Zweiter und letzter Teil

I
Die Verfolgung

Ich schlief fest und traumlos. Auf einmal fühlte ich, daß sich eine Last von mehr als drei Zentnern auf meine Beine legte. Ich schrie auf und erwachte. Es war schon Tag; die Sonne schien hell durchs Fenster herein. Auf meinem Bett oder, richtiger gesagt, auf meinen Beinen saß Herr Bachtschejew.

Daran zu zweifeln war nicht möglich: er war es. Nachdem ich mit Mühe und Not meine Beine befreit hatte, richtete ich mich im Bett auf und sah ihn mit der stumpfen Verwunderung eines eben Aufgewachten an.

»Er sieht mich erst noch lange an!« schrie der Dicke. »Was starren Sie mich denn so an? Stehen Sie auf, lieber Freund, stehen Sie auf! Eine halbe Stunde lang wecke ich Sie schon; machen Sie endlich die Augen auf!«

»Was ist denn passiert? Wie spät ist es denn?«

»Es ist noch ziemlich früh, mein Bester; aber unsere holde Fee hat nicht abgewartet, bis es hell wurde, sondern ist ausgerissen. Stehen Sie auf; wir wollen uns an die Verfolgung machen!«

»Was für eine holde Fee?«

»Na unsere, die im Kopf ein bißchen dämlich ist! Ausgerissen ist sie! Schon vor Tagesanbruch ist sie ausgerissen! Ich bin zu Ihnen auf einen Augenblick reingekommen, mein Lieber, bloß um Sie zu wecken, und nun quäle ich mich mit Ihnen schon zwei Stunden lang herum! Stehen Sie auf, lieber Freund; auch Ihr Onkel wartet schon auf Sie. Ein netter Festtag ist das!« fügte er in gereiztem, schadenfrohem Ton hinzu.

»Aber von wem und wovon reden Sie denn?« fragte ich ungeduldig; ich begann übrigens bereits etwas zu erraten. »Doch nicht von Tatjana Iwanowna?«

»Aber gewiß doch! Gerade von ihr! Ich habe es ja vorhergesagt, habe es prophezeit; aber sie wollten nicht hören! Nun hat sie ihnen eine schöne Festtagsbescherung bereitet! Sie ist mannstoll; sie hat nichts anderes als Liebe im Kopf! Pfui Deibel! Und was sagen Sie zu dem Kavalier? Zu dem Kavalier mit dem Spitzbärtchen?«

»Also ist sie wirklich mit Misintschikow davongegangen?«

»Zum Deibel noch mal! Reiben Sie sich doch den Schlaf aus den Augen, mein Lieber, und werden Sie wenigstens jetzt zum hohen Festtag nüchtern! Sie müssen sich wohl gestern beim Abendessen gehörig betrunken haben, wenn Ihnen jetzt noch so wirr im Kopf ist! Wie wird sie denn mit Misintschikow davongegangen sein! Mit Obnoskin ist sie davongegangen, nicht mit Misintschikow! Iwan Iwanowitsch Misintschikow ist ein anständiger Mensch und macht sich jetzt mit uns zur Verfolgung auf.«

»Was Sie nicht sagen!« rief ich und machte sogar auf dem Bett einen Sprung in die Höhe; »also ist sie wirklich mit Obnoskin davongegangen?«

»Nein, Sie sind aber ein gräßlicher Mensch!« erwiderte der Dicke und sprang auf. »Ich komme zu ihm und will ihm als einem gebildeten Menschen das ungewöhnliche Ereignis mitteilen, und da zweifelt er noch! Na, mein Verehrter, wenn Sie mit uns mitwollen, dann stehen Sie auf und fahren Sie in die Hosen; ich habe keine Lust, hier bei Ihnen meine Zunge länger zu strapazieren; ich habe so schon viel kostbare Zeit bei Ihnen verloren!«

Höchst empört verließ er das Zimmer.

Von dieser Nachricht sehr aufgeregt, sprang ich aus dem Bett, zog mich eilig an und lief zum Gutshaus, wo ich meinen Onkel zu finden hoffte. Dort schienen alle noch zu schlafen und von dem Vorgefallenen nichts zu wissen; ich stieg behutsam die Stufen zur Haupttür hinan und stieß im Flur auf Nastasja. Sie trug einen eilig übergeworfenen Morgenrock oder Schlafrock; ihr Haar war in Unordnung: offenbar war sie eben erst aus dem Bett gesprungen; sie schien im Flur auf jemand zu warten.

»Sagen Sie, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna mit Obnoskin weggefahren ist?« fragte sie eilig mit stockender Stimme. Ihr Gesicht sah blaß und erschrocken aus.

»Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel; wir wollen die beiden verfolgen.«

»Oh, bringen Sie Tatjana Iwanowna zurück, bringen Sie sie so schnell wie möglich zurück! Sie ist verloren, wenn Sie sie nicht zurückbringen!« »Aber wo ist mein Onkel denn?«

»Gewiß dort bei den Pferdeställen; da wird ein Wagen angespannt. Ich wartete hier auf ihn. Hören Sie, richten Sie ihm von mir aus, daß ich unter allen Umständen noch heute wegfahren will; ich bin fest dazu entschlossen. Mein Vater wird mich mitnehmen; wenn es möglich ist, fahre ich sogleich. Jetzt ist alles aus! Alles ist verloren!«

Während sie das sagte, sah sie mich an, als ob sie selbst verloren wäre, und brach plötzlich in Tränen aus. Es schien, daß sie einen Weinkrampf bekam.

»Beruhigen Sie sich!« bat ich sie. »All das wird sich noch zum besten wenden; Sie werden sehen... Was ist mit Ihnen, Nastasja Jewgrafowna?«

»Ich... ich weiß nicht... was mit mir ist«, erwiderte sie, mühsam atmend, und drückte unbewußt fest meine beiden Hände. »Sagen Sie ihm...«

In diesem Augenblick wurde hinter der rechts gelegenen Tür ein Geräusch vernehmbar.

Sie ließ meine Hände los und lief erschrocken, ohne zu Ende zu sprechen, die Treppe hinauf.

Ich fand die ganze Gesellschaft, das heißt den Onkel, Bachtschejew und Misintschikow, auf dem hinteren Hof bei den Pferdeställen. Vor Bachtschejews Kutsche waren frische Pferde gespannt worden. Alles war zur Abfahrt bereit; man wartete nur auf mich.

»Da ist er!« rief der Onkel bei meinem Erscheinen. »Hast du die Geschichte gehört, lieber Freund?« fügte er mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck hinzu. Schrecken, Verwirrung und gleichzeitig ein Schimmer von Hoffnung kamen in seinen Blicken, in seiner Stimme und in seinen Bewegungen zum Ausdruck. Er war sich dessen bewußt, daß sich in seinem Schicksal eine entscheidende Wende vollzog.

Ich wurde sogleich in alle Einzelheiten eingeweiht. Herr Bachtschejew war, nachdem er eine sehr unangenehme Nacht verbracht hatte, bei Tagesanbruch von seinem Haus weggefahren, um der Frühmesse in dem Kloster beizuwohnen, das von seinem Gut ungefähr fünf Werst entfernt lag. Gerade an der Stelle, wo der Weg zum Kloster von der Chaussee abbiegt, hatte er auf einmal einen mit höchstem Tempo fahrenden Reisewagen und in demselben Tatjana Iwanowna und Obnoskin erblickt. Tatjana Iwanowna, die ganz verweint und ängstlich ausgesehen hatte, hatte aufgeschrien und die Hände nach Herrn Bachtschejew ausgestreckt, wie wenn sie ihn um Schutz bäte – so kam es wenigstens in seiner Erzählung heraus. »Aber er, der Schurke mit dem Spitzbärtchen«, fügte er hinzu, »saß halbtot vor Angst da und suchte sich zu verstecken; aber da irrst du dich, mein Lieber; dich zu verstecken, das gelingt dir nicht!« Ohne sich lange zu besinnen, war Stepan Alexejewitsch wieder auf die Chaussee eingebogen und nach Stepantschikowo gejagt, wo er den Onkel und Misintschikow und zuletzt auch mich geweckt hatte. Es war beschlossen worden, sofort zur Verfolgung aufzubrechen.

»Dieser Obnoskin, dieser Obnoskin...«, sagte der Onkel, mich unverwandt anblickend, als ob er mir zugleich noch etwas anderes sagen wollte; »wer hätte das von ihm gedacht!«

»Von diesem gemeinen Menschen konnte man immer jede Schändlichkeit erwarten!« rief Misintschikow in der energischsten Entrüstung und wandte sich sogleich ab, um meinen Blick zu vermeiden.

»Nun, was tun wir: wollen wir fahren, oder wollen wir hier bis zum Abend stehenbleiben und uns Märchen erzählen?« unterbrach Herr Bachtschejew dieses Gespräch, indem er in den Wagen stieg.

»Fahren wir, fahren wir!« fiel mein Onkel ein.

»Es wird sich alles zum besten wenden, lieber Onkel«, flüsterte ich ihm zu. »Sehen Sie, wie gut sich das jetzt alles gestaltet hat?«

»Sei still, lieber Freund, versündige dich nicht... Ach, mein Bester, sie werden jetzt ganz einfach sie aus dem Haus jagen, zur Strafe dafür, daß ihnen ihr Plan nicht gelungen ist. Ich ahne schrecklich viel Leid!«

»Nun, wie ist’s, Jegor Iljitsch? Wollt ihr miteinander flüstern, oder wollt ihr fahren?« rief Herr Bachtschejew zum zweiten Mal. »Oder sollen wir die Pferde wieder ausspannen und einen Imbiß nehmen? Wie denkt ihr darüber: wollen wir nicht ein Schnäpschen trinken?«

Diese Worte wurden von ihm mit so grimmiger Ironie gesprochen, daß wir nicht umhin konnten, Herrn Bachtschejew sogleich den Willen zu tun. Wir stiegen alle unverzüglich in den Wagen, und die Pferde jagten los.

Eine Weile schwiegen wir alle. Der Onkel sah mich bedeutsam an, mochte aber in Gegenwart der beiden andern nicht mit mir reden. Er versank häufig in Gedanken; dann wieder war es, als ob er erwachte: er fuhr zusammen und blickte aufgeregt um sich. Misintschikow war anscheinend ruhig, rauchte eine Zigarre und machte das würdevolle Gesicht eines Menschen, der ungerechterweise gekränkt ist. Dafür ereiferte sich Bachtschejew für alle. Er brummte etwas vor sich hin, blickte alle an, errötete vor starker Empörung, schnaufte, spuckte unaufhörlich seitwärts aus und konnte gar nicht zur Ruhe kommen. »Bist du denn auch sicher, Stepan Alexejewitsch, daß sie nach Mischino gefahren sind?« fragte mein Onkel plötzlich. »Das liegt zwanzig Werst von hier, lieber Freund«, fügte er, an mich gewandt, hinzu. »Es ist ein kleines Gut mit dreißig Seelen; kürzlich hat es ein ehemaliger Gouvernementsbeamter von den früheren Besitzern gekauft. Er ist ein Ränkeschmied, wie die Welt keinen zweiten kennt! Wenigstens sagen die Leute das von ihm; vielleicht irren sie sich auch. Stepan Alexejewitsch versichert, daß Obnoskin eben dorthin gefahren sei und daß dieser Beamte ihm hilft.«

»Ganz bestimmt!« schrie Bachtschejew auffahrend. »Wenn ich dir doch sage: nach Mischino. Nur ist er von Mischino vielleicht schon wieder über alle Berge, dieser Obnoskin! Natürlich, wenn wir drei Stunden unnütz auf dem Hof verplaudern!«

»Regen Sie sich nicht auf«, bemerkte Misintschikow, »wir werden sie schon noch antreffen.«

»Jawohl, wir werden sie antreffen! Er wird da gewiß auf uns warten. Die Schatulle hat er in den Händen; da wird er sich schon aus dem Staub gemacht haben.«

»Beruhige dich, Stepan Alexejewitsch, beruhige dich; wir werden sie einholen«, sagte mein Onkel. »Die beiden haben noch nicht Zeit gehabt, etwas zu tun; du wirst sehen, daß es so ist.«

»Nicht Zeit gehabt, etwas zu tun!« erwiderte Herr Bachtschejew boshaft. »Was kann die nicht schon alles angerichtet haben, trotz ihres stillen, sanften Wesens! ›Sie ist so still und sanft‹, heißt es, ›so still und sanft!‹ « fügte er mit hoher Stimme hinzu, wie wenn er jemanden nachäffen wollte. » ›Sie hat viel Unglück erfahren!‹ Da ist sie uns nun ausgekratzt, die Unglückliche! Nun kann man ihr vor Tau und Tag auf den Landstraßen nachjagen, daß einem die Zunge aus dem Hals hängt. Nicht einmal sein Gebet verrichten lassen sie einen an dem hohen Festtage. Pfui Deibel!«

»Aber sie ist doch schon mündig«, bemerkte ich; »sie steht nicht unter Vormundschaft. Wir können sie nicht zurückholen, wenn sie es nicht selbst will. Was können wir denn tun?«

»Selbstverständlich!« antwortete der Onkel; »aber sie wird wollen, versichere ich dir. Das hat sie nur einfach so getan. Sowie sie uns erblickt, wird sie sogleich zurückkommen; dafür bürge ich. Wir können sie doch nicht so ihrem Schicksal als Opfer preisgeben, lieber Freund; es ist sozusagen unsere Pflicht, sie zu retten...«

»Sie steht nicht unter Vormundschaft!« schrie Bachtschejew, der nun über mich herfiel. »Eine Verrückte ist sie, Verehrtester, geradezu eine Verrückte; daß sie nicht unter Vormundschaft steht, ist dabei ganz egal. Ich habe Ihnen gestern von ihr nichts erzählen wollen; aber neulich trat ich mal aus Versehen in ihr Zimmer und sah, wie sie da allein vor dem Spiegel stand, mit den Händen in der Seite, und eine Ecossaise tanzte! Und wie sie herausgeputzt war: wie eine Figur aus dem Modejournal, genauso! Ich spuckte aus und ging weg. Gleich damals wußte ich alles im voraus, als ob ich es schriftlich hätte!«

»Aber darf man sie denn so streng verurteilen?« bemerkte ich etwas schüchtern. »Es ist ja bekannt, daß Tatjana Iwanowna... nicht vollständig gesund ist... oder, richtiger gesagt, so eine gewisse Manie hat... Mir scheint, daß nur Obnoskin schuldig ist, nicht sie.«

»Nicht vollständig gesund! Na, mit Ihnen ist nichts anzufangen!« erwiderte der Dicke; er war vor Ärger dunkelrot geworden. »Sie haben sich wohl vorgenommen, mich gänzlich wütend zu machen! Haben sich das wohl schon gestern vorgenommen! Eine Verrückte ist sie, mein lieber Herr, wiederhole ich Ihnen, eine total Verrückte; von ›nicht vollständig gesund‹ kann gar nicht die Rede sein. Sie ist von klein auf liebestoll gewesen, und jetzt hat Cupido sie zum Äußersten verleitet. Aber von dem mit dem Spitzbärtchen wollen wir lieber gar nicht reden! Der wird von jetzt an gewiß in Saus und Braus leben, mit dem Geld klimpern und sich halbtot lachen.«

»Glauben Sie denn wirklich, daß er sie sofort verlassen wird?«

»Aber natürlich! Er wird doch ein solches Schätzchen nicht mit sich herumschleppen? Was soll er denn mit ihr anfangen? Er wird sie ausplündern, sie irgendwo an der Landstraße unter einem Busch sitzenlassen und sich davonmachen, und sie kann dann unter dem Busch sitzen und an den Blümchen riechen.«

»Na, du siehst das aber doch zu schwarz, Stepan; so wird es denn doch nicht werden!« rief mein Onkel. »Warum bist du denn übrigens so ärgerlich? Ich wundere mich über dich, Stepan; was hast du denn?«

»Na, als ob ich nicht auch ein Mensch wäre! Da muß man doch wütend werden, auch als Unbeteiligter. Aber vielleicht rede ich so, weil ich sie liebe... Ach, hol die ganze Welt der Deibel! Na, warum bin ich denn hierhergefahren? Warum bin ich denn von meinem Weg abgebogen? Was geht mich denn die ganze Geschichte an? Ja, was geht sie mich an?«

So räsonierte Herr Bachtschejew; aber ich hörte ihm nicht mehr zu und dachte an diejenige, die wir jetzt verfolgten, an Tatjana Iwanowna. Hier ist ihre kurze Biographie, wie ich sie mir später nach den zuverlässigsten Quellen zusammengestellt habe; sie dürfte zum Verständnis der Abenteuer dieses Mädchens unentbehrlich sein. Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen Haus aufwuchs, dann als armes junges Mädchen und zuletzt als arme alte Jungfer hatte Tatjana Iwanowna ihr ganzes armseliges Leben hindurch den bis zum Rand gefüllten Becher des Leides, der Vereinsamung, der Erniedrigung und der Vorwürfe leeren müssen und die ganze Bitterkeit fremden Brotes gründlich kennengelernt. Da sie von Natur aus einen außerordentlich vergnügten, heiteren, leichtsinnigen Charakter hatte, so konnte sie anfangs ihr trauriges Los noch einigermaßen ertragen und sogar manchmal munter und sorglos lachen; aber als sie älter wurde, forderte das Schicksal schließlich seinen Tribut. Allmählich wurde Tatjana Iwanowna gelb und mager und von einer krankhaften Reizbarkeit und Empfindlichkeit; auch ergab sie sich schrankenlosen Träumereien, die oft von reichlichen Tränenergüssen und krampfhaftem Schluchzen unterbrochen wurden. Je weniger irdische Genüsse ihr die Wirklichkeit gewährte, um so mehr ergötzte und tröstete sie sich durch ihre Einbildungen. Je sicherer und unwiederbringlicher ihre letzten wirklichen Hoffnungen dahinschwanden und ganz vergingen, um so mehr berauschte sie sich an ihren Träumereien, die sich nie verwirklichen konnten. Unerhörte Reichtümer, nie verwelkende Schönheit, elegante, reiche, vornehme Freier, lauter Fürsten und hohe Herren, die für sie ihre Herzen in jungfräulicher Reinheit bewahrt hatten und zu ihren Füßen vor grenzenloser Liebe starben, und endlich er – er, das Ideal von Schönheit, er, der alle möglichen Vorzüge in sich vereinigte und von leidenschaftlicher Liebe zu ihr erfüllt war, ein Künstler, ein Dichter, ein vornehmer Herr – alles zusammen oder abwechselnd das eine oder das andere: all das stand ihr nicht nur im Traum, sondern sogar beinahe im Wachen vor Augen. Ihr Verstand begann bereits zu leiden und vertrug diese Opiumdosen der geheimen ununterbrochenen Träumereien nicht... Und auf einmal trieb das Schicksal in besonders folgenschwerer Weise seinen Scherz mit ihr. Auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung, mitten in der traurigsten, herzbeklemmenden Wirklichkeit, als Gesellschafterin einer alten, zahnlosen, mürrischen Dame, die sie für alles schalt und ihr jeden Bissen Brot und jedes abgetragene Kleidungsstück vorhielt, von jedem, der dazu Lust hatte, gekränkt und von niemandem beschützt, von ihrem traurigen Leben niedergedrückt und im stillen in den Wonnen der sinnlosesten, glühendsten Phantasien schwelgend – erhielt sie auf einmal die Nachricht von dem Tod eines entfernten Verwandten, dem schon längst (sie hatte sich in ihrer Leichtfertigkeit niemals darum gekümmert) alle seine näheren Verwandten weggestorben waren, eines sonderbaren Menschen, der wie ein Einsiedler irgendwo weit weg in einem kleinen Nest ein einsames, verdrossenes stilles Leben geführt und sich mit Phrenologie und Wuchergeschäften abgegeben hatte. Und siehe da, ein gewaltiger Reichtum fiel wie durch ein Wunder plötzlich vom Himmel und bildete vor Tatjana Iwanownas Füßen einen Goldhaufen: denn es stellte sich heraus, daß sie die einzige gesetzmäßige Erbin des verstorbenen Verwandten war. Fast vierhunderttausend Silberrubel wurden ihr mit einemmal zuteil. Dieser Hohn des Schicksals gab ihr vollends den Rest. In der Tat, wie sollte ihr ohnehin schon geschwächter Verstand nicht an die Wahrheit der Phantasien glauben, wenn dieselben faktisch sich zu verwirklichen anfingen? Und so verlor die arme Person endgültig den letzten ihr verbliebenen Rest von gesundem Menschenverstand. Ganz benommen von ihrem Glück, versank sie unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien und verführerischer Visionen. Weg mit allen Überlegungen, mit allen Zweifeln, mit allen Schranken der Wirklichkeit, mit allen unübertretbaren, sonnenklaren Gesetzen derselben. Ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahren und die Einbildung, blendend schön zu sein, ein traurig kalter Lebensherbst und der Wahn von unendlicher Liebeswonne: diese Dinge existierten nun in ihrem Wesen nebeneinander, sogar ohne miteinander zu kollidieren. Etwas von ihren Träumereien hatte sich schon in ihrem Leben verwirklicht; warum sollte dasselbe nicht mit allem der Fall sein? Warum sollte ›er‹ nicht erscheinen? Tatjana Iwanowna überlegte nicht, sie glaubte. Aber während sie auf ihn, auf ihr Ideal wartete, wimmelte es jetzt auf einmal ihrer Meinung nach um sie von Bewerbern: da waren Herren mit allerlei Orden und Herren ohne solche, Zivilisten und Militärs, Linienoffiziere und Chevaliergardisten, Würdenträger und einfache Dichter, Leute, die in Paris, und solche, die nur in Moskau gewesen waren, Männer mit Vollbart und ohne Vollbart, mit Spitzbärtchen und ohne Spitzbärtchen, Spanier und Nichtspanier (aber vorzugsweise Spanier). Alle diese standen ihr Tag und Nacht vor Augen, und zwar in einer erschreckenden Anzahl, die bei ihrer Umgebung ernsthafte Befürchtungen hervorrief; es fehlte nur noch ein Schritt bis zum Irrenhaus. In glänzender Kette drängten sich jetzt all diese schönen Truggestalten liebestrunken um sie. Und das wirkliche Leben faßte sie in derselben phantastischen Weise auf: jeder, den sie ansah, war in sie verliebt; jeder Vorübergehende war ein Spanier; jeder, der starb, war unzweifelhaft aus Liebe zu ihr gestorben. Obendrein fand all dies in ihren Augen noch dadurch seine Bestätigung, daß tatsächlich Dutzende von Leuten wie Obnoskin und Misintschikow, alle mit den gleichen Absichten, sich um sie bemühten. Alle hatten auf einmal begonnen, ihr gefällig zu sein, ihr Liebenswürdigkeiten zu erweisen, ihr zu schmeicheln. Die arme Tatjana Iwanowna wollte nicht argwöhnen, daß das alles um des Geldes willen geschah. Sie war vollständig davon überzeugt, daß alle Menschen plötzlich auf jemandes Wink hin sich gebessert hatten und sämtlich heiter, liebenswürdig, freundlich und gutherzig geworden waren. ›Er‹ war allerdings noch nicht erschienen; aber es unterlag keinem Zweifel, daß er erscheinen werde, und das derzeitige Leben war auch ohnedies so hübsch, so verführerisch, so voll von allerlei Zerstreuungen und fröhlicher Geselligkeit, daß sie gut und gern noch warten konnte. Tatjana Iwanowna naschte Konfekt, pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane. Die Romane entflammten ihre Phantasie noch mehr und wurden gewöhnlich schon bei der zweiten Seite hingeworfen. Sie brachte es nicht fertig, weiterzulesen, da gleich die ersten Zeilen, die unbedeutendste Anspielung auf die Liebe, manchmal schon die bloße Beschreibung einer Örtlichkeit, eines Zimmers, eines Kleidungsstücks, sie in Träumereien versinken ließen. Unaufhörlich wurden ihr neue Kostüme, Spitzen, Hüte, Häubchen, Bänder, Muster, Schnittbogen, Dessins, Konfekt, Blumen und Schoßhündchen gebracht. Drei Mädchen waren in der Mädchenstube tagaus, tagein mit Nähen beschäftigt; das Fräulein aber probierte vom Morgen bis zum Abend und sogar noch in der Nacht ihre Taillen und Falbelröcke an und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Sie war nach der Erbschaft sogar gewissermaßen jünger und hübscher geworden. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, auf welche Weise sie eigentlich mit dem verstorbenen General Krachotkin verwandt war. Ich bin immer davon überzeugt gewesen, daß diese Verwandtschaft lediglich eine Erfindung der Generalin war, die den Wunsch hegte, Tatjana Iwanowna in ihre Gewalt zu bekommen und dann um jeden Preis meinen Onkel mit dem Geld derselben zu verheiraten. Herr Bachtschejew hatte recht, wenn er von Cupido sprach, der sie zum Äußersten verleite; daß aber mein Onkel, sobald er von ihrer Flucht mit Obnoskin hörte, ihr nachzusetzen und sie, nötigenfalls mit Gewalt, zurückzuholen beschloß, war durchaus vernünftig. Die arme Person war nicht imstande, ohne Obhut zu leben, und würde sofort zugrunde gegangen sein, wenn sie in schlechte Hände geraten wäre.

Es war zwischen neun und zehn, als wir nach Mischino kamen. Dies war ein ärmliches kleines Dorf, das ungefähr drei Werst von der Chaussee entfernt in einer ziemlich tiefen Bodensenke lag. Sechs oder sieben verräucherte, schief gesunkene, mangelhaft mit schwarz gewordenem Stroh gedeckte Bauernhäuser schauten den Vorüberfahrenden trübselig und unfreundlich an. Kein Gärtchen, kein Strauch war im Umkreis von einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein alter Weidenbaum stand schläfrig über einen grünen Tümpel gebeugt, welcher ›der Teich‹ genannt wurde. Ein solcher Wohnsitz konnte wahrscheinlich auf Tatjana Iwanowna keinen erfreulichen Eindruck machen. Das herrschaftliche Gebäude war ein neues, langes, schmales Holzhaus mit sechs Fenstern nebeneinander, nachlässig mit Stroh gedeckt. Der ehemalige Beamte, der das Gut jetzt besaß, hatte eben erst angefangen, die Wirtschaft einzurichten. Selbst der Hof war noch nicht umzäunt; nur auf der einen Seite stand schon ein Stück neuer Flechtzaun, von dem die trockenen Haselblätter noch nicht abgefallen waren. Bei diesem Flechtzaun stand Obnoskins Reisewagen. Für die beiden Delinquenten kamen wir völlig überraschend. Aus einem offenen Fenster war Geschrei und Weinen zu hören.

Ein barfüßiger Junge, der uns im Flur begegnete, lief Hals über Kopf davon. Gleich im ersten Zimmer saß auf einem baumwollbezogenen langen ›türkischen‹ Sofa ohne Lehne Tatjana Iwanowna, die ganz verweint aussah. Als sie uns erblickte, schrie sie auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Neben ihr stand Obnoskin; er war so erschrocken und verlegen, daß er einem sogar leid tun konnte. In seiner Verwirrung eilte er auf uns zu, um uns die Hände zu drücken, als ob er über unsere Ankunft erfreut wäre. Durch die ein wenig geöffnete Tür, die ins Nachbarzimmer führte, war ein Frauenkleid sichtbar: es horchte da jemand und spähte durch einen uns nicht sichtbaren Spalt. Die Wirtsleute zeigten sich nicht: anscheinend waren sie nicht im Haus; sie hatten sich wohl irgendwo versteckt.

»Da ist sie ja, die Reisende! Nun versteckt sie sich noch hinter den Händen!« rief Herr Bachtschejew, der sich hinter uns her ins Zimmer hereinwälzte.

»Bezähmen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! Das paßt in der Tat nicht hierher. Nur Jegor Iljitsch hat jetzt das Recht zu reden; wir andern sind hier vollständig Nebenpersonen!« bemerkte Misintschikow in scharfem Ton.

Mein Onkel warf Herrn Bachtschejew einen strengen Blick zu, und indem er tat, als bemerkte er Obnoskin gar nicht, der auf ihn zueilte, um ihm die Hand zu drücken, trat er zu Tatjana Iwanowna, die immer noch das Gesicht mit den Händen bedeckte, und sagte zu ihr in ganz mildem Ton und mit aufrichtiger Teilnahme:

»Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten Sie so sehr, daß wir selbst hergekommen sind, um Ihre Absichten kennenzulernen. Möchten Sie nicht mit uns nach Stepantschikowo zurückfahren? Ilja hat heute seinen Namenstag. Mama wartet ungeduldig auf Sie, und Alexandra und Nastasja haben sich gewiß schon den ganzen Morgen unter Tränen nach Ihnen gesehnt...«

Tatjana Iwanowna hob schüchtern den Kopf, sah durch die Finger meinen Onkel an und fiel ihm dann, plötzlich in Tränen ausbrechend, um den Hals.

»Ach, bringen Sie mich weg, bringen Sie mich recht schnell von hier weg!« sagte sie schluchzend. »Recht schnell, so schnell wie möglich!«

»Kaum ist sie durchgegangen, hat sie es schon mit der Angst bekommen!« flüsterte Baditschejew, indem er mir mit der Hand einen Stoß versetzte.

»Dann ist also alles erledigt«, sagte der Onkel, zu Obnoskin gewandt, den er aber kaum ansah, in trockenem Ton. »Tatjana Iwanowna, ich bitte um Ihren Arm. Wir wollen gehen!«

Hinter der Tür wurde das Rascheln eines Kleides vernehmbar; die Tür knarrte und öffnete sich etwas weiter.

»Aber wenn man die Sache von einem andern Standpunkt aus betrachtet«, bemerkte Obnoskin und sah sich dabei unruhig nach der halbgeöffneten Tür um, »so müssen Sie doch selbst sagen, Jegor Iljitsch, daß Ihr Benehmen in meinem Haus... und dann, ich begrüßte Sie, und Sie haben meinen Gruß nicht einmal erwidern mögen, Jegor Iljitsch...«

»Ihr Benehmen in meinem Hause, mein Herr, war unehrenhaft«, antwortete der Onkel und richtete einen strengen Blick auf Obnoskin; »dieses Haus hier ist aber gar nicht das Ihrige. Sie haben es gehört: Tatjana Iwanowna will keine Minute länger hierbleiben. Was wollen Sie denn nun noch? Kein Wort weiter; hören Sie: kein Wort weiter; ich bitte Sie darum! Ich wünsche sehr, alle weiteren Auseinandersetzungen zu vermeiden, und das wird auch für Sie das Vorteilhafteste sein.«

Aber nun verlor Obnoskin den Mut dermaßen, daß er ganz überraschenden Unsinn zusammenredete.

»Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch«, begann er leise, fast flüsternd; er weinte beinahe vor Beschämung und blickte alle Augenblicke nach der Tür, wahrscheinlich aus Furcht, daß er dort gehört werde; »das ist alles nicht mein Werk, sondern Mamas Werk. Ich habe es nicht aus persönlichem Interesse getan, Jegor Iljitsch, sondern ohne mir etwas dabei zu denken; natürlich habe ich es auch in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch... aber ich habe es in ehrenhafter Absicht getan, Jegor Iljitsch; ich hätte das Kapital nützlich verwendet... ich hätte die Armen damit unterstützt. Ich wollte auch das jetzige Streben nach Bildung dadurch fördern und hatte sogar die Absicht, ein Stipendium an der Universität zu stiften... Das ist der Gebrauch, den ich von meinem Reichtum machen wollte, Jegor Iljitsch; von anderen Absichten kann gar keine Rede sein, Jegor Iljitsch...«

Wir alle schämten uns auf einmal außerordentlich. Sogar Misintschikow errötete und wandte sich ab; der Onkel aber wurde so verlegen, daß er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte.

»Na, lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein!« sagte er endlich. »Beruhigen Sie sich, Pawel Semjonowitsch! Was ist da zu machen? Das kann jedem passieren... Wenn Sie wollen, lieber Freund, so kommen Sie mit zum Mittagessen... ich werde mich freuen, ich werde mich freuen...«

Ganz anders aber verfuhr Herr Bachtschejew.

»Ein Stipendium stiften!« schrie er zornig. »Dazu ist der gerade der Richtige! Dem ist es ja ein Vergnügen, den ersten besten, der ihm begegnet, auszuplündern... Hat keine ordentlichen Hosen und schwatzt von Stipendien! O Sie Lump, Sie Lump! Da haben Sie nun ein zartes Herz erobert! Aber wo ist denn sie, die Mutter? Hat sie sich etwa versteckt? Ich möchte darauf wetten, daß sie hier irgendwo hinter einem Bettschirm sitzt oder vor Angst unter das Bett gekrochen ist...«

»Stepan, Stepan!...« rief mein Onkel.

Obnoskin wurde dunkelrot und schickte sich an, etwas zu entgegnen; aber bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich die Tür, und Anfissa Petrowna kam mit funkelnden Augen, höchst aufgebracht und ganz rot vor Wut, ins Zimmer hereingestürmt.

»Was soll denn das heißen?« schrie sie. »Was geht hier vor? Sie, Jegor Iljitsch, dringen mit Ihrer Bande in ein anständiges Haus ein, versetzen Damen in Schrecken und erlauben sich hier zu kommandieren!... Das ist ja unerhört! Ich bin, Gott sei Dank, noch nicht so alt, daß mein Verstand gelitten hätte, Jegor Iljitsch! Und du, Tölpel«, fuhr sie, auf ihren Sohn zustürzend, fort zu schreien, »du fängst hier wohl gar vor denen an zu greinen! Sie beleidigen deine Mutter in ihrem eigenen Haus, und du stehst dabei und sperrst das Maul auf! Bist du ein ordentlicher junger Mann, wenn du dich so benimmst? Ein Waschlappen bist du und kein junger Mann!«

Von der gestrigen Ziererei, von dem modischen Getue, von dem Manövrieren mit der Lorgnette – von alledem war jetzt bei Anfissa Petrowna auch nicht die Spur mehr vorhanden. Sie war eine richtige Furie, eine Furie ohne Maske.

Kaum hatte mein Onkel sie erblickt, als er schnell Tatjana Iwanowna den Arm bot und mit ihr das Zimmer verlassen wollte; aber Anfissa Petrowna versperrte ihm sogleich den Weg.

»Sie sollen so nicht fortkommen, Jegor Iljitsch!« zeterte sie von neuem los. »Mit welchem Rechte führen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam weg? Es ärgert Sie, daß sie den schändlichen Netzen entgangen ist, in denen Sie zusammen mit Ihrer Mama und diesem Dummkopf, dem Foma Fomitsch, sie verstrickt hatten! Sie wollten sie aus schmählichem Eigennutz selbst heiraten. Entschuldigen Sie, hier denkt man anständiger! Da Tatjana Iwanowna sah, daß man bei Ihnen Böses gegen sie im Schilde führte und sie ins Verderben stürzen wollte, hat sie sich selbst meinem Sohn Pawel anvertraut. Sie selbst hat ihn gebeten, sie sozusagen vor Ihren Netzen zu retten; sie sah sich genötigt, Ihnen bei Nacht zu entfliehen, – so verhält sich das! Dahin haben Sie sie gebracht! Ist es nicht so, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich aber so verhält, wie können Sie sich dann unterstehen, mit einer ganzen Rotte in ein anständiges, vornehmes Haus einzudringen und ein ehrenhaftes Mädchen trotz ihres Geschreis und ihrer Tränen mit Gewalt wegzuführen? Das dulde ich nicht! Das dulde ich nicht! Ich habe noch all meine fünf Sinne beisammen... Tatjana Iwanowna wird hierbleiben, da sie es selbst will! Kommen Sie, Tatjana Iwanowna; wozu sollen wir noch auf diese Menschen hören: es sind Ihre Feinde, nicht Ihre Freunde! Haben Sie keine Angst; kommen Sie! Ich werde die hier sofort hinauswerfen...«

»Nein, nein!« rief Tatjana Iwanowna erschrocken; »ich will nicht, ich will nicht! Er taugt nicht zum Ehemann! Ich will Ihren Sohn nicht heiraten! Was würde ich an ihm für einen Ehemann haben!«

»Sie wollen nicht!« kreischte Anfissa Petrowna, vor Wut keuchend; »Sie wollen nicht? Erst sind Sie hierhergefahren, und nun wollen Sie nicht? Wenn’s so ist, wie konnten Sie dann so dreist sein, uns zu betrügen? Wenn’s so ist, wie konnten Sie ihm dann Ihr Versprechen geben und bei Nacht mit ihm davonlaufen und sich uns aufdrängen und uns Unannehmlichkeiten und Kosten verursachen? Mein Sohn ist vielleicht um Ihretwillen einer anständigen Partie verlustig gegangen!... Er hat vielleicht um Ihretwillen eine Mitgift von vierzig-, fünfzigtausend Rubel verloren!... Nein! Das werden Sie uns bezahlen, das müssen Sie uns jetzt bezahlen; wir haben Beweise: Sie sind bei Nacht mit ihm davongelaufen...«

Aber wir hörten diesen Redeschwall nicht bis zu Ende an. Wir scharten uns um meinen Onkel, rückten alle zugleich vor, gerade auf Anfissa Petrowna los, und gingen aus dem Haus hinaus. Der Wagen fuhr sogleich vor.

»Nur ehrlose Menschen handeln so, nur Schurken!« schrie Anfissa Petrowna voller Wut von der Haustür her. »Ich werde eine Klage einreichen! Sie müssen bezahlen... Sie gehen in ein ehrloses Haus, Tatjana Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht heiraten; er hält sich direkt vor Ihrer Nase seine Gouvernante als Mätresse!...«

Mein Onkel fing an zu zittern, wurde blaß, biß sich auf die Lippen und half eilig Tatjana Iwanowna beim Einsteigen. Ich ging auf die andere Seite des Wagens hinüber und wartete darauf, daß die Reihe zum Einsteigen an mich käme, als plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand ergriff.

»Erlauben Sie mir wenigstens, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten!« sagte er und drückte mir mit dem Ausdruck der Verzweiflung die Hand.

»Was? Um meine Freundschaft?« erwiderte ich, während ich einen Fuß auf den Wagentritt setzte.

»Jawohl! Ich habe schon gestern erkannt, daß Sie ein hochgebildeter Mensch sind. Fällen Sie kein Verdammungsurteil über mich!... Eigentlich hat mich nur meine Mama dazu verleitet; ich war dabei nur eine Nebenperson. Ich habe mehr eine Neigung zur Literatur, versichere ich Ihnen; dies hier war ganz Mamas Werk...«

»Das glaube ich Ihnen, das glaube ich Ihnen«, antwortete ich. »Leben Sie wohl.«

Wir setzten uns, und die Pferde trabten los. Anfissa Petrownas Geschrei und Verwünschungen schallten uns noch lange nach, und aus allen Fenstern des Hauses schauten auf einmal unbekannte Gesichter heraus und blickten uns mit scheuer Neugier hinterher.

Im Wagen waren wir jetzt zu fünft; aber Misintschikow hatte sich auf den Bock gesetzt und seinen früheren Platz Herrn Bachtschejew überlassen, der also Tatjana Iwanowna direkt gegenüber saß. Tatjana Iwanowna war sehr zufrieden damit, daß wir sie zurückbrachten, weinte aber immer noch. Der Onkel tröstete sie, so gut er konnte. Er selbst war traurig und nachdenklich: offenbar klang Anfissa Petrownas wütende Äußerung über Nastasja immer noch schmerzlich in seinem Herzen nach. Übrigens wäre unsere Rückfahrt ohne alle Störung verlaufen, wenn wir nicht Herrn Bachtschejew bei uns gehabt hätten.

Sowie er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz genommen hatte, verlor er alle Selbstbeherrschung; er war nicht imstande, ein gleichmütiges Gesicht zu machen, rutschte auf seinem Platz hin und her, wurde rot wie ein Krebs und verdrehte die Augen in schrecklicher Weise; besonders als der Onkel Tatjana Iwanowna zu trösten anfing, geriet der Dicke ganz außer sich und knurrte wie eine Bulldogge, die man neckt. Der Onkel blickte mehrmals beunruhigt zu ihm hinüber. Endlich bemerkte auch Tatjana Iwanowna den ungewöhnlichen Gemütszustand ihres Visavis und betrachtete ihn nun aufmerksam; dann sah sie uns an, lächelte, nahm auf einmal ihren Sonnenschirm und versetzte damit Herrn Bachtschejew anmutig einen leichten Schlag auf die Schulter.

»Sie verdrehter Mensch!« sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie und versteckte sich sogleich hinter ihrem Fächer.

Dieses Benehmen war der Tropfen, der das Gefäß zum Überlaufen brachte.

»Wa-a-as?« brüllte der Dicke. »Was soll das heißen, Madame? Also machen Sie sich nun schon auch an mich heran!«

»Sie verdrehter Mensch, Sie verdrehter Mensch!« sagte Tatjana Iwanowna noch einmal, lachte auf einmal los und klatschte in die Hände.

»Halt an!« schrie Bachtschejew dem Kutscher zu; »halt an!«

Der Wagen hielt. Bachtschejew öffnete den Schlag und stieg eilig aus.

»Aber was hast du denn, Stepan Alexejewitsch? Wo willst du hin?« rief der Onkel erstaunt.

»Nein, ich habe genug von der Geschichte!« antwortete der Dicke, zitternd vor Empörung. »Hol die ganze Welt der Deibel! Ich bin schon zu alt, Madame, als daß mir eine mit Liebeleien kommen dürfte. Da sterbe ich schon lieber auf der Landstraße, meine Verehrteste! Leben Sie wohl, Madame, comment vous portez-vous?«

Und er ging tatsächlich zu Fuß. Der Wagen fuhr im Schritt hinter ihm her.

»Stepan Alexejewitsch!« rief mein Onkel, der nun endlich die Geduld verlor; »mach doch keine Dummheiten; laß es gut sein; steig ein! Es wird doch Zeit, daß wir nach Hause kommen!«

»Hol euch dieser und jener!« erwiderte Stepan Alexejewitsch, der vom Gehen schon ganz außer Atem war, weil er wegen seiner Korpulenz gar nicht mehr ans Gehen gewöhnt war.

»Fahr vollen Galopp!« schrie Misintschikow dem Kutscher zu.

»Was machst du, was machst du, halt an!« rief mein Onkel noch; aber der Wagen jagte bereits dahin. Misintschikow hatte sich nicht geirrt: nach wenigen Augenblicken trat die gewünschte Wirkung ein.

»Halt an! Halt an!« erscholl hinter uns ein verzweifeltes Geschrei. »Halt an, du Schurke! Halt an, du Mörder!«

Endlich erschien der Dicke, müde, halb erstickt, mit Schweißtropfen auf der Stirn, mit aufgebundenem Halstuch und mit der Mütze in der Hand. Schweigend und mit finsterem Gesicht stieg er in den Wagen; dieses Mal trat ich ihm meinen Platz ab; so saß er wenigstens nicht Tatjana Iwanowna gegenüber, die sich nach dieser Szene vor Lachen ausschütten wollte, in die Hände klatschte und während der ganzen übrigen Fahrt Stepan Alexejewitsch nicht gleichmütig ansehen konnte. Er aber sprach seinerseits, bis wir nach Hause gekommen waren, keine Silbe und blickte hartnäckig auf das eine sich drehende Hinterrad des Wagens.

Es war schon gegen zwölf Uhr mittags, als wir wieder nach Stepantschikowo kamen. Ich ging geradewegs zu meinem Sommerhäuschen, wo unmittelbar darauf Gawrila mit dem Tee erschien. Ich wollte den Alten schnell nach allerlei fragen; aber gleich hinter ihm trat mein Onkel ein und schickte ihn sogleich fort.

II
Neuigkeiten

»Ich bin nur auf einen Augenblick zu dir gekommen, lieber Freund«, begann er eifrig; »ich wollte dir schnell dies und das mitteilen... Ich habe mich schon nach allem erkundigt. Es ist heute niemand von ihnen zur Messe gewesen außer Ilja, Alexandra und Nastassja. Mama hat, wie es heißt, Krämpfe bekommen; sie haben ihr den Leib mit Tüchern abgerieben und sie mit Müh und Not wieder zu sich gebracht. Jetzt sollen sich alle bei Foma versammeln, und ich bin auch dazu aufgefordert worden. Ich weiß nur nicht, ob ich Foma zum Namenstag gratulieren soll oder nicht; das ist ein wichtiger Punkt! Und dann: wie werden sie diesen ganzen Vorfall aufnehmen? Es ist entsetzlich, lieber Sergej; ich habe schon so eine Ahnung...«

»Im Gegenteil, lieber Onkel«, beeilte ich mich zu erwidern; »alles gestaltet sich vorzüglich. Jetzt ist es Ihnen ja schlechterdings unmöglich, Tatjana Iwanowna zu heiraten; was ist allein das schon wert! Ich wollte Sie schon unterwegs darauf hinweisen.«

»Richtig, richtig, mein Freund. Aber das ist alles nicht die Hauptsache; in alledem sieht man allerdings den Fingerzeig Gottes, wie du sagst; aber davon wollte ich nicht reden... Die arme Tatjana Iwanowna! Was passieren doch mit ihr für Geschichten! Dieser Obnoskin ist doch wirklich ein Schurke, wirklich ein Schurke! Übrigens, wie kann ich ihn einen Schurken nennen? Wäre denn, wenn ich sie geheiratet hätte, meine Handlungsweise nicht auf dasselbe hinausgelaufen?... Aber auch davon wollte ich nicht reden... Hast du gehört, was vorhin diese nichtswürdige Anfissa mit Bezug auf Nastasja schrie?«

»Ja, ich habe es gehört, lieber Onkel. Haben Sie nun eingesehen, daß Eile not tut?«

»Unbedingt und um jeden Preis!« antwortete der Onkel. »Der entscheidende Augenblick ist gekommen. Nur an eines, lieber Freund, haben wir beide, du und ich, gestern nicht gedacht; aber ich habe nachher die ganze Nacht darüber nachgedacht: wird sie mich auch nehmen? Siehst du, das ist die Frage!«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel! Wo sie doch selbst gesagt hat, daß sie Sie liebt. ..«

»Aber, mein Freund, sie hat ja sofort hinzugefügt, sie werde mich um keinen Preis heiraten.«

»Ach, lieber Onkel! Das wird immer nur so gesagt; zudem haben sich doch auch inzwischen die Verhältnisse geändert.«

»Meinst du? Nein, lieber Sergej, das ist eine heikle Sache, eine sehr heikle Sache! Hm!... Aber weißt du, obwohl ich in Sorge war, war doch die ganze Nacht hindurch mein Herz von einem Glücksgefühl erfüllt!... Na, nun adieu; ich will schnell hin; sie warten auf mich; ich werde so schon zu spät kommen. Ich kam nur in aller Eile zu dir, um ein paar Worte mit dir zu sprechen. Ach, mein Gott!« rief er, wieder umkehrend, »ich habe ja die Hauptsache vergessen! Weißt du was: ich habe ja an ihn geschrieben, an Foma!«

»Wann denn?«

»In der Nacht; und heute morgen, als es Tag wurde, habe ich ihm den Brief durch Widopljassow zugesandt. Ich habe ihm alles auseinandergesetzt, lieber Freund, auf zwei Briefbogen; alles habe ich ihm wahrheitsgemäß und offenherzig erzählt, – kurz, daß ich verpflichtet bin, das heißt, unbedingt verpflichtet bin (du verstehst?), Nastasja einen Antrag zu machen. Ich habe ihn angefleht, von unserer Zusammenkunft im Garten nichts verlauten zu lassen, und habe mich an allen seinen Seelenadel mit der Bitte gewandt, mir bei Mama zu helfen. Ich habe das alles natürlich nur ungeschickt geschrieben, mein Freund; aber ich habe es aus tiefstem Herzen geschrieben und den Brief sozusagen mit meinen Tränen benetzt...«

»Und was geschah? Haben Sie keine Antwort erhalten?«

»Bis jetzt noch nicht; aber heute früh, als wir zur Verfolgung aufbrachen, begegnete ich ihm auf dem Flur; er war noch im Morgenmantel, in Pantoffeln und Schlafmütze; er trägt in der Nacht immer eine Schlafmütze; er ging irgendwohin. Er sagte kein Wort und sah mich nicht einmal an. Ich blickte ihm ins Gesicht, so von unten her; aber es war ihm nichts anzusehen!«

»Lieber Onkel, hoffen Sie nicht auf ihn; er ist Ihnen feindlich gesinnt.«

»Nein, nein, lieber Freund, sag das nicht!« rief mein Onkel mit einer abwehrenden Handbewegung; »ich bin mir sicher. Und zudem ist das ja meine letzte Hoffnung. Er wird mich verstehen; er wird meine Handlungsweise zu würdigen wissen. Er ist mürrisch und launisch, das bestreite ich nicht; aber wenn es sich um den höchsten Seelenadel handelt, dann glänzt er gleichsam wie eine Perle... ja, ganz wie eine Perle. Daß du so über ihn urteilst, Sergej, kommt nur daher, daß du ihn noch nie in solchem Zustand erlebt hast... Aber mein Gott! Wenn er wirklich das Geheimnis von gestern unter die Leute bringt, dann... ich weiß nicht, was dann geschehen wird, Sergej! Woran in der Welt kann man dann noch glauben? Aber nein, er kann kein solcher Schuft sein. Ich kann mich in moralischer Hinsicht gar nicht mit ihm vergleichen! Schüttle nicht den Kopf, lieber Freund; das ist die Wahrheit; es ist so.«

»Jegor Iljitsch! Ihre Frau Mutter ist in großer Unruhe«, erscholl von draußen Fräulein Perepelizynas unangenehme Stimme; wahrscheinlich hatte diese Dame durch das offene Fenster unser ganzes Gespräch mit angehört. »Man sucht Sie im ganzen Haus und kann Sie nicht finden.«

»Mein Gott, ich habe mich verspätet! So ein Unglück!« rief der Onkel in großer Aufregung. »Lieber Freund, um Gottes willen, zieh dich um und komm auch hin! Ebendeswegen war ich zu dir gekommen, damit wir zusammen hingehen... Ich komme, ich komme, Anna Nilowna; ich komme!«

Als ich allein geblieben war, erinnerte ich mich an die Begegnung, die ich am Morgen mit Nastasja gehabt hatte, und war recht zufrieden, daß ich dem Onkel nichts davon erzählt hatte; ich hätte seine Unruhe dadurch nur vergrößert. Ich sah ein schweres Unwetter voraus und konnte nicht begreifen, auf welche Weise der Onkel seinen Willen durchsetzen und Nastasja einen Heiratsantrag machen werde. Ich wiederhole: obwohl ich von seiner edlen Absicht völlig überzeugt war, zweifelte ich doch unwillkürlich daran, daß es ihm gelingen würde, sie auszuführen.

Indes, ich mußte mich beeilen. Ich hielt es für meine Pflicht, ihm zu helfen, und begann sogleich, mich umzuziehen; aber da ich mich möglichst gut ankleiden wollte, so verging darüber trotz aller Eile doch mehr Zeit, als mir lieb war. Da trat Misintschikow ins Zimmer.

»Ich soll Sie holen«, sagte er. »Jegor Iljitsch läßt Sie bitten, unverzüglich zu kommen.«

»Gehen wir!«

Ich war jetzt vollständig fertig. Wir gingen.

»Was gibt es dort Neues?« fragte ich unterwegs.

»Alle sind bei Foma versammelt«, antwortete Misintschikow. »Foma zeigt sich nicht launisch; er ist nachdenklich und redet nur wenig, oder vielmehr er murmelt nur etwas vor sich hin. Er hat sogar den kleinen Ilja geküßt, worüber Jegor Iljitsch natürlich ganz entzückt war. Erst vor einem Weilchen hat er durch Fräulein Perepelizyna ausrichten lassen, man solle ihm nicht zum Namenstag gratulieren; er habe alle nur prüfen wollen... Die Alte hat zwar so eine Witterung, verhält sich aber ruhig, da auch Foma ruhig ist. Von der Geschichte mit der Entführung und Verfolgung läßt keiner eine Silbe verlauten, als ob gar nichts geschehen wäre; sie schweigen, weil auch Foma schweigt. Er hat den ganzen Vormittag über niemand zu sich gelassen, obgleich die Alte vorhin, als wir weg waren, ihn bei allen Heiligen angefleht hat, zur Beratung zu ihr zu kommen; ja sie hat sogar selbst an seine Tür geklopft; aber er hatte sich eingeschlossen und antwortete, er bete für das Menschengeschlecht, oder etwas in der Art. Er führt irgend etwas im Schilde: das ist ihm am Gesicht abzulesen. Aber da Jegor Iljitsch niemandem etwas am Gesicht ablesen kann, so ist er jetzt ganz entzückt von Foma Fomitschs Sanftmut. Er ist eben das reine Kind! Ilja hat ein Gedicht auswendig gelernt, das er deklamieren soll; und mich hat man losgeschickt, um Sie zu holen.«

»Und Tatjana Iwanowna?«

»Was wollen Sie über Tatjana Iwanowna wissen?«

»Ist sie auch da? Mit denen zusammen?«

»Nein, sie ist auf ihrem Zimmer«, antwortete Misintschikow trocken. »Sie erholt sich und weint. Vielleicht schämt sie sich auch. Es ist jetzt anscheinend diese... diese Gouvernante bei ihr. Aber was ist das? Da braut sich wahrhaftig ein Gewitter zusammen. Sehen Sie nur, da am Himmel!«

»Es scheint allerdings ein Gewitter zu kommen«, sagte ich nach einem Blick auf die schwarze Wolke am Horizont.

In diesem Augenblick betraten wir die Terrasse.

»Aber was sagen Sie zu diesem Obnoskin, wie?« fuhr ich fort; ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, Misintschikow damit ein bißchen zu ärgern.

»Reden Sie mir nicht von dem! Erinnern Sie mich nicht an diesen Schurken!« schrie er, indem er plötzlich stehenblieb, rot wurde und mit dem Fuß stampfte. »So ein Dummkopf! So ein Dummkopf! Ein so prächtiges Unternehmen, einen so glänzenden Plan zu verpfuschen! Hören Sie: ich bin natürlich ein Esel, weil ich sein hinterlistiges Treiben nicht gemerkt habe; das gestehe ich feierlich, und vielleicht wollten Sie gerade dieses Geständnis von mir hören. Aber ich schwöre Ihnen: wenn er es verstanden hätte, all dies so, wie es sich gehört, durchzuführen, so hätte ich ihm sogar vielleicht verziehen! So ein Dummkopf, so ein Dummkopf! Daß man solche Leute in der Gesellschaft erträgt und duldet! Man sollte sie nach Sibirien zur Ansiedlung oder Zwangsarbeit schicken! Aber sie irren sich! Sie werden mich nicht überlisten! Jetzt bin ich wenigstens um eine Erfahrung reicher, und wir werden uns noch miteinander messen. Ich denke jetzt über einen neuen Plan nach... Sagen Sie selbst: soll ich denn das Meinige nur deswegen verlieren, weil ein Dummkopf, den es gar nichts anging, mir meine Idee gestohlen und die Sache nicht anzugreifen verstanden hat? Das wäre doch unbillig! Und schließlich muß diese Tatjana unbedingt heiraten; das ist ihre Bestimmung. Und wenn bisher noch niemand sie hat ins Irrenhaus bringen lassen, so ist das doch eben deshalb unterblieben, weil man sie immer noch heiraten konnte. Ich möchte Ihnen meinen neuen Plan mitteilen...«

»Aber das werden Sie wohl ein andermal tun können«, unterbrach ich ihn; »denn wir sind schon am Ziel.«

»Schön, schön, ein andermal!« antwortete Misintschikow, indem er seinen Mund zu einem krampfhaften Lächeln verzog. »Jetzt aber... Aber wohin wollen Sie denn? Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir geradeswegs zu Foma Fomitsch gehen! Folgen Sie mir; Sie sind noch nicht dort gewesen. Sie werden eine zweite Komödie mit ansehen... Denn zu einer Komödie hat sich die Sache schon entwickelt...«

III
Iljas Namenstag

Foma bewohnte zwei große, schöne Zimmer; sie waren sogar besser eingerichtet als alle andern Zimmer im Haus. Ein vollendeter Komfort umgab den großen Mann. Die hübschen, neuen Tapeten an den Wänden, die bunten, seidenen Vorhänge an den Fenstern, die Teppiche, der Trumeau, der Kamin, die bequemen, eleganten Möbel, alles zeugte von der zärtlichen Fürsorge der Wirte für ihren Gast Foma Fomitsch. Blumentöpfe standen auf den Fensterbrettern und auf runden Marmortischchen vor den Fenstern. In der Mitte des Arbeitszimmers befand sich ein großer, mit rotem Tuch bedeckter Tisch, ganz vollgepackt mit Büchern und Manuskripten. Ein schönes bronzenes Tintenfaß und ein ganzer Berg Federn, für welche Widopljassow zu sorgen hatte, alles dies zusammen sollte von Foma Fomitschs schwerer geistiger Arbeit Zeugnis ablegen. Ich bemerke hier beiläufig, daß Foma, der hier fast acht Jahre zugebracht hatte, absolut nichts Vernünftiges verfaßt hatte. In späterer Zeit, nachdem er in ein besseres Jenseits hinübergegangen war, untersuchten wir die von ihm hinterlassenen Manuskripte; sie stellten sich allesamt als der elendeste Schund heraus. Wir fanden zum Beispiel den Anfang eines historischen Romanes, der in Nowgorod im siebenten Jahrhundert spielte; ferner ein ungeheuerliches Gedicht, ›Der Klausner auf dem Kirchhof‹, das in reimlosen Versen geschrieben war; ferner eine sinnlose Abhandlung über die Bedeutung und die Eigenschaften des russischen Bauern und darüber, wie man ihn behandeln müsse, und endlich eine ebenfalls unvollendete Novelle aus dem Leben der vornehmen Welt, mit dem Titel: ›Gräfin Wlonskaja‹. Weiter hatte er nichts hinterlassen. Aber dabei veranlaßte Foma Fomitsch meinen Onkel, jährlich eine große Menge Geld für Bücher und Zeitschriften, die er kommen lassen mußte, auszugeben. Aber viele derselben blieben sogar unaufgeschnitten. Dagegen habe ich in späterer Zeit Foma zu wiederholten Malen bei der Lektüre Paul de Kockscher Romane betroffen, die er vor den Augen der Leute möglichst versteckte. In der hinteren Wand des Arbeitszimmers befand sich eine Glastür, die auf den Hof führte.

Wir wurden schon erwartet. Foma Fomitsch saß in einem bequemen Lehnstuhl; er trug einen langen, bis über die Knöchel reichenden Gehrock, hatte aber kein Halstuch umgebunden. Er war in der Tat schweigsam und nachdenklich. Als wir eintraten, zog er nur die Augenbrauen ein wenig empor und sah mich mit einem prüfenden Blicke an. Ich verbeugte mich; er antwortete darauf mit einer leichten, aber ziemlich höflichen Verbeugung. Als die Großmutter sah, daß Foma Fomitsch mich huldvoll behandelte, nickte sie mir lächelnd zu. Die Ärmste hatte am Vormittag gar nicht erwartet, daß ihr Abgott die Nachricht von Tatjana Iwanownas ›Exzeß‹ so ruhig aufnehmen werde, und war daher jetzt außerordentlich heiter geworden, obgleich sie am Morgen tatsächlich Krämpfe bekommen hatte und in Ohnmacht gefallen war. Hinter ihrem Stuhl stand wie gewöhnlich Fräulein Perepelizyna, preßte die Lippen fest zusammen, lächelte säuerlich und boshaft und rieb ihre knochigen Hände aneinander. Neben der Generalin saßen zwei, bejahrte arme adlige Klientinnen, die beständig schwiegen. Außerdem war noch eine am Vormittag eingetroffene Nonne anwesend sowie eine ebenfalls schweigsame ältere Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft; diese war bei der Rückfahrt von der Messe vorbeigekommen, um der Generalin zum Festtag zu gratulieren. Tante Praskowja Iwanowna drückte sich irgendwo in eine Ecke und blickte voll Unruhe zu Foma Fomitsch und ihrer Mutter hinüber. Der Onkel saß auf einem Lehnstuhl, und in seinen Augen strahlte eine ganz besondere Freude. Vor ihm stand Ilja in einem festtäglichen roten Hemd, mit gebrannten Locken, schön wie ein kleiner Engel. Alexandra und Nastasja hatten ihm, ohne daß es jemand wußte, ein Gedicht beigebracht, um dem Vater an einem solchen Tag durch die geistigen Fortschritte des Knaben eine Freude zu machen. Mein Onkel weinte beinahe vor Wonne: Fomas unerwartete Sanftmut, die heitere Stimmung der Generalin, Iljas Namenstag, das Gedicht, all dies versetzte ihn direkt in Entzücken, und er hatte in feierlicher Form um die Erlaubnis gebeten, mich rufen zu lassen, damit auch ich möglichst bald an der allgemeinen Glückseligkeit teilnehmen und das Gedicht mit anhören könne. Alexandra und Nastasja, die unmittelbar nach uns eingetreten waren, standen neben Ilja. Alexandra lachte fortwährend und war in diesem Augenblick glücklich wie ein Kind. Nastasja fing bei ihrem Anblick ebenfalls an zu lächeln, obgleich sie kurz vorher beim Eintritt blaß und niedergeschlagen gewesen war. Sie war die einzige gewesen, die der von ihrer Reise zurückgekehrten Tatjana Iwanowna freundlich entgegengekommen war und sie getröstet hatte; sie hatte bis jetzt bei ihr oben gesessen. Der ausgelassene Ilja konnte gleichfalls das Lachen nicht unterdrücken, sooft er seine Lehrerinnen ansah. Es schien, daß sie alle drei eine sehr komische Überraschung vorbereitet hatten, die sie jetzt in Szene setzen wollten... Ich habe noch Herrn Bachtschejew vergessen. Er saß, immer noch zornig und rot, etwas abseits auf einem Stuhl, schwieg, schmollte, schnaubte sich die Nase und spielte bei dem Familienfest überhaupt eine ziemlich traurige Rolle. Neben ihm trippelte Jeshewikin umher; übrigens war er im ganzen Zimmer bald hier, bald da zu sehen, küßte der Generalin die Hand, flüsterte Fräulein Perepelizyna etwas zu und machte Foma Fomitsch den Hof; kurz, er zeigte sich nach allen Seiten hin beflissen. Auch er wartete mit lebhafter Teilnahme auf Iljas Deklamation; bei meinem Eintritt eilte er mit vielen Verbeugungen auf mich zu, um mir seine größte Hochachtung und Ergebenheit zu bekunden. Es war ihm ganz und gar nicht anzusehen, daß er hergekommen war, um seine Tochter zu beschützen und sie gänzlich aus Stepantschikowo wegzuholen.

»Da ist er ja!« rief mein Onkel freudig, als er mich erblickte. »Lieber Freund, Ilja hat ein Gedicht auswendig gelernt; das ist mal eine Überraschung, eine richtige Überraschung! Ich bin froh und erstaunt und habe extra nach dir geschickt und die Deklamation bis zu deiner Ankunft noch aufgehalten. Setz dich hier neben mich! Nun wollen wir zuhören! Foma Fomitsch, gestehe es nur, bester Freund, du hast sie gewiß alle erst auf diesen Gedanken gebracht, um mir altem Mann eine Freude zu machen! Ich möchte schwören, daß es sich so verhält!«

Wenn der Onkel in Fomas Zimmer in solchem Ton sprach, so hätte man meinen können, daß alles gut stand. Aber das war eben das Unglück, daß der Onkel niemandem etwas vom Gesicht ablesen konnte, wie Misintschikow sich ausgedrückt hatte; ich aber sagte mir bei einem Blick auf Foma unwillkürlich, daß Misintschikow recht habe und wir uns auf irgend etwas gefaßt machen müßten...

»Beunruhigen Sie sich nicht meinetwegen, Oberst!« antwortete Foma mit schwacher Stimme, mit der Stimme eines Menschen, der seinen Feinden verzeiht. »Die Überraschung lobe ich natürlich: das zeugt von dem Zartgefühl und der Pietät Ihrer Kinder. Gedichte sind ebenfalls nützlich, schon weil man dadurch eine gute Aussprache lernt... Aber ich habe mich an diesem Vormittag nicht mit Gedichten abgegeben, Jegor Iljitsch: ich habe gebetet... das wissen Sie... Übrigens bin ich bereit, auch die Deklamation von Gedichten anzuhören!«

Unterdessen hatte ich den kleinen Ilja beglückwünscht und geküßt.

»Gewiß, Foma, entschuldige! Ich hatte nicht daran gedacht... wiewohl ich von deiner Freundschaft überzeugt bin, Foma! Küsse ihn doch noch einmal, lieber Sergej! Sieh nur, was er für ein Prachtjunge ist! Na, nun fang an, lieber Ilja! Wovon handelt es denn? Es ist gewiß so eine feierliche Ode, etwas von Lomonossow?«

Mein Onkel nahm eine würdevolle Miene an. Er konnte vor Ungeduld und Freude kaum stillsitzen.

»Nein, Papa, nicht von Lomonossow«, sagte Alexandra, die nur mit Mühe das Lachen unterdrückte; »sondern da Sie beim Militär gewesen sind und gegen unsere Feinde gekämpft haben, hat Ilja ein Gedicht über etwas Kriegerisches gelernt... Es heißt ›Die Belagerung von Pamba‹, Papa.«

» ›Die Belagerung von Pamba‹? Ah! Ich erinnere mich nicht... Was ist das für ein Pamba, lieber Sergej? Weißt du es? Das Gedicht handelt gewiß von einer Heldentat.«

Der Onkel verlieh seinem Gesicht zum zweiten Mal einen würdevollen Ausdruck.

»Nun sag es auf, Ilja!« befahl Alexandra, »Pedro Gomez hat begonnen...« fing Ilja mit seiner gleichmäßigen, deutlichen Knabenstimme an zu deklamieren; er sprach ohne Kommata und Punkte, wie das kleine Kinder gewöhnlich tun, wenn sie Gedichte auswendig hersagen.

»Pedro Gomez hat begonnen

Vor neun Jahren schon,

die starke Feste Pamba zu belagern.

Nur von Milch hat sich genähret

Während dieses ganzen Zeitraums

Er und seine tapfre Heerschar,

Wohl neuntausend Kastilianer.

Denn sie taten ein Gelübde,

Eh erobert wäre Pamba,

Keine Speise zu berühren

Außer Milch als einz’ger Kost.«

»Wie? Was? Was ist das für Milch?« rief der Onkel, mich erstaunt anblickend.

»Sag weiter auf, Ilja!« rief Alexandra.

»Täglich weint Don Pedro Gomez,

Eingehüllt in seinen Mantel,

Über seines Leibes Schwäche.

Ach, die Mauren triumphieren

Bei des zehnten Jahres Anfang,

Und von Pedros großem Heere

Sind im ganzen nur noch übrig

Neunzehn, bloße neunzehn Mann...«

»Aber das ist ja Unsinn!« rief der Onkel beunruhigt. »Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit! Neunzehn Mann sollen von dem ganzen Heere übriggeblieben sein, das doch vorher von recht beträchtlicher Größe war! Was soll denn das heißen, lieber Freund?«

Aber nun konnte sich Alexandra nicht mehr halten und brach in das herzlichste Kinderlachen aus; und obgleich eigentlich wenig Anlaß zum Lachen war, mußte man doch, wenn man sie ansah, unwillkürlich mitlachen.

»Ach, Papa, das ist doch ein scherzhaftes Gedicht!« rief sie, höchst vergnügt über ihren kindlichen Einfall. »Das hat der Verfasser selbst absichtlich so gemacht, damit es allen komisch vorkommen soll, Papachen!«

»Ach so! Ein scherzhaftes Gedicht!« rief mein Onkel mit strahlendem Gesicht. »Ein komisches also. So so, nun verstehe ich es... Gewiß, gewiß, ein scherzhaftes Gedicht! Und sehr komisch ist es, außerordentlich komisch: infolge eines Gelübdes hat er seine ganze Armee bei Milchkost verhungern lassen! Sehr schlau von ihm, so etwas zu geloben! Ein sehr witziges Gedicht, nicht wahr, Foma? Sehen Sie, Mama, das ist so ein komisches Gedicht, wie die Dichter es manchmal schreiben. Nicht wahr, Sergej, das tun sie doch? Überaus komisch! Na, lieber Ilja, wie geht’s nun weiter?«

»Neunzehn, bloße neunzehn Mann!

Die versammelte der Feldherr

Und sprach also: ›O ihr neunzehn!

Laßt die Fahnen uns entfalten,

Laßt beim Dröhnen der Drommeten

Und beim Schall der großen Pauken

Uns von Pamba abmarschieren!

Ob wir gleich die Burg nicht nahmen,

Können wir doch sämtlich schwören,

Stolz, auf Ehre und Gewissen,

Daß wir nie gebrochen haben

Unser einstiges Gelübde:

Neun, neun Jahre lang genossen

Wir zu unsres Leibes Nahrung

Nichts als Milch und wieder Milch!«

»So ein Dummkopf!« unterbrach der Onkel den kleinen Deklamator wieder. »Was ist das nun für ein Trost dafür, daß er neun Jahre lang Milch getrunken hat!... Und ist das etwa eine tugendhafte Tat? Hätte er nur lieber alle Tage einen ganzen Hammel gegessen und seine Leute nicht verhungern lassen! Ein schönes Gedicht, ein vorzügliches Gedicht! Ich sehe jetzt: es ist eine Satire oder... wie nennt man es doch? eine Allegorie, nicht wahr? Und vielleicht sogar auf irgendeinen ausländischen Feldherrn«, fügte der Onkel, an mich gewandt, hinzu, wobei er die Augenbrauen bedeutsam zusammenzog und mir zublinzelte, »he? wie denkst du darüber? Aber selbstverständlich eine harmlose, anständige Satire, die niemanden verletzen kann! Ein schönes Gedicht, ein schönes Gedicht! Und, was die Hauptsache ist, von anständiger Gesinnung! Na, lieber Ilja, dann fahre fort! Ach, ihr Schelminnen, ihr Schelminnen!« fügte er freundlich hinzu, indem er Alexandra und verstohlen auch Nastasja ansah, die errötete und lächelte.

»Neu ermutigt durch Don Pedros

Edle Worte, riefen alle

Diese neunzehn Kastilianer,

Die schon in den Sätteln schwankten,

Kühn, obwohl mit matter Stimme:

›Heil’ger Jago, Spaniens Schirmherr!

Ruhm und Ehre sei Don Pedro,

Diesem Löwen von Kastilien!‹

Aber sein Kaplan Diego

Ließ sich halblaut so vernehmen:

›An des Feldherrn Stelle hätt ich

Lieber dies gelobt den Heil’gen:

›Essen will ich nichts als Braten,

Trinken nichts als Zyperwein.‹ «

»Na, seht ihr wohl? Habe ich nicht ganz dasselbe gesagt?« rief der Onkel höchst erfreut. »In dem ganzen Heer gab es nur einen einzigen vernünftigen Menschen, und auch der ist irgend so ein Kaplan! Was ist das, Sergej? Das ist wohl bei denen ein Hauptmann?«

»Ein Mönch, ein Geistlicher, lieber Onkel.«

»Ach, ja, ja! Kaplan, Kaplan, ich weiß schon, ich erinnere mich! Ich habe den Ausdruck schon in Radcliffeschen Romanen gelesen. Es gibt da bei ihnen ja wohl verschiedene Orden, nicht?... Benediktiner, glaube ich... Gibt es nicht Benediktiner?...«

»Ja, die gibt es, lieber Onkel.«

»Hm... Das habe ich mir auch so gedacht. Nun, lieber Ilja, wie geht es weiter? Ein schönes, vortreffliches Gedicht!«

»Dieses hörte Pedro Gomez,

Und er sprach mit heitrem Lachen:

›Gebt ihm einen ganzen Hammel;

Denn nicht übel war sein Witz!...‹ «

»Na ja, das war wohl für ihn gerade die richtige Zeit zum Lachen! So ein Dummerjan! Zuletzt kam ihm die Geschichte selbst lächerlich vor! Einen Hammel! Also waren doch Hammel da; warum hat er selbst keinen gegessen? Na, lieber Ilja, nun weiter! Ein schönes, vorzügliches Gedicht! Außerordentlich satirisch!«

»Aber es ist ja schon zu Ende, Papa!«

»Ah, es ist zu Ende! In der Tat, was hätte er denn auch weiter tun können? Nicht wahr, Sergej? Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Ilja! Wunderhübsch! Gib mir einen Kuß, mein Herzchen! Ach, du mein lieber Junge! Aber wer hat ihn eigentlich auf den Gedanken gebracht, dieses Gedicht zu lernen? Du, Alexandra?«

»Nein, Nastasja ist es gewesen. Wir lasen das Gedicht neulich, und da sagte sie: ›Was für ein komisches Gedicht das ist! Nächstens ist Iljas Namenstag: wir wollen es ihn auswendig lernen und aufsagen lassen. Das wird viel Gelächter geben!‹ «

»Also Nastasja ist es gewesen? Nun, vielen Dank, vielen Dank!« murmelte der Onkel, der auf einmal errötet war wie ein Kind. »Gib mir noch einen Kuß, lieber Ilja! Und du auch, du Schelmin!« fuhr er fort, indem er Alexandra umarmte und ihr liebevoll in die Augen sah.

»Warte nur, Alexandra; du wirst auch deinen Namenstag haben«, fügte er hinzu, wie wenn er gar nicht wüßte, was er vor lauter Freude sagen sollte.

Ich wandte mich an Nastasja mit der Frage, von wem das Gedicht sei.

»Ja, ja, von wem ist das Gedicht?« fiel der Onkel hastig ein. »Jedenfalls hat es ein kluger Dichter geschrieben; nicht wahr, Foma?«

»Hm!« brummte Foma.

Während der ganzen Deklamation des Gedichtes war ein bissiges, spöttisches Lächeln nicht von seinen Lippen gewichen.

»Ich habe es wirklich vergessen«, antwortete Nastasja mit einem ängstlichen Blick auf Foma Fomitsch.

»Herr Kusma Prutkow hat es geschrieben, Papa; es ist im ›Zeitgenossen‹ erschienen«, rief Alexandra in munterem Ton.

»Kusma Prutkow! Den kenne ich nicht«, sagte der Onkel. »Ja, Puschkin, den kenne ich!... Übrigens ist es klar, daß er ein begabter Dichter ist; nicht wahr, Sergej? Und überdies ein Mensch mit edlen Eigenschaften; das ist klar, sonnenklar! Vielleicht ist er sogar Offizier... Ich muß ihn loben. Und der ›Zeitgenosse‹ ist ein vorzügliches Journal! Wir müssen es unbedingt abonnieren, wenn lauter solche Dichter daran mitarbeiten... Ich kann die Dichter gut leiden! Es sind prächtige Menschen! Alles drücken sie in Versen aus! Erinnerst du dich, Sergej: ich lernte bei dir in Petersburg einen Literaten kennen; er hatte so eine eigentümliche Nase... wirklich!... Was sagtest du, Foma?«

Foma Fomitsch, dessen Mißstimmung immer stärker wurde, kicherte laut.

»Nein, ich habe nur so... es ist nichts...«, sagte er, wie wenn er nur mit Mühe das Lachen unterdrückte. »Fahren Sie fort, Jegor Iljitsch, fahren Sie fort! Was ich zu sagen habe, werde ich später sagen... Auch Stepan Alexejewitsch hier wird mit großem Vergnügen von Ihren Bekanntschaften mit Petersburger Literaten hören...«

Stepan Alexejewitsch, der die ganze Zeit über nachdenklich etwas abseits gesessen hatte, hob auf einmal den Kopf, errötete und drehte sich mit ingrimmiger Miene auf dem Lehnstuhl um.

»Reizen Sie mich nicht, Foma, sondern lassen Sie mich in Ruhe!« sagte er, indem er Foma zornig mit seinen kleinen, blutunterlaufenen Augen anblickte. »Was schert mich Ihre Literatur? Wenn mir nur Gott Gesundheit gibt«, murmelte er vor sich hin, »dann kann meinetwegen alle der Deibel holen... mitsamt den Schriftstellern... Das sind doch lauter Voltairianer, weiter nichts!«

»Die Schriftsteller sind Voltairianer?« sagte Jeshewikin, der sich sofort neben Herrn Bachtschejew befand. »Da haben Sie ein sehr wahres Wort gesprochen, Stepan Alexejewitsch. So drückte sich auch Walentin Ignatitsch kürzlich aus. Auch mich selbst hat man einen Voltairianer genannt; es ist tatsächlich wahr, bei Gott! Und dabei habe ich, wie jeder weiß, nur ganz wenig geschrieben... Aber das ist mir denn auch schlecht bekommen: dem alten Weib ist ein Topf Milch sauer geworden – und an alldem ist Herr Voltaire schuld! So geht es bei uns immer!«

»Aber nicht doch!« bemerkte mein Onkel würdevoll; »das ist doch ein Irrtum! Voltaire war nur ein geistreicher Schriftsteller und machte sich über allerlei althergebrachte Meinungen lustig; aber ein Voltairianer ist er niemals gewesen! Das haben alles nur seine Feinde über ihn in Umlauf gebracht. Wirklich, womit hat der arme Kerl es verdient, daß alle über ihn herfallen?«

Von neuem ließ sich Foma Fomitschs boshaftes Kichern vernehmen. Beunruhigt blickte der Onkel zu ihm hinüber und wurde sichtlich verlegen.

»Nein, siehst du, Foma, ich wollte nur von den Journalen reden«, fuhr er in seiner Verwirrung fort, um seine Situation einigermaßen zu verbessern. »Du hattest vollkommen recht, lieber Foma, als du neulich betontest, wir müßten recht viele abonnieren. Ich bin ebenfalls der Ansicht, daß wir das tun müssen!... Hm... ja, wirklich, sie verbreiten Aufklärung! Was ist man denn für ein Sohn des Vaterlandes, wenn man sie nicht abonniert? Nicht wahr, Sergej? Hm!... Ja!... Da ist zum Beispiel der ›Zeitgenosse‹... Aber weißt du, lieber Sergej, die stärksten Wissenschaften stehen doch meiner Ansicht nach in dem dicken Journal... wie heißt es doch gleich? Es hat so einen gelben Umschlag...«

» ›Vaterländische Aufzeichnungen‹, Papa!«

»Na ja, ›Vaterländische Aufzeichnungen‹. Und ein vortrefflicher Titel ist das, Sergej, nicht wahr? Es sitzt sozusagen das ganze Vaterland da und macht Aufzeichnungen... Ein edles Ziel! Ein sehr nützliches Journal! Und wie dick! Probier’s mal und gib so einen Wälzer heraus! Und Wissenschaften sind darin, solche Wissenschaften, daß einem die Augen ordentlich aus dem Kopf springen... Neulich kam ich her, da lag hier ein Heft; ich nahm es aus Neugier in die Hand, schlug es auf und las auf einen Hieb drei Seiten hintereinanderweg. Ich sperrte geradezu Mund und Nase auf, lieber Freund! Und weißt du, über alles mögliche wird da Auskunft gegeben: was bedeutet zum Beispiel Besen, Schaufel, Kochlöffel, Topfgabel? Meiner Ansicht nach ist ein Besen eben ein Besen und eine Topfgabel eine Topfgabel! Aber nein, lieber Freund, warte nur! Anhand der Wissenschaft stellt es sich heraus, daß eine Topfgabel nicht eine Topfgabel ist, sondern ein Emblem oder etwas Mythologisches; ich erinnere mich nicht mehr recht, was; aber so ungefähr war es... Es ist ganz erstaunlich! Sie haben es weit gebracht!«.

Ich weiß nicht, was nach diesen neuen wunderlichen Äußerungen meines Onkels Foma eigentlich zu tun beabsichtigte; aber in diesem Augenblick erschien Gawrila und blieb mit hängendem Kopf auf der Schwelle stehen.

Foma Fomitsch blickte ihn bedeutungsvoll an.

»Ist alles bereit, Gawrila?« fragte er mit schwacher Stimme, aber in entschlossenem Ton.

»Jawohl«, antwortete Gawrila traurig und seufzte dabei.

»Hast du auch mein Bündel auf den Wagen gelegt?«

»Jawohl.«

»Nun, dann bin auch ich bereit!« sagte Foma und erhob sich langsam von seinem Lehnstuhl. Mein Onkel blickte ihn verständnislos an. Die Generalin sprang von ihrem Platz auf und sah sich beunruhigt um.

»Erlauben Sie mir jetzt, Oberst«, begann Foma mit würdigem Ernst, »Sie zu bitten, die interessante Auseinandersetzung über die Topfgabeln in der Literatur für eine kleine Weile einzustellen; Sie können sie nachher, wenn ich weg bin, fortsetzen. Ich aber würde gern jetzt, wo ich für immer von Ihnen Abschied nehme, noch ein paar letzte Worte zu Ihnen sagen...«

Alle Zuhörer waren von Schrecken und Staunen wie gelähmt.

»Foma, Foma! Aber was hast du denn? Wo willst du denn hin?« rief der Onkel endlich.

»Ich beabsichtige, Ihr Haus zu verlassen, Oberst«, fuhr Foma mit ganz ruhiger Stimme fort. »Ich habe beschlossen zu gehen, wohin mich das Schicksal führt, und mir daher für mein eigenes Geld einen einfachen Bauernwagen gemietet. Auf diesem liegt jetzt mein Bündel; es ist nicht groß: ein paar Lieblingsbücher, etwas reine Wäsche – das ist alles! Ich bin arm, Jegor Iljitsch; aber um keinen Preis auf der Welt werde ich jetzt Ihr Gold annehmen, das ich auch gestern schon zurückgewiesen habe!«

»Aber um Gottes willen, Foma, was hat das zu bedeuten?« rief der Onkel, der bleich wie Leinwand geworden war.

Die Generalin kreischte auf, blickte in heller Verzweiflung Foma Fomitsch an und streckte die Hände nach ihm aus. Fräulein Perepelizyna stürzte zu ihr hin, um sie zu stützen. Die armen Klientinnen waren auf ihren Plätzen erstarrt. Herr Bachtschejew erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl.

»Na, nun hat die Komödie angefangen!« flüsterte Misintschikow neben mir.

In diesem Augenblick ließ sich fernes Donnergrollen vernehmen; es begann ein Gewitter.

IV
Aus dem Hause gejagt

»Sie fragen, was das zu bedeuten hat, Oberst«, erwiderte Foma feierlich, der sich an dem Anblick des allgemeinen Erstaunens zu weiden schien. »Ich wundere mich über diese Frage! Erklären Sie mir doch Ihrerseits, auf welche Weise Sie es fertigbringen, mir jetzt offen in die Augen zu sehen! Erklären Sie mir dieses schwierigste psychologische Problem menschlicher Schamlosigkeit, und dann werde ich bei meinem Scheiden wenigstens um eine neue Erfahrung über die Verderbtheit des Menschengeschlechtes reicher sein.«

Aber mein Onkel war nicht imstande, etwas zu erwidern; erschrocken und ganz vernichtet, mit offenem Mund und weitgeöffneten Augen, sah er Foma an.

»O Gott, wie schrecklich!« stöhnte Fräulein Perepelizyna.

»Begreifen Sie auch, Oberst«, fuhr Foma fort, »daß Sie mich jetzt ohne weiteres, ohne alle Fragen ziehen lassen müssen? In Ihrem Haus fange sogar ich, ein bejahrter, ruhig denkender Mensch, schon an, ernstlich um die Reinheit meiner Sitten besorgt zu sein. Glauben Sie mir, weitere Fragen können zu nichts anderem führen als zu Ihrer eigenen Beschämung.«

»Foma! Foma!...«, rief mein Onkel, dem der kalte Schweiß auf die Stirn trat.

»Und daher gestatten Sie mir bitte, Ihnen ohne alle weiteren Auseinandersetzungen nur ein paar Abschiedsworte zu sagen, meine letzten Worte in Ihrem Haus, Jegor Iljitsch. Es ist nun einmal geschehen und läßt sich nicht ungeschehen machen! Hoffentlich verstehen Sie, wovon ich rede. Aber ich flehe Sie auf den Knien an: Wenn in Ihrem Herzen noch ein Funke von Moral übriggeblieben ist, so zügeln Sie das Ungestüm Ihrer Leidenschaften! Und wenn das verderbenbringende Element noch nicht das ganze Gebäude erfaßt hat, so löschen Sie die Feuersbrunst nach Möglichkeit!«

»Foma, ich versichere dir, du bist im Irrtum!« rief der Onkel, der allmählich wieder zu sich kam und mit Entsetzen die Lösung ahnte.

»Mäßigen Sie Ihre Leidenschaften!« fuhr Foma in demselben feierlichen Ton fort, wie wenn er den Ausruf meines Onkels gar nicht gehört hätte; »besiegen Sie sich selbst! ›Wenn du die ganze Welt besiegen willst, so besiege dich selbst!‹, das ist meine stete Maxime. Sie sind der Herr dieses Gutes; Sie sollten auf Ihren Besitzungen wie ein Brillant strahlen; aber was für ein abscheuliches Beispiel der Zügellosigkeit geben Sie hier Ihren Untergebenen! Ganze Nächte hindurch habe ich für Sie gebetet und gezittert, in der Sorge um Ihr Glück. Es ist mir nicht gelungen, Sie glücklich zu machen; denn die Bedingung des Glücks ist die Tugend...«

»Aber du darfst nicht so reden, Foma!« unterbrach ihn der Onkel von neuem. »Du hast es falsch aufgefaßt, und deine Worte treffen gar nicht das Richtige...«

»Vergessen Sie also nicht, daß Sie Gutsherr sind«, fuhr Foma fort, wieder ohne auf den Zwischenruf des Onkels zu achten. »Glauben Sie nicht, daß Müßiggang und Sinnenlust die Bestimmung dieses Standes seien. Das wäre eine verderbliche Anschauung! Nicht Müßiggang, sondern treue Bemühung steht dem Gutsherrn an; dafür ist er Gott, dem Zaren und dem Vaterland verantwortlich! Zu arbeiten, zu arbeiten ist der Gutsherr verpflichtet, zu arbeiten wie der Geringste seiner Bauern!«

»Nanu, soll ich etwa für den Bauern pflügen?« brummte Bachtschejew. »Ich bin ja doch auch Gutsbesitzer...«

»Jetzt wende ich mich an euch, ihr Diener«, fuhr Foma, an Gawrila und Falalej gewandt, fort. »Liebet eure Herrschaft und erfüllt ihren Willen in Ehrerbietung und Sanftmut! Dafür wird euch auch eure Herrschaft lieben. Und Sie, Oberst, seien Sie gegen Ihre Leute gerecht und barmherzig! Ihr Untergebener ist ebenso ein Mensch wie Sie, ein Ebenbild Gottes, und ist Ihnen sozusagen wie ein unmündiges Kind vom Zaren und vom Vaterland anvertraut worden. Groß ist die Pflicht; aber groß wird auch Ihr Verdienst sein, wenn Sie sie erfüllen!«

»Foma Fomitsch! Liebster Freund! Wie bist du nur auf diesen Einfall gekommen?« rief die Generalin ganz verzweifelt und war nahe daran, vor Schreck in Ohnmacht zu fallen.

»Nun, jetzt ist es ja wohl genug?« schloß Foma, der nicht einmal der Generalin irgendwelche Beachtung schenkte. »Jetzt noch einige Einzelheiten, die zwar geringfügig, aber doch auch notwendig sind, Jegor Iljitsch! Auf der abgelegenen Wiese von Charinskoje ist bei Ihnen das Heu noch nicht gemäht. Schieben Sie das nicht zu lange auf: lassen Sie es mähen, und zwar so bald wie möglich! Das ist mein Rat...«

»Aber, Foma...«

»Sie beabsichtigten, wie ich weiß, die Waldparzelle von Syrjanowo abholzen zu lassen; tun Sie das nicht; das ist mein zweiter Rat. Erhalten Sie die Wälder; denn die Wälder erhalten die Feuchtigkeit auf der Oberfläche der Erde... Schade, daß Sie das Sommergetreide zu spät haben säen lassen; ich muß mich wundern, daß Sie das erst so spät getan haben!...«

»Aber Foma...«

»Doch nun sei es endlich genug! Alle wünschenswerten guten Lehren kann ich Ihnen jetzt doch nicht geben; dazu reicht die Zeit nicht aus! Ich werde Ihnen eine schriftliche Anweisung schicken, in einem besonderen Heft. Nun, dann leben Sie wohl, lebt alle wohl! Gott sei mit euch; der Herr segne euch! Ich segne auch dich, mein Kind«, fuhr er, an Ilja gewandt, fort; »möge Gott dich vor dem tödlichen Gift deiner künftigen Leidenschaften bewahren! Auch dich, Falalej, segne ich; vergiß den Komarinski!... Alle, alle segne ich... Vergeßt Foma nicht!... Nun, dann wollen wir gehen, Gawrila! Hilf mir beim Einsteigen, Alterchen!«

Mit diesen Worten schritt Foma auf die Tür zu. Die Generalin schrie auf und stürzte ihm nach.

»Nein, Foma, ich lasse dich nicht so weg!« rief der Onkel, holte ihn ein und ergriff ihn bei der Hand.

»Das heißt, Sie wollen mich mit Gewalt zurückhalten?« fragte Foma in hochmütigem Ton.

»Ja, Foma... auch mit Gewalt!« erwiderte mein Onkel, vor Aufregung zitternd. »Du hast zuviel gesagt und bist dafür eine Erklärung schuldig! Du hast meinen Brief falsch aufgefaßt, Foma!...«

»Ihren Brief!« kreischte Foma in plötzlich auflodernder Wut, als ob er mit dem Ausbruch extra auf diesen Augenblick gewartet hätte; »Ihren Brief! Da ist er, Ihr Brief! Da ist er! Ich zerreiße diesen Brief; ich spucke auf diesen Brief! Ich trete Ihren Brief mit Füßen und erfülle damit die heiligste, Pflicht gegen die Menschheit! Da! Das tue ich, wenn Sie mich mit Gewalt zu näheren Erklärungen zwingen! Sehen Sie her! Sehen Sie her! Sehen Sie her!...«

Und die Papierfetzen flogen im Zimmer umher.

»Ich wiederhole es, Foma: Du hast das Ganze nicht verstanden!« rief mein Onkel, der immer blasser wurde. »Ich mache ihr einen Heiratsantrag, Foma; ich will mit ihr glücklich werden...«

»Einen Heiratsantrag! Sie haben dieses Mädchen verführt und wollen mir nun mit diesem Heiratsantrag blauen Dunst vormachen; denn ich habe Sie gestern nacht mit ihr im Garten gesehen, unter den Büschen!«

Die Generalin schrie auf und sank ohnmächtig in ihren Lehnstuhl. Es entstand ein schreckliches Durcheinander. Die arme Nastasja saß totenblaß da. Tief erschrocken umschlang Alexandra ihren Bruder Ilja mit den Armen und zitterte wie im Fieber.

»Foma,!« rief der Onkel ganz außer sich. »Wenn du dieses Geheimnis verrätst, so begehst du die schändlichste Tat der Welt!«

»Ich verrate dieses Geheimnis«, schrie Foma, »und begehe damit die edelste aller Taten! Ich bin von Gott selbst gesandt, um die ganze Welt ihrer Schändlichkeit zu überführen! Ich bin bereit, auf das Strohdach eines Bauernhauses zu steigen und von dort allen Gutsbesitzern der Umgegend und allen Vorüberfahrenden zuzuschreien, wie nichtswürdig Sie gehandelt haben!... Ja, mögt ihr alle hier es wissen, daß ich ihn gestern nacht mit diesem so unschuldig aussehenden Mädchen im Garten unter den Büschen angetroffen habe!...«

»Ach, welche Schande!« quiekte Fräulein Perepelizyna.

»Foma! Stürze dich nicht ins Verderben!« rief mein Onkel mit geballten Fäusten und funkelnden Augen.

»... Er aber«, kreischte Foma, »er hat, erschrocken darüber, daß ich ihn gesehen hatte, den Versuch gewagt, mich ehrenhaften und offenherzigen Menschen durch einen lügenhaften Brief zur Verheimlichung seines Verbrechens zu überreden, – ja, seines Verbrechens!... Denn was haben Sie aus diesem bisher völlig unschuldigen Mädchen gemacht? Sie haben aus ihr...«

»Noch ein beleidigendes Wort über sie, und – ich schlage dich tot, Foma; das schwöre ich dir!...«

»Ich spreche dieses Wort aus: Sie haben sie aus einem bisher völlig unschuldigen Mädchen zu einem ganz verderbten Geschöpf gemacht!«

Kaum hatte Foma diese letzten Worte gesprochen, als mein Onkel ihn an der Schulter packte, ihn wie einen Strohhalm herumdrehte und ihn mit Gewalt gegen die Glastür schleuderte, die von dem Arbeitszimmer auf den Hof führte. Der Anprall war so heftig, daß die geschlossene Tür weit aufsprang und Foma wie ein Kreisel die sieben steinernen Stufen hinunterflog und auf dem Hof ausgestreckt liegenblieb. Die zerbrochenen Scheiben fielen klirrend weit und breit auf die Treppenstufen.

»Gawrila, heb ihn auf!« rief mein Onkel, der leichenblaß aussah. »Setz ihn in den Wagen und sorge dafür, daß er in zwei Minuten aus Stepantschikowo verschwunden ist!«

Was auch immer Foma Fomitsch beabsichtigt haben mochte, diesen Ausgang hatte er gewiß nicht erwartet.

Ich vermag nicht zu beschreiben, was in den ersten Minuten nach diesem Ereignis geschah. Die Generalin, die sich in ihrem Lehnstuhl hin und her wälzte und ohrenbetäubend schrie; Fräulein Perepelizyna, die angesichts des unerwarteten Verhaltens des bisher immer so fügsamen Onkels wie von einem Starrkrampf befallen war; die armen Klientinnen, die ›Ach!‹ und ›Oh!‹ riefen; Nastasja, die vor Schreck einer Ohnmacht nahe war und um die sich ihr Vater bemühte; die vor Angst fast besinnungslose Alexandra; der Onkel, der in unbeschreiblicher Aufregung im Zimmer hin und her ging und darauf wartete, daß seine Mutter wieder zu sich käme; endlich der laut weinende Falalej, der über das Unglück seiner Herrschaft jammerte: alles dies ergab ein Bild, das jeder Beschreibung spottet. Ich füge noch hinzu, daß in diesem Augenblick ein starkes Gewitter losbrach; die Donnerschläge folgten immer rascher aufeinander, und ein heftiger Regen schlug gegen die Fenster.

»Na, das ist ein netter Festtag!« murmelte Herr Bachtschejew, indem er den Kopf hängen ließ und resigniert die Arme ausbreitete.

»Eine böse Geschichte!« flüsterte ich ihm zu; ich war ebenfalls vor Aufregung ganz außer mir. »Aber wenigstens ist Foma aus dem Haus gejagt und wird wohl nicht mehr zurückgeholt werden.«

»Mama! Sind Sie wieder zu sich gekommen? Fühlen Sie sich wieder besser? Können Sie mich endlich anhören?« fragte der Onkel, indem er vor dem Lehnstuhl der alten Frau stehenblieb.

Diese hob den Kopf, faltete die Hände und blickte mit flehender Miene ihren Sohn an, den sie noch nie in ihrem Leben so zornig gesehen hatte.

»Mama!« fuhr er fort; »der Becher war übervoll; Sie haben es selbst gesehen. Ich wollte diese Angelegenheit auf andere Art vorbringen; aber die Stunde hat geschlagen, und es ist kein Aufschub mehr möglich! Sie haben die Verleumdung mit angehört; so hören Sie denn auch die Rechtfertigung! Mama, ich liebe dieses ehrenwerte, edle Mädchen; ich liebe es schon lange und werde nie aufhören, es zu lieben. Sie wird meine Kinder glücklich machen und Ihnen eine gehorsame Tochter sein, und darum lege ich ihr jetzt in Ihrer Gegenwart sowie in Gegenwart meiner Verwandten und Freunde meine Bitte zu Füßen und flehe sie an, mir die unendliche Ehre zu erweisen und einzuwilligen, meine Frau zu werden.«

Nastasja fuhr zusammen; dann wurde sie über und über rot und sprang von ihrem Stuhl auf. Die Generalin sah ihren Sohn eine Zeitlang an, wie wenn sie nicht verstanden hätte, was er zu ihr gesagt hatte, und warf sich dann auf einmal mit durchdringendem Geschrei vor ihm auf die Knie.

»Liebster Jegor, du, mein Täubchen, hole Foma Fomitsch zurück!« rief sie; »hole ihn sogleich zurück! Sonst sterbe ich gleich heute abend ohne ihn!«

Der Onkel wurde ganz starr, als er seine alte, sonst so eigensinnige und launische Mutter vor sich auf den Knien liegen sah. Eine schmerzliche Empfindung spiegelte sich auf seinem Gesicht wider; endlich sammelte er seine Gedanken wieder, hob die Kniende schnell auf und veranlaßte sie, sich wieder in ihren Lehnstuhl zu setzen.

»Hole Foma Fomitsch zurück, lieber Jegor!« fuhr die alte Frau fort zu schreien; »hole ihn zurück, Täubchen! Ich kann nicht ohne ihn leben!«

»Mama!« rief der Onkel traurig; »haben Sie denn nichts von dem verstanden, was ich soeben zu Ihnen gesagt habe? Ich kann Foma nicht zurückholen – verstehen Sie das doch! Ich kann und darf es nicht, nachdem er diesen Engel an Ehrenhaftigkeit und Tugend in so gemeiner, nichtswürdiger Weise verleumdet hat. Sehen Sie denn nicht ein, Mama, daß es meine Pflicht ist, daß meine Ehre mir befiehlt, den guten Ruf dieses Mädchens zu schützen? Sie haben es gehört: ich bewerbe mich um die Hand dieses Mädchens und bitte Sie inständig, unseren Bund zu segnen.«

Die Generalin sprang wieder von ihrem Platz auf und warf sich vor Nastasja auf die Knie.

»Liebste, Beste!« winselte sie, »heirate ihn nicht! Heirate ihn nicht, sondern überrede ihn, Foma Fomitsch zurückzuholen! Allerteuerste Nastasja Jewgrafowna! Alles, was ich habe, will ich dir geben; alles will ich dir opfern, wenn du ihn nicht heiratest. Ich alte Frau habe noch nicht alles aufgebraucht; ich habe noch ein bißchen Geld übrig von meinem seligen Mann her. Alles soll dein sein, alles will ich dir schenken, und auch Jegor wird dich beschenken; nur lege mich nicht bei lebendigem Leib in den Sarg; überrede ihn, Foma Fomitsch zurückzuholen!...«

Lange würde die Alte noch geheult und gefaselt haben, wenn nicht Fräulein Perepelizyna und die armen Klientinnen, empört darüber, daß sie vor einer in Lohn und Brot stehenden Gouvernante auf den Knien lag, mit Geschrei und Gestöhn zu ihr hingestürzt wären, um sie aufzuheben. Nastasja konnte sich vor Bestürzung kaum auf den Beinen halten; Fräulein Perepelizyna aber weinte geradezu vor Wut.

»Ermorden werden Sie Ihre Mutter«, schrie sie dem Onkel zu; »ermorden werden Sie sie! Und Sie, Nastasja Jewgrafowna, hätten nicht Mutter und Sohn entzweien dürfen; das verbietet auch Gott der Herr unter Androhung von Strafe...«

»Anna Nilowna, halten Sie Ihre Zunge im Zaum!« rief mein Onkel. »Ich habe genug durchgemacht!...«

»Und ich habe von Ihnen genug ertragen. Wie können Sie mir mein Waisentum zum Vorwurf machen? Werden Sie mich arme Waise noch lange beleidigen? Ich bin noch nicht Ihre Sklavin! Ich bin selbst eine Oberstleutnantstochter! Ich werde nicht länger in Ihrem Haus bleiben; nein, gewiß nicht... gleich heute werde ich ausziehen!...«

Aber der Onkel hörte nicht zu: er war zu Nastasja getreten und faßte ehrfürchtig ihre Hand.

»Nastasja Jewgrafowna! Sie haben meinen Antrag gehört?« sagte er, indem er sie kummervoll, ja beinahe verzweifelt anblickte.

»Nein, Jegor Iljitsch, nein! Wir wollen es lieber lassen!« antwortete Nastasja, die ihrerseits allen Mut verloren hatte. »Es ist alles vergebens«, fuhr sie fort, indem sie ihm die Hände drückte und in Tränen ausbrach. »Sie sagen das wegen des Ereignisses von gestern... aber es kann nicht geschehen; das sehen Sie selbst. Wir haben uns geirrt, Jegor Iljitsch... Aber ich werde immer an Sie als an meinen Wohltäter denken und... und mein Lebtag, mein Lebtag für Sie beten!...«

Tränen erstickten ihre Stimme. Der arme Onkel hatte diese Antwort offenbar vorausgesehen; er dachte nicht einmal daran, etwas zu entgegnen und auf seinem Verlangen zu beharren... Zu ihr herabgeneigt und sie noch immer bei der Hand haltend, hörte er stumm und niedergeschlagen zu. Die Tränen traten ihm in die Augen.

»Ich habe Ihnen schon gestern gesagt«, fuhr Nastasja fort, »daß ich nicht Ihre Frau werden kann. Sie sehen ja: man will mich bei Ihnen nicht haben... und das habe ich schon lange gefühlt; Ihre Mutter wird Ihnen ihren Segen nicht geben... und andere ebenfalls nicht. Und wenn auch Sie selbst es später nicht bereuen würden (denn Sie sind der edelste Mensch, den es gibt), so würden Sie doch durch Ihre Gutherzigkeit meinetwegen unglücklich sein...«

»Ganz richtig, durch Ihre Gutherzigkeit! Ganz richtig! Ja, Nastasja, ja!« stimmte ihr ihr alter Vater bei, der auf der anderen Seite des Lehnstuhles stand. »Ganz richtig; damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Ich will nicht, daß meinetwegen Zwietracht in Ihrem Haus herrscht«, fuhr Nastasja fort. »Um mich aber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Jegor Iljitsch: mir wird niemand zu nahe treten, niemand wird mir etwas zuleide tun... ich werde zu meinem Vater gehn... gleich heute... Es ist das beste, wenn wir nun Abschied voneinander nehmen, Jegor Iljitsch...«

Und die arme Nastasja brach wieder in Tränen aus.

»Nastasja Jewgrafowna! Ist das wirklich Ihr letztes Wort?« fragte mein Onkel und sah sie mit unbeschreiblicher Verzweiflung an. »Sagen Sie nur ein einziges Wort – und ich bringe Ihnen alles zum Opfer!...«

»Es ist ihr letztes Wort, ihr letztes Wort, Jegor Iljitsch«, fiel wieder Jeshewikin ein, »und sie hat Ihnen das so gut dargelegt, wie ich es, offen gestanden, nicht erwartet hätte. Sie sind der allerbeste Mensch; Jegor Iljitsch, wirklich der allerbeste Mensch und haben uns eine große Ehre erwiesen! Eine große Ehre, eine große Ehre!... Aber dennoch passen wir nicht zusammen, Jegor Iljitsch. Sie brauchen eine Braut, Jegor Iljitsch, die reich und vornehm und eine blendende Schönheit ist und auch eine schöne Stimme hat und ganz mit Brillanten und Straußenfedern geschmückt in Ihren Zimmern umhergeht. Dann wird sich vielleicht auch Foma Fomitsch nachgiebig zeigen und Ihnen seinen Segen erteilen. Und Foma Fomitsch, den müssen Sie zurückholen. Er hat ja nur aus Tugendhaftigkeit, in übergroßem Eifer so gesprochen. Daß er es nur aus Tugendhaftigkeit getan hat, das werden Sie später selbst sagen, – Sie werden sehen! Er ist der herrlichste Mensch. Aber jetzt wird er ganz naß werden. Das beste wird schon sein, wenn Sie ihn jetzt zurückholen; denn zurückholen werden Sie ihn ja doch müssen...«

»Hol ihn zurück! Hol ihn zurück!« schrie die Generalin; »er sagt dir die Wahrheit, lieber Sohn!...«

»Ja«, fuhr Jeshewikin fort, »sehen Sie: auch Ihre Mutter grämt sich zu Tode – ganz unnötigerweise... Holen Sie ihn nur zurück! Ich und Nastasja aber wollen uns unterdessen auf den Weg machen...«

»Warte, Jewgraf Larionowitsch!« rief der Onkel; »ich bitte dich inständig! Nur noch ein Wort will ich sagen, Jewgraf, nur noch ein Wort...«

Nachdem er das gesagt hatte, ging er beiseite, setzte sich in einer Ecke in einen Lehnstuhl, ließ den Kopf hängen und bedeckte die Augen mit den Händen, wie wenn er über etwas nachdächte.

In diesem Augenblicke ertönte ein furchtbarer Donnerschlag, beinahe direkt über dem Haus. Das ganze Gebäude erzitterte. Die Generalin schrie auf, Fräulein Perepelizyna ebenfalls; die Klientinnen, die vor Angst ganz dumm geworden waren, bekreuzigten sich, und mit ihnen zugleich auch Herr Bachtschejew.

»Hilf, heiliger Prophet Elias!« flüsterten auf einmal fünf oder sechs Stimmen, alle gleichzeitig. Nach dem Donnerschlag stürzte ein so furchtbarer Platzregen herab, daß es schien, als ergieße sich plötzlich ein ganzer See über Stepantschikowo.

»Aber was wird nun aus Foma Fomitsch draußen werden?« wimmerte Fräulein Perepelizyna.

»Lieber Jegor, hol ihn zurück!« schrie die Generalin im Ton der Verzweiflung und stürzte wie eine Unsinnige zur Tür. Ihre Klientinnen hielten sie auf; sie umringten sie, trösteten sie, schluchzten und winselten. Es war eine schauderhafte Szene!

»Im bloßen Rock ist er weggegangen; wenn er doch wenigstens einen Mantel mitgenommen hätte!« fuhr Fräulein Perepelizyna fort. »Einen Regenschirm hat er auch nicht mit. Jetzt wird ihn der Blitz erschlagen!...«

»Sicherlich!« stimmte ihr Bachtschejew bei. »Und vom Regen wird er auch noch naß werden.«

»So schweigen Sie doch!« flüsterte ich ihm zu.

»Na, er ist ja auch ein Mensch!« antwortete mir Bachtschejew zornig. »Er ist doch kein Hund. Sie selbst würden bei solchem Wetter doch gewiß nicht auf die Straße gehen. Oder probieren Sie es mal, und nehmen Sie zum Vergnügen ein Duschbad!«

Da ich die weitere Entwicklung der Sache voll ernster Besorgnis ahnte, trat ich zu meinem Onkel, der wie erstarrt in seinem Lehnstuhl saß.

»Lieber Onkel«, sagte ich, indem ich mich zu seinem Ohr niederbeugte, »werden Sie denn wirklich einwilligen, Foma Fomitsch zurückzuholen? Sie müssen doch begreifen, daß das der Gipfel der Unschicklichkeit wäre, wenigstens solange Nastasja Jewgrafowna noch hier ist.«

»Mein Freund«, antwortete der Onkel, indem er den Kopf hob und mir mit entschlossener Miene in die Augen sah; »ich habe in diesem Augenblick über mich zu Gericht gesessen und weiß jetzt, was ich tun muß. Sei unbesorgt; es wird Nastasja keine Kränkung widerfahren; ich werde die erforderlichen Maßnahmen treffen...«

Er erhob sich von seinem Stuhl und trat zu seiner Mutter.

»Mama!« sagte er; »beruhigen Sie sich: ich werde Foma Fomitsch zurückholen; ich werde ihn noch einholen können; er kann noch nicht weit weg sein. Aber ich schwöre Ihnen: nur unter einer Bedingung wird er zurückkehren: er muß hier, öffentlich, vor allen, welche Zeugen der Beleidigung gewesen sind, seine Schuld eingestehen und dieses edle Mädchen feierlich um Verzeihung bitten. Das werde ich durchsetzen! Dazu werde ich ihn zwingen! Sonst wird er die Schwelle dieses Hauses nicht mehr überschreiten! Ich schwöre Ihnen auch feierlich, Mama: wenn er von selbst und freiwillig sich dazu versteht, dies zu tun, dann bin ich bereit, mich ihm zu Füßen zu werfen und ihm alles zu geben, was ich weggeben kann, ohne meine Kinder zu schädigen! Ich selbst werde mit dem heutigen Tag mich von allem zurückziehen. Der Stern meines Glückes ist untergegangen! Ich werde Stepantschikowo verlassen. Mögt ihr alle hier ruhig und glücklich leben! Ich werde wieder in mein Regiment eintreten und in den Stürmen des Kampfes, auf dem Schlachtfeld mein trauriges Schicksal hinnehmen... Genug! Ich fahre!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Gawrila, ganz durchnäßt und in unglaublicher Weise mit Schmutz bedeckt, erschien vor der betroffenen Versammlung.

»Was ist mit dir? Wo kommst du her? Wo ist Foma?« rief mein Onkel und stürzte auf ihn zu.

Auch alle andern drängten hinzu und umringten in größter Neugier den Alten, von dem das schmutzige Wasser buchstäblich in Strömen herabfloß. Gekreisch, Gestöhn und Geschrei begleiteten jedes Wort Gawrilas.

»Er ist bei dem Birkenwäldchen geblieben, anderthalb Werst von hier«, begann er mit weinerlicher Stimme. »Das Pferd erschrak über einen Blitz und sprang in den Graben.«

»Weiter!« rief der Onkel.

»Der Wagen schlug um...«

»Weiter!... Und Foma?«

»Er fiel in den Graben.«

»Aber so erzähle doch und quäle uns nicht lange!«

»Er bekam bei dem Fall einen starken Schlag gegen die Seite und fing an zu weinen. Ich spannte das Pferd aus und ritt her, um es zu melden.«

»Und Foma ist dort geblieben?«

»Er stand auf und ging einfach am Stock weiter«, schloß Gawrila seinen Bericht; dann seufzte er und ließ den Kopf hängen.

Das Weinen und Schluchzen des weiblichen Teils der Gesellschaft war unbeschreiblich.

»Den Zentaur!« rief mein Onkel und stürzte aus dem Zimmer. Der Zentaur wurde vorgeführt; der Onkel schwang sich auf das ungesattelte Pferd, und einen Augenblick darauf ließ uns der Schall der Hufschläge erkennen, daß Foma Fomitschs Verfolgung begonnen hatte. Mein Onkel war sogar ohne Mütze davongesprengt.

Die Damen stürzten an die Fenster. Es wurde viel gestöhnt und gejammert; dazwischen wurden auch Ratschläge laut. Manche sagten, Foma Fomitsch müsse unverzüglich ein warmes Bad nehmen; man müsse ihn mit Spiritus abreiben, ihm Brusttee zu trinken geben; er habe seit dem Morgen keinen Bissen zu sich genommen, so daß er jetzt gewiß sehr hungrig sei. Fräulein Perepelizyna fand die von ihm vergessene Brille im Futteral, und dieser Fund machte einen ganz außerordentlichen Eindruck: die Generalin stürzte schreiend und weinend auf die Brille los und eilte dann, ohne sie aus der Hand zu lassen, wieder ans Fenster, um den Weg entlang zu spähen. Die Erwartung erreichte schließlich den allerhöchsten Grad der Spannung... In einer anderen Ecke versuchte Alexandra Nastasja zu trösten; sie hielten sich beide umschlungen und weinten. Nastasja hielt den kleinen Ilja bei der Hand und küßte alle Augenblicke ihren Schüler zum Abschied. Ilja weinte und schluchzte, ohne zu wissen warum. Jeshewikin und Misintschikow redeten, etwas abseits stehend, miteinander, ich weiß nicht worüber. Es schien mir, als ob Bachtschejew beim Anblick der jungen Mädchen die größte Lust hatte, ebenfalls loszuweinen. Ich trat zu ihm.

»Nein, lieber Freund«, sagte er zu mir, »Foma Fomitsch würde sich vielleicht von hier entfernen, hält aber den richtigen Zeitpunkt noch nicht für gekommen: man hat ihm noch keine Ochsen mit goldenen Hörnern vor seine Equipage gespannt! Sie können ganz sicher sein, lieber Freund: der wird noch die Wirtsleute aus dem Hause treiben und selbst dableiben!«

Das Gewitter war vorübergegangen, und Herr Bachtschejew hatte offenbar seine Ansicht geändert.

Auf einmal wurde gerufen: »Er bringt ihn! Er bringt ihn!«, und die Damen stürzten aufschreiend zur Tür. Seit der Onkel weggeritten war, waren noch keine zehn Minuten vergangen: es erschien als ein Ding der Unmöglichkeit, Foma Fomitsch so schnell zurückzubringen; aber das Rätsel löste sich nachher auf sehr einfache Weise: Foma Fomitsch war, nachdem er sich von Gawrila getrennt hatte, tatsächlich am Stock weitergegangen; aber als er sich völlig allein gelassen gefühlt hatte, da war eine schmähliche Feigheit über ihn gekommen; er hatte in Richtung Stepantschikowo kehrtgemacht und war hinter Gawrila hergelaufen. Der Onkel hatte ihn schon im Dorf getroffen. Sogleich hatte er einen vorüberfahrenden Bauernwagen angehalten; mehrere Bauern waren zusammengelaufen und hatten Foma Fomitsch, der ganz friedlich geworden war, hinaufgehoben. So wurde er nun geradewegs in die offenen Arme der Generalin geführt, die vor Schreck beinahe umkam, als sie sah, in welchem Zustand er sich befand. Er war noch schmutziger und nasser als Gawrila. Nun entwickelte sich ein überaus geschäftiges Treiben; manche wollten ihn sogleich nach oben in sein Schlafzimmer schleppen, um ihn die Wäsche wechseln zu lassen; andere sprachen von Holundertee und anderen Stärkungsmitteln; die Damen liefen ohne Sinn und Verstand hierhin und dorthin; alle redeten zu gleicher Zeit... Aber Foma schien niemanden und nichts wahrzunehmen. Er wurde, unter die Arme gefaßt, hereingeführt. Als er zu seinem Lehnstuhl gelangt war, ließ er sich schwerfällig in ihn hineinsinken und schloß die Augen. Jemand von den Anwesenden rief: »Er stirbt!« Es erhob sich ein allgemeines Geschrei; am meisten von allen aber brüllte Falalej, der sich durch den Schwarm der Damen zu Foma Fomitsch durchzudrängen versuchte, um ihm unverzüglich die Hand zu küssen...

V
Foma Fomitsch macht alle glücklich

»Wohin hat man mich gebracht?« fragte Foma endlich mit der Stimme eines Menschen, der für Recht und Wahrheit stirbt.

»Verdammter Patron!« flüsterte Misintschikow neben mir. »Als ob er nicht sähe, wohin man ihn gebracht hat! Jetzt wird er uns wieder eine Komödie vorspielen!«

»Du bist bei uns, Foma, im Kreise der deinigen!« rief mein Onkel. »Fasse Mut, beruhige dich! Und wirklich, du solltest jetzt die Kleider wechseln, Foma; sonst wirst du noch krank werden... Und willst du dich nicht ein bißchen stärken, wie? So ein kleines Gläschen mit etwas Alkoholischem zur Erwärmung...«

»Malaga würde ich jetzt trinken«, stöhnte Foma und schloß von neuem die Augen.

»Malaga? Den werden wir wohl kaum haben!« sagte mein Onkel und blickte beunruhigt Praskowja Iljinitschna an.

»Aber gewiß doch!« fiel Praskowja Iljinitschna ein; »es sind noch ganze vier Flaschen übrig!« Und mit ihrem Schlüsselbund klappernd, lief sie sogleich hinaus, um den Malaga zu holen, begleitet vom Geschrei aller Damen, die an Foma festklebten wie die Fliegen am Eingemachten. Dagegen war Herr Bachtschejew höchst entrüstet.

»Malaga will er!« brummte er beinahe laut. »Verlangt einen Wein, den sonst kein Mensch trinkt. Na, wer trinkt jetzt Malaga außer so einem Schuft wie er? Pfui Deibel! Na, aber warum stehe ich hier noch? Worauf warte ich hier noch?«

»Foma«, begann der Onkel, bei jedem Wort in Verwirrung geratend, »sieh mal, jetzt... wo du dich erholt hast und wieder mit uns zusammen bist... das heißt, ich wollte sagen, Foma, daß ich begreife, wie du vorhin, nachdem du sozusagen das allerunschuldigste Wesen beleidigt hattest...«

»Wo, wo ist sie, meine Unschuld?« fiel ihm Foma ins Wort, als hätte er Fieber und spräche irre. »Wo sind meine glücklichen, goldenen Tage? Wo bist du, meine goldene Kindheit, als ich, ein unschuldiger, schöner Knabe, auf den Feldern hinter den Frühlingsschmetterlingen herlief? Wo, wo ist diese Zeit? Gebt mir meine Unschuld wieder, gebt sie mir wieder!«

Und Foma wandte sich, die Arme ausbreitend, der Reihe nach an jeden von uns, als ob einer von uns seine Unschuld in der Tasche hätte. Bachtschejew wollte beinah platzen vor Wut.

»Was will er nun wieder?« brummte er zornig. »Seine Unschuld sollen wir ihm wiedergeben! Er will sich wohl mit ihr küssen? Vielleicht war er auch als Junge schon genauso ein Halunke wie jetzt! Ich möchte schwören, daß es so gewesen ist.«

»Foma!...« begann mein Onkel wieder.

»Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die Liebe glaubte und die Menschen liebte?« rief Foma, »als ich andere Menschen umarmte und an ihrer Brust weinte? Aber jetzt, wo bin ich? Wo bin ich?«

»Du bist bei uns, Foma; beruhige dich!« rief mein Onkel. »Aber ich wollte dir etwas sagen, Foma...«

»Wenn Sie doch wenigstens jetzt schweigen möchten!« zischte Fräulein Perepelizyna, deren kleine Schlangenaugen böse funkelten.

»Wo bin ich?« fuhr Foma fort; »wer ist das hier um mich? Das sind Büffel und Stiere, die mich mit ihren Hörnern bedrohen. O Leben, was bist du? Da lebt unsereiner nun und lebt und wird entehrt und beschimpft und erniedrigt und geschlagen, und erst wenn die Menschen unser Grab mit Sand zuschaufeln, erst dann kommen sie zur Besinnung und belasten unsere armen Gebeine mit einem Monumente!«

»Ach, herrje, nun fängt er gar an von Monumenten zu reden!« flüsterte Jeshewikin und schlug die Hände zusammen.

»Oh, setzt mir kein Monument!« schrie Foma; »setzt mir kein Monument! Ich brauche keine Monumente! Errichtet mir ein Monument in euren Herzen; weiter brauche ich nichts, nichts, nichts!«

»Foma!« unterbrach ihn mein Onkel, »hör auf! Beruhige dich! Du hast keinen Grund, von Monumenten zu reden. Hör nur zu!... Siehst du, Foma, ich begreife das ja, daß du vielleicht sozusagen in edler Glut entbrannt warst, als du mir vorhin Vorwürfe machtest; aber du bist zu weit gegangen, Foma, über die Grenzlinie der Tugend hinaus – ich versichere dir, du hast dich geirrt, Foma .. .«

»Wollen Sie nicht endlich aufhören?« zeterte wieder Fräulein Perepelizyna. »Sie wollen wohl den Unglücklichen töten, weil er nun in Ihrer Gewalt ist?«

Nach Fräulein Perepelizyna kam nun auch die Generalin in unruhige Bewegung und nach ihr ihre ganze Suite; alle gaben dem Onkel mit der Hand Zeichen, er möchte aufhören.

»Anna Nilowna, bitte, schweigen Sie; ich weiß schon, was ich sage!« antwortete mein Onkel in festem Ton. »Das ist eine heilige Sache! Eine Sache der Ehre und der Gerechtigkeit. – Foma, du bist ein vernünftiger Mensch; du mußt das von dir beleidigte edelste Mädchen sofort um Verzeihung bitten.«

»Was für ein Mädchen? Was für ein Mädchen habe ich beleidigt?« sagte Foma, indem er seinen Blick verständnislos über alle hingehen ließ, wie wenn er alles Vergangene vollständig vergessen hätte und nicht begriffe, um was es sich handle.

»Ja, Foma, und wenn du jetzt von selbst, freiwillig, edelmütig deine Schuld bekennst, dann, Foma, das schwöre ich dir, dann werde ich dir zu Füßen fallen, und dann...«

»Wen habe ich denn beleidigt?« schrie Foma; »was für ein Mädchen? Wo ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Helft mir doch wenigstens, mich an dieses Mädchen erinnern!...«

In diesem Augenblick trat Nastasja, verwirrt und ängstlich, an Jegor Iljitsch heran und zupfte ihn am Ärmel.

»Nein, Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn; es bedarf keiner Bitte um Entschuldigung! Wozu das alles?« sagte sie flehend, »Lassen Sie es doch sein!«

»Ah, jetzt erinnere ich mich!« rief Foma. »O Gott, ich erinnere mich! O helft, helft meinem Gedächtnis nach!« bat er, anscheinend in schrecklicher Aufregung. »Sagt mir, ist es wahr, daß ich von hier wie ein räudiger Hund weggejagt worden bin? Ist es wahr, daß mich der Blitz getroffen hat? Ist es wahr, daß ich hier die Treppe hinuntergeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das tatsächlich wahr?«

Das Weinen und Schreien des weiblichen Publikums gab ihm beredte Antwort.

»Richtig, richtig«, fuhr er fort, »ich erinnere mich, ich erinnere mich jetzt, daß, nachdem mich der Blitz getroffen hatte und ich hingestürzt war, ich hierher lief, vom Donner verfolgt, um meine Pflicht zu erfüllen und dann für immer zu verschwinden! Helft mir aufzustehen! So schwach ich jetzt auch bin, muß ich doch meine Pflicht erfüllen.«

Er wurde sogleich aus dem Lehnstuhl gehoben und stand nun in der Stellung eines Redners, den einen Arm vorstreckend, da.

»Oberst!« rief er, »jetzt bin ich wieder völlig zur Besinnung gekommen; der Blitz hat meine geistigen Fähigkeiten nicht getötet; allerdings ist noch eine Taubheit im rechten Ohr zurückgeblieben, die vielleicht nicht so sehr vom Blitz als von dem Sturz die Treppe hinab herrührt... Aber kommt es denn darauf an? Und wer kümmert sich schon um Fomas rechtes Ohr?«

Diesen letzten Worten verlieh Foma einen solchen Ausdruck trüber Ironie und begleitete sie mit einem so kläglichen Lächeln, daß die gerührten Damen von neuem zu stöhnen anfingen. Alle blickten sie vorwurfsvoll und manche sogar wütend meinen Onkel an, der einem so einmütigen Ausdruck der allgemeinen Meinung gegenüber allmählich klein zu werden begann. Misintschikow spuckte aus und trat ans Fenster. Bachtschejew stieß mich immer heftiger und heftiger mit dem Ellbogen an; er konnte kaum noch ruhig an seinem Platz bleiben.

»Jetzt hört alle meine Beichte!« rief Foma, indem er alle Anwesenden mit einem stolzen, entschlossenen Blick umfaßte, »und entscheidet zugleich über das Schicksal des unglücklichen Opiskin! Jegor Iljitsch! Schon lange habe ich Sie beobachtet, Sie mit bangem Herzen beobachtet und alles gesehen, alles, während Sie noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete. Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt; aber ich kannte Ihren Egoismus, Ihre grenzenlose Selbstsucht, Ihre phänomenale Sinnlichkeit, und wer wird mich verurteilen, wenn ich unwillkürlich um die Ehre eines so unschuldigen Wesens zitterte?«

»Foma, Foma!... Geh nicht zu sehr darauf ein, Foma!« rief mein Onkel, der mit großer Unruhe den leidenden Ausdruck auf Nastasjas Gesicht gewahrte.

»Was mich ängstigte, war nicht sowohl die Unschuld und Arglosigkeit dieser jungen Person als ihre Unerfahrenheit«, fuhr Foma fort, als hätte er die Warnung des Onkels gar nicht gehört. »Ich sah, daß ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen gleich einer Frühlingsrose erblühte, und erinnerte mich unwillkürlich an Petrarca, welcher gesagt hat, daß die Unschuld so oft nur um Haaresbreite vom Verderben entfernt ist. Ich seufzte und stöhnte. Ich war zwar bereit, für dieses Mädchen, das rein ist wie eine Perle, all mein Blut als Unterpfand zu geben; aber wer konnte mir für Sie bürgen, Jegor Iljitsch? Da ich die zügellose Heftigkeit Ihrer Leidenschaften kenne und da ich weiß, daß Sie für eine kurze Befriedigung derselben alles zu opfern bereit sind, versank ich in einen Abgrund des Entsetzens und der Befürchtungen in betreff des Schicksals dieses so edlen Mädchens...«

»Foma! Hast du wirklich so etwas denken können?« rief mein Onkel.

»Mit angsterfülltem Herzen verfolgte ich Ihr Verhalten. Wenn Sie wissen wollen, wie sehr ich litt, so fragen Sie Shakespeare: er schildert Ihnen in seinem ›Hamlet‹ meinen Seelenzustand. Ich wurde in meinem Mißtrauen geradezu schrecklich. In meiner Unruhe und in meiner Entrüstung sah ich alles in den schwärzesten Farben, und das war nicht jene ›schwarze Farbe‹, von der in einem bekannten Lied die Rede ist; davon können Sie überzeugt sein! Daher rührte auch der Wunsch, den Sie damals an mir bemerkten, sie aus diesem Haus zu entfernen: ich wollte sie retten; und daher war ich, was Sie gewiß auch wahrgenommen haben, in der ganzen letzten Zeit so reizbar und über das ganze Menschengeschlecht so ergrimmt. Oh, wer wird mich jetzt mit der Menschheit wieder versöhnen? Ich habe die Empfindung, daß ich vielleicht Ihren Gästen und Ihrem Neffen und Herrn Bachtschejew gegenüber ungerecht und gar zu anspruchsvoll gewesen bin, indem ich zum Beispiel von dem letzteren die Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer kann mir meinen damaligen Seelenzustand als Verbrechen anrechnen? Wiederum Shakespeare zitierend, möchte ich sagen, daß mir die Zukunft als ein dunkler Schlund von unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grund ein Krokodil liegt. Ich fühlte, daß es meine Pflicht war, ein Unglück zu verhüten, daß ich dazu berufen, dazu hergesandt war; aber was geschah? Sie verstanden die edlen Regungen meiner Seele nicht und vergalten sie mir in dieser ganzen Zeit mit Bosheit und Undank, mit Spöttereien und Kränkungen...«

»Foma! Wenn es so ist... gewiß, ich fühle...«, rief mein Onkel in größter Aufregung.

»Wenn Sie wirklich etwas fühlen, Oberst, so haben Sie die Freundlichkeit, mich bis zu Ende anzuhören und mich nicht zu unterbrechen. Ich fahre fort: meine ganze Schuld bestand folglich darin, daß ich mich um das Schicksal und das Glück dieses Kindes gar zu sehr sorgte: denn im Vergleich mit Ihnen ist sie ja noch ein Kind. Die höchste Liebe zur Menschheit machte mich in dieser Zeit zu einer Art Dämon des Zornes und des Argwohns. Ich hätte mich am liebsten auf die Menschen gestürzt und sie in Stücke gerissen. Und wissen Sie auch, Jegor Iljitsch, daß alle Ihre Handlungen wie mit besonderer Absicht meinen Argwohn jeden Augenblick bestätigten und mich in meinem Verdacht bestärkten? Wissen Sie auch, daß ich gestern, als Sie mich mit Ihrem Gold überschütteten, um mich von hier zu entfernen, daß ich da dachte: ›Er möchte in meiner Person sein eigenes Gewissen entfernen, um das Verbrechen bequemer begehen zu können...‹ «

»Foma, Foma! Hast du das gestern wirklich gedacht?« rief mein Onkel erschrocken. »O mein Gott, und ich habe nichts davon geahnt!«

»Der Himmel selbst hatte mir diesen Verdacht eingeflößt«, fuhr Foma fort. »Und sagen Sie selbst: Was mußte ich denken, als der blinde Zufall mich an demselben Abend zu jener verhängnisvollen Bank im Garten führte? Was mußte ich in diesem Augenblick empfinden, o Gott, als ich endlich mit meinen eigenen Augen sah, daß alle meine Befürchtungen plötzlich auf die glänzendste Weise gerechtfertigt wurden? Es blieb mir noch eine Hoffnung, allerdings nur eine schwache Hoffnung, aber doch eine Hoffnung – aber was geschah? Heute morgen schlugen Sie sie selbst in Trümmer! Sie schickten mir Ihren Brief; Sie sprachen die Absicht aus, sie zu heiraten; Sie beschworen mich, nichts davon verlauten zu lassen... ›Aber warum‹, dachte ich, ›warum hat er gerade jetzt an mich geschrieben, wo ich ihn bereits betroffen habe, und nicht schon früher? Warum ist er nicht schon früher zu mir gekommen, glücklich und schön (denn die Liebe verschönt das Gesicht), und hat sich in meine Arme geworfen und an meiner Brust Tränen grenzenlosen Glücks vergossen und mir alles, alles gestanden?‹ Bin ich denn ein Krokodil, das Sie nur verschlungen hätte, statt Ihnen einen nützlichen Rat zu geben? Oder bin ich ein widerwärtiger Käfer, der Sie nur gebissen hätte, statt Ihr Glück zu befördern? ›Bin ich sein Freund oder ein garstiges Insekt?‹ Das war die Frage, die ich mir heute morgen vorlegte! Und endlich: ›Zu welchem Zweck‹, dachte ich, ›zu welchem Zweck hat er seinen Neffen aus der Hauptstadt herkommen lassen und ihn mit diesem jungen Mädchen verlobt? Doch wohl, um sowohl uns als auch den sorglosen Neffen zu täuschen und unterdessen im geheimen seinen verbrecherischen Plan weiter zu verfolgen?‹ Nein, Oberst, wenn mich jemand in dem Gedanken bestärkt hat, daß Ihre geheime Liebe eine verbrecherische war, so sind Sie das selbst gewesen, einzig und allein Sie! Und noch mehr: auch diesem jungen Mädchen gegenüber sind Sie ein Verbrecher; denn Sie haben es, dieses reine, edle Wesen, durch Ihre Ungeschicklichkeit und durch Ihre egoistische Verschlossenheit der Verleumdung und einem schweren Verdacht ausgesetzt!«

Mein Onkel ließ den Kopf hängen und schwieg: Fomas Beredsamkeit gewann offenbar die Oberhand über alles, was er hätte entgegnen können, und er hatte schon selbst das Gefühl, daß er ein arger Verbrecher sei. Die Generalin und ihr Anhang hatten schweigend und andächtig mit angehört, was Foma sagte, und Fräulein Perepelizyna richtete einen schadenfrohen, triumphierenden Blick auf die arme Nastasja.

»Bestürzt, aufgeregt und in tiefer Niedergeschlagenheit«, fuhr Foma fort, »schloß ich mich heute ein und betete, daß Gott mir die richtigen Gedanken eingeben möchte! Endlich faßte ich den Beschluß, Sie zum letzten Mal und öffentlich zu prüfen. Ich bin dabei vielleicht zu hitzig vorgegangen, habe mich vielleicht meinem Unwillen zu sehr hingegeben; aber zum Dank für meine edlen Motive haben Sie mich durch die Glastür geschleudert! Während ich hinausflog, dachte ich bei mir: ›So wird immer auf der Welt die Tugend belohnt!‹ Dann schlug ich auf den Erdboden, und was weiter mit mir geschah, daran kann ich mich kaum noch erinnern.«

Kreischen und Stöhnen unterbrachen Foma Fomitsch bei der Erwähnung dieses tragischen Ereignisses. Die Generalin stürzte auf ihn zu, in der Hand die Flasche Malaga, die sie der kurz vorher zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand gerissen hatte; aber Foma wies mit einer majestätischen Geste sowohl den Malaga als auch die Generalin zurück.

»Warten Sie!« rief er. »Ich muß zu Ende sprechen. Was nach meinem Sturz geschah, weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine, daß ich jetzt, durchnäßt und in Gefahr, Fieber zu bekommen, hier stehe, um Ihr beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen Anzeichen, die ich jetzt nicht im einzelnen darlegen will, habe ich endlich doch die Überzeugung gewonnen, daß Ihre Liebe eine reine, ja eine idealische war, obwohl gleichzeitig eine in verbrecherischem Grad verschlossene und mißtrauische. Nachdem ich mißhandelt und gekränkt und beschuldigt worden bin, ein junges Mädchen beleidigt zu haben, für deren Ehre ich wie ein mittelalterlicher Ritter bereit war, mein Blut bis auf den letzten Tropfen zu vergießen, will ich Ihnen jetzt zeigen, wie sich Foma Opiskin für die ihm angetanen Beleidigungen rächt. Reichen Sie mir Ihre Hand, Oberst!«

»Mit Vergnügen, Foma!« rief mein Onkel. »Und da du jetzt diesem edlen jungen Mädchen eine vollständige Ehrenerklärung gegeben hast, so... selbstverständlich... da ist meine Hand, Foma, zugleich mit dem Ausdruck meiner Reue...«

Und der Onkel streckte ihm mit warmer Empfindung die Hand hin, ohne zu ahnen, was weiter folgen sollte.

»Geben auch Sie mir Ihre Hand!« fuhr Foma mit schwacher Stimme fort, indem er den Haufen der ihn umdrängenden Damen durch eine Handbewegung zerteilte und sich an Nastasja wandte.

Nastasja geriet in Bestürzung und Verwirrung und blickte Foma ängstlich an.

»Treten Sie näher, treten Sie näher, mein liebes Kind! Das ist für Ihr Glück unbedingt notwendig«, fügte Foma freundlich hinzu; er hielt immer noch die Hand des Onkels in der seinigen.

»Was hat er nur vor?« murmelte Misintschikow.

Erschrocken und zitternd trat Nastasja langsam auf Foma zu und streckte ihm schüchtern ihre Hand hin.

Foma ergriff diese Hand und legte sie in die Hand des Onkels.

»Ich vereinige und segne euch«, sagte er in feierlichem Ton. »Und wenn der Segen eines vom Leid gebeugten Märtyrers euch Nutzen bringen kann, so seid glücklich! So rächt sich Foma Opiskin! Hurra!«

Das allgemeine Erstaunen war grenzenlos. Diese Lösung kam so unerwartet, daß alle von einer Art Starrkrampf befallen wurden. Die Generalin blieb mit offenem Mund und mit der Flasche Malaga in der Hand regungslos stehen. Fräulein Perepelizyna wurde blaß und zitterte vor Wut. Die armen Klientinnen schlugen die Hände zusammen und erstarrten auf ihren Plätzen. Der Onkel fing an zu zittern, wollte etwas erwidern, war aber nicht dazu imstande. Nastasja wurde totenblaß und sagte schüchtern: »Es kann nicht sein...«; aber es war schon zu spät. Bachtschejew war der erste (man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen), der in Foma Fomitschs Hurra einstimmte; nach ihm tat ich es, nach mir mit aller Kraft ihrer hellen Stimme Alexandra, die sofort zu ihrem Vater hinstürzte, um ihn zu umarmen, darauf Ilja, darauf Jeshewikin; erst nach all diesen auch Misintschikow.

»Hurra!« rief Foma zum zweitenmal, »Hurra! Und nun fallt auf die Knie, ihr Kinder meines Herzens, fallt auf die Knie vor der zärtlichsten aller Mütter! Bittet sie um ihren Segen, und wenn es nötig sein sollte, werde ich selbst mit euch zusammen vor ihr meine Knie beugen...«

Mein Onkel und Nastasja, die einander noch nicht angesehen hatten, ganz erschrocken waren und anscheinend nicht verstanden, was mit ihnen geschah, fielen vor der Generalin auf die Knie; alle drängten sich um diese Gruppe herum; aber die Alte stand wie betäubt da und begriff gar nicht, was sie nun tun sollte. Foma griff auch hier hilfreich ein: Er warf sich selbst seiner Gönnerin zu Füßen. Dies behob mit einem Mal alle ihre Bedenken. In Tränen ausbrechend, erklärte sie sich endlich einverstanden. Mein Onkel sprang auf und preßte Foma fest an seine Brust.

»Foma, Foma!...«, sagte er; aber die Stimme versagte ihm, und er konnte nicht weiterreden.

»Champagner!« brüllte Stepan Alexejewitsch. »Hurra!«

»Nein, keinen Champagner«! fiel Fräulein Perepelizyna ein, die sich bereits gefaßt und alle Umstände sowie alle möglichen Folgen erwogen hatte. »Sondern wir müssen Gott eine Kerze anzünden und vor dem Heiligenbild beten und die Verlobten mit dem Heiligenbild segnen, wie das alle gottesfürchtigen Menschen tun...«

Sogleich beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zur Ausführung zu bringen, und es begann ein geschäftiges Treiben. Es sollte eine Kerze angezündet werden, und Stepan Alexejewitsch stellte einen Stuhl zurecht und stieg hinauf, um die Kerze vor dem Heiligenbilde aufzustellen, aber der Stuhl knackte unter seinem Gewicht sogleich bedrohlich, und er sprang schwerfällig wieder auf den Fußboden, hielt sich jedoch dabei noch auf den Beinen. Ohne sich darüber zu ärgern, trat er seinen Platz sofort höflich Fräulein Perepelizyna ab. Diese schmächtige Dame erledigte das Geschäft im Nu: Die Kerze brannte. Die Nonne und die armen Klientinnen begannen sich zu bekreuzigen und Verbeugungen bis zum Fußboden zu machen. Das Bild des Erlösers wurde heruntergenommen und der Generalin gebracht. Der Onkel und Nastasja knieten von neuem nieder, und die Zeremonie ging nach den gottesfürchtigen Anweisungen Fräulein Perepelizynas vor sich, die alle Augenblicke kommandierte: »Verneigen Sie sich bis zur Erde! Küssen Sie das Heiligenbild! Küssen Sie Ihrer Mutter die Hand!« Nach dem Bräutigam und der Braut hielt sich auch Herr Bachtschejew für verpflichtet, das Heiligenbild zu küssen, wobei auch er der Generalin die Hand küßte. Er war unbeschreiblich entzückt.

»Hurra!« schrie er wieder. »Aber jetzt wollen wir Champagner trinken!«

Übrigens waren auch alle andern entzückt. Die Generalin weinte, aber jetzt Tränen der Freude: Diese Verbindung war dadurch, daß Foma sie gesegnet hatte, in ihren Augen sogleich eine wohlanständige und gottgefällige geworden, und vor allem fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich mit Ruhm bedeckt hatte und nun ganz sicher für immer bei ihr bleiben werde. Die Klientinnen nahmen, wenigstens äußerlich, an dem allgemeinen Entzücken teil. Mein Onkel kniete bald vor seiner Mutter nieder und küßte ihr die Hände, bald stürzte er auf mich, Bachtschejew, Misintschikow und Jeshewikin los, um uns zu umarmen. Den kleinen Ilja hätte er in seiner Umarmung beinahe erstickt. Alexandra lief auf Nastasja zu, um sie zu umarmen und zu küssen. Praskowja Iljinitschna zerfloß in Tränen. Als Herr Bachtschejew dies bemerkte, trat er zu ihr und küßte ihr die Hand. Der alte Jeshewikin war ganz weich geworden und weinte in einer Ecke, wobei er sich mit seinem karierten Taschentuch von gestern die Augen wischte. In einer andern Ecke blinzelte Gawrila und blickte voll andächtiger Verehrung zu Foma Fomitsch herüber; Falalej aber schluchzte aus vollem Hals, ging zu allen hin und küßte ebenfalls allen die Hände. Alle waren von ihrem Gefühl überwältigt. Noch begann niemand zu reden und sich über das Geschehene auszusprechen; es schien, daß schon alles gesagt sei; nur freudige Ausrufe ertönten. Noch begriff niemand, wie das alles so schnell geschehen konnte. Man wußte nur das eine, daß es Foma Fomitsch gewesen war, der das alles getan hatte, und daß es nun eine wirkliche, unabänderliche Tatsache war.

Aber es waren noch keine fünf Minuten seit Beginn der allgemeinen Glückseligkeit vergangen, als auf einmal Tatjana Iwanowna unter uns erschien. Auf welche Weise, durch welchen geheimen Spürsinn hatte sie, während sie oben in ihrem Zimmer saß, so schnell von dem Liebesverhältnis und von der Verlobung Kenntnis erhalten können? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen in den Augen kam sie in einer entzückenden, eleganten Toilette (sie hatte die Zeit nach ihrer Rückkehr dazu benutzt, sich umzukleiden) hereingeflattert und eilte laut aufschreiend auf Nastasja zu, um sie zu umarmen.

»Nastasja, Nastasja! Du hast ihn geliebt, und ich habe nichts davon gewußt!« rief sie. »O Gott! Sie haben einander geliebt; sie haben im stillen, im geheimen gelitten! Sie sind verfolgt worden! Was für ein Roman! Nastasja, mein Täubchen, sag mir die ganze Wahrheit: liebst du diesen verdrehten Menschen wirklich?«

Statt aller Antwort umarmte Nastasja sie und küßte sie.

»O Gott, was für ein reizender Roman!« Tatjana Iwanowna klatschte vor Entzücken in die Hände. »Hör mal, Nastasja, hör mal, mein Engel: alle diese Männer, alle ohne Ausnahme, sind undankbar und schändlich und unserer Liebe unwert. Aber vielleicht ist er noch der beste von ihnen. Komm mal her zu mir, du verdrehter Mensch!« rief sie, indem sie sich meinem Onkel zuwandte und ihn bei der Hand faßte. »Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu lieben? Sieh mich mal an: Ich will dir in die Augen sehen; ich will sehen, ob diese Augen lügen. Nein, nein, sie lügen nicht; in ihnen glänzt Liebe, Liebe! Oh, wie glücklich bin ich! Liebe Nastasja, hör mal, du bist nicht reich, ich schenke dir dreißigtausend Rubel. Nimm sie an, ich bitte dich inständig! Ich brauche sie nicht, wirklich nicht; mir bleibt auch so noch genug. Nein, nein, nein!« schrie sie und wehrte heftig mit den Händen ab, als sie sah, daß Nastasja das Geschenk ablehnen wollte. »Seien auch Sie ganz still, Jegor Iljitsch; das geht Sie gar nichts an. Nein, Nastasja, ich bin fest entschlossen, dir ein Geschenk zu machen; ich wollte es schon längst tun und wartete nur auf deine erste Liebe... Ich werde mich an dem Anblick eures Glückes weiden. Du kränkst mich, wenn du es nicht annimmst; ich werde weinen, Nastasja... Nein, nein, nein und nochmals nein!«

Tatjana Iwanowna war so entzückt, daß es, wenigstens in diesem Augenblick, ein Ding der Unmöglichkeit, ja eine Grausamkeit gewesen wäre, ihr zu widersprechen. Das unternahmen die Verlobten denn auch nicht, sondern verschoben es auf eine andere Zeit. Dann stürzte sie auf die Generalin zu, um sie zu küssen, dann auf Fräulein Perepelizyna und auf uns alle. Bachtschejew drängte sich respektvoll an sie heran und bat um die Erlaubnis, ihr die Hand küssen zu dürfen.

»Liebes, verehrtes Fräulein! Verzeihen Sie mir Dummkopf mein Betragen von vorhin; ich kannte Ihr goldenes Herz noch nicht!«

»Sie verdrehter Mensch! Ich kenne Sie schon lange«, flüsterte Tatjana Iwanowna mit schwärmerischer Koketterie, schlug ihm mit ihrem Handschuh auf die Nase und flatterte wie ein Zephir hinweg, wobei sie ihn mit ihrem prächtigen Kleide streifte.

Der Dicke trat respektvoll zur Seite.

»Eine höchst achtbare junge Dame!« sagte er gerührt. »Aber dem Deutschen ist die Nase wieder angeleimt!« flüsterte er mir vertraulich zu und sah mir vergnügt in die Augen.

»Was für eine Nase? Welchem Deutschen?« fragte ich verständnislos.

»Na dem, den ich mir habe schicken lassen, der seiner Landsmännin die Hand küßt, während sie sich mit dem Taschentuch eine Träne abwischt. Mein Jewdokim hat den Schaden noch gestern repariert; ich habe vorhin, als wir von der Verfolgung zurückgekehrt waren, einen Reitenden abgeschickt, um das Spielzeug zu holen... Es wird bald gebracht werden. Ein ganz vorzügliches Ding!«

»Foma!« rief mein Onkel, ganz außer sich vor Entzücken, »du bist der Urheber unseres Glückes! Womit kann ich dir das vergelten?«

»Mit nichts, Oberst«, antwortete Foma mit scheinheiliger Miene. »Fahren Sie fort, mich unbeachtet zu lassen, und seien Sie glücklich ohne Foma!«

Er war offenbar pikiert darüber, daß man ihn während der allgemeinen Freudenausbrüche vergessen zu haben schien.

»Das kommt nur von unserem Entzücken, Foma!« rief mein Onkel. »Ich weiß gar nicht mehr, wo ich stehe, lieber Freund. Hör mal, Foma: Ich habe dich beleidigt. Mein ganzes Leben, mein ganzes Blut ist nicht ausreichend, um diese Beleidigung wiedergutzumachen, und daher schweige ich, ja, ich entschuldige mich nicht einmal. Aber wenn du jemals meinen Kopf und mein Leben brauchst, wenn du jemanden nötig hast, der sich für dich in einen gähnenden Abgrund stürzt, dann befiehl, und du wirst sehen... weiter sage ich nichts, Foma.«

Der Onkel machte eine resignierte Handbewegung, als sei er sich völlig der Unmöglichkeit bewußt, noch etwas hinzuzufügen, was seine Empfindung stärker zum Ausdruck bringen könnte. Er sah Foma nur mit dankbaren Augen an, in denen Tränen standen.

»Ach, was ist er für ein Engel!« winselte Fräulein Perepelizyna ihrerseits zum Lobe Fomas.

»Ja, ja!« fiel Alexandra ein. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie ein so guter Mensch sind, Foma Fomitsch, und habe Sie respektlos behandelt. Verzeihen Sie mir, Foma Fomitsch, und seien Sie überzeugt, daß ich Sie von nun an von ganzem Herzen lieben werde! Wenn Sie wüßten, welche Hochachtung ich jetzt für Sie empfinde!«

»Ja, Foma!« nahm auch Bachtschejew das Wort. »Verzeihen auch Sie mir dummem Menschen! Ich habe Sie nicht gekannt, Sie einfach nicht gekannt! Sie sind nicht nur ein Gelehrter, Foma Fomitsch, sondern geradezu ein Held! Mein ganzes Haus steht Ihnen zu Diensten. Wissen Sie, was das beste ist, lieber Freund? Kommen Sie übermorgen zu mir, mit der Frau Generalin und auch mit dem Bräutigam und der Braut – was rede ich: mit dem ganzen Haus! Dann wollen wir einmal zu Mittag essen! Ich will mich nicht im voraus rühmen; ich sage nur soviel: Außer Vogelmilch kann ich Ihnen alle kulinarischen Genüsse bieten! Darauf gebe ich Ihnen mein Wort!«

Während dieser Gefühlsergüsse trat auch Nastasja auf Foma Fomitsch zu, umarmte ihn ohne weitere Worte herzlich und küßte ihn.

»Foma Fomitsch«, sagte sie, »Sie sind unser Wohltäter; Sie haben soviel für uns getan, daß ich nicht weiß, wie ich Ihnen das alles vergelten soll; ich weiß nur, daß ich Ihnen die zärtlichste, respektvollste Schwester sein werde...«

Sie konnte nicht zu Ende sprechen: Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf den Scheitel; er war selbst bis zu Tränen gerührt.

»Meine Kinder, ihr Kinder meines Herzens!« sagte er. »Lebet und gedeihet und denkt in den Augenblicken des Glückes mitunter an den armen Vertriebenen! Von mir aber sage ich, daß das Unglück vielleicht die Mutter der Tugend ist. Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein leichtfertiger Schriftsteller, bei dem sich aber manchmal treffende Gedanken finden. Aus dem Haus gejagt zu werden, das ist ein Unglück! Unstet werde ich jetzt an meinem Stabe auf der Erde umherwandern, und wer weiß – vielleicht werde ich durch das Unglück noch tugendhafter werden! Dieser Gedanke ist der einzige Trost, der mir noch geblieben ist!«

»Aber... wohin willst du denn gehen, Foma?« rief der Onkel erschrocken.

Alle waren zusammengefahren und hatten ihre Blicke auf Foma gerichtet.

»Aber kann ich denn etwa in Ihrem Haus bleiben, nachdem Sie mich vorhin so behandelt haben, Oberst?« fragte Foma Fomitsch mit ganz besonderer Würde.

Aber man ließ ihn nicht zu Ende reden: Ein allgemeines Geschrei übertönte seine Worte. Man zwang ihn, sich in seinen Lehnstuhl zu setzen, man bat ihn, man flehte ihn unter Tränen an, und ich weiß nicht, was man sonst noch alles mit ihm anfing. Natürlich lag es gar nicht in seiner Absicht, ›dieses Haus‹ zu verlassen, ebensowenig wie vorhin und ebensowenig wie am vorhergehenden Tag und ebensowenig wie damals, als er im Gemüsegarten gegraben hatte. Er wußte, daß sie ihn jetzt pietätvoll zurückhalten und sich mit Gewalt an ihn klammern würden, namentlich da er alle glücklich gemacht hatte und da alle von neuem an ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu tragen und dies für eine Ehre und für ein Glück zu halten. Aber der Umstand, daß er vorhin aus Furcht vor dem Gewitter so kleinmütig zurückgekehrt war, stachelte wahrscheinlich seinen Ehrgeiz an und trieb ihn dazu, noch eine Weile die Rolle eines Helden zu spielen; besonders aber bot sich jetzt eine so gute Gelegenheit, großzutun; er hatte die Möglichkeit, von sich selbst in schönen Wendungen zu reden, sein Seelenleben zu schildern, sich zu loben – dieser Versuchung konnte er nicht widerstehen. Und er widerstand ihr auch nicht; er riß sich aus den Händen der ihn Festhaltenden los; er verlangte, man solle ihm seinen Wanderstab geben; er bat, man möge ihn freilassen, damit er in die weite Welt hinausziehe; er sei ›in diesem Hause‹ entehrt und mißhandelt worden und sei nur zurückgekehrt, um das allgemeine Glück zu schaffen; könne er denn etwa ›in dem Hause des Undanks bleiben und eine zwar nahrhafte, aber mit Mißhandlungen gewürzte Kohlsuppe essen‹? Endlich aber hörte er mit den Versuchen, sich loszureißen, doch auf. Er wurde von neuem in seinen Lehnstuhl gesetzt; aber seine rednerischen Ergüsse erlitten keine Unterbrechung.

»Hat man mich hier etwa nicht beleidigt?« rief er. »Hat man mir nicht die Zunge herausgestreckt? Haben nicht Sie, Sie selbst, Oberst, nach Art der unnützen Gassenbuben in der Stadt, mir allstündlich eine lange Nase gemacht? Jawohl, Oberst! Ich halte an diesem Vergleich fest; denn wenn Sie mir auch nicht körperlich eine lange Nase gemacht haben, so haben Sie es doch im geistigen Sinn getan, und die geistigen langen Nasen sind in manchen Fällen sogar noch beleidigender als die körperlichen. Ich will gar nicht einmal von den Mißhandlungen reden...«

»Foma, Foma!« rief der Onkel. »Töte mich nicht mit der Erinnerung daran! Ich habe dir schon gesagt, daß all mein Blut nicht dazu ausreicht, diese Beleidigung wegzuwaschen. Sei doch großmütig! Vergiß, verzeih und bleib hier, um ein Zeuge unseres Glückes zu sein, das dein Werk ist, Foma!...«

»... Ich will den Menschen lieben, will den Menschen lieben«, schrie Foma; »aber man gibt mir den Menschen nicht; man verbietet mir, ihn zu lieben; man nimmt mir den Menschen weg! Gebt mir den Menschen, gebt ihn mir, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser Mensch? Wo hat sich dieser Mensch versteckt? Wie Diogenes mit der Laterne suche ich ihn mein ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden; und ich kann niemanden lieben, bevor ich nicht diesen Menschen gefunden habe. Wehe dem, der mich zu einem Menschenhasser gemacht hat! Ich rufe: ›Gebt mir den Menschen, damit ich ihn lieben kann!‹ und man schiebt mir Falalej zu! Werde ich etwa Falalej liebgewinnen? Will ich denn Falalej liebgewinnen? Und endlich: kann ich denn Falalej lieben, selbst wenn ich es wollte? Nein. Warum nicht? Weil er Falalej ist. Warum liebe ich die Menschheit nicht? Weil alles, was auf der Welt lebt, Falalej ist oder etwas ihm Ähnliches. Ich kann Falalej nicht leiden; ich hasse Falalej; ich verabscheue Falalej; ich zertrete Falalej, und wenn ich wählen müßte, so würde ich mich lieber in Beelzebub verlieben als in Falalej! Komm einmal her, komm einmal her, du mein ewiger Peiniger, komm einmal her!« rief er, sich plötzlich an Falalej wendend, der in der harmlosesten Weise, auf den Zehen stehend, von hinten über die Schar hinwegspähte, die sich um Foma Fomitsch herum drängte. »Komm einmal her! Ich werde Ihnen zeigen, Oberst«, rief Foma, indem er den vor Angst fast bewußtlosen Falalej mit der Hand zu sich heranzog, »ich werde Ihnen die Wahrheit dessen, was ich von den steten Verhöhnungen und langen Nasen gesagt habe, beweisen! Sprich, Falalej, und sprich die Wahrheit: wovon hast du heute nacht geträumt? Sie werden die Früchte Ihrer Behandlung sehen, Oberst; Sie werden sie sofort sehen! Nun, Falalej, rede!«

Der arme Bursche, der vor Angst bebte, ließ seinen verzweifelten Blick ringsumgehen, um bei jemand Rettung zu suchen; aber alle zitterten nur und warteten voller Angst auf seine Antwort.

»Nun, Falalej, ich warte!«

Statt zu antworten runzelte Falalej die Stirn, öffnete den Mund und brüllte los wie ein Kalb.

»Oberst! Sehen Sie wohl diese Hartnäckigkeit? Ist die wirklich etwas Natürliches? Zum letzten Mal wende ich mich an dich, Falalej; sprich: wovon hast du heute geträumt?«

»Von...«

»Sag, daß du von mir geträumt hast!« flüsterte ihm Bachtschejew zu.

»Von Ihren Tugenden!« flüsterte ihm Jeshewikin in das andere Ohr.

Falalej blickte sich nur nach ihnen um.

»Von... von Ihren Tu... von dem weißen... Ochsen!« brüllte er endlich und vergoß die bittersten Tränen.

Alle stöhnten. Aber Foma Fomitsch hatte eine Anwandlung von ganz besonderer Großmut.

»Wenigstens sehe ich daran deine Aufrichtigkeit, Falalej«, sagte er, »eine Aufrichtigkeit, die ich bei anderen nicht wahrnehme. Ich verzeihe dir. Wenn du mich auf Anstiften anderer mit diesem Traum absichtlich verhöhnst, so wird Gott dich und jene andern dafür zur Rechenschaft ziehen. Wenn das aber nicht der Fall ist, so achte ich deine Aufrichtigkeit; denn ich bin gewohnt, sogar in einem so niedrigen Geschöpf wie dir das Ebenbild Gottes zu erkennen... Ich verzeihe dir, Falalej! Meine Kinder, umarmt mich; ich bleibe!...«

»Er bleibt!« schrien alle entzückt.

»Ich bleibe und verzeihe. Oberst, belohnen Sie Falalej mit Zucker; er soll an einem solchen Tag der allgemeinen Glückseligkeit nicht weinen.«

Selbstverständlich fand man eine solche Großmut erstaunlich. Eine solche Sorglichkeit, in einem solchen Augenblick, und für wen? Für Falalej! Mein Onkel beeilte sich, den Befehl betreffs des Zuckers zu erfüllen. Sogleich erschien (Gott weiß woher) in Praskowja Iljinitschnas Händen eine silberne Zuckerdose. Mein Onkel nahm mit zitternder Hand zwei Stücke heraus, dann drei, dann ließ er sie hinfallen; schließlich, da er sah, daß er vor Aufregung nicht imstande war, damit zurechtzukommen, rief er:

»Ach was! Zur Feier eines solchen Tages! Halt auf, Falalej!« und schüttete ihm den ganzen Inhalt der Zuckerdose an der Brust in die Hemdbluse.

»Das ist für deine Aufrichtigkeit!« fügte er als moralische Belehrung hinzu..

»Herr Korowkin!« meldete auf einmal Widopljassow, der in der Tür erschien.

Es entstand eine kleine Aufregung. Korowkins Besuch kam offenbar nicht im richtigen Augenblick. Alle blickten den Onkel fragend an.

»Korowkin!« rief der Onkel etwas verlegen. »Natürlich freue ich mich...«, fügte er, Foma schüchtern anblickend, hinzu; »aber ich weiß wirklich nicht, ob ich ihn jetzt, in einem solchen Augenblick, empfangen soll. Wie denkst du darüber, Foma?«

»In Gottes Namen!« antwortete Foma huldvoll. »Lassen Sie auch Korowkin hereinkommen; mag auch er an dem allgemeinen Glück teilnehmen!«

Kurz, Foma Fomitsch befand sich in einer geradezu engelgleichen Gemütsstimmung.

»Ich wage ganz ergebenst zu melden«, bemerkte Widopljassow, »daß Herr Korowkin sich nicht in normalem Zustand zu befinden geruht.«

»Nicht in normalem Zustand? Wie? Was faselst du da?« rief der Onkel.

»Jawohl, er befindet sich nicht in nüchternem Geisteszustand...«

Aber kaum hatte der Onkel Zeit gehabt, erstaunt den Mund zu öffnen, zu erröten, zu erschrecken und äußerst verlegen zu werden, als auch schon die Lösung des Rätsels erfolgte. In der Tür erschien Herr Korowkin selbst, schob Widopljassow mit der Hand beiseite und stand nun vor der erstaunten Versammlung. Er war ein Herr von ziemlich kleiner Statur, aber stämmig gebaut, etwa vierzig Jahre alt, mit dunklem, schon graumeliertem, kurzgeschorenem Haar, dunkelrotem, rundem Gesicht und kleinen, blutunterlaufenen Augen; er trug eine hohe, härene Krawatte, die hinten mit einer Schnalle geschlossen war, einen stark abgenutzten Frack, an welchem Federchen und Heuhälmchen hingen und welcher unter den Achseln bedeutende Risse aufwies, ein pantalon impossible und eine unglaublich schmierige Mütze, die er in der Hand schwenkte. Dieser Herr war vollständig betrunken. Als er in die Mitte des Zimmers gelangt war, blieb er stehen, schwankte hin und her und machte in seiner Benommenheit mit der Nase hämmernde Bewegungen; dann breitete sich langsam ein Lächeln über sein ganzes Gesicht aus.

»Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte er, »ich... hm...« (hier knipste er an seinem Rockkragen herum), »ich habe ein bißchen was zu mir genommen!«

Die Generalin nahm sofort die Miene beleidigter Würde an. Foma maß, in seinem Lehnstuhl sitzend, den wunderlichen Gast mit einem spöttischen Blick. Bachtschejew blickte ihn erstaunt an; indes barg sein Erstaunen auch ein gewisses Mitgefühl. Die Verlegenheit meines Onkels war grenzenlos; Korowkins Zustand bereitete ihm die größte Seelenpein.

»Korowkin!« begann er, »hören Sie mal...«

»Attendez!« unterbrach ihn dieser. »Ich erlaube mir, mich als ein Kind der Natur vorzustellen... Aber was sehe ich? Es sind ja Damen hier... Warum hast du mir das nicht gesagt, du Schurke, daß du hier bei dir zu Hause Damen hast?« fügte er hinzu und sah den Onkel mit einem spitzbübischen Lächeln an. »Nun, es tut nichts! Nur keine Bange!... Stellen wir uns auch dem schönen Geschlecht vor!... Meine reizenden Damen!« begann er, nur mühsam die Zunge bewegend und bei jedem Wort anstoßend, »Sie sehen hier einen Unglücklichen, der... na und so weiter... Das übrige will ich unausgesprochen lassen... Musikanten! Polka!«

»Wollen Sie sich nicht schlafen legen?« fragte Misintschikow, indem er ruhig auf Korowkin zutrat.

»Schlafen legen? Wollen Sie mich beleidigen?«

»Durchaus nicht. Wissen Sie, nach der Fahrt tut das gut...«

»Niemals!« antwortete Korowkin entrüstet. »Glauben Sie, daß ich betrunken bin? Nicht die Spur... Aber übrigens: Wo kann man hier bei Ihnen schlafen?«

»Kommen Sie nur mit; ich werde Sie gleich hinführen.«

»Wohin? In die Scheune? Nein, lieber Freund, mich betrügen Sie nicht. In einer Scheune habe ich schon die letzte Nacht zugebracht... Indessen, führen Sie mich!... Warum sollte ich nicht mit einem braven Menschen mitgehen?... Ein Kissen ist nicht nötig; wer beim Militär gewesen ist, braucht kein Kissen. Aber Sie könnten mir ein kleines Sofa zurechtmachen, lieber Freund, ein kleines Sofa... Und hören Sie«, fügte er, stehenbleibend, hinzu, »Sie sind, wie ich sehe, ein netter junger Mann; geben Sie mir doch... hm... Sie verstehen? Nur so ein bißchen was zum Trinken, nur so ein bißchen... ich meine, nur so ein Gläschen.«

»Schön, schön!« antwortete Misintschikow.

»Schön... Aber warten Sie; ich muß mich doch erst empfehlen. Adieu, mesdames und mesdemoiselles!... Sie haben mich mit Ihren Blicken sozusagen durchbohrt... Na, lassen wir’s gut sein! Wir können uns später darüber unterhalten... wecken Sie mich nur, wenn es anfängt... oder schon fünf Minuten vor dem Anfang... aber daß Sie nicht ohne mich anfangen! Hören Sie wohl? Nicht ohne mich anfangen!«

Damit ging der vergnügte Herr hinter Misintschikow her und verschwand.

Alle schwiegen. Das Erstaunen dauerte eine ganze Weile. Endlich begann Foma allmählich, schweigend und unhörbar zu kichern; dieses Gekicher wuchs immer stärker und stärker zu einem wirklichen Lachen heran. Als die Generalin dies sah, wurde sie ebenfalls heiter, obwohl der Ausdruck gekränkter Würde sich immer noch auf ihrem Gesicht hielt. Ein unwillkürliches Gelächter begann sich ringsum zu erheben. Der Onkel stand wie betäubt da, errötete dermaßen, daß ihm fast die Tränen kamen, und war eine Zeitlang nicht imstande, ein Wort vorzubringen.

»Herrgott!« sagte er endlich, »wer konnte das ahnen? Aber freilich... freilich kann das einem jeden passieren. Foma, ich versichere dir, daß dies ein überaus ehrenhafter, edler und sogar außerordentlich belesener Mensch ist, Foma... du wirst es ja selbst sehen!...«

»Das sehe ich, das sehe ich«, erwiderte Foma, ganz atemlos vom Lachen, »ein außerordentlich belesener Mensch, gewiß, sehr belesen!«

»Und wie er von den Eisenbahnen zu sprechen weiß!« bemerkte Jeshewikin halblaut.

»Foma!...« rief mein Onkel; aber das allgemeine Gelächter übertönte seine Worte. Foma wollte sich ausschütten vor Lachen. Als mein Onkel das sah, lachte er ebenfalls.

»Na, was ist da weiter zu sagen?« rief er entzückt. »Du bist großmütig, Foma; du hast ein edles Herz; du hast mein Glück begründet... du wirst auch diesem Korowkin verzeihen.«

Die einzige, die nicht lachte, war Nastasja. Mit Augen voller Liebe blickte sie ihren Verlobten an und schien sagen zu wollen:

›Was bist du doch für ein prächtiger, gutherziger, edler Mensch, und wie liebe ich dich!‹

VI
Schluß

Fomas Triumph war vollständig und unbestreitbar. In der Tat wäre ohne ihn nichts zustande gekommen, und die vollzogene Tatsache schlug alle Zweifel und Einwände zu Boden. Die Dankbarkeit der Beglückten war grenzenlos. Der Onkel und Nastasja wiesen mich mit heftigen abwehrenden Handbewegungen zurück, als ich auch nur leise anzudeuten versuchte, auf welche Weise Fomas Einwilligung zu ihrer Verlobung erreicht worden war. Alexandra rief: »Der gute, gute Foma Fomitsch! Ich werde ihm ein Kissen mit bunter Wolle sticken!« und sagte sogar zu mir, ich solle mich schämen, so hartherzig zu sein. Der völlig umgewandelte Stepan Alexejewitsch hätte mich, glaube ich, erwürgt, wenn ich auf die Idee gekommen wäre, in seiner Gegenwart etwas Respektloses über Foma Fomitsch zu sagen. Er lief jetzt wie ein Hündchen hinter Foma her, blickte ihn voll Verehrung an und fügte zu jedem Wort desselben hinzu: »Sie sind ein sehr edler Mensch, Foma! Sie sind ein gelehrter Mann, Foma!« Was Jeshewikin anlangt, so befand er sich auf der höchsten Stufe des Entzückens. Der alte Mann hatte schon längst gesehen, daß Nastasja dem guten Jegor Iljitsch den Kopf verdreht hatte, und hatte seitdem im Wachen und im Schlafen nur den einen Gedanken gehabt, wie er ihm seine Tochter zur Frau geben könne. Er hatte an dieser Absicht so lange wie nur irgend möglich festgehalten und erst dann davon Abstand genommen, als es absolut notwendig geworden war; da hatte nun Foma die Sache zustande gebracht; selbstverständlich durchschaute der Alte trotz seines Entzückens Foma Fomitsch vollständig. Kurz, es war klar, daß Foma Fomitsch in diesem Hause für immer zur Herrschaft gelangt war und daß seine Tyrannei nun kein Ende mehr haben werde. Bekanntlich werden selbst die unangenehmsten, launischsten Menschen, wenn man ihre Wünsche erfüllt, wenigstens für einige Zeit sanfter. Aber bei Foma Fomitsch fand das vollständige Gegenteil statt: Bei Erfolgen wurde er immer verdrehter und trug die Nase immer höher.

Kurz vor dem Mittagessen setzte er sich, nachdem er die Wäsche gewechselt und sich umgekleidet hatte, in seinen Lehnstuhl, rief meinen Onkel zu sich und hielt ihm in Gegenwart der ganzen Gesellschaft eine neue Predigt.

»Oberst!« begann er, »Sie wollen eine rechtmäßige Ehe eingehen. Kennen Sie auch wohl die Pflichten...«

Und so weiter und so weiter. Man stelle sich eine Rede vor im Umfange von zehn kleingedruckten Seiten im Format des Journal des Débats, eine Rede voll des blühendsten Unsinns, in der nichts von jenen Pflichten vorkam, sondern lediglich in der schamlosesten Weise Foma Fomitschs eigener Verstand, seine Sanftmut, seine Hochherzigkeit, Mannhaftigkeit und Uneigennützigkeit gepriesen wurden. Alle waren hungrig und sehnten sich nach dem Mittagessen; aber trotzdem wagte niemand, Einspruch zu erheben, und alle hörten das ganz dumme Gewäsch andächtig bis zu Ende an; sogar Bachtschejew saß trotz seines quälenden Appetits, ohne sich zu rühren, höchst respektvoll dabei. Nachdem dann Foma Fomitsch endlich von seiner eigenen Beredsamkeit genug hatte, wurde er ganz heiter, trank bei Tisch sogar ziemlich viel und brachte recht ungewöhnliche Toaste aus. Er begann Witze und Neckereien vorzubringen, natürlich auf Kosten, des jungen Paares. Alle lachten darüber und klatschten Beifall. Aber einige dieser Scherze waren dermaßen schlüpfrig und unzweideutig, daß sogar Bachtschejew verlegen, wurde. Schließlich sprang Nastasja auf und lief vom Tisch weg. Darüber geriet Foma Fomitsch in unbeschreibliches Entzücken; aber er fand sich sofort in die Situation hinein: In kurzen, aber kräftigen Worten schilderte er Nastasjas treffliche Eigenschaften und brachte einen Toast auf die Gesundheit der Abwesenden aus. Mein Onkel, der noch einen Augenblick vorher höchst verlegen gewesen war und arge Qualen ausgestanden hatte, hätte jetzt Foma Fomitsch gern zum Dank umarmt. Überhaupt schienen der Bräutigam und die Braut sich voreinander zu schämen und die Empfindung zu haben, als verdienten sie soviel Glück gar nicht; und ich hatte bemerkt, daß sie seit der Verlobung noch kein Wort miteinander gesprochen, ja es sogar vermieden hatten, einander anzusehen. Als man vom Tisch aufstand, war mein Onkel plötzlich verschwunden, und niemand wußte, wo er geblieben war. Auf der Suche nach ihm kam ich zufällig auf die Terrasse. Dort saß Foma in einem Lehnstuhl beim Kaffee und erging sich, vom Wein stark angeregt, in geistreichen Reden. Bei ihm waren nur Jeshewikin, Bachtschejew und Misintschikow. Ich blieb da, um zuzuhören.

»Warum«, rief Foma, »warum bin ich bereit, für meine Überzeugungen auf der Stelle den Scheiterhaufen zu besteigen? Und warum ist von Ihnen niemand imstande, das zu tun? Woher kommt das, woher kommt das?«

»Aber daß Sie den Scheiterhaufen besteigen, Foma Fomitsch, wäre doch recht überflüssig!« erwiderte Jeshewikin, um ihn zu verspotten. »Was hätte das für einen Sinn! Erstens tut es weh, und zweitens, wenn Sie verbrannt werden, was bleibt dann von Ihnen übrig?«

»Was übrigbleibt? Edle Asche bleibt übrig. Aber wie können Sie mich verstehen, wie können Sie mich würdigen! Für Sie alle gibt es keine anderen großen Männer als solche wie Cäsar und Alexander von Mazedonien! Aber was hat Ihr Cäsar getan? Wen hat er glücklich gemacht? Was hat Ihr berühmter Alexander von Mazedonien getan? Die ganze Welt erobert? Aber geben Sie mir eine ebensolche Phalanx, dann werde ich sie auch erobern, und Sie werden es ebenfalls können. Aber andrerseits hat er den tugendhaften Clitus getötet, und ich habe keinen tugendhaften Clitus getötet. So ein Gelbschnabel! So eine Kanaille! Mit Ruten hätte man ihn peitschen sollen, aber nicht ihn in der Weltgeschichte preisen... und ebenso ist es mit Cäsar!«

»Aber wenigstens gegenüber Cäsar sollten Sie Milde walten lassen, Foma Fomitsch!«

»Ich lasse gegenüber diesem Dummkopf keine Milde walten!« rief Foma.

»Nein, keine Milde!« fiel Stepan Alexejewitsch eifrig ein, der ebenfalls etwas angetrunken war. »Es ist gar kein Grund, da Milde walten zu lassen; die Kerle sind allesamt Faxenmacher; möchten immer nur auf einem Bein herumhüpfen! Die Narren! Da wollte heute einer ein Stipendium stiften. Aber was ist denn das, ein Stipendium? Weiß der Deibel, was das bedeutet! Ich möchte, wetten, daß es irgend so eine neue Gemeinheit ist. Und der andere da vorhin schwatzt in anständiger Gesellschaft Unsinn zusammen und bittet sich ein Glas Rum aus! Meine Ansicht ist: Warum soll man nicht trinken? Trink du nur, trinke; aber dann mach auch eine Pause; nachher kannst du meinetwegen wieder trinken... Es ist gar kein Grund, diesen Leuten gegenüber Milde walten zu lassen! Gauner sind sie allesamt! Der einzige Gelehrte sind Sie, Foma!«

Wenn Bachtschejew sich jemandem hingab, dann tat er es auch vollständig, bedingungslos und unter Verzicht auf jede Kritik.

Ich fand meinen Onkel im Garten, am Teich, an einer ganz einsamen Stelle. Nastasja war bei ihm. Als sie mich erblickte, schlüpfte sie ins Gebüsch, wie wenn sie sich schuldig fühlte. Mein Onkel kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen; Freudentränen standen in seinen Augen. Er ergriff meine beiden Hände und drückte sie kräftig.

»Mein Freund!« sagte er, »ich kann bis jetzt immer noch nicht recht an mein Glück glauben. Und Nastasja ebensowenig. Wir staunen nur und preisen Gott den Allmächtigen. Jetzt eben hat sie geweint. Kannst du es glauben: Ich bin bis jetzt noch gar nicht recht zur Besinnung gekommen; ich bin ganz unfähig zum Denken; ich glaube es und glaube es auch wieder nicht! Und womit habe ich soviel Glück verdient? Womit? Was habe ich getan? Womit habe ich es verdient?«

»Wenn jemand sein Glück verdient hat, lieber Onkel, so sind Sie es«, erwiderte ich mit warmer Empfindung. »Ich habe noch keinen so ehrenhaften, so prächtigen, so guten Menschen gesehen, wie Sie einer sind.«

»Nein, lieber Sergej, nein, das ist zuviel«, antwortete er mit einer Art von Bedauern. »Das ist eben das Schlimme, daß wir nur dann gut sind (das heißt, ich rede nur von mir), wenn es uns gut geht; geht es uns aber schlecht, dann benehmen wir uns garstig gegen jeden, der uns zu nahe kommt! Davon habe ich soeben mit Nastasja gesprochen. In wie glänzender Gestalt auch Foma vor meinen Augen stand, habe ich doch (kannst du es glauben?) vielleicht bis zum heutigen Tag nicht ganz an ihn geglaubt, obwohl ich dir selbst versicherte, daß er ein idealer Mensch sei; selbst gestern, als er ein solches Geschenk zurückwies, gelangte ich noch nicht zum Glauben! Zu meiner Schande bekenne ich es! Mein Herz erbebt bei der Erinnerung an meine Tat von vorhin! Aber ich war meiner selbst nicht mächtig. Als er vorhin das von Nastasja sagte, da war es mir, als ob mich jemand mit einem Messer gerade ins Herz stäche. Ich verstand nichts mehr und handelte wie ein Tiger...«

»Nicht doch, lieber Onkel; das war vielleicht eine ganz natürliche Handlungsweise.«

Mein Onkel machte eine abwehrende Bewegung mit den Armen.

»Nein, nein, lieber Freund, sage das nicht! Das kommt alles einfach von der Verderbtheit meiner Natur her, davon, daß ich ein finsterer, sinnlicher Egoist bin und mich ungehemmt meinen Leidenschaften hingebe. Das sagt auch Foma.« (Was sollte ich darauf erwidern?) »Du weißt nicht, lieber Sergej«, fuhr er mit tiefem Gefühl fort, »wie oft ich gereizt, mitleidslos, ungerecht und hochmütig gewesen bin, und nicht nur gegen Foma. Jetzt ist mir das auf einmal alles wieder eingefallen, und ich schäme mich ordentlich, daß ich bisher noch nichts getan habe, um ein solches Glück zu verdienen. Nastasja hat soeben von sich dasselbe gesagt, obwohl ich wirklich nicht weiß, was sie für Sünden begangen haben könnte; denn sie ist kein Mensch, sie ist ein Engel! Sie sagte zu mir, wir seien ganz gewaltig in Gottes Schuld und müßten uns jetzt bemühen, besser zu werden und lauter gute Werke zu tun... Und wenn du gehört hättest, wie schön und mit welcher Wärme sie das alles sagte! O mein Gott, was ist sie für ein Mädchen!« Er hielt sehr aufgeregt inne. Nach einer kleinen Weile fuhr er fort:

»Wir haben uns vorgenommen, lieber Freund; zu Foma, zu Mama und Tatjana Iwanowna besonders freundlich zu sein. Aber was soll man von Tatjana Iwanowna sagen! Was ist sie für ein edles Wesen! Oh, wie ich mich gegen sie alle vergangen habe! Auch gegen dich habe ich mich vergangen... Aber wenn jetzt jemand wagen sollte, Tatjana Iwanowna zu beleidigen, oh, dann... Nun, da ist weiter nichts zu sagen!... Auch für Misintschikow muß etwas getan werden.«

»Ja, lieber Onkel, ich habe jetzt meine Ansicht über Tatjana Iwanowna geändert. Man muß sie achten und bemitleiden.«

»Gewiß, gewiß!« fiel mein Onkel mit Wärme ein. »Man muß sie achten! Und da ist zum Beispiel dieser Korowkin; du lachst gewiß über ihn«, fügte er, mir schüchtern ins Gesicht blickend, hinzu, »und wir alle haben vorhin über ihn gelacht. Aber das ist vielleicht unverzeihlich... Er ist vielleicht der vortrefflichste, beste Mensch, aber das Schicksal... er mag viel Unglück durchgemacht haben... du glaubst es nicht; aber es ist vielleicht wirklich so.«

»Nicht doch, lieber Onkel, warum sollte ich es nicht glauben?«

Und ich begann mit lebhaftem Eifer davon zu sprechen, daß selbst in einem tief gesunkenen Wesen sich eine Menge der höchsten menschlichen Empfindungen erhalten haben könne; daß die Tiefe der Menschenseele unerforschlich sei; daß man die Gefallenen nicht verachten dürfe, sondern im Gegenteil bemüht sein müsse, sie wieder aufzurichten; daß der allgemein gebräuchliche Maßstab für das Gute und für die Sittlichkeit nicht richtig sei, und so weiter und so weiter; kurz, ich geriet in Begeisterung und erzählte ihm sogar von der naturalistischen Schule; zum Schluß zitierte ich die Verse: »Als aus der grausen Nacht der Fehle« und so weiter.

Mein Onkel war sehr entzückt.

»Mein Freund, mein Freund!« sagte er gerührt, »du verstehst mich vollkommen und hast alles, was ich selbst sagen wollte, noch besser ausgedrückt, als ich es gekonnt hätte. Ja, so ist es, so ist es! O Gott! Warum ist der Mensch so schlecht? Warum bin ich so oft schlecht, während es doch so schön und beglückend ist, gut zu sein? Auch Nastasja hat soeben ganz dasselbe gesagt... Aber sieh nur einmal, was das hier für ein herrliches Plätzchen ist!« fügte er, um sich schauend, hinzu. »Was für eine Natur! Was für ein Bild! Dieser Baum! Sieh nur: Ein Mann kann ihn kaum umspannen! Wie saftig, wie dicht belaubt! Welche Sonne! Wie nach dem Gewitter alles ringsum fröhlich geworden ist, sich gewaschen hat!... Man möchte meinen, daß auch die Bäume ein eigenes Bewußtsein haben und etwas fühlen und das Leben genießen... Ob es nicht wirklich so ist – was? Wie denkst du darüber?«

»Sehr möglich, lieber Onkel. Auf ihre Weise natürlich.«

»Nun ja, natürlich, auf ihre Weise... Wunderbarer, wunderbarer Schöpfer!... Aber du mußt dich doch noch gut an diesen ganzen Garten erinnern, lieber Sergej: Wie du hier gespielt hast und herumgelaufen bist, als du noch ein kleiner Junge warst! Ich habe es noch ganz gut im Gedächtnis, wie du ein kleiner Junge warst«, fügte er hinzu und sah mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Liebe und Glückseligkeit an. »Nur an den Teich durftest du nicht allein gehen. Und erinnerst du dich noch: Einmal abends rief dich meine selige Katerina zu sich und streichelte dich. Du warst vorher tüchtig im Garten umhergelaufen und ganz rot und erhitzt; du hattest solche hellen, lockigen Härchen. Sie spielte damit und sagte: ›Du hast gut daran getan, daß du den verwaisten Knaben zu uns ins Haus genommen hast.‹ Erinnerst du dich noch daran?«

»Kaum, lieber Onkel.«

»Es war damals Abend, und die Sohne beschien euch beide so hell, und ich saß in einer Ecke und rauchte eine Pfeife und blickte zu euch hin... Ich fahre jeden Monat in die Stadt zu ihrem Grab, lieber Sergej«, fügte er mit leiser, zitternder Stimme hinzu, der man die unterdrückten Tränen anhören konnte. »Ich habe eben mit Nastasja darüber gesprochen; sie sagte, wir würden nun beide zusammen dorthinfahren...«

Der Onkel schwieg und suchte seiner Erregung Herr zu werden.

In diesem Augenblick trat Widopljassow zu uns.

»Widopljassow!« rief mein Onkel erschrocken. »Kommst du von Foma Fomitsch?«

»Nein, ich komme mehr in eigener Angelegenheit.«

»Ah, das ist ja schön! Da werden wir etwas über Korowkin hören. Ich wollte schon vorhin nach ihm fragen... Ich habe ihm befohlen, lieber Sergej, bei ihm Wache zu halten, bei Korowkin. Nun, wie steht’s, Widopljassow?«

»Ich wage zu melden«, sagte Widopljassow, »daß Sie gestern geruhten, in betreff meiner Bitte Erwähnung zu tun und mir Ihren hohen Schutz gegen die täglichen Beleidigungen zu versprechen.«

»Fängst du wirklich wieder von deinem Familiennamen an!« rief mein Onkel erschrocken.

»Was soll ich machen? Die allstündlichen Beleidigungen...«

»Ach, Widopljassow, Widopljassow! Was soll ich mit dir anfangen?« rief mein Onkel sehr betrübt. »Was können denn das für Beleidigungen sein, die dir zugefügt werden? Du wirst noch den Verstand verlieren und dein Leben im Irrenhaus beschließen!«

»Ich glaube, daß ich mit meinem Verstand...«, begann Widopljassow.

»Na ja, na ja!« unterbrach ihn mein Onkel. »Ich sage das nicht, um dich zu kränken, lieber Freund, sondern in bester Absicht. Nun, was sind denn das für Beleidigungen, die du auszustehen hast? Ich möchte wetten, daß es Lappalien sind.«

»Man läßt mir keine Ruhe.«

»Wer denn?«

»Alle und insonderheit Matrjona. Diese bewirkt, daß mein Leben voll Leid ist. Es ist bekannt, daß alle mit Unterscheidungsgabe ausgestatteten Menschen, die mich noch in meiner frühen Kindheit erblickten, sich dahin geäußert haben, ich sähe ganz wie ein Ausländer aus, vornehmlich was die Gesichtszüge anlangt. Und was geschieht nun, gnädiger Herr? Aus diesem Grunde lassen sie mir jetzt keine Ruhe. Sobald ich vorbeigehe, schreien sie mir sämtlich allerlei dumme Worte nach; sogar die kleinen Kinderlein, denen man vor allen Dingen die Rute geben sollte; auch diese schreien mir nach. So zum Beispiel haben sie auch jetzt, während ich hierher ging, mir nachgeschrien... Es ist nicht zu ertragen. Beschirmen Sie mich, gnädiger Herr, mit Ihrem Schutz!«

»Ach, Widopljassow!... Na, aber was schreien sie denn eigentlich? Gewiß irgendeine Dummheit, die gar keine Beachtung verdient.«

»Es würde unpassend sein, dies zu sagen.«

»Nun, wie lautet es denn?«

»Es ist ekelhaft, es auszusprechen.«

»So sag es doch!«

»Grigori, der Spanier, trinkt gern Schampahnier.«

»Na, was bist du bloß für ein Mensch! Ich dachte, es wäre wunder was! Spuck doch aus und geh vorbei!«

»Ich habe ausgespuckt; sie schreien nur um so mehr.«

»Hören Sie, lieber Onkel«, sagte ich, »er beklagt sich darüber, daß ihm hier im Hause das Leben zu schwer gemacht wird. Schicken Sie ihn doch für eine Weile nach Moskau zu jenem Schreiblehrer! Sie sagten ja, er habe bei so einem gelebt.«

»Ach, lieber Freund, der hat auch ein tragisches Ende genommen!«

»Wieso?«

»Er hatte das Unglück«, antwortete Widopljassow, »sich fremdes Eigentum anzueignen, wofür er trotz seines hervorragenden Talents in das Gefängnis gesetzt wurde, allwo er unrettbar zugrunde ging.«

»Nun gut, nun gut, Widopljassow. Beruhige dich jetzt; ich werde das alles untersuchen und in Ordnung bringen«, sagte mein Onkel; »das verspreche ich dir! Nun, was macht denn Korowkin? Schläft er?«

»Keineswegs; er hat soeben geruht wegzufahren. Ebendieses zu melden bin ich hergekommen.«

»Wegzufahren? Was redest du da? Warum hast du ihn denn weggelassen?« rief mein Onkel.

»Aus Gutmütigkeit des Herzens; es war kläglich anzuschauen. Sobald er erwacht war und sich an den ganzen Hergang erinnerte, schlug er sich sogleich an den Kopf und schrie aus vollem Halse...«

»Aus vollem Halse!...«

»Es wird respektvoller sein, wenn ich mich so ausdrücke: er stieß mannigfaltige Schreie aus. Er rief, wie könne er jetzt dem schönen Geschlecht wieder vor die Augen kommen! Und dann fügte er hinzu: ›Ich bin des Menschengeschlechts unwürdig!‹ Und alles redete er so kläglich, in gewählten Ausdrücken.«

»Ein höchst zartfühlender Mensch! Ich habe es dir ja gesagt, Sergej... Aber du durftest ihn doch nicht weglassen, Widopljassow, da ich dir ausdrücklich befohlen hatte, auf ihn aufzupassen! Ach mein Gott, mein Gott!«

»Ich habe es mehr aus herzlichem Mitleid getan. Er bat, ich möchte nichts davon sagen. Sein Kutscher hatte die Pferde gefüttert und wieder angespannt. Und für die vor drei Tagen ihm ausgehändigte Summe befahl er seinen ergebensten Dank auszusprechen und zu sagen, daß er die Schuld demnächst mit der Post übersenden werde.«

»Was ist denn das für eine Summe, lieber Onkel?«

»Er nannte fünfundzwanzig Rubel«, sagte Widopljassow.

»Ich habe ihm dieses Geld damals auf der Station geliehen, lieber Freund; er hatte nicht genug bei sich. Natürlich wird er es mir mit der ersten Post zurückschicken... Ach mein Gott, wie leid mir das tut! Ob ich ihm nicht jemand nachschicke, um ihn zurückzuholen, lieber Sergej?«

»Nein, lieber Onkel, tun Sie das lieber nicht!«

»Das ist auch meine Meinung. Siehst du, lieber Sergej, ich bin natürlich kein Philosoph; aber ich glaube, daß in jedem Menschen weit mehr Gutes steckt, als es äußerlich scheint. So ist es auch bei Korowkin: Er hat die Beschämung nicht ertragen können... Aber wir wollen nun doch zu Foma gehen! Wir sind schon zu lange weggeblieben; er könnte es als Undank und Vernachlässigung auffassen und sich beleidigt fühlen... Gehen wir! Ach, Korowkin, Korowkin!« Der Roman ist zu Ende. Die Liebenden sind vereint, und der gute Genius hat in Foma Fomitschs Person bedingungslos in diesem Haus die Herrschaft angetreten. Man könnte noch sehr viele damit in Zusammenhang stehende Auseinandersetzungen hinzufügen; aber, genau besehen, sind all diese Auseinandersetzungen jetzt vollständig überflüssig. Das ist wenigstens meine Meinung. Statt aller Auseinandersetzungen werde ich nur noch einige Worte über das weitere Schicksal aller Helden meiner Erzählung sagen; ohne das schließt bekanntlich kein Roman, und die Regeln der Kunst schreiben es sogar vor.

Die Hochzeit der ›Beglückten‹ fand sechs Wochen nach den von mir geschilderten Ereignissen statt. Sie wurde still im Familienkreis ohne besonderen Pomp und ohne überflüssige Gäste gefeiert. Ich war Nastasjas Hochzeitsmarschall, Misintschikow der meines Onkels. Übrigens waren auch einige Gäste da. Aber die erste und wichtigste Person war natürlich Foma Fomitsch. Alle bemühten sich um seine Gunst und trugen ihn auf den Händen. Aber zufälligerweise geschah es, daß er einmal beim Herumreichen des Champagners übergangen wurde. Sofort veranstaltete er eine häßliche Szene mit Vorwürfen, Klagen und Geschrei. Foma lief auf sein Zimmer, schloß sich ein, schrie, daß man ihn verachte, daß jetzt ›neue Gesichter‹ in die Familie eindrängen und er daher ein Nichts sei, nicht mehr als ein Nichts, das man wegwerfe. Der Onkel war verzweifelt; Nastasja weinte; die Generalin bekam wie gewöhnlich Krämpfe. Das Hochzeitsmahl glich einem Leichenschmaus. Und volle sieben Jahre eines solchen Zusammenlebens mit ihrem Wohltäter Foma Fomitsch teilte das Schicksal meinem armen Onkel und der armen Nastasja zu. Bis zu seinem Tod (Foma Fomitsch ist im vorigen Jahre gestorben) war er mürrisch, schmollte, brüstete sich, ärgerte sich und räsonierte; aber die Verehrung, die ihm ›die Beglückten‹ erwiesen, verminderte sich nicht, sondern nahm sogar in demselben Maß wie seine Launen von Tag zu Tag zu. Jegor Iljitsch und Nastasja waren miteinander so glücklich, daß sie sogar für ihr Glück fürchteten; sie glaubten, Gott habe ihnen gar zuviel Gutes gesandt und sie hätten eine solche Gnade nicht verdient, und sie meinten daher, es werde ihnen vielleicht in der Folgezeit beschieden sein, ihr Glück durch Kreuz und Leid bezahlen zu müssen. Es ist begreiflich, daß Foma Fomitsch in dieser demütigen Familie alles tun und lassen konnte, was er nur wollte. Und was tat er nicht alles in diesen sieben Jahren! Man kann sich unmöglich eine Vorstellung davon machen, bis zu welchen zügellosen Phantasien seine übersättigte, müßige Seele sich mitunter in der Erfindung der raffiniertesten lukullischen Launen (in geistiger Hinsicht) verstieg. Drei Jahre nach der Hochzeit meines Onkels starb die Großmutter. Der verwaiste Foma geriet in helle Verzweiflung. Selbst jetzt wird im Haus meines Onkels nur mit Entsetzen von seinem damaligen Zustand erzählt. Als das Grab zugeschüttet wurde, wollte er sich durchaus hineinwerfen und schrie, man solle ihn mit zuschütten. Einen ganzen Monat lang gab man ihm weder ein Messer noch eine Gabel in die Hand, und einmal brachen ihm vier Menschen mit Gewalt den Mund auf, um ihm eine Stecknadel herauszunehmen, die er verschlucken wollte. Einer der unbeteiligten Zeugen dieses Kampfes sprach sich dahin aus, Foma Fomitsch habe diese Nadel während des Kampfes tausendmal verschlucken können, es aber trotzdem nicht getan. Aber diese Bemerkung hörten alle mit entschiedener Entrüstung an und beschuldigten denjenigen, der sie gemacht hatte, sogleich der Hartherzigkeit und Unschicklichkeit. Nur Nastasja schwieg und lächelte ein ganz klein wenig, wobei mein Onkel sie mit einiger Unruhe anblickte. Überhaupt muß bemerkt werden, daß Foma zwar im Haus des Onkels wie früher sich sehr aufspielte und seine Launen herauskehrte, daß aber die früheren despotischen, frechen Strafpredigten, die er sich meinem Onkel gegenüber erlaubt hatte, nicht mehr vorkamen. Foma beklagte sich, weinte, machte Vorwürfe und schalt; aber er schimpfte nicht mehr wie früher; es gab nicht mehr solche Szenen wie anläßlich des Titels Exzellenz, und ich glaube, daß dies Nastasjas Werk war. Sie zwang Foma fast unmerklich, hier und da nachzugeben und in dieses und jenes sich zu fügen. Sie wollte ihren Mann nicht erniedrigt sehen, und sie setzte ihren Willen durch. Foma sah deutlich, daß sie ihn fast ganz durchschaute. Ich sage ›fast‹, weil auch Nastasja Foma verhätschelte und sogar jedesmal ihrem Mann zustimmte, wenn er seinen Weisen enthusiastisch lobte. Sie wollte die andern zwingen, ihren Mann in jeder Hinsicht hochzuachten, und verteidigte daher auch seine Anhänglichkeit an Foma Fomitsch öffentlich. Aber ich bin davon überzeugt, daß ihr goldenes Herz alle früheren Beleidigungen vergessen hatte: Sie hätte Foma alles verziehen, als er sie mit dem Onkel vereinigt hatte, und war außerdem, wie es scheint, ernsthaft und mit ganzem Herzen auf die Idee des Onkels eingegangen, daß man von einem ›Dulder‹ und früheren Spaßmacher nicht viel verlangen dürfe, sondern im Gegenteil versuchen müsse, sein Herz zu heilen. Die arme Nastasja hatte selbst zu den Erniedrigten gehört, hatte selbst viel gelitten und bewahrte das in ihrem Gedächtnis. Nach einem Monat wurde Foma stiller; ja er wurde sogar freundlich und sanft; aber dafür begannen andere, ganz überraschende Anfälle: Er verfiel in eine Art von magnetischem Schlaf, der alle aufs äußerste erschreckte. Der Dulder hatte zum Beispiel irgend etwas gesagt oder gelacht, wurde aber dann in einem Augenblick zu Stein, und zwar in ebenderselben Haltung, in der er sich im letzten Augenblick vor dem Anfall befunden hatte; wenn er zum Beispiel gelacht hatte, so verblieb das Lächeln auf seinen Lippen; wenn er etwas in der Hand gehalten hatte, zum Beispiel eine Gabel, so blieb die Gabel in der erhobenen Hand, in der Luft. Dann sank seine Hand selbstverständlich herab; aber Foma Fomitsch fühlte nichts mehr und hatte keine Erinnerung daran, wie sie herabgesunken war. Er saß da, starrte vor sich hin, blinzelte sogar mit den Augen, sprach aber nichts, hörte nichts und verstand nichts. Dieser Zustand dauerte manchmal eine ganze Stunde. Natürlich waren alle im Haus halbtot vor Angst, hielten den Atem an, gingen auf den Fußspitzen und weinten. Endlich wachte Foma wieder auf; er fühlte dann eine furchtbare Mattigkeit und versicherte, er habe während dieser ganzen Zeit nicht das geringste gehört und gesehen. Es war erstaunlich, daß sich dieser Mensch dazu hergab, solche Faxen zu machen und stundenlang freiwillig Qualen zu erdulden, einzig und allein, um dann sagen zu können: »Seht mich an; ich habe auch ein höheres Gefühlsleben als ihr!« Schließlich verfluchte Foma Fomitsch einmal den Onkel ›wegen seiner allstündlichen Beleidigungen und Respektsverletzungen‹ und zog zu Herrn Bachtschejew, um nun bei diesem zu wohnen. Stepan Alexejewitsch, der nach der Hochzeit des Onkels sich noch oftmals mit Foma Fomitsch gezankt, ihn aber immer schließlich selbst um Verzeihung gebeten hatte, ging diesmal mit ungewöhnlichem Eifer ans Werk: Er empfing Foma enthusiastisch, fütterte ihn bis zum Platzen und beschloß sofort, formell mit dem Onkel zu brechen und sogar eine Klage gegen ihn einzureichen. Sie hatten da irgendwo ein strittiges Stückchen Land, um das sie übrigens niemals eigentlich gestritten hatten, da mein Onkel es Herrn Bachtschejew ohne jeden Streit vollständig überlassen hatte. Ohne jemandem ein Wort zu sagen, ließ Herr Bachtschejew seine Kutsche anspannen, jagte in die Stadt, sudelte dort eine Klageschrift hin und reichte sie ein; er bat darin das Gericht, ihm das betreffende Stück Land in förmlicher Weise zuzusprechen, unter Ersatz der Gerichtskosten und sonstiger Einbußen, und auf diese Weise die Räuberei und Eigenmächtigkeit zu bestrafen. Unterdessen war es Foma gleich am zweiten Tag bei Herrn Bachtschejew langweilig geworden; daher verzieh er dem Onkel, der ihm nachgefahren kam und seine Schuld eingestand, huldvoll und kehrte mit ihm wieder nach Stepantschikowo zurück. Herrn Bachtschejews Zorn, als er aus der Stadt zurückkehrte und Foma nicht mehr vorfand, war furchtbar; aber drei Tage darauf erschien er in Stepantschikowo, bekannte sein Vergehen, bat meinen Onkel unter Tränen um Verzeihung und zog seine Klage zurück. Der Onkel versöhnte ihn gleich am selben Tag mit Foma Fomitsch, und Stepan Alexejewitsch lief wieder wie ein Hündchen hinter Foma her und sagte wie früher nach jedem Wort desselben: »Sie sind ein kluger Mensch, Foma! Sie sind ein gelehrter Mann, Foma!«

Foma Fomitsch liegt jetzt im Grab, neben der Generalin; über ihm erhebt sich ein kostbares Denkmal von weißem Marmor, ganz mit Ausdrücken der Trauer und mit Lobpreisungen bedeckt. Manchmal gehen Jegor Iljitsch und Nastasja auf einem Spaziergang pietätvoll zum Kirchhof, um an Fomas Grab zu beten. Noch jetzt können sie von ihm nicht ohne tiefe Empfindung reden; sie erinnern sich an jedes Wort von ihm, an seine Lieblingsgerichte, an alles, was er gern hatte. Seine Sachen werden wie ein kostbarer Schatz aufbewahrt. Da sie sich nun völlig verwaist fühlten, schlossen sich mein Onkel und Nastasja noch enger aneinander an. Kinder hat ihnen Gott nicht gegeben; sie grämen sich sehr darüber, wagen aber nicht zu murren. Alexandra hat schon vor längerer Zeit einen netten jungen Mann geheiratet. Ilja studiert in Moskau. So leben denn der Onkel und Nastasja ganz allein und können sich aneinander gar nicht satt sehen. Die Art, wie sie einer für den andern sorgen, ist beinahe krankhaft geworden. Nastasja betet fortwährend für ihren Mann. Wenn einer von ihnen zuerst stirbt, so wird ihn, glaube ich, der andere keine Woche überleben. Aber möge Gott ihnen ein langes Leben schenken! Jeden Gast, der zu ihnen kommt, empfangen sie voller Freude und teilen bereitwillig mit sämtlichen Unglücklichen alles, was sie haben. Nastasja liest gern die Lebensbeschreibungen der Heiligen und sagt ganz zerknirscht, die gewöhnlichen guten Werke seien nicht ausreichend; man müsse alles den Bedürftigen geben und in seiner Armut glücklich sein. Wenn sie nicht für Ilja und Alexandra zu sorgen hätten, so würde der Onkel das auch längst getan haben; denn er ist in allen Stücken mit seiner Frau vollständig einer Meinung. Bei ihnen lebt Praskowja Iljinitschna und tut ihnen mit Freuden alles zu Gefallen; sie führt ihnen auch die Wirtschaft. Herr Bachtschejew machte ihr bald nach der Hochzeit des Onkels einen Heiratsantrag; aber sie lehnte denselben rundweg ab. Man schloß daraus, daß sie ins Kloster gehen wolle; aber auch das tat sie nicht. In ihrem Wesen liegt eine merkwürdige Eigenheit: sich vor denen, die sie liebhat, ganz klein zu machen, fortwährend die eigene Persönlichkeit gegen sie ganz zurücktreten zu lassen, ihnen jeden Wunsch an den Augen abzusehen, sich all ihren Launen unterzuordnen, sie zu hegen und zu pflegen und ihnen zu dienen. Jetzt nach dem Tod der Generalin, ihrer Mutter, hält sie es für ihre Pflicht, bei ihrem Bruder zu bleiben und ihrer Schwägerin Nastasja in allem behilflich zu sein. Der alte Jeshewikin lebt noch und hat in der letzten Zeit angefangen, seine Tochter immer häufiger zu besuchen. Anfangs brachte er meinen Onkel dadurch zur Verzweiflung, daß er sich und seine kleine Bande (so nannte er seine Kinder) von Stepantschikowo beinahe vollständig fernhielt. Alle Aufforderungen des Onkels zum Kommen blieben bei ihm wirkungslos: Er war nicht so sehr stolz als empfindlich und mißtrauisch. Dieses Mißtrauen entsprang aus seinem Ehrgefühl, ging aber manchmal denn doch zu weit. Der Gedanke, man empfange ihn, den armen Kerl, in dem reichen Haus vielleicht nur aus Mitleid und empfinde seine Besuche als eine Belästigung und Zudringlichkeit, dieser Gedanke quälte ihn furchtbar; er lehnte mitunter sogar Nastasjas Beihilfe ab und nahm nur das Notwendigste an. Von meinem Onkel aber wollte er absolut nichts annehmen. Nastasja hatte sich sehr geirrt, als sie mir damals im Garten über ihren Vater gesagt hatte, er mache sich nur um ihretwillen zum Hanswurst. Allerdings hegte er damals den heißen Wunsch, Nastasja mit meinem Onkel zu verheiraten; aber die Rolle des Hanswurstes spielte er einfach aus innerem Bedürfnis, um dem in ihm angesammelten Grimm Luft zu machen. Das Bedürfnis zu spotten und zu sticheln steckte ihm im Blut. So maskierte er sich denn als den gemeinsten, kriecherischsten Schmeichler, zeigte aber zugleich deutlich, daß er es nur zum Schein tue, und je unterwürfiger seine Schmeichelei klang, um so bissiger und offener schaute der Spott dabei heraus. Das war nun einmal so seine Art. Es gelang den beiden Eheleuten, alle Kinder Jeshewikins in den besten Moskauer und Petersburger Unterrichtsanstalten unterzubringen, aber das auch erst, als Nastasja ihm klar nachwies, daß das alles auf ihre eigene Kosten geschah, das heißt von ihren eigenen dreißigtausend Rubeln, die ihr Tatjana Iwanowna geschenkt hatte: Diese dreißigtausend Rubel hatte Nastasja allerdings niemals von Tatjana Iwanowna angenommen; aber damit diese nicht traurig werde und sich nicht gekränkt fühle, hatte sie sie durch das Versprechen versöhnt, sobald ihre Familie unerwartet in Not käme, an ihre Hilfsbereitschaft zu appellieren. Das tat sie denn auch: Sie nahm, um sie zu beruhigen, bei ihr zu verschiedenen Zeiten zwei ziemlich beträchtliche Darlehen auf. Aber Tatjana Iwanowna starb vor drei Jahren, und Nastasja erhielt nun doch ihre dreißigtausend Rubel. Der Tod der armen Tatjana Iwanowna kam ganz unerwartet. Die ganze Familie machte sich fertig, um zu einem benachbarten Gutsbesitzer zum Ball zu fahren, und eben hatte Tatjana Iwanowna ihr Ballkleid angezogen und einen entzückenden Kranz von weißen Rosen auf den Kopf gesetzt, als sie auf einmal ein Unwohlsein verspürte, sich in einen Lehnstuhl setzte und starb. Mit diesem Kranze wurde sie denn auch beerdigt. Nastasja war verzweifelt. Tatjana Iwanowna war im Hause gehätschelt und gehegt und gepflegt worden wie ein kleines Kind. Sie setzte alle durch die Klugheit ihres Testamentes in Erstaunen; abgesehen von Nastasjas dreißigtausend Rubeln hatte sie alles übrige, gegen dreihunderttausend Rubel, zur Erziehung armer Waisenmädchen und zur Gewährung einer pekuniären Beihilfe an dieselben beim Verlassen der Unterrichtsanstalten bestimmt. In dem Jahr, in dem Tatjana Iwanowna starb, verheiratete sich auch Fräulein Perepelizyna, die nach dem Tod der Generalin bei meinem Onkel geblieben war, in der Hoffnung, sich bei Tatjana Iwanowna einzuschmeicheln. Unterdessen war nämlich der Besitzer des Dorfes Mischino Witwer geworden, ebenjenes kleinen Dorfes, in dem wir als Tatjana Iwanownas Beschützer die häßliche Szene mit Obnoskin und seiner Mutter gehabt hatten. Dieser Gutsbesitzer und ehemalige Beamte war ein schrecklicher Ränkeschmied und hatte von seiner ersten Frau sechs Kinder. Da er bei Fräulein Perepelizyna Geld vermutete, so machte er sich mit seiner Bewerbung an sie heran, und sie ging sofort darauf ein. Aber Fräulein Perepelizyna war arm wie eine Kirchenmaus; sie besaß nur dreihundert Rubel, und auch diese hatte ihr erst Nastasja zur Hochzeit geschenkt. Jetzt zanken sich Mann und Frau vom Morgen bis zum Abend miteinander. Sie reißt seine Kinder an den Haaren und versetzt ihnen Kopfnüsse; auch ihm zerkratzt sie das Gesicht (wenigstens wird das behauptet) und reibt ihm alle Augenblicke ihre Abstammung von einem Oberstleutnant unter die Nase. Auch Misintschikow ist in geordnete Verhältnisse gelangt. Er warf verständigerweise alle seine Hoffnungen auf Tatjana Iwanowna über Bord und fing an, die Landwirtschaft zu erlernen. Mein Onkel empfahl ihn einem reichen Grafen, der achtzig Werst von Stepantschikowo entfernt Besitzungen mit dreitausend Seelen hatte, sie aber nur selten besuchte. Da der Graf bei Misintschikow gute Fähigkeiten wahrnahm und der Empfehlung Vertrauen schenkte, so bot er ihm die Stelle eines Verwalters seiner Güter an; er hatte nämlich seinen früheren Verwalter, einen Deutschen, weggejagt, der trotz der vielgepriesenen deutschen Ehrlichkeit seinen Grafen ganz gehörig bestohlen hatte. Nach fünf Jahren waren die Güter nicht mehr wiederzuerkennen: Die Bauern waren wohlhabend geworden; es war eine geordnete Rechnungsführung eingerichtet worden, wovon vorher gar keine Rede gewesen war; die Einnahmen hatten sich beinahe verdoppelt – kurz, der neue Verwalter erwies sich als ganz vorzüglich, und der Ruf seiner Tüchtigkeit erscholl durch das ganze Gouvernement. Wie groß aber war das Erstaunen und die Betrübnis des Grafen, als Misintschikow nach genau fünf Jahren trotz aller Bitten und aller angebotenen Gehaltserhöhungen seine Stelle mit aller Entschiedenheit aufgab und in den Ruhestand trat! Der Graf glaubte, daß einer der benachbarten Gutsbesitzer oder auch einer aus einem andern Gouvernement ihm seinen guten Verwalter abspenstig gemacht hätte. Aber wie wunderten sich alle, als auf einmal, zwei Monate nach dem Aufgeben seiner Stelle, Iwan Iwanowitsch Misintschikow sich als Besitzer eines sehr schönen Gutes von hundert Seelen, vierzig Werst von den gräflichen Besitzungen entfernt, entpuppte, das er einem gar zu flott lebenden Husaren, einem früheren Freund, abgekauft hatte! Auf diese hundert Seelen nahm er sogleich eine Hypothek auf, und ein Jahr darauf besaß er noch weitere sechzig Seelen in der Nachbarschaft. Jetzt ist er selbst ein ordentlicher Gutsbesitzer, und seine Wirtschaft befindet sich in musterhaftem Zustand. Alle Leute wundern sich, wo er auf einmal das Geld herbekommen hat. Manche aber schütteln nur den Kopf. Aber Iwan Iwanowitsch fühlt sich durchaus ruhig und ist der Ansicht, daß er nichts Unrechtes getan hat. Er hat seine Schwester aus Moskau zu sich kommen lassen, ebendieselbe, die ihm ihre letzten drei Rubel zu Stiefeln gab, als er nach Stepantschikowo wanderte; sie ist ein sehr nettes Mädchen, schon über die erste Jugend hinaus, von sanftem Charakter, liebevoll, gebildet, aber außerordentlich verschüchtert. Sie hat die ganze Zeit her irgendwo in Moskau als Gesellschafterin bei einer ›Wohltäterin‹ ein Unterkommen gehabt; jetzt aber widmet sie demütig ihrem Bruder ihre Dienste, führt in seinem Haus die Wirtschaft, hält seinen Willen für ein Gesetz und fühlt sich vollkommen glücklich. Ihr Bruder verwöhnt sie nicht und hält sie sogar etwas kurz; aber sie bemerkt das gar nicht. In Stepantschikowo liebt man sie sehr, und es heißt, Herr Bachtschejew sei ihr gegenüber nicht gleichgültig. Er würde ihr auch wohl einen Antrag machen, fürchtet sich aber vor einem Korb. Übrigens hoffe ich, daß ich über Herrn Bachtschejew noch ein andermal werde sprechen können, in einer anderen Erzählung und dann ausführlicher.

Das sind ja dann wohl alle unsere Personen!... Nein, das hatte ich vergessen: Gawrila ist sehr gealtert und hat sein Französisch vollständig verlernt. Aus Falalej ist ein tüchtiger Kutscher geworden; der arme Widopljassow aber ist schon vor längerer Zeit ins Irrenhaus gekommen und, wie ich glaube, dort gestorben. Dieser Tage werde ich nach Stepantschikowo fahren und mich dann jedenfalls bei meinem Onkel nach ihm erkundigen.

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