zoe beherrschte sich während des Anziehens, doch die fleckigen Wangen und blitzenden Augen verrieten Hayes, dass sie sich diesen Tag seit Jahren ausgemalt hatte.

Die Erinnerung an Mac Feya dämpfte seine Erregung. Zoes Anzug war unglaublich dünn. Elam hatte Recht: das war kein fortentwickelter Biopanzer, das war ein ganzer Hort von Innovationen… sorgsam bewacht vermutlich von den Gnomen bei Devices & Personnel. Und ja, wenn der Anzug funktionierte, würde das die menschliche Präsenz auf Isis revolutionieren.

Zoe war fertig und wartete, bis er sich in seinem unendlich viel klobigeren Biopanzer verbarrikadiert hatte. Sie bewegte sich vergleichsweise gelenkig und frei, sie trug nichts als eine halb transparente Membran, ein Beckenfutteral, um Ausscheidungen zu recyceln, ein Atemgerät vor dem Mund und ein Paar schwere Stiefel.

Elam Mather, die alles aus dem Zentrum des sterilen Kerns heraus beaufsichtigte, überprüfte ein letztes Mal die Telemetrie, dann gab sie grünes Licht. Inzwischen hatten sie drei Etappen halb verseuchter Außenringverkleidung hinter sich; jetzt glitt das letzte Hindernis, das übermannsgroße Stahlschott der Schleuse, beiseite und ließ das nackte Tageslicht herein.

Keinen Sonnenschein. Eine geschlossene Wolkendecke verbarg die Sonne und ließ den nahen Wald schattig und bedrohlich erscheinen. Zoe trat an Hayes in seiner massigen Rüstung vorbei auf die Rodung hinaus; sie wirkte unglaublich verwundbar. Sie sah in der Tat fast nackt aus. Der neuartige Anzug verlieh ihren Zügen ein rötliches Glühen, verbarg aber so gut wie nichts.

Arme und Schultern waren frei beweglich. Ihr Oberkörper wirkte geschmeidig, kleine, stramme Muskeln, die sich unter makelloser Haut bewegten, kompakte, feste Brüste. Anfangs bewegte sie sich noch tapsig, Stiefel und Beckenfutteral beschränkten die Schrittweite, doch sie bewegte sich mit der naiven Freude eines Fohlens.

»Langsam, Zoe«, warnte Hayes. »Das ist eine telemetrische Erprobung, kein Picknick.«

Sie kam zum Stehen, Hände vor, Kinn nach oben. »Tam, spüren Sie es?«

»Was soll ich spüren?«

Sie war regelrecht aus dem Häuschen. »Regen!«

Hayes hatte den feinen Sprühnebel nicht bemerkt, der aus dem Westen heranwehte. Regentropfen benetzten die trockene Rodung und rüttelten am Laub der Bäume. Tröpfchen begannen auf Zoes zweiter Haut zu perlen. Tautropfen. Wie Juwelen. Toxisch.

Hayes war noch nie auf der Erde gewesen. Die biotische Barriere war einfach zu hoch; er hätte unzählige Impfungen und Tests seiner Abwehrreaktionen über sich ergehen lassen müssen, ganz zu schweigen von der aufreibenden Ganzkörperdekontamination, bevor er in den Kuiper-Gürtel zurückgedurft hätte. Aber er war ein Mensch und eine Jahrmilliarde planetarer Evolution hatte sich in seinem Körper verewigt. Er verstand Zoes Freude. Warmer Regen auf menschlicher Haut: Wie fühlte sich das an? Nach ihrem hilflosen Grinsen zu urteilen, sicher nicht wie beim Duschen in der Nasszelle.

Sie drehte sich um und marschierte jählings auf den Waldrand zu, die Arme hängen lassend. Weinbäume schlangen lorbeergrüne Girlanden über ihrem Kopf. Im nassen Halbdunkel war sie kaum auszumachen. Hayes sah mit Bestürzung, wie sie sich bückte und einen signalorangenen Bovisten vom moosgepolsterten Waldboden pflückte. Der Pilz zog einen feinen Schleier aus Sporen hinter sich her.

Die Gefahr schrie zum Himmel. Eine einzige dieser Sporen reichte, um einen Menschen in wenigen Stunden zu töten. Rings um Zoes Kopf ein sich kräuselnder Sporenschleier und unter dem Atemgerät ein vergnügtes Kinderlachen.

So rasch, wie seine gepanzerte Montur es zuließ, holte er sie ein. »Zoe! Genug damit. Sie überlasten die Dekontaminierungskammer.«

»Es lebt«, staunte sie. »Das alles lebt! Ich kann es fühlen! Es ist so lebendig wie wir!«

»Worauf ich gesteigerten Wert lege, Zoe.«

Sie grinste und an ihren Füßen sammelte sich eine silbrige Regenpfütze.


* * *

Nachdem sie eine halbe Stunde an der Peripherie spazieren gegangen waren, konnte er Zoe schließlich zur Rückkehr überreden. Wieder drinnen, war Zoe bereits mit Duschen fertig, als Hayes sich noch aus seiner Montur kämpfte. Er sperrte sich mit ihr in die Quarantänezelle. Die Dekontaminierung war quälend gründlich und nichts deutete darauf hin, dass ihre Ausrüstungen nicht absolut perfekt funktioniert hatten, doch die Vorschriften in Yambuku sahen einen Tag Isolation vor, derweil Nanobakterien nach etwaigen Infektionen fahndeten.

Zwei Schlafstellen, ein Wandmonitor und ein Spender für Nahrung und Wasser: Quarantäne eben. Zoe streckte sich auf ein Feldbett — so ruhmreich sie im Freien gewesen war, war sie es zwischen diesen kahlen Wänden nicht mehr. Hayes verfasste einen kurzen schriftlichen Bericht für das IOS-Archiv, dann orderte er einen Kaffee.

Zoe blätterte in dem Halbjahresplan, dem Dokument, das Elam ihm schon gezeigt hatte. Hayes versuchte sich Zoe so vorzustellen, wie Elam sie beschrieben hatte, als Retortenbaby von D&P, das man für zwei Jahre in irgendeine barbarische Findelanstalt abgeschoben hatte, zusammen mit ihren Klongeschwistern, die alle nicht überlebt hatten.

Was er durchgemacht hatte, war nicht ganz so dramatisch gewesen, aber er wusste sehr wohl, was Exil und Einsamkeit bedeuteten. Hayes war ein Kind des Red Thorn-Clans, allesamt eingefleischte Republikaner des Kuiper-Gürtels. Red Thorn brachte eine Menge Wissenschaftler hervor, doch er, Hayes, war der Einzige, der am Isis-Projekt beteiligt war — einer von den ganz wenigen Red Thorns, die überhaupt an einem vom Kartell gesponserten Unterfangen teilnahmen. Viele Red Thorns waren in der Sukzession umgekommen und die Meinung des Clans über das Kartell entsprach im Großen und Ganzen der einer Wachtel über die Schlange, die ihre Eier verschlingt.

Als Hayes den Isis-Vertrag unterschrieb, war er von Clan und Familie verstoßen worden. Er war schon damals den Red Thorn-Extremismus leid gewesen und hätte sich wenig aus der Exkommunikation gemacht, wenn er sich nicht auch von seiner Mutter hätte trennen müssen — sie war eine gebürtige Ice Walker, verheiratet mit seinem Vater nach einem Kuiper-Potlach[13] anno ’26. Ice Walkers waren dem Kartell nicht minder feindlich gesinnt, schätzten aber nichts höher ein als die Familie. Als seine Mutter ihm beim Abschied den Rücken gekehrt hatte, da hatte sie vor Scham gebebt. Er erinnerte sich noch an das korallenblaue Trägerkleid, das sie getragen hatte, wahrscheinlich das nüchternste von all ihren farbenfrohen Kostümen. Damals hatte er geahnt, dass er sie nie wiedersehen würde.

Nach dieser demütigenden Operette war ihm die Unterzeichnung des Familien-Treueschwurs so erniedrigend vorgekommen, als hätte er durch Kot waten müssen.

Doch es führte kein anderer Weg nach Isis.

Um wie viel schlimmer war es Zoe ergangen, aufgezogen als Maschine und mit Füßen getreten, als D&P in Ungnade fiel. Auch sie hatten einen Treueschwur getan, dachte Hayes, doch der war mit Blut geschrieben.

Sie wendete die letzte Seite des Terminplans. Hayes sah, wie ihr Mund schmal wurde. »Schlechte Nachricht?«

Sie sah auf. »Was? Oh — nein! Überhaupt nicht. Gute Nachricht! Theo kommt.«

Avrion Theophilus. Ihr Lehrer, dachte Hayes. Ihr Vater. Ihr Betreuer.

Sechs

Für einen kürzlich noch erdorientierten Ozeanologen wie Freeman Li war der isische Meeresboden eine immer neue Mischung aus Vertrautem und Bizarrem.

Hier, wie vielleicht auf allen Planeten, die höheres Leben hervorgebracht hatten, gab es Kissenlava und aktive Vulkanschlote — ›Schwarze Raucher‹, die das Wasser erhitzten und Blüten aus exotischen Mineralien trieben. Das grelle Licht seines benthalen[14] Telesensoriums erfasste den dicken, bunt schillernden Teppich aus bakteriellem Filz, lauter hitzeresistente Einzeller in abertausend Variationen, die fast so alt waren wie Isis selbst. Und auch das war ihm vertraut. Vor Jahren hatte er Derartiges im tiefen Pazifik gesehen.

Abgesehen von diesen Wahrzeichen war ihm der isische Ozean atemberaubend fremd. Pflanzen mit hohem Kalkgehalt erhoben sich zu Türmen und Obelisken und moscheeähnlichen Strukturen. Dazwischen schwammen oder bewegten sich Lebensformen mit und ohne Wirbel, manche groß, die meisten aber sehr klein, silberglänzend oder von pastellfarbener Blässe unter der ungewohnten Helligkeit.

So interessant diese Geschöpfe sein mochten, es waren die einfachen Einzeller, auf die Li es abgesehen hatte. In diesen ältesten Zellen isischen Lebens mochte der Schlüssel zu den großen Fragen liegen: Wie hatte sich das Leben auf Isis entwickelt, und warum hatte es in seiner äonenwährenden Entfaltung nichts hervorgebracht, das man verlässlich als ›intelligent‹ hätte bezeichnen können?

Dahinter lauerte die größere Frage — die Frage, die Li schon so oft mit Dieter Franklin, dem Planetologen von Yambuku, diskutiert hatte, eine so zentrale und so bestürzende Frage, dass sie sich einer Beantwortung zu entziehen schien: Sind wir allein?

Leben war nichts Ungewöhnliches im Universum. Isis war ein Beleg dafür, genau wie das runde Dutzend biologisch aktiver Welten, die man durch Planeteninterferometrie entdeckt hatte. Leben war, wenn nicht unvermeidlich, so doch etwas relativ Alltägliches in der Galaxis.

Doch trotz aller groß angelegten Lauschangriffe der Menschheit hatte es noch kein ›intelligentes‹ Signal, keinen Beweis für nichtmenschliche Raumfahrt, keinen Anhaltspunkt für eine Sternenweite Zivilisation gegeben. Wir expandieren in eine Leere hinaus, dachte Li. Wir rufen, aber niemand antwortet.

Wir sind einzigartig.

Er verstaute seine Fracht an bakteriellen Schabsein im Bauch des Telesensoriums und machte sich an den Aufstieg. Er hatte viel um die Ohren. Er war leitender Manager der maritimen Station und dieser Ausflug via Telepräsenz war ein Vergnügen gewesen, das er sich eigentlich nicht leisten konnte. Berichte mussten archiviert, Beschwerden gehört werden. Der ganze öde Kleinkram eines Großprojekts, der wie ein Befall mit Entenmuscheln immer und immer wieder nachwuchs…

Das Telesensorium stieg wie eine Stahlblase nach oben. Er sah zu, wie der Meeresboden nach unten sackte, spürte selbst aber keine Bewegung, nur die Rückenlehne und sein steifes Rückgrat. Telepräsenz nahm ihn derart in Anspruch, dass er fast vergaß, sich auf seinem Stuhl zu rühren; er litt an chronischen Lendenschmerzen und solche Exkursionen schienen sie noch zu verstärken.

Er hatte jetzt eine Höhe erreicht, wo das Tageslicht sichtbar wurde, das Wasser ringsum färbte sich indigoblau, dann abendblau, dann sturmgrün. Die schwimmende Meeresstation war in Sicht, eine ferne Kette aus Kapseln und Ankern — eine Perlenkette, die dem Meer aus der Hand baumelte. Da brach der Alarm los.


* * *

Li gab die Telekontrollen an seinen Assistenten Kay Feinn ab und überflog den Lagebericht, der auf dem Hauptschirm des Kontrollraums blinkte, dann erst klappte er seinen eigenen rasch blinkenden Palmtop auf.

Allgemeine Betriebsunterbrechung, Hauptschotts dicht, Kontamination in Kapsel Sechs. Die allerunterste Laboreinheit der Meeresstation war verseucht. Es brauchte noch einmal zehn Minuten, bis er von der Technik bestätigt bekam, dass die Kapsel anscheinend verseucht war und die beiden Männer im Innern auf wiederholtes Anrufen nicht reagierten. Auch die Telemetrie aus der fraglichen Kapsel war ausgefallen; die Kapsel war verschlossen und schwieg. Besonders das Versagen der Elektronik stieß auf Unverständnis. Angesichts verriegelter Schotts und mangels Input war sich die Technik nicht sicher, was als Nächstes zu tun war.

Li wusste es: Er ließ den Shuttle für alle Fälle auf Not-Evakuierung umrüsten. Er befahl der Kommunikation, die IOS zu alarmieren und Rat einzuholen. Er war dabei, eine persönliche Verbindung mit Kenyon Degrandpre aufzubauen, als Kay, der noch immer das Kopfgeschirr trug, sagte: »Ich finde, Sie sollten sich das mal ansehen.«

»Schlechter Zeitpunkt.« Natürlich.

»Ich bin unten bei Kapsel Sechs«, sagte Kay. »Da.«

Li löschte die Verbindung und kletterte wieder in den Telepräsenzstuhl.


* * *

Kapsel Sechs war in katastrophalem Zustand — so viel verriet die Alarmsequenz —, doch Li sah keinerlei physische Schäden, jedenfalls nicht aus der Perspektive des Unterwassersensoriums.

Der Lichtfächer kämmte über die externe Sensorik von Kapsel Sechs. Nichts. Li bekam Besuch. Das Licht hatte einen Schwarm von riesigen, durchscheinenden Wesen angelockt — seine Mitarbeiter nannten sie ›Kirchenglocken‹. Harmlose Wirbellose, die unbekümmert durch die äquatorialen Gewässer zogen und nach Organellen fischten. Ein Schwarm von Kirchenglocken konnte wohl kaum ein ganzes Laboratorium lahm legen.

»Kay, was sollte ich mir ansehen?«

Die beiden in der Kapsel Eingesperrten waren Kyle Singh, ein Mikrobiologe aus dem Kuiper-Gürtel, und Roe Devereaux, ein terrestrischer Meeresbiologe. Selbst wenn sie die anfängliche Bioattacke überlebt hatten, was immer sie da attackiert hatte, so konnten sie den Stromausfall unmöglich überleben. Kapsel Sechs stand selbst für äquatoriale Gewässer so tief, dass sie rasch auskühlen würde. Und die Lufterneuerer, durch die Alarmsequenz auf höchste Entgiftungsstufe geschaltet, mussten längst überfordert sein.

Die Männer, dachte Freeman, waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben. Kapsel Sechs beherbergte alkaloides Tiefseeinventar. Viele tödliche Organismen gab es da unten, und sollte irgendetwas aus den Glove-Boxen entwischt und in die Luftversorgung gelangt sein, hatte das für Devereaux und Singh einen schnellen Tod bedeutet. Unterhalb von Sechs gab es nur noch die Ankerleine und die blinde Meerestiefe. Das Wasser hier glühte wie türkisfarbene Tinte und kreiste in einer Thermopause zwischen dem Habitat der druckverwöhnten Kirchenglocken und der wimmelnden Phytochemie der seichten Oberfläche. Planktonähnliche Einzeller und schneeflockengroße Bakterienkolonien rieselten aus dem Oberflächenwasser, ein Blizzard, der das biologisch reiche Benthal fütterte.

Die Kapsel schien intakt zu sein, aber sie war völlig dunkel. Devereaux hatte sich über eine Algenhaut beschwert, die Fenster und externe Sensorik trüben sollte. Freeman konnte nichts dergleichen bestätigen.

»Das Fenster rechts«, sagte Kay ungerührt. »Mir war, als hätte ich eine Art Entgasung gesehen, an einer Dichtung. Vielleicht sollten wir einen Ingenieur dazuholen.«

Freeman ließ den Lichtfächer des Sensoriums über eine bullaugenähnliche Glaswölbung tasten.

Da. Bewegung. Im Lampenlicht eine aufsteigende Perlschnur. Blasen. Luft.

Freemans Magen zog sich zusammen; ein Anflug von Panik. Das war weder ein Überdruckventil noch ein Ballastausgleich. Kay hatte Recht. Das war ein Leck.

Er gab Kay das Kopfgeschirr zurück, rief die Leitstelle und befahl dem Krisenmanager, seine Leute an den Entkopplern zu postieren. »Und halten Sie das Ballast-Kommando in Bereitschaft für den Fall, dass wir destabilisieren.« Eine geborstene Kapsel Sechs musste abgetrennt werden oder würde die anderen fünf mit in die Tiefe ziehen. Das war ein Worst-Case-Szenarium: geborstene Kapsel abwerfen; hoffen, dass die Rohrschotts dicht blieben, und versuchen, die ganze Kette daran zu hindern, wie ein Pendel zu schwingen.

Er ließ sich das Kopfgeschirr wieder geben und fuhr das Telesensorium aus dem Gefahrenbereich der defekten Kapsel. Der Lichtfächer schnitt durch eine zweite Perlschnur aus Luftblasen. Noch ein Leck. Mein Gott, das Labor war ein regelrechtes Sieb!

Im nächsten Moment implodierte die Kapsel — völlig lautlos. Bimetallnähte spritzten Schaumfontänen, bogen sich einwärts, stählerne Halbkugeln zerfetzten zu ausgefransten Kelchblättern. Es gab kein Geräusch — weil das Sensorium keine Mikrophone hatte — aber die Schockwelle musste gewaltig sein. Freemans Gesichtsfeld tanzte einen Veitstanz; kaum dass es sich beruhigt hatte, kam ein Beben aus der Kapselkette und rüttelte am Boden unter seinen Füßen.

Er befahl die Nottrennung und verfolgte die Maßnahme. Sprengladungen trennten die Kapsel vom Rest der Station. Trümmerstücke — Polyesterkissen, Glove-Box-Gitter, Konglomerate aus Kleidung, in denen Körper gesteckt haben mochten oder nicht — das und mehr löste sich aus dem Metallknäuel und floh an die Oberfläche. Die formlose Masse der Kapsel sank einfach, gefangen in ihren eigenen Ankerketten, als hätte eine riesige Faust hinaufgelangt, um sie zu holen.

Kirchenglocken, schwach schillernd, schossen durchs aufgewühlte Wasser und flohen in die Tiefe.


* * *

Als Kenyon Degrandpre von dem Unglück erfuhr, orderte er unverzüglich einen Transitroboter und ließ sich zur Leitstelle bringen. Er fürchtete sich vor den Einzelheiten, die dort auf ihn warteten, aber er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Tue, was getan werden muss; heb dir die Konsequenzen für später auf.

In der Leitstelle drängten sich die Juniormanager und konkurrierten um die Plätze an den Konsolen. Er schickte alle fort, die keine Befehlsgewalt hatten, mit Ausnahme der Ingenieure, und befahl der Nachrichten-Crew, bis auf Weiteres auf dem Posten zu bleiben. Besser, jemand bettelte um eine Pinkelpause, als dass er einem im Weg stand. Er umgab sich mit vier untergeordneten Mitarbeitern und verbannte alles vom Hauptbildschirm bis auf den Verkehr mit dem maritimen Außenposten.

Da unten schien aber niemand Zeit zu haben. Nur die normalen Telemetriekanäle waren aktiv. Sie sprachen Bände. Die tiefste Abteilung der unterseeischen Kapselkette war implodiert, und das nur Minuten nach einem Kontaminationsalarm. Offenbar hingen die beiden Ereignisse zusammen, aber wie? Ohne die zerstörte Kapsel war es schwer, Antworten zu finden. Nicht, dass jemand unbedingt Antworten gesucht hätte; nach dem Absprengen des zerstörten Labors hatte der Außenposten alle Hände voll zu tun, seine Stabilität wiederherzustellen. Degrandpre fragte sich, ob diese radikale Maßnahme wirklich nötig gewesen war oder ob Freeman Li etwas zu vertuschen hatte. Nein, es sei einwandfrei ein Akt der Selbsterhaltung gewesen, versicherten ihm die Ingenieure. Trotzdem…

Aber die wichtigste Frage war jetzt, ob die Kontamination auf Kapsel Sechs beschränkt geblieben war.

Degrandpre bestellte Kaffee, und zwar für alle, die in der Leitstelle waren, dann wartete er mit unverhohlener Nervosität darauf, dass Li — immerhin ein Terrestrier -Zeit fand für eine Direktschaltung.

Wenn er warten musste, fühlte er sich ohnmächtig. Egal ob und wann Li sich melden würde, der Vorfall würde seine Vorgesetzten auf der Erde wütend machen. Er würde den Familien berichten müssen — was nur in Extremfällen vorgeschrieben war — und jede Verantwortung übernehmen müssen, der er nicht geschickt ausweichen konnte. Und bis dahin…

Bis dahin konnte er nur beten, dass der Schaden begrenzt blieb.

Ein Juniormanager brachte ihm Kaffee. Der Kaffee war synthetisch und schmeckte nach Asche mit Brunnenwasser. Er hatte zwei Tassen leer getrunken, als Li endlich auf dem Schirm erschien, mit derangierter Konzernuniform und schweißnassen Achseln. Lis Haut war klassisch dunkel, während die von Degrandpre klassisch hell war; beide Männer hätten auf der Erde als einigermaßen gut aussehend gegolten, allerdings nicht in den Kuiper-Siedlungen, wo man als Hautfarbe eine Art Muwallad-Braun[15] favorisierte.

Li sagte ohne Umschweife: »Ich wünsche die volle Evakuierung der Meeresstation.«

Degrandpre blinzelte. »Sie wissen, Sie haben nicht die Autorität…«

»Manager, es tut mir Leid, aber jede Minute zählt. Was auch immer Kapsel Sechs zerstört hat, es hat erst die Männer befallen, dann die Elektrik und dann die Struktur der Kapsel — und das alles in weniger als einer Stunde. Ich möchte nicht noch mehr Leute verlieren.«

»Unsere Telemetrie sagt, das Problem blieb bei Kapsel Sechs. Wenn Sie irgendeinen Beweis für das Gegenteil haben, würde ich ihn gerne kennen lernen.«

»Mit allem Respekt, beweisen kann ich überhaupt nichts! Fest steht, dass eins von meinen Laboratorien am Meeresgrund liegt und zwei von meinen Leuten tot sind. Zur fraglichen Zeit befand sich bakterielle Plaque in ihrer Glove-Box. Ich habe keine Ahnung, ob das mit dem Problem zu tun hat oder nicht, aber wir haben ähnliche Organismen in fast jeder Glove-Box. Wenn die Gefahr von dieser Plaque…«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Eben, und genau deshalb…«

»Sie schlagen also vor, wegen eines Unfalls und Ihrer Vermutung eine ungeheuer kostbare Ressource aufzugeben?«

»Wir können die Station jederzeit wieder in Betrieb nehmen.«

»Mit einem enormen Aufwand an Ressourcen und Arbeitsstunden.«

»Manager… wollen Sie wirklich dieses Risiko eingehen?«

Der Mistkerl versucht den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Degrandpre hörte ihn schon vor der Untersuchungskommission aussagen: Obwohl ich mit unmissverständlichen Worten um eine Evakuierung ersucht habe…

»Geben Sie mir jede abgesicherte Information, die sie zufällig haben, Dr. Li, und wir werden sie berücksichtigen.«

Li biss sich auf die Lippe, hütete sich aber zu insistieren. »Wenn Sie sich unsere Telemetrie ansehen, wissen Sie genauso viel wie ich. Heute Morgen ereignete sich irgendetwas Schlimmes in der Kapsel. Kein Lebenszeichen von der Crew, nur die Alarmsirene. Ich ließ die Schotts dichtmachen. Kurz darauf fielen aus ungeklärten Gründen die Lebenserhaltungssysteme und die gesamte Elektrik der Kapsel aus. Eine Stunde später verlor die Hülle ihre Stabilität und gab dem Außendruck nach. Mehr wissen wir nicht.«

»Konnten Sie irgendwelche Wrackteile bergen?«

»Wir haben weder die Roboter noch die Tauchermonturen, um Wrackteile zu bergen.«

»Verstehe. Sie lassen den Shuttle für die Evakuierung vorbereiten, warten aber auf meine Order. Inzwischen versuchen Sie, irgendetwas Beweiskräftiges zu finden, das zufällig an der Oberfläche treibt. Alles bleibt unter Quarantäne, bis auf die Archivproben für die Glove-Boxen.«

»Nehmen Sie zu Protokoll, dass ich dringend dazu rate, die Station auf der Stelle zu evakuieren und alle Nachforschungen ferngesteuert durchzuführen.«

»Verstanden. Danke für Ihre Meinung. Und tun Sie bitte, was ich sage.«

Er überließ die Verbindung einem Untergebenen.


* * *

Nachdem der Vorfall aktenkundig und alles Notwendige veranlasst war — und in Ermangelung eines weiteren Alarms —, ließ Degrandpre sich von seinem Assistenten vertreten und gab Anweisung, ihn zu rufen, falls die Lage sich verschlechtere.

Die Uhr sagte, dass er seit nahezu vier Stunden nichts mehr gegessen hatte — der Grund, warum auch alle anderen in der Leitstelle nichts gegessen hatten. Er veranlasste einen Schichtwechsel und ließ jedem, der noch Dienst tat, eine Mahlzeit bringen, von Robotern, versteht sich.

Dann ging er in die Robotkantine, wo er Corbus Nefford antraf, der versonnen dasaß und geschmorte Paprikaschoten auf Basmati-Reis verspeiste. Die Gärten gaben ein paar Gewürze her und die IOS biosynthetisierte noch ein paar dazu, doch Neffords Teller roch auffallend nach frischem Knoblauch und Basilikum.

Der Arzt betrachtete ihn mit unverhohlenem Vergnügen. »Sie leisten mir Gesellschaft, Manager?«

Müde, wie er war, ließ Degrandpre sich auf einem freien Stuhl gegenüber Nefford nieder. »Ich nehme an, Sie haben davon gehört.«

»Von dem Zwischenfall in der Meeresstation? Ein bisschen.«

»Weil ich nämlich nicht darüber reden möchte.«

»Die Sache ist ausgestanden?«

»Ja.« War das Wunschdenken? »Die Sache ist ausgestanden.«

»Zwei Tote?«

»Scheint, als wären sie genauso gut informiert wie ich. Nun reden Sie von was anderem, Corbus, oder Sie halten den Mund und lassen mich essen.« Der Robotkellner wartete. Degrandpre war hungrig, verlangte aber etwas Leichtes — einen Salat mit Proteinstreifen.

Der Zurechtgewiesene schwieg kurz, ehe ihm ein neues Thema einfiel: »Es gibt frische Turing-Generatoren von der Erde, wie man hört.«

»Wenn wir Sie nicht hätten, Corbus. Wusste gar nicht, dass Sie auch an technischen Prozessen interessiert sind.«

»Nur, soweit sie meine Zukunft beeinflussen, Manager. Vielleicht noch die Ihre.«

»Neue Turing-Generatoren? Ich kann mich nicht erinnern, einer Umstellung zugestimmt zu haben… oder handelt es sich um die Algorithmen vom nächsten Jahr?«

»Nagelneue Generatoren, wie es scheint, laut Technik mit Dringlichkeitsstufe Eins markiert.«

»Wir haben alle Hände voll zu tun, um die Wartungsprogramme einzuhalten. Wir werden unsere Quoten anpassen müssen, es sei denn, das ist eine Festschreibung.«

»Wenn es nach Devices & Personnel geht, dann sollen unsere Turing-Fabriken Teile für ein Planeteninterferometer herstellen.«

»Unfug. Die haben diese Idee vor Jahren in die Welt gesetzt. Naja, irgendwann wird, muss es dazu kommen… Vermessen der lokalen Sterne, vielleicht sogar Higgs-Transfers von hier nach Irgendwo… aber nicht in absehbarer Zukunft.« Ein isisches Interferometer wäre in der Lage, Welten abzubilden, die ein terrestrisches gar nicht entdecken könnte. Aber das alles war Theorie und das würde wahrscheinlich noch lange so bleiben. Weder das Kartell noch die Familien hatten eine rasche galaktische Expansion im Sinn. Die einzigen Stimmen, die einer Beschleunigung das Wort redeten — mit allen fiskalischen Opfern, die damit verbunden waren — gehörten Dissidenten bei Devices & Personnel.

Es sei denn…

Devices & Personnel waren inzwischen so mächtig, dass sie neue Turing-Generatoren verlangen konnten. Würde der Konzern, würde das Kartell wirklich die Hände in den Schoß legen und dabei zusehen?

Er war zu lange nicht mehr auf der Erde gewesen, um das beurteilen zu können.

»Manager?«

Nefford sabberte fast, so sehr wartete er auf eine Reaktion. Degrandpre wollte ihm den Gefallen nicht hin. »Tut mir Leid, Corbus. Ich musste gerade an etwas anderes denken.«

Die Miene des Arztes entgleiste.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Degrandpre und stand auf.

»Und was ist mit Ihrem Salat, Manager?«

»Soll mir aufs Quartier gebracht werden.«


* * *

Acht Stunden später war noch keine neue Entwicklung eingetreten. Sogar Freeman Li war ruhiger geworden und verlangte keine sofortige Evakuierung mehr, drängte aber auf einen ›Plan für alle Fälle‹ — was durchaus vernünftig war. Degrandpre war einverstanden, die Shuttles startbereit zu halten, befahl eine umgehende Untersuchung und ordnete die Kuiper-Frau Elam Mather von Yambuku zum maritimen Außenposten ab, um den Prozess zu beaufsichtigen. Auf ihre Art war sie eine kompetente Kraft und brachte als Pionier-Wissenschaftlerin alles mit, was man zur Überwachung vor allem der Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen brauchte.

Nach einer ausgedehnten Sitzung, in der er die Abteilungsleiter instruiert hatte, kehrte er in seine Kabine zurück, um einen ganzen Stapel Post von der Erde durchzusehen. Und, ja, Corbus Nefford hatte Recht; da war eine Anweisung, die weitreichende, neue Protokolle für die Turing-Fabriken aufführte und wertvolles Rohmaterial für das Projekt eines gewaltigen Falschfarbeninterferometers abzweigte. Devices & Personnel wollte noch vor Ablauf der Dekade die Inbetriebnahme eines Planetenabbilders und dazu eine ganze Armada von Sekundärsonden, um kleine Asteroiden und Kuiper-Objekte zu identifizieren, die sich eventuell als Higgs-Katapulte eignen könnten. Irrsinn! Doch das Kartell spielte mit und Degrandpre waren die Hände gebunden; der Verlust des Unterwasserlabors verunzierte bereits seine Personalakte.

Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er Freude an diesem Machtpoker gehabt. Da hatte er sich solchen Dingen noch gewachsen gefühlt. Doch die Kräfte, die hier am Werk zu sein schienen, waren gewaltig, unpersönlich, hegelianisch. Er würde zerquetscht werden oder nicht; er war nicht Herr der Lage.

Es sei denn…

Verschüttet in dem Stapel von Kommunikees fand sich eine gesicherte Order, die besagte, dass mit Zoe Fishers Außenarbeit ›so schnell wie irgend möglich‹ zu beginnen sei. Er hielt diese Order erst für einen Zusatz von Devices & Personnel, doch dem war nicht so; die Order trug das Konzernsiegel. Er war verblüfft: Den Außenaufenthalt der Fisher zu überstürzen, konnte allzu leicht ein weiteres Opfer fordern, was seine Personalakte noch mehr verunzieren…

… und den Radikalen von Devices & Personnel einen tüchtigen Dämpfer aufsetzen würde? War das die Absicht des Konzerns?

Das war allerdings heikel. Die Order nahm sich harmlos aus. Das Merkwürdige daran war nur, dass sie ein Projekt von Devices & Personnel betraf, aber nicht das D&P-Imprimatur trug. Von Bedeutung oder nicht?

Eins stand fest. Die Fisher war von Bedeutung, und zwar nicht zu knapp und für allerhand Leute. Sie war, wie sein Vater zu sagen pflegte, eine Türangel, die ein großes Gewicht trug. An ihr würde er nicht vorbeikommen, ob sie nun lebte oder nicht überlebte.

Sieben

Als Zoe hörte, was passiert war, eilte sie sofort zum Gemeinschaftsraum. Der größte Teil der Yambuku-Belegschaft war dort schon versammelt — viele grimmig zusammengedrängt, derweil der Hauptplasmabildschirm bruchstückhafte Telemetrie aus dem maritimen Außenposten zeigte. Sie war früh zu Bett gegangen und hatte geschlafen, als die ersten Meldungen einliefen; als der Bereitschaftsalarm jaulte, waren Singh und Devereaux längst tot gewesen, ihr Labor zermalmt und verschlungen von der äquatorialen See.

Isis hat sie getötet, würde Hayes sagen… während es Zoe gegen den Strich ging, ein Unglück so zu deuten. Nicht Isis war der Feind. Nein und abermals nein. Der Feind hieß Leichtsinn oder Unwissenheit oder Unberechenbarkeit.

Singh und Devereaux hatten in ihrer Orientierungsphase eine Zeit lang in Yambuku gearbeitet. Die meisten hier kannten sie. Mit Ausnahme der verschwiegenen IOS-Techniker und der höherrangigen Kachos kannte im Einzugsbereich von Isis jeder jeden, und das galt in ganz besonderem Maße für die Crews der Bodenstationen. Yambuku trauerte um Singh und Devereaux, wie die Meereslaboratorien um Macabie Feya getrauert hatten.

Drei Todesfälle seit ich hier bin, dachte Zoe. Wir sind Soldaten im Krieg. Wir sehen einander sterben.

Tonya Cooper suchte Trost an der Schulter von Em Vya, einem Junior-Phytochemiker. Beide weinten still. Zoe musste selbst schlucken; sie hatte die beiden Männer zwar nicht gekannt, aber es musste schrecklich sein, vom brutalen Gewicht des Ozeans erdrückt zu werden. Sie waren — wie Macabie Feya — in die namenlose Unermesslichkeit von Isis eingegangen.

Tam Hayes stand schweigend in der Ostecke des Raums, gleich neben dem großen physikalischen Globus von Isis. Der Globus sei eines von Mac Feyas Freizeitprojekten gewesen, hatte Elam gesagt. Ein Kunstwerk aus Yambukus Überschuss — handgeblasen aus Silikaschmelze, die Details den Messtischblättern aus dem IOS-Archiv entnommen und von einem Montageroboter in die Oberfläche gefräst. Der Globus war eisblau und frostgrau, leicht lichtdurchlässig. Zoe sah, wie Hayes die Silikablase drehte, um die Laborinsel zu lokalisieren, ein unendlich winziger Fleck im glasigen Türkis der äquatorialen Südsee. Sie gesellte sich zum ihm und verfolgte mit den Augen, wie sein Finger eine bedeutungslose Linie bis zu einer Kette aus vulkanischen Inseln zog, einem Anhängsel des Großen Westkontinents, das aussah wie ein gekrümmter Finger, gut fünftausend Kilometer von hier. Zoe war es, als könne sie seine Gedanken lesen: noch mehr Tote in dieser ganzen fremden blauen Unermesslichkeit…

Sie legte ihm die Hand auf den Arm.

Eine impulsive Geste, die sie zuerst nicht wahrhaben wollte. Der Schock entfaltete sich in Zeitlupe. Hayes schien keine Notiz zu nehmen, sah allerdings auf, als sie ihre Hand wegzog.

Sein Hemdsärmel hatte sich warm angefühlt, so warm wie seine Hand.

»Wir verlieren«, sagte er. »Mein Gott, Zoe. Gigadollars, um uns herzubringen, uns bei der Stange zu halten, und wir verlieren gegen den Planeten.« Zu allem Überfluss erwiderte er die Berührung, legte ihr die Hand auf die Schulter, und Zoe nahm mehrere Dinge gleichzeitig wahr: seinen Geruch, das Stimmengemurmel im Raum und das mitternächtliche Getuschel der Homöostaten. Von außen gesehen war Yambuku jetzt eine Blase aus gelbem Licht in einer mondlosen Finsternis, in der sich das Labyrinth des Waldes bis ins Gebirge erstreckte, bis ans Meer. »Das ist kein Zufall mehr. Vielleicht hat Dieter Recht mit seiner Paranoia. Der Planet pellt uns aus unseren Gehäusen, knackt uns regelrecht auf. Es fehlt nicht mehr viel und man bläst die ganze Sache ab und steigt um auf Roboter…«

»Es war ein Unglück«, brachte Zoe heraus. Idiotisch, dachte sie.

»Das ist dem Kartell egal. Und den Familien auch.«

Aber mir nicht, dachte Zoe. Und ihm auch nicht, auch wenn er das nicht offen zugibt.

Elam Mather durchquerte den Raum — sie steckte in einem zerknitterten Schlafanzug, die Augen voller Sorge, in der Hand einen aktiven Palmtop. »Neuigkeiten von oben«, sagte sie.

Hayes sah sie erwartungsvoll an.

»Ich soll hinfliegen«, erklärte Elam. »Zur Laborinsel. Ich soll herausfinden, was passiert ist.«


* * *

Als deutlich wurde, dass sich die Lage stabilisiert hatte, begann sich der Gemeinschaftsraum zu leeren. Zoe, hellwach und voller Koffein, setzte sich an einen Konferenztisch, der im fahlen Schein der aktiven Wandschirme schwamm.

Jon Jiang, der Nachtschicht-Ingenieur, verabschiedete sich mit einem traurigen Nicken. Jetzt war sie allein. Als sie den großen Schirm an der Westwand aus dem alphanumerischen Standby-Modus auf eine Außenkamera umschaltete, kam sie sich fast wie ein Dieb vor.

Kühl war es diese Nacht, sagte die kriechende Statuszeile am oberen Bildschirmrand. Einundzwanzig Grad Celsius, Wind aus Westnordwest mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fünf Stundenkilometern. Sterne, die wie Granatsplitter glitzerten, ein Zirrusschleier trübte den Himmel.

Ihr war seltsam zumute. Wie, hätte sie nicht sagen können.

So ähnlich war ihr vor Jahren zumute gewesen, als Theo gekommen war, um sie aus den kahlen Korridoren und grässlichen Steinkammern des Teheraner Findelheims zu befreien. Diese widersprüchliche Mischung aus Gefühlen: Angst vor der Zukunft, Angst vor dem großen Fremden in seiner schneidigen schwarzen Uniform, und zugleich eine nervöse Hochstimmung, eine süße Ahnung von Freiheit.

Ihre Erinnerungen an Teheran waren ›geglättet‹ worden — so der medizinische Ausdruck — bis die Konturen verwischt und die Schrecken gelöscht waren. Sie wusste nur, dass die Aufseher ihre Schwestern regelmäßig vergewaltigt und schließlich hatten verhungern lassen, und dass man sie, Zoe, nach Belieben als Sexobjekt benutzt und herumgereicht hatte. Sie verzieh ihnen nicht, aber Wut und Zorn hatten sich gelegt; die meisten ihrer Peiniger waren wahrscheinlich in den Unruhen der Vierziger umgekommen, in der Feuersbrunst, die aus den Industrieslums um sich gegriffen und den Heimkomplex verschlungen hatte. Diese Leute waren tot und sie lebte noch; vor allem aber hatte sie zu ihrer Bestimmung zurückgefunden, derenthalben sie geboren war: zu den Sternen.

Warum schauderte sie dann aber vor jeder Berührung mit der materiellen Welt zurück? Draußen, in ihrem Schutzanzug, beim ersten kühlen Regentropfen, der ihr auf die Schulter gefallen war? Und unter der großen, rauen Hand von Tam Hayes?

Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst. Wie oft hatte sie dieses kleine Mantra in ihrem Leben wiederholt? Es sei, so hatten ihr die medizinischen Ontogenetiker erklärt, ein Vermächtnis aus ihrer Zeit in Teheran. Eine Aversion, die so tief saß, dass man sie nicht mehr ausmerzen konnte. Und wenn schon. Wer sollte sie schon anfassen, da wo sie hinwollte? Auf ihrer Einmann-Expedition durch die Wildnis von Isis gab es nur einen einzigen Menschen — sie selbst.

Aber wieso blickte sie dann mit tränenverschleierten Augen in den Nachthimmel? Wieso verirrte sich ihre Hand immer wieder dahin, wo Tam Hayes sie berührt hatte, als wolle sie das Gespenst seiner Wärme dort festhalten?

Wieso sprudelte die Erinnerung seit geraumer Zeit, als habe sich eine dunkle unterirdische Quelle aufgetan?

Sie wusste nur, dass irgendetwas nicht stimmte mit ihr. Und dass niemand davon erfahren durfte. Nur schon der Verdacht, sie könne krank sein, würde reichen, sie zur IOS, vielleicht sogar zur Erde zurückzuschicken.

Und das hieß Abschied nehmen.

Von ihrer Arbeit.

Von Tam Hayes.

Von ihrer Bestimmung.


* * *

Zwei Tage vergingen. Die Krise im maritimen Außenposten war bewältigt; die Stimmung in Yambuku klarte ein bisschen auf, doch Zoe entging nicht, dass die Notfallspezialisten ihre Palmtops aufgeklappt auf den Pulten liegen hatten — gefasst war man offenbar auf alles. Sie verwendete den Vormittag auf die Simulation eines Spaziergangs durch das üppige Terrain westlich des Copper River, dann nahm sie ihren Lunch mit in den Hangar und sah zu, wie die Wartungscrew den Shuttle für Elams Flug übers Meer vorbereitete.

Wartung war Sache der Technik. Lee Reisman, Sharon Carpenter und Kwame Sen winkten ihr zu, doch von Kwame gewahrte sie mehr als nur ein paar verstohlene Blicke. Fühlte er sich zu ihr hingezogen? Sexuell? Der Gedanke war beunruhigend. Zoe hatte in den D&P-Einrichtungen mit Gleichaltrigen studiert, aber die meisten Klassenkameraden waren heterosexuelle Frauen gewesen oder männliche Junior-Aristokraten, die mit Orchidektomie-Abzeichen protzten. Und Zoe hatte sich nichts daraus gemacht. Die medizinische Betreuung hatte ihr ein breites Spektrum von Masturbations-Sutras mit auf den Weg gegeben. Weil man das als ihre gängige sexuelle Praxis vorgesehen hatte. Mehr musste nicht sein.

Doch inzwischen masturbierte sie fast jede Nacht und musste dabei — naja — nicht selten an Tam Hayes denken.

Elam Mather betrat den Hangar und setzte sich zu Zoe an den Tisch, sie schob einen Stapel Checklisten beiseite, um Platz zu machen für ihre Kaffeetasse. Die ältere Frau nickte ihr geistesabwesend zu, sagte aber nichts und starrte auf den Shuttle. Kwame sah nicht mehr her.

Zoe sagte: »Ich wünsche Ihnen einen guten Flug, Elam.«

»Hm? Oh. Besser nicht. Jemandem Glück wünschen, bringt Unglück.«

So ein wirres Zeug kam nur Kuiper-Leuten über die Lippen. Klar, Zoe hatte die ganzen Geschichten gelesen; wie jedes Schulkind im System konnte auch sie die Gründung der einzelnen Republiken herbeten. Doch nichts von diesem trockenen Wissen hatte sie auf die Realität einer Kuiper-dominierten Gemeinschaft wie Yambuku vorbereitet — die beängstigende Freizügigkeit im Umgang mit der Rangordnung, die unverfrorene Sexualität. Es gab keine kastrierten Kuiper-Männer, egal welcher gesellschaftlichen Stellung; unter ihnen kam man sich eher vor wie in einem Wildgehege; diese Leute machten keinen Hehl aus ihren Bedürfnissen, ihren Rendezvous und ihren Kopulationen…

»Ganz so schlimm sind wir nicht«, sagte Elam.

Zoe war verdutzt. »Sie auch? Können Sie Gedanken lesen?«

Elam lachte. »Leider nein. Aber ich arbeite nicht zum ersten Mal mit Terrestriern — man lernt diesen Gesichtsausdruck kennen, Sie wissen schon, dieses — ›O Gott, was kommt jetzt noch?‹«

Zoe traute sich zu lächeln.

»Eigentlich«, setzte Elam hinzu, »passen Sie sich sehr gut an für jemanden, der die meiste Zeit auf der Erde gelebt hat.«

»Sie haben die meiste Zeit im Kuiper-Gürtel gelebt. Ich meine… wir sind doch jetzt hier auf Isis, oder?«

»Richtig. Sie haben Recht. Wir sind hier. Hier auf Isis. Wir sind nicht mehr, was wir früher waren.« Elam erwiderte das vorsichtige Lächeln ihres Gegenübers. »Ich fange an zu verstehen, was Tam in Ihnen sieht.«

Zoe bekam rote Ohren.

Sie dachte: Er sieht was in mir?


* * *

In dieser Nacht träumte sie von ihrem ersten Zuhause — nicht von der scheußlichen Kaserne in Teheran, sondern von der kuscheligen, kühlen D&P-Krippe ihrer Babyjahre.

Die Krippe lag in einer Enklave tief in der amerikanischen Wildnis. An manchen Picknicktagen hatte die ferne kristallgrüne Kuppel wie ein Tautropfen in der welligen Prärie gefunkelt.

Die Kindersäle und Kinderzimmer waren samtweich gewesen, alle Ecken gerundet, die Luft kühl und lieblich. Und Angst oder Zweifel hatte sie nicht gekannt, nicht in der Krippe. Jedes Kindermädchen, darunter viele ganz normale Menschen, kümmerte sich um ein bestimmtes Kind; sie waren streng aber herzensgut gewesen, mollige, liebe Engel eben.

Sie hatte ihr grünes Trägerröckchen jeden Morgen und jeden Nachmittag gewechselt, der schlichte Stoff war immer frisch gestärkt und blitzsauber gewesen. Und sie hatte sich auf das allabendliche Bad gefreut, das Spritzen und Plantschen mit ihren Geschwistern unter den nachsichtigen Blicken stillender Kindermädchen, die auf den Terrassen über dem dampfenden Wasser saßen.

In ihrem Traum war sie wieder im Badebecken und schaufelte Wellen über den gelben Schwimmring. Doch der Traum entgleiste, als plötzlich ringsherum lauter große, uralte Bäume — Farnpalmen oder Riesenbärlapp — aus dem Boden schossen. Die Stimmen ihrer Geschwister waren verstummt. Sie war allein, fröstelnd, nackt in einem Wald, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie kletterte aus dem Wasser ans moosbewachsene Ufer. Schwarzes Erdreich polsterte ihre Füße; die Felsbrocken waren mit samtgrünen Leberblümchen bestickt. Sie wusste nicht, wie sie hergekommen war und wie sie heimfinden sollte. Ihr Magen fühlte sich an wie eine geballte Faust, Panik stieg in ihr hoch. Dann tauchte im feuchten Dunstschleier ein Schatten, ein Schemen auf. Avrion Theophilus, ihr innig geliebter Theo in seiner schneidigen D&P-Uniform… doch als sie ihn erkannte, wandte sie sich ab und lief, lief so schnell sie ihre Füße trugen, lief vergebens, denn seine dumpfen Schritte wurden nicht leiser.


* * *

Sie wachte im Dunkeln auf.

Ihr Herz raste. Es beruhigte sich, doch das Bedrohliche, das Elektrisierende vibrierte weiterhin durch ihren Körper.

Ein schlechter Traum eben, dachte Zoe.

Aber sie kannte keine schlechten Träume.

Sie wischte den Spuk beiseite, kehrte in Gedanken zu Tam Hayes zurück, wie sie ihn im Gemeinschaftsraum so unbefangen berührt hatte, wie sich der Stoff seines Hemdes angefühlt hatte, wie seine Augen die ihren für den Bruchteil eines Augenblicks festgehalten hatten.

Irgendetwas stimmt nicht mit mir. O Gott, dachte sie, als sie zwischen ihre Beine langte und mit den Fingern die Schamlippen spreizte und die winzige, harte Eichel der Klitoris fand.

Der Orgasmus kam schnell, eine kleine Feuersbrunst. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien.

Acht

Als sich der Shuttle in den wässrigen Himmel über Yambuku erhob, registrierte Elam Mather ihre übliche Benommenheit. Isis fiel unter ihr zurück, aber nicht weit genug; das war ein suborbitaler Flug, eine Reise halb um den Planeten zu der havarierten Laborinsel. Etliche Flugstunden, wenn der klobige Shuttle das Äußerste gab. Planeten, überlegte sie, waren einfach zu groß.

Die Crew war im Orbit stationiert und rekrutierte sich vornehmlich aus Kuiper-Leuten, die zwar freundlich, aber wortkarg waren. Elam stand auf und ließ sich ohne zu fragen in einem Sitz am Mittelgang nieder, den Palmtop auf einen dieser terrestrischen Pop-Romane eingestellt, wie sie gelegentlich zur ›Erbauung des einsamen Grenzers‹ durch die Partikelpaar-Verbindung kamen. Dieser hier (E. Quan’s Difficult Decision) war die Geschichte eines jungen Mädchens aus einer Familie der mittleren Führungsschicht, das in einen Verwandten der Familie verliebt ist, der sich aber in ihrer gesellschaftlichen Stellung getäuscht hat. Was für eine Tragödie! Der junge Erbe, als er begreift, dass er unsere Protagonistin unmöglich heiraten kann, meldet sich freiwillig zur Orchidektomie, und das Mädchen, gestraft, aber klüger geworden, schleicht sich in seine Kommune zurück.

Was für ein Mist, dachte Elam. Im wirklichen Leben würde es nie zu dieser Begegnung kommen und wenn doch, dann aber nicht zu einer Beziehung. Der Aristokrat würde die Proletin vögeln und ihren Namen vergessen haben, bevor er den Hosenlatz zu hatte. Und ein Mann von solch vornehmer Herkunft würde nie und nimmer einer Orchidektomie zustimmen. Kastration war ein Mittel, um Gehaltsempfänger von höheren Töchtern fernzuhalten, nicht mehr und nicht weniger. Kachos wie Degrandpre waren stolz auf ihre Narben, aber nur, weil sie für ein Leben in glorifizierter Knechtschaft erzogen waren.

Die Proleten, die große ungefragte Masse der Terrestrier, vögelten oder heirateten nach Kräften. Und wurden immer mehr, obwohl die grassierenden Unfruchtbarkeitsviren das Ihre taten, um die Bevölkerungszahl in Grenzen zu halten.

Elam hatte einen Großteil ihrer Ausbildung auf der Erde genossen. Sie wusste einiges über den Planeten… mehr als Tam Hayes oder ein D&P-Retortenbaby wie Zoe Fisher.

Sie blickte zum Fenster, das keines war, sondern nur die Direkteinspielung einer Außenkamera des mehrfachisolierten Shuttles. Unter ihr floh der Kontinent nach Westen. Isis sah von hier oben herzzerreißend friedlich aus. Die schneebedeckten Copper Mountains waren weiten Schwemmlandebenen gewichen, einer Prärie, geädert mit himmelblauen Flüssen. Wolkenschatten sprenkelten das Grasland und dann wurden die Flüsse zu sumpfigen Buchten und salzigen Meeresarmen: Über dem weiten östlichen Küstenland kreisten Seevögel in Schwärmen, so groß, dass man sie selbst aus dieser Höhe noch sah. Das alles entsprang eher dem Wissen als der Wahrnehmung — war aus dem Orbit heraus kartographiert worden und wurde bestenfalls flüchtig wahrgenommen bei Shuttleflügen oder durch die Augen von Langstrecken-Sensorien.

Das alles war unberührt, dachte Elam. In gewisser Hinsicht war nichts von alledem jemals berührt worden, schon gar nicht von nackter menschlicher Haut.

Der Planet strotzte vor Leben, doch dieses Leben war eine Milliarde Jahre älter als das irdische, weiter entwickelt und zugleich urtümlicher; vor Veränderung bewahrt mangels großer Wellen der Vernichtung, war es ein Becken für alle Gattungen und alle Überlebensstrategien mit Ausnahme der menschlichen, der bewusstseinsbegabten, der terrestrischen Spielart. Wir sind derart simple Kreaturen, dachte sie; wir können diese raffinierten Phytotoxine nicht verkraften, diese unzähligen, mikroskopisch kleinen Raubtiere, Ergebnisse einer Involution, die eine Jahrmilliarde Zeit gehabt hatte. Nichts im Waffenarsenal des menschlichen Immunsystems konnte die unsichtbaren isischen Armeen erkennen, geschweige denn abwehren.

Sie belagern uns, grübelte Elam. Sie dachte an die Bakterienkolonien, die das Dichtungsmaterial von Yambuku angriffen, und an die Algenhaut, die womöglich zur Vernichtung von Kapsel Sechs und ihren Insassen beigetragen hatte. Wir erkennen sie nicht, aber sie uns, davon bin ich überzeugt. Wir errichten Wände, wir errichten Barrieren, doch Leben kommuniziert mit Leben. Leben kommuniziert mit Leben: Das war ein Naturgesetz.


* * *

Der graublaue Festlandsockel fiel hinter dem Shuttle zurück, eine Zeit lang war nur Meer zu sehen, kobaltblau, von weißen Schaumkronen gekräuselt; oder Himmel, Wolkenkreisel, nicht selten turbulent, tropische Unwetter, die sich unter der nackten Sonne wie Uhrfedern aufzogen, durchschlängelt von Blitzen. Auf dem ganzen weiten Meer kein Schiff, kein Boot, kein Kielwasser, nichts Menschliches, keine Planke, keine ausgebleichte Plastikflasche; nichts gibt es da unten als den fremden Krill, dachte sie, und klumpenweise Salzwasserpflanzen und Gischt.

Sie dachte an die Barrieren zwischen isischem und terrestrischem Leben und an die lange Quarantäne zwischen Erde und Kuiper-Republiken, an die finsteren Zeiten, da auf der Erde die Seuchen gewütet hatten und die Unabhängigkeit der Republiken erstmals eine existenzielle Dimension bekam. Die Republiken waren ein Bündnis der entlegensten und feindseligsten Umgebungen, die je von Menschen besiedelt worden waren — Kuiperkörper, Asteroiden, Oort-Minen, marsianische Luftfarmen. Die Wasserstoff-Sauerstoff-Ökonomien des äußeren Systems waren vom selbstgefälligen Wasserreichtum der Erde getrennt worden, die Menschheit hatte sich wie eine parthenogene Stammzelle geteilt, doch die Spaltung blieb relativ; Leben sucht Leben. Das Kartell hatte eine schwer angeschlagene Erde wieder in den Weltraum gebracht, konnte aber die alten zivilen und politischen Wunden nicht mehr heilen. Die Erde hatte sich in ein System aristokratischer Bürokratie zurückgezogen; die Kuiper-Republiken waren ihre rebellischen Kinder, die in ihren eisigen Festungen heidnische oder puritanische Utopias errichteten — wo sich niemand die Eier abschnitt, um seine gottgewollte Mannestreue zu dokumentieren.

Und dennoch, Leben sucht Leben.

Tam Hayes zum Beispiel. Eine gebürtige Kuiper-Waise, von den doktrinären Red Thorns exkommuniziert, weil er einen Vertrag mit dem Konzern unterzeichnet hatte. Wer Isis wollte, musste mit dem Kartell abschließen: ferne Isis, legendäre Isis, das Mandalay der Republiken[16]. Er hatte seine Heimat verloren und einen Traum gewonnen. Und dazu Zoe Fisher, ein Retortenbaby, so folgsam wie alle anderen, die die Erde hervorgebracht hatte. Träumen war nicht erlaubt, nicht für diesen weiblichen Eunuchen. Doch Isis hatte die beiden irgendwie miteinander verklettet. Alle wussten es, bis auf die beiden selbst… ganz bestimmt aber Elam. Sperrte man sie zusammen in einen Raum, umkreiste Zoe ihn wie eine Sonne, und er folgte ihr wie eine automatische Antenne.

Elam hielt nichts von Liaisonen zwischen Terrestriern und Kuiper-Leuten; die meisten waren nicht von Dauer… doch hier, überlegte sie, geschah etwas, das Devices & Personnel nicht vorhergesehen hatten, ein kleiner Ausrutscher im minuziösen Räderwerk des Kartells.

Leben ist manchmal unberechenbar.

Damit konnte sie sich anfreunden. Vielleicht. Doch Tam wusste nicht alles über Zoe, es gab Dinge, die sie ihm mitteilen sollte. Sie klappte ihren Palmtop auf und begann zu schreiben… absenden konnte sie es nach der Landung.

Sie schrieb, bis ihre Aufmerksamkeit von einer Inselkette in Anspruch genommen wurde, die unter der rechten Tragfläche vorüberzog. Jede Insel ein vor Urzeiten erloschener Vulkan, jede grün bis an den Rand ihres Kraters. Riffe, nicht aus Korallen, sondern aus dem Kalkgerüst ganz anderer wirbelloser Tiere, zerkochten das seichte Wasser zu buntem Schaum. Das Licht fiel hier schräger ein und machte lauter Täler aus der flachen Dünung. Hatte sie geschlafen? Ein Crewmitglied kam vorbei: Andocken und Dekontaminierung in weniger als einer halben Stunde.

Sie regulierte ihr Rückhaltesystem, verstaute den Palmtop und schloss wieder die Augen; sie dachte an Hayes und Zoe, die Hartnäckigkeit des Lebens, das universelle Bedürfnis zu verschmelzen, sich zu verbinden, zu entfalten… und auch an die Verwundbarkeit des Lebens, an das Meer, an die großen Fische, die die kleinen fraßen, und an die enorme Reichweite der Erde.


* * *

Der leitende Kacho der Laborinsel war Freeman Li, ein Terrestrier, mit dem Elam schon im Laufe ihrer Ausbildung und auf Isis zusammengearbeitet hatte. Er war ihr sympathischer als die meisten Terraner: ein flexibler Denker, klein, auffallend kräftiger Brustkorb, dunkelhäutig, ein Sherpa[17], dessen Familie sich auf die marsianischen Luftfarmen verteilte. Ein aufgedrehter, besorgter Typ, auf dessen Besorgnis normalerweise Verlass war.

Er war auch jetzt besorgt. Er brachte Elam direkt von der Dekontamination zum nächsten Gemeinschaftsraum, einer niedrigen, achteckigen Kammer zwischen dem Mikrobiologischen und dem Technischen Deck. Elam nahm an, dass sie sich unter dem Meeresspiegel befand, Anhaltspunkte dafür gab es nicht; der maritime Außenposten war so hermetisch abgedichtet wie Marburg oder Yambuku. Die berechnete Masse der Station und die tiefe Verankerung verhinderten, dass sie sich mit der Dünung bewegte, obwohl Taifune, so hatte man Elam gesagt, die Station dazu brachten, wie ein Senkblei zu schwingen. Jetzt war nichts dergleichen zu spüren.

»Ich will ehrlich sein, Elam«, sagte Li und rührte geistesabwesend in seinem schwarzen Tee. »Als das passiert war, wollte ich von Degrandpre eine komplette Evakuierung. Und ich halte das nach wie vor für richtig. Was immer Singh und Devereaux getötet und Kapsel Sechs vernichtet hat, es hat so schnell zugeschlagen, dass wir es nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten. Und wir haben immer noch keinen Hinweis auf das verantwortliche Agens. Da unten gibt es massenhaft toxische Agenzien und viele stecken hier überall in den Glove-Box-Tresoren. Jedes Agens, das es ausschließlich in Kapsel Sechs gegeben hat, kann nur ein Isolat oder Extrakt gewesen sein, aber nichts Lebendiges.«

»Ätzende Substanzen?«

»Manche extrem aggressiv, ja, und allesamt ausgesprochen toxisch. Eine signifikante Freisetzung hätte leicht zwei Menschen töten und den Alarm auslösen können. Aber den Schaden an der Kapsel selbst, nein, undenkbar, dass ein einzelnes Agens oder eine Kombination von Agenzien so etwas fertig bringt.«

»Nach unserem jetzigen Kenntnisstand.«

Er zuckte die Achseln. »Jaja, Sie haben Recht. Was wissen wir schon? Aber wir reden von chemischen Isolaten im Mikrogrammbereich.«

»Irgendwelche anderen Probleme — vor dem Unglück?«

»Kapsel Sechs hatte Ärger mit einem schmierigen Algenfilm, der den externen Probennehmern und Sensoren zu schaffen machte. Aber ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Ähnlichen Ärger hatten wir an allen Kapseln, obwohl das Problem mit zunehmender Tiefe schlimmer wird. Es wäre ein gewaltiger Zufall, wenn beides gleichzeitig passiert wäre — eine toxische Freisetzung in der Kapsel und eine Dichtung, die so marode ist, dass die ganze Kapsel implodiert.«

»Was immer die Dichtung zersetzt hat, hat vielleicht Ähnliches mit dem Glove-Box-Tresor gemacht.«

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Finden Sie nicht, dass das für Alarmstufe eins reicht?«

Sie dachte nach. »Was Kapsel Sechs zu einem Sonderfall machen würde, ist also nur ein schwerer Algenbefall im äußeren Sensorium?«

»Sonderfall? Ich weiß nicht. Die Grenzen sind fließend. Aber so, wie Sie es meinen, ja.«

»Kann ich mir diese Organismen ansehen?«

»Natürlich.«


* * *

Freeman Li war trotz Degrandpre auf Nummer Sicher gegangen und hatte die Belegschaft in die oberen zwei Kapseln verbannt; von da aus konnten sie, wenn Not am Mann war, rasch zur Startrampe entkommen. Die übrigen drei Kapseln waren hermetisch abgeriegelt. Das ging natürlich auf Kosten der allgemeinen Rentabilität und unterbrach mindestens zwei vielversprechende Forschungsprojekte, doch Li meinte kategorisch: »Das ist Degrandpres Problem, nicht meins.«

Eine lobenswerte, beinah kuipersche Einstellung, dachte Elam.

Sie folgte ihm durch einen engen Schacht in die unterste der beiden besetzten Kapseln. Die Schotts, an denen sie vorbeistiegen, erregten ihre Aufmerksamkeit; gewaltige, stählerne Druckverschlüsse, die im Bruchteil einer Sekunde unbarmherzig zuschnappen konnten. In diesem schrecklichen terrestrischen Roman hatte es eine Passage über eine Maus gegeben, die in eine Falle spaziert war. Elam hatte noch nie eine Maus oder eine Mausefalle gesehen, doch sie glaubte zu wissen, wie sich das Tier gefühlt hatte.

Die Vorsichtsmaßnahmen im Mikrobiologischen Labor, die unter Freemans Aufsicht immer streng beachtet wurden, waren seit dem Unglück noch verschärft worden. Bis auf Weiteres waren alle Proben und Isolate isischer Fauna und Flora als erwiesene Gefährdungen fünften Grades zu behandeln. Im gesicherten Vorraum des Labors legte Elam den vorgeschriebenen Druckanzug samt Klimatornister an. Das Gleiche tat Li; mit dem Kopfgeschirr sah er seltsam aus: hohläugig, melancholisch. Er half ihr durch die vorbereitende Dusche, vorbei an ähnlichen Gestalten, Männern und Frauen, die an Glove-Boxen unterschiedlicher Komplexität arbeiteten, durch einen weiteren mit Luftschleusen gesicherten Vorraum in ein kleineres, unbesetztes Labor.

Elam spürte ein bisschen von der Panik, die sie damals empfunden hatte, als sie im Zuge ihrer Ausbildung zum ersten Mal ein irdisches Viren-Forschungslabor der Sicherheitsstufe fünf betreten hatte. Natürlich war es damals schlimmer gewesen. Sie war eine naive Kuiper-Studentin gewesen, aufgewachsen mit den Schauergeschichten des Crane-Clans über die Schreckensherrschaft der irdischen Seuchen. Die große Kluft zwischen Erde und Kuiper-Kolonien war immer eine biologische gewesen, viel tiefer als der Abgrund tatsächlich breit war. Die Kuiper-Clans hatten eine Quarantäne erzwungen: Jeder, der von der Erde kam, ob Heimkehrer oder Besucher, musste sich von allen terrestrischen Erregern bis hinunter zu Einzellern befreien lassen. Die kuipersche Dekontaminierung war eine mörderische Strapaze und dauerte so lange wie ein Flug vom inneren System ins äußere und zurück. Auf einer bewohnten Kuiperwelt war noch nie eine terrestrische Krankheit ausgebrochen; wäre es passiert, wäre sofort eine Quarantäne verhängt und die fragliche Siedlung dekontaminiert worden — ein Hygieneprotokoll, das auf der dicht besiedelten und größtenteils verarmten Erde undurchführbar gewesen wäre.

Elam war nach der Promotion zur Erde gegangen, so wie sich vielleicht ein engagierter Sozialarbeiter für ein Praktikum in der Leprastation entschieden hätte: mit Berührungsängsten, aber mit den besten Absichten. Gegen alle erdenklichen Mikrophagen, Prionen, Bakterien oder Viren geimpft, war sie trotzdem an einem klassischen ›Fieber unbekannten Ursprungs‹ erkrankt, das den ganzen ersten Monat ihrer Orientierungsphase angehalten hatte, bevor es einer Reihe von Leukozyten-Injektionen gewichen war. Bis dahin war sie noch nie krank gewesen. Krank zu sein, sich mit einem unsichtbaren Parasiten infiziert zu haben, das war… naja, noch schlimmer gewesen als sie gedacht hatte.

Danach hatte ihr der Einstieg in die keimfreie Arbeit schreckliche Angst gemacht. Die Universität von Madrid war eine Hochburg von Devices & Personnel, hier wimmelte es von extraterrestrischen Studenten, hauptsächlich Marsianern aber auch etlichen Kuiper-Leuten. Anfängern war es verboten, sich in einem Raum mit ansteckenden Agenzien aufzuhalten. Sie war schon mit Milzbrand bekannt gemacht worden, mit HIV, Nelson-Cahill 1 und 2, Leung-Dengue und dem ganzen Aufgebot an hämorrhagischen Retroviren — aber nur via Telepräsenz. Der Umgang mit Viren, wie ihn terrestrische Feldarbeit erforderte, war unendlich viel gefährlicher. Da gab es die ganzen alten Schreckgespenster der Erde, räuberische Wesen, subtiler und zählebiger als Dschungeltiere und genauso vital, Raubwesen, die immer noch die unterernährten Bevölkerungen von Afrika, Asien und Europa belauerten. Shepherd’s Crooks[18] und regenbogenfarbene Eiweißschlingen, randvoll mit Tod.

Planetare Ökosysteme eben. Uralt und unglaublich feindselig. Das war Tams Biosphäre zum Anfassen, das eingerollte Erbe einer äonenlangen Evolution.

Doch am Ende hatte die Erde es fertig gebracht, der Menschheit ihren Platz in der Gleichung einzuräumen, allen tödlichen Seuchen zum Trotz. Während Isis kompromisslos geblieben war.

Elam sah zu, wie Li seine Hände in die Glove-Box schob. Auch hier wurde ohne Telepräsenz gearbeitet, wenn man von den Geräten absah, die seine Handbewegungen auf die Manipulatoren tief in den zylindrischen Tresoren übertrugen. Eine Mikrokamera beschickte Lis Kopfgeschirr und einen Monitor, sodass Elam seine Arbeit verfolgen konnte. Das Bild einer lebendigen vernetzten Zellgruppe füllte den Schirm.

»Das ist das Zeug, das die externen Geräte versaut hat. Wächst in Kolonien, ein schleimiger, blauer Film. Und, ja, es gab in Kapsel Sechs eine inaktive Probe dieser Kultur, aber ich kann nicht glauben, dass es da einen Kausalzusammenhang gibt. Fest steht…«

Das Objekt rutschte weg. »Li? Das Bild reißt aus.«

»Diese Apparate sind so alt wie die Station. Degrandpre hat unseren Antrag auf Ersatz über ein Jahr vor sich hergeschoben. Will den Budget-Leuten nicht auf die Füße treten, der Angsthase. Wirst du wohl… besser so?«

Ja, besser. Elam starrte auf den Organismus und musste sich überwinden, den Atem nicht anzuhalten. Die Zelle war vielkernig, der Eiweißmantel stachelig, wie ein Zahnrad in einem Uhrwerk. Mitochondrische Körper, verschiedenartiger und komplexer als ihre terrestrischen Gegenstücke, flitzten zwischen den dicken Kernen und den gepanzerten Zellwänden hin und her und besorgten den osmotischen Austausch. Man wusste von diesen Prozessen nur sehr wenig, obwohl die Mikrobiologen gerne das Gegenteil behaupteten. Andere Biosphären, andere Regeln.

»Sieht aus wie das Zeug bei uns«, sagte Elam.

»Wie bitte?«

»Bakterienschleim auf den Außendichtungen.«

»Wie das hier?«

»Naja, nicht genau. Das hier sind Meeresbewohner, unsere kommen angeflogen. Diese körnigen Körper in den Meiosekanälen kenne ich nicht. Aber der Gesamteindruck kommt mir furchtbar bekannt vor. Ähm, Li, Sie verlieren wieder das Bild.«

Freeman Li reagierte untypisch: »Scheiße!« Er riss die Schultern nach hinten. Es entstand eine Pause. Das Bild verschwamm zu einem Netzwerk aus farbigen Pixeln, löste sich diesmal aber nicht auf.

Dann sagte Li mit heiserer Stimme: »Verlassen Sie den Raum, Elam.«

Sie konnte das plötzliche Zischen nicht identifizieren. Elam spürte zum ersten Mal, was richtige Angst war — ein Prickeln in den Kaumuskeln, ein Dröhnen in den Ohren. »Li, was ist?«

Er gab keine Antwort. Er zitterte unter der Schutzkleidung.

Ihr Mund trocknete augenblicklich aus. »Mein Gott, Li…«

»Machen Sie, dass Sie hier rauskommen!«

Sie bewegte sich, ohne zu denken. Ihre Laborreflexe waren nicht die besten, aber sie waren ihr zur zweiten Natur geworden. Er hatte sie nicht um Hilfe gebeten; er hatte ihr einen Befehl erteilt, weil er in der Glove-Box etwas gesehen hatte…

Sie lief zur Labortür, die geölte Stahlplatte war schon in Bewegung. Deckenventilatoren brausten auf, erzeugten Unterdruck und sogen die womöglich kontaminierte Luft hinauf in eine Abfolge von HEPA- und Nanofiltern. Eine Sirene begann durch die Kapsel zu jaulen. Hört sich an wie ein heulendes Kind, dachte Elam verzweifelt. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurde der Türspalt enger, sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Sie war im Grunde bereits abgeschottet.

Der Spalt war zu eng, als dass sie noch hindurch gepasst hätte, sie drehte sich um, rang nach Luft. Die Kapsel war jetzt hermetisch verschlossen. Die Ventilatoren liefen aus, die Sirene kreischte weiter.

Freeman Li hatte die Hände aus der Glove-Box genommen. Irgendwas hatte ihm große Löcher in Anzug und Handschuhe gefressen und die undurchlässigen Membranen in spröde Zwiebelschalen verwandelt. Rohes Fleisch war zu sehen, es begann Blasen zu werfen.

So schnell, das war unmöglich!

Er riss die Schutzbrille herunter. Sein Gesicht war eine blutige Maske, Blut strömte aus den Nasenlöchern, die Augen waren bereits scharlachrot, die Kapillaren geplatzt.

Er sagte etwas Unverständliches — vielleicht war es ihr Name gewesen — und brach zusammen.

Ihr Herz raste. Sie schrie nicht, weil sie das Gefühl hatte, dass die Sirene für sie mitschrie. Dass sich alles Grauen der Welt in diesem schrecklichen Geräusch versammelte. Der Boden der Kapsel schien seitwärts wegzurutschen; sie setzte sich hart auf ihr Steißbein, knapp einen Meter von dem zuckenden Körper des Terrestriers entfernt.

Sie fasste sich an die Nase und besah sich verdutzt die hellrot gefärbten Fingerspitzen.

Das also ist der Tod. Diese ganze rote Sauerei. Ekelhaft. Sie schloss die Augen.

Neun

Die Rotation der IOS tat ihm den Gefallen. Kenyon Degrandpre stand an seinem kleinen Bürofenster und schaute in die richtige Richtung, als die Higgs-Kugel eintraf.

Die Begleiterscheinungen waren nicht spektakulär. Er sah das nicht zum ersten Mal. Ein Blitz am Sternenhimmel, mehr nicht, ein kurzes Wetterleuchten: ein Schauer von Photonen und Energiepartikeln und dann das Nachglühen, ein blauer Tscherenkov-Halo. Ein Higgs-Transfer entstellte das Vakuum ringsum und zwang virtuelle Partikel zur eindeutigen Existenz. Der Transfer war nicht bloß eine Reise, er war auf seine Art ein Schöpfungsakt.

Aus dieser Entfernung war die Higgs-Kugel mit ihrer sorgsam abgeschirmten Fracht natürlich nicht zu sehen, ein Staubkorn in der Dunkelheit, immer noch eine halbe Million Meilen von hier. Die Apportierschlepper machten sich soeben auf den Weg, während der Higgs-Transponder Standort und Zustand ausstrahlte. Selbstverständlich war die Kugel exakt da angekommen, wo sie ankommen sollte. Ein Higgs-Transfer war bis auf den Bruchteil eines Kilometers genau.

Das Kartell hatte Degrandpre eine Frachtliste zugestellt; er hielt sie in der Hand. Das noch unsichtbare Raumfahrzeug hatte eine ganze Reihe ungewöhnlicher und ominöser Dinge an Bord. Radikal neue genetische Algorithmen für die isischen Turing-Fabriken. Kleine Robotsonden, die ins äußere System sollten. Und ganz und gar nicht zuletzt der Neue, der ›Beobachter‹, der Mann ohne Rang, die Drohung: Avrion Theophilus. Degrandpres ziemlich veraltetes Buch der Familien beschrieb Theophilus als hochrangigen Beamten von Devices & Personnel, mit lockerer Verbindung zur Sparte Psychologie und entfernt mit den Quantrills und den Atlanta Somersets verwandt. Was bedeuten könnte… naja, alles Mögliche eben.

Degrandpre nahm seinen Palmtop, rief Zoe Fishers Akte auf und überflog sie noch einmal. Abgesehen von ihrer offensichtlichen Verbindung mit Theophilus — er war ihr Fallmanager gewesen — gab es keinen Hinweis auf seine geheime Mission. Oder eine von ihr, vorausgesetzt diese Zoe Fisher war in Wirklichkeit so etwas wie eine D&P-Intrigantin. Er konnte sich nicht vorstellen, welche terrestrische Kontroverse sich um das Los eines einzelnen Retortenbabys drehen sollte, trotz all ihrer schönen neuen Technik und ihres linguistischen Geschicks. Doch die Geschichte der Menschheit hatte sich schon um unscheinbarere Angelpunkte gedreht: eine Kugel, eine Mikrobe, ein falsches Wort.

Ruhelos, wie er war, rief er die Leitstelle an; er brauchte eine Aktualisierung der Turingliste. Aus dem Laptop drang eine konfuse Geräuschkulisse, bis Rosa Becker, die für die zweite Schicht verantwortlich war, die Sprechverbindung aufnahm. »Sir, wir haben Probleme mit unserer Telemetrie.«

Degrandpre schloss die Augen. Gott, nein. Bitte. Nicht jetzt. »Mit welcher?«

»Der maritime Außenposten. Kein Empfang mehr. Nichts — wie ausradiert.«

»Ein Satellit ist schuld, ja?«

»Wir sind doppelt und dreifach ausgelegt…« Eine Pause, wieder ein prasselnder Wortwechsel. »Berichtigung. Ein einzelnes Shuttle hat sich von der Laborinsel abgesetzt. An Bord sind Überlebende. Mehr ist nicht.«

»Was soll das heißen: Mehr ist nicht?«

»Der Pilot sagt…« Wieder eine Pause. »Keine anderen Überlebenden. Nur Wrackteile.«

Nur Wrackteile.

Freeman Lis Albtraum war Wirklichkeit geworden.

»Sir?«

Und auch der meine, dachte Degrandpre.

»Der Shuttle bleibt auf unbestimmte Zeit in Quarantäne«, sagte er angesichts der unmittelbaren Bedrohung. Seine persönliche Angst kam gar nicht zum Zuge. »Und alarmieren Sie die anderen Stationen. Alarmstufe eins.«

Doch er hatte bereits das Gefühl, ein toter Mann zu sein.


* * *

Das sollte ihr erster Alleingang werden, der letzte Systemtest vor einem eintägigen Ausflug zum Copper River. Tam Hayes verließ seine Arbeit — Genkartographierung der Monozellkulturen — und durchquerte den quadratischen Kernbereich in Richtung Nordflügel, wo Zoe sich bereits in Schale warf.

Seine Gedanken liefen Slalom um Zoes Ausflug und seine Forschungsarbeit. In beiden Fällen gab es weit mehr Rätsel als Gewissheiten. Es würde noch Jahre dauern, bis die isische Zellgenetik einigermaßen verstanden war. Die biochemische Maschinerie war zermürbend komplex. Was sollte man von Organellen halten, die in der Lage waren, ein unabhängiges Leben außerhalb der Mutterzelle zu führen — die sich als Retroviren fortpflanzten? Oder von den hohlen Komplexitäten aus Mikrotubuli ringsherum an den Zellwänden. Jede Frage warf tausend weitere auf, die meisten betrafen die isische Paläobiologie, einen Forschungszweig, der gerade erst geboren war. Abgesehen von zwei glazialen Bohrkernen und Freeman Lis Arbeit mit thermophilen Bakterien gab es keine konkreten Daten, nur Vermutungen. Die ganzen ungebrochenen Jahre evolutionärer Involution hatten offenbar einen uralten Parasitismus tief in den Mechanismus des Lebens hineingezüchtet — jeder Energieaustausch, jede selektive Ionisation, jede Freisetzung von ATP[19] war gleichsam ein versteinerter Akt räuberischen Verhaltens. Komplexe symbiotische Partnerschaften waren entstanden — so wie die Kollision tektonischer Platten Gebirge hervorbringt. Aus dem Konflikt wird Zusammenarbeit; aus dem Chaos Ordnung. Geheimnisse der Schöpfung.

Seine Mutter hatte ihn in die Geheimnisse des Glaubens eingeweiht, hatte ihn jeden Monat mit ins Gotteshaus genommen. Red Thorns und Ice Walkers waren in erster Linie Alt-Deisten, ein Bekenntnis, das sich nicht zuletzt zum Philosophieren bekannte. Die monatliche Predigt war ihm zu hoch gewesen, doch er musste oft an die jährliche Anrufung in der engen Sternwarte denken. Er hatte in diese kalte Kuppel gemusst, um Sterne wie Rosenkranzperlen zu zählen, eingezwängt von den warmen Leibern der Gemeinde, die Stimmen zu Lobliedern vereint, derweil seine Mutter ihn so fest bei der Hand hielt, dass es wehtat. Es war nicht nur seine Schuld, dass er sich in die Sterne verliebt hatte!

Die Red Thorns sahen das anders.

Er betrat den Vorbereitungsraum, wo Zoe sich mit dem Außenanzug abmühte und Tia und Kwame die Ränder verkletteten. Im Kuiper-Gürtel geboren, hatten die beiden es nie gelernt, die terrestrischen Tabus im Umgang mit Nacktheit zu respektieren; sie machten sich offenbar keine Gedanken, warum Zoe unter ihren Berührungen zusammenzuckte. Als sie Hayes erblickte, rief ihre Miene förmlich um Hilfe.

Er schickte die beiden Techniker zum Shuttle-Hangar, wo sie Lee Reisman zur Hand gehen konnten.

»Danke«, sagte Zoe leutselig. »Also wirklich, ich kann das selbst. Der Anzug ist so. Man muss sich nur Zeit lassen.«

»Soll ich auch gehen?«

Sie überlegte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie es.«

Sie zog die Gamaschen über, die aktive Membran auf ihrer Haut war so passiv wie Plastikfolie, bis sie Zeit fand, sich den Körperformen anzupassen; dann wurde sie zum punktgenauen, plastischen Relief, pinkrosa durchscheinend, eine zweite Haut. Zoe bückte sich, um die eher konventionellen Hüftstiefel anzuziehen, ihre kleinen Brüste tanzten.

Sie blickte auf, begegnete seinem Blick und bekam einen roten Kopf. Hayes fragte sich, ob er sich abwenden sollte. Wie würde sich ein Terrestrier verhalten?

Sie arbeitete sich mit den Armen durch die hauchdünne Rumpfmembran und sagte etwas, das zu leise war, als dass er es hätte verstehen können. Er räusperte sich. »Wie bitte?«

»Es geht schneller, wenn Sie die Verklettung übernehmen.«

Er kam durch den Raum, ungeduldig, sie berühren zu dürfen, unterdrückte aber die Regung, wo sie doch so leicht erschrak… Er musste drei Säume aus fleischigem Material passgenau verkletten, und zwar hinten in ihrem Kreuz. Er berührte die nackten Grübchen neben dem Abschwung des Rückgrats und empfand eine komische Vertrautheit… sie war praktisch eine Kuiper-Frau, genetisch zumindest; ihr Genom stammte aus dem Bestand, der noch die Asteroiden besiedelt hatte, winterfestes Rohmaterial für eine neue Diaspora… Mit sanften Händen verklettete er den Anzug und sah zu, wie sich die Membran Zoes Formen anpasste, hörte Zoe scharf Luft holen, als sich die schützende Haut um Brüste, Brustwarzen und Halsansatz schmiegte. Ohne Kopfgeschirr und Beckenfutteral sah sie fast nackt aus. Seine Hand verweilte auf ihrem Hüftbein und Zoe fröstelte, ließ ihn aber gewähren.

Doch als er die Hand hob, um ihr Haar zu berühren, duckte sie sich beiseite. Flüsterte: »Da doch nicht.«

»Warum nicht?«

»Nur, wo ich geschützt bin.«

Sie wich seinem Blick aus.

Brauchte sie Schutz? Ertrug sie es nur so? Er fasste sie um die Taille und zog sie näher heran. »Geschützt«, hatte sie gesagt. Geschützt gegen Hautkontakt vermutlich, oder gegen Erinnerungen an solche Kontakte.

Er wollte ihr Kinn anheben und irgendetwas Tröstendes sagen. Vielleicht hätte er es auch getan, wenn die Station nicht Alarm geschlagen hätte.

Zoe rang nach Luft und wich wie von der Tarantel gestochen zurück.

Hayes sah die Blinkmeldung auf seinem Palmtop. Es ging um die Hochseestation. Keine Einzelheiten, aber Neuigkeiten, schlechte offenbar.

Hayes meinte zu spüren, wie die Biosphäre vorrückte.

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