Simon R. Green Das Regenbogen-Schwert

Wir kennen aus jenen Tagen viele Legenden über tapfere, tollkühne Recken.

Dies hier ist keine davon.

KAPITEL EINS Das Regenbogen-Schwert

PRINZ RUPERT LENKTE sein Einhorn in den Schlingpflanzenwald und spähte verdrießlich durch den Nieselregen, während er halbherzig nach dem Floh fahndete, der sich irgendwo unter seinem Brustharnisch verkrochen hatte. Trotz der feuchten Kälte schwitzte er fürchterlich unter dem Gewicht seiner Rüstung, und seine Stimmung war so tief gesunken, dass er sie fast aus den Augen verloren hatte. »Zieh aus, mein Sohn, und erlege einen Drachen!«, hatte ihn König Johann unter dem Beifall der Höflinge aufgefordert. Die hatten leicht jubeln. Schließlich mussten sie dem Drachen nicht persönlich gegenübertreten. Oder zur Regenzeit in voller Rüstung durch den Schlingpflanzenwald reiten. Rupert gab die Suche nach dem Floh auf und zerrte unbeholfen an seinem Helm, aber das brachte auch nichts. Das Wasser tropfte ihm weiterhin ins Genick.

Hohe, dicht gedrängte Bäume säumten den schmalen Pfad und verschwammen zu einem grünlichen Halbdunkel, das seine Stimmung widerspiegelte. Dicke, fleischige Lianen wickelten sich um die Stämme und hingen in verfilzten Knäueln von den Zweigen. Eine schwere, düstere Stille lag über dem Schlingpflanzenwald. Die einzigen Laute waren die Regentropfen, die unentwegt von den wasserschweren Ästen der Bäume rieselten, und die gedämpften Hufschläge des Einhorns. Zäher Schlamm und abgefallenes Laub machten den gewundenen, Jahrhunderte alten Pfad noch glitschiger als sonst, und das Einhorn schlitterte und stolperte vor sich hin, während es Prinz Rupert tiefer in den Schlingpflanzenwald trug.

Rupert starrte finster umher und seufzte tief. Sein Leben lang hatte er begierig gelauscht, wenn die Barden an langen, dunklen Winterabenden mit getragenem Ernst von den glorreichen Abenteuern seiner Vorfahren sangen. Er erinnerte sich, wie er als Kind mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund am Feuer im Großen Saal gesessen und mit wohligem Entsetzen die Geschichten von bösen Riesen und Hexen aufgesogen hatte, die Legenden von Zauberschwertern und Ringen, die ihrem Träger Macht verliehen. Unter dem Einfluss der Familiensagen hatte sich Rupert seit frühester Jugend geschworen, eines Tages den Helden zu geben wie Großonkel Sebastian, der drei Jahre seines Lebens für drei Wünsche eintauschte und damit Prinzessin Elaine aus dem Vermauerten Turm befreite. Oder wie Großvater Eduard, der mutterseelenallein der schrecklichen Nachthexe gegenübergetreten war, von der man sich erzählte, sie verdanke ihre verführerische Schönheit der Tatsache, dass sie im Blut von Jungfrauen bade.

Nun bekam er endlich die Gelegenheit, sich als Held zu erweisen, und was machte er daraus? Ein Riesen-Schlamassel! Im Grunde, so fand Rupert, war das alles die Schuld der Barden. Die ließen sich so lang und breit über Recken aus, die ein Dutzend Feinde mit einem einzigen Schwertstreich erledigten, weil sie reinen Herzens waren, dass sie nicht mehr dazu kamen, die eigentlich wichtigen Dinge zu schildern: wie man verhindern konnte, dass es in die Rüstung tropfte, um nur ein Beispiel zu nennen, wie man unbekannte Früchte mied, die einen elenden Durchmarsch verursachten, oder wie man unterwegs ohne große Schinderei eine Latrine aushob. Es gab vieles im Umfeld eines Helden, das die Barden mit keinem Wort erwähnten. Rupert steigerte sich gerade in eine echt miese Laune hinein, als das Einhorn unter ihm plötzlich strauchelte.

»Vorsicht!«, schrie der Prinz.

Das Einhorn blies arrogant durch die Nüstern. »Du hast leicht reden, da droben in deinem Sattel. Wem bleibt denn die ganze Schinderei? Die Rüstung, in der du steckst, wiegt mindestens eine Tonne. Lange macht mein Kreuz das nicht mehr mit.«

»Ich sitze jetzt seit drei Wochen im Sattel«, entgegnete Rupert ohne jedes Mitgefühl. »Mein Kreuz macht mir weniger zu schaffen als die Partie eine Etage tiefer.«

Das Einhorn bleckte höhnisch das Gebiss und hielt dann so jäh an, dass der Prinz um ein Haar kopfüber aus dem Sattel geflogen wäre. Rupert umklammerte das lange gedrehte Horn, um nicht die Balance zu verlieren.

»Was ist denn nun schon wieder los? Eine Pfütze auf dem Weg? Hast du vielleicht Angst, dir die Hufe schmutzig zu machen?«

»Ha, witzig!«, fauchte das Einhorn. »Warum steigst du nicht ab und gehst zu Fuß weiter? Allerdings versperrt da vorn ein gewaltiges Spinnennetz den Weg, falls dir das entgangen sein sollte.«

Ruperts Brust entrang sich ein tiefer Seufzer. »Und nun willst du vermutlich, dass ich mir die Geschichte aus der Nähe ansehe?«

»Wenn es dir nichts ausmachen würde…« Das Einhorn scharrte mit den Hufen, und einen Moment lang fühlte sich der Prinz seekrank. »Du weißt, wie mir vor Spinnen graust…«

Rupert fluchte ergeben und schwang sich unbeholfen aus dem Sattel. Die Rüstung knirschte bei jeder Bewegung. Der Prinz versank knapp zehn Zentimeter im matschigen Erdreich und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Dann klappte er das widerspenstige Visier hoch und studierte voller Unbehagen das riesige Netz. Dicke, milchige Fäden spannten sich kreuz und quer über den engen Pfad, besetzt mit glitzernden Regentropfen-Ketten. Rupert zog die Stirn kraus. Welche Spinnen woben schon ein drei Meter hohes Netz? Er stapfte mühsam durch den Schlamm, zog sein Schwert und stieß damit zaghaft einen der Fäden an. Die Klinge klebte sofort fest, und er musste das Heft mit beiden Händen umfassen, um die Waffe loszureißen.

»Das fängt ja gut an«, murmelte das Einhorn.

Rupert überhörte den Kommentar und starrte das Fädengewirr nachdenklich an. Je genauer er es betrachtete, desto weniger Ähnlichkeit hatte es mit einem Spinnennetz. Das Muster stimmte nicht. Die Fäden bildeten Knoten und Klumpen, hingen in losen Fetzen von den oberen Ästen und fielen in dicken Strängen zu Boden, wo sie im Schlamm des Waldpfads versanken. Und dann spürte Rupert, wie sich ihm langsam die Nackenhaare aufstellten, als ihm zu Bewusstsein kam, dass das Netz unentwegt zitterte, obwohl völlige Windstille herrschte.

»Rupert«, sagte das Einhorn leise.

»Wir werden beobachtet, stimmt's?«

»Ja.«

Rupert runzelte die Stirn und umklammerte das Schwert.

Etwas folgte ihnen, seit sie bei Tagesanbruch den Schlingpflanzenwald betreten hatten, etwas, das sich in den Schatten verbarg und nicht ans Licht wagte. Rupert verlagerte vorsichtig das Gewicht, um sich mit dem Boden unter seinen Füßen vertraut zu machen. Wenn es zu einem Kampf käme, würde der zähe Schlamm sicher zu einem Problem. Er nahm den Helm ab und legte ihn am Wegrand nieder; die Augenschlitze engten sein Gesichtsfeld zu stark ein. Als er sich wieder aufrichtete, schaute er beiläufig über die Schulter und erstarrte, als er ein schmächtiges, missgestaltetes Wesen von einem Baum zum anderen huschen sah. Obwohl es etwa so groß wie ein Mensch war, bewegte es sich nicht wie ein Mensch, und ehe es wieder mit den Schatten verschmolz, reflektierte das Licht von seinen Fängen und Klauen. Regen trommelte auf Ruperts Kopf und lief ihm über das Gesicht, während sich in seinem Innern das kalte Grauen ausbreitete.

Jenseits des Schlingpflanzenwaldes lag die Finsternis. So lange man sich zurückerinnerte, hatte in einem Teil des Waldes ewige Nacht geherrscht. Kein Sonnenstrahl durchdrang dieses Gebiet, und was immer dort hauste, scheute das Licht des Tages. Die Kartenmacher nannten die Region Dunkelwald und warnten: Achtung, Dämonen! Seit undenklichen Zeiten bestand zwischen Waldkönigreich und Dunkelwald die Barriere des Schlingpflanzenwaldes, eines unheimlichen Gewirrs aus Sümpfen, Dorngestrüppen und anderen Gefahren, dem bislang nur wenige Menschen lebend entronnen waren. Lautlose Raubtiere umschlichen die von Unkraut und Schlinggewächsen überwucherten Pfade und lauerten leichtsinnigen Wanderern auf. In den letzten Monaten waren jedoch immer öfter fremdartige Wesen in das Waldkönigreich eingedrungen, undeutliche Gestalten, die das Tageslicht mieden. Manchmal, wenn die Sonne ganz hinter dem Horizont versunken war, hörten die Bewohner einsamer Gehöfte ein Kratzen an ihren fest verriegelten Türen und Fensterläden und fanden am nächsten Morgen tiefe Rillen im Holz und verstümmelte Tiere in den Ställen.

Der Schlingpflanzenwald war keine sichere Barriere mehr.

Achtung, Dämonen!

Rupert verdrängte seine Furcht und umfasste das Schwert fester. Das solide Gewicht des Stahls beruhigte ihn, und er ließ die blitzende Klinge vor sich auf und nieder sausen.

Dann warf er einen finsteren Blick auf die dunklen Wolken, die den Himmel bedeckten; ein anständiger Sonnenstrahl hätte das Ding sofort in die Flucht getrieben, aber wie immer klebte Rupert das Pech an den Fersen.

Es ist doch nur ein Dämon, dachte er grimmig. Ich stecke von Kopf bis Fuß in einer Rüstung und weiß mit dem Schwert umzugehen. Dieser Dämon kann mir nichts anhaben!

»Einhorn«, sagte er ruhig, während er in die Schatten starrte, wo er den Dämon zuletzt gesehen hatte, »du versteckst dich am besten hinter einem Baum und hältst dich vom Kampfgetümmel fern! Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.«

»Schon geschehen!«, entgegnete eine gedämpfte Stimme.

Rupert drehte sich um und entdeckte das Einhorn in beträchtlicher Entfernung hinter einem dicken Baumstamm.

»Nett von dir«, sagte Rupert. »Und was ist, wenn ich deine Hilfe brauche?«

»Dann hast du ein Problem«, erklärte das Einhorn entschieden, »denn ich denke nicht daran, mich von der Stelle zu rühren. Ich erkenne jeden Dämon von weitem am Geruch.

Wusstest du übrigens, dass Dämonen Einhörner fressen?«

»Dämonen fressen alles«, sagte Rupert.

»Eben«, erwiderte das Einhorn und verschwand aus seinem Blickfeld.

Nicht zum ersten Mal schwor sich der Prinz, den Typen aufzusuchen, der ihm das Einhorn angedreht hatte, und ihm die Finger und Zehen einzeln abzuhacken.

Er vernahm ein leises Scharren zu seiner Linken und wollte sich eben umdrehen, als der Dämon ihn von hinten ansprang. Durch die schwere Rüstung bekam Rupert das Übergewicht und kippte nach vorn in den zähen Schlamm. Der Aufprall war so hart, dass ihm die Luft wegblieb und das Schwert seiner ausgestreckten Hand entglitt. Er erspähte einen Moment lang ein missgestaltetes dunkles Etwas, das ihn bei weitem überragte, und dann landete ein Zentnergewicht auf seinem Rücken. Eine Klauenhand packte ihn im Nacken und drückte ihm das Gesicht nach unten, bis ihm der Schlamm in die Augen drang. Er ruderte verzweifelt mit den Armen und bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen, aber seine eisengenieteten Stiefel schlitterten nur hilflos durch den Morast. Die Lungen schmerzten ihn; er japste nach Luft, und die Dreckbrühe floss ihm in den weit aufgerissenen Mund.

Panik erfasste ihn, während er vergeblich versuchte, den Angreifer abzuschütteln. Ihm wurde schwindlig, und der Kopf begann zu dröhnen, als die letzte Luft aus dem Brustkorb entwich. Dann merkte er, dass einer seiner Arme unter dem Harnisch eingeklemmt war. In einer plötzlichen Eingebung benutzte er ihn als Hebel, warf sich mit einem Ruck auf den Rücken und begrub den zappelnden Dämon unter dem Gewicht seiner Rüstung.

Lange, köstliche Augenblicke lang lag er einfach da, atmete stoßweise und rieb sich den Schlamm aus den Augen. Er rief das Einhorn laut um Hilfe, aber es antwortete nicht. Der Dämon trommelte mit plumpen Fäusten wütend auf die Rüstung ein, und dann tastete eine Klauenhand nach oben und schnellte Rupert ins Gesicht. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entrang sich seiner Brust, als die Krallen wie Messer den Wangenknochen entlangfuhren. Er versuchte verzweifelt, sein Schwert zu erreichen. Der Dämon nutzte die Bewegung, um sich unter ihm hervorzuwinden. Rupert rollte rasch zur Seite, packte sein Schwert und schaffte es, trotz des saugenden Morasts auf die Beine zu kommen. Das Gewicht seiner Rüstung machte jede Bewegung zu einer Qual, und Blut strömte ihm über Gesicht und Hals, während er wankend vor dem geduckten Dämon stand.

Sein Gegenüber hätte trotz seines grotesk verzerrten Äußeren in fast allem als Mensch durchgehen können, aber ein Blick in die hungrigen pupillenlosen Augen gab das Böse preis, das sich in ihm verbarg. Dämonen töteten, um zu leben, und lebten, um zu töten – abgrundtiefe Finsternis, losgelassen auf das Land. Rupert umklammerte sein Schwert fester und zwang sich, in dem Scheusal nichts anderes zu sehen als einen beliebigen Gegner. Der Dämon war stark, schnell und tödlich, aber das konnte Rupert auch von sich behaupten, wenn er einen klaren Kopf behielt. Er musste zunächst einmal dafür sorgen, dass er festen Boden unter die Füße bekam; der glitschige Schlamm verschaffte dem Gegner zu viele Vorteile. Er tat vorsichtig einen Schritt nach vorn; der Dämon fuhr gierig die Klauen aus, und ein breites Grinsen legte zwei Reihen spitzer Sägezähne frei. Rupert zerschnitt mit dem Schwert mehrmals die Luft, und der kalte Stahl schien dem Gegner so viel Respekt einzuflößen, dass er ein Stück zurückwich. Als Rupert auf seiner Suche nach sicherem Untergrund an dem nachtdunklen Geschöpf vorbeispähte, sah er plötzlich etwas, das ihm ein zittriges Lächeln entlockte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er in dem Kampf Sieger bleiben könnte.

Er packte das Schwert mit beiden Händen, holte tief Luft und rannte dann mit voller Wucht auf den geduckten Dämon zu. Er wusste, dass er ein toter Mann wär, wenn er zu früh stolperte und fiel. Der Dämon tat noch einen Schritt rückwärts, bis er außer Reichweite der Schwertspitze war. Rupert setzte nach, ängstlich darauf bedacht, in dem trügerischen Morast den Halt nicht zu verlieren. Der Dämon grinste und sprang erneut zurück, mitten in das dichte Netz, das den Weg versperrte. Rupert kam schlitternd zum Stehen, holte mit dem Schwert zum Todesstoß aus – und erstarrte entsetzt, als sich die dicken, milchigen Fäden des Netzes um den Dämon wickelten. Der Dämon zerrte wütend an den Strängen und fletschte dann in lautloser Pein die Fänge, als das Netz eine klare, zähe Flüssigkeit absonderte; wo sie zu Boden tropfte, stieg Rauch auf. Angewidert und fasziniert zugleich beobachtete Rupert, wie der matt um sich schlagende Dämon in einem riesigen pulsierenden Kokon verschwand, der ihn von Kopf bis Fuß umhüllte. Die letzten zuckenden Bewegungen erstarben rasch, als das Gespinst sein Mahl verzehrte.

Rupert senkte müde sein Schwert und stützte sich darauf, um den schmerzenden Rücken zu entlasten. Blut lief ihm in den Mund, und er spuckte es aus. So also sah ein Held aus!

Mit einem säuerlichen Grinsen begann er Bestandsaufnahme zu machen. Die prächtige, auf Hochglanz polierte Rüstung war mit halb getrocknetem Schlamm verschmiert und wies tiefe Kratzspuren von den Klauen des Dämons auf. Sämtliche Glieder taten ihm weh, und der Schädel dröhnte ihm. Er tastete mit zitternder Hand nach seinem Gesicht und zuckte zusammen, als er frisches Blut auf seinem Kettenpanzer-Handschuh entdeckte. Beim Anblick von Blut, insbesondere seinem eigenen Blut, war ihm schon immer schlecht geworden. Er schob das Schwert in die Scheide und setzte sich schwerfällig am Wegrand nieder, ohne auf den schmatzenden Schlamm zu achten.

Alles in allem, fand er, hatte er sich ganz wacker geschlagen. Es gab nicht viele Menschen, die einem Dämon begegneten und der Nachwelt davon berichten konnten.

Rupert warf einen Blick auf den mittlerweile reglosen Kokon und schnitt eine Grimasse. Nicht unbedingt die heldenhafteste Art, einen Gegner zu besiegen, und ganz sicher nicht die ritterlichste, aber der Dämon war tot und er am Leben, und genau das hatte er bezweckt.

Er streifte die Handschuhe ab und untersuchte mit bloßen Fingern vorsichtig die Verletzungen im Gesicht. Breite, tiefe Risse verliefen vom äußeren Augenwinkel bis zum Mund.

Die musst du auswaschen, dachte er halb betäubt, sonst riskierst du eine Inf ektion! Er schüttelte den Kopf und sah sich um. Während des Kampfes hatte es zwar zu regnen aufgehört, aber die Sonne senkte sich bereits dem Horizont entgegen, und die Schatten nahmen zu. Die Nächte brachen in jüngster Zeit immer früher herein, und das zu Beginn des Sommers.

Von den überhängenden Ästen fielen unentwegt Tropfen, und ein dumpfer, fauliger Geruch hing in der unbewegten Luft.

Rupert betrachtete den Kokon und begann plötzlich zu frösteln, als ihm in den Sinn kam, dass er sich mit dem Schwert einen Weg durch das Gespinst hatte bahnen wollen. Raubtiere gab es in vielerlei Gestalt, besonders im Schlingpflanzenwald.

Er seufzte ergeben. Müde oder nicht, er musste seinen Weg fortsetzen.

»Einhorn! Wo bist du?«

»Hier«, ertönte eine höfliche Stimme aus den tiefsten Schatten.

»Kommst du jetzt endlich heraus oder muss ich dich erst holen?«, knurrte der Prinz. Nach kurzem Zögern erschien das Einhorn zaghaft auf dem schmalen Pfad. Rupert starrte es so wütend an, dass es den Blick senkte.

»Wo warst du, als ich Kopf und Kragen im Kampf mit dem Dämon riskierte?«

»Im Gebüsch versteckt«, entgegnete das Einhorn. »Das erschien mir das einzig Logische.«

»Und warum hast du mir nicht geholfen?«

»Weil ich mir dachte, dass dir mit meiner Hilfe wenig gedient wäre, wenn du mit Schwert und voller Rüstung nichts gegen den Dämon ausrichten könntest«, sagte das Einhorn ruhig.

Rupert seufzte. Irgendwann würde er lernen, dass es keinen Sinn hatte, mit dem Einhorn zu diskutieren.

»Wie sehe ich aus?«

»Furchtbar.«

»Vielen Dank.«

»Wahrscheinlich bleiben ein paar Narben zurück«, fügte das Einhorn hilfreich hinzu.

»Großartig. Genau das, was ich brauche.«

»Heißt es nicht, dass Narben im Gesicht der Schmuck des wahren Helden sind?«

»Wer immer diesen Blödsinn verzapft hat, sollte sich mal auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen. Diese verdammten Barden… Hilf mir auf die Beine, Einhorn!«

Das Einhorn trabte rasch neben ihn. Rupert umklammerte den Steigbügel und zog sich schwerfällig aus dem Dreck. Das Einhorn blieb geduldig stehen, während Rupert erschöpft an seiner Flanke lehnte, in der Hoffnung, seine Schmerzen würden wenigstens so weit nachlassen, dass er sich in den Sattel schwingen konnte.

Das Einhorn beobachtete ihn besorgt. Prinz Rupert war ein hoch gewachsener, gut aussehender Jüngling Mitte zwanzig, aber das Blut, die Schmerzen und die Erschöpfung machten ihn um zwanzig Jahre älter. Seine Haut war grau und schweißbedeckt, seine Augen glänzten fiebrig. Er befand sich ganz offensichtlich nicht in der Verfassung, weiterzureiten, aber das Einhorn wusste, dass Ruperts Stolz ihn zwingen würde, es zumindest zu versuchen.

»Rupert…«, begann das Einhorn.

»Ja?«

»Warum… führst du mich nicht eine Weile am Zügel? Du weißt, wie leicht ich in diesem Schlamm ausrutsche.«

»In Ordnung«, sagte Rupert. »Ich mache das.«

Er nahm müde den Zügel und marschierte mit hängendem Kopf los. Langsam und mit Bedacht führte ihn das Einhorn an dem reglosen Kokon vorbei und den Pfad entlang, der immer tiefer in den Schlingpflanzenwald vordrang.

Zwei Tage später saß Rupert wieder im Sattel und näherte sich rasch der Grenze zwischen Schlingpflanzen- und Dunkelwald. Seine Schmerzen waren dank eines Beutels mit Heilkräutern, den ihm der Hofastrologe vor Antritt seiner Reise aufgenötigt hatte, so gut wie ausgestanden, und obwohl er mehr als einmal bedauerte, keinen Spiegel zu besitzen, hatte er das Gefühl, dass der Schorf über den Gesichtswunden ordentlich abheilte. Alles in allem hatte sich Ruperts Stimmung beträchtlich aufgehellt – oder war zumindest nicht mehr so rabenschwarz wie nach dem Kampf.

Er sollte also einen Drachen töten, aber genau genommen hatte seit ewigen Zeiten niemand mehr ein solches Untier gesehen, weshalb Drachen eigentlich nur noch in Legenden vorkamen. Und Rupert empfand mittlerweile eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf Legenden; sie verweilten endlos bei Ehre und Ruhm und ließen dafür die wichtigen Dinge weg, etwa wie man wen oder was immer tötete, ohne selbst getötet zu werden. Die Auskunft, dass man zu diesem Zweck

›reinen Herzens‹ sein musste, war keine große Hilfe, wenn man es mit einem Drachen zu tun hatte. Wetten, dass der meine Feuer speit?, dachte Rupert trübsinnig. Er arbeitete gerade mühsam an einer logischen Begründung, die es ihm ermöglichen würde, an den Hof zurückzukehren, fast ohne das Gesicht zu verlieren, als sich seine Blase nachdrücklich bemerkbar machte. Rupert lenkte das Einhorn mit einem Seufzer an den Wegrand. Wieder so ein Punkt, den die Barden nie erwähnten.

Er stieg rasch ab und ging daran, die komplizierten Klappen zu öffnen, die seine Lenden schützten. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig und pfiff laut vor sich hin, während er gegen einen Baumstamm pinkelte. Wenn er nicht bald eine andere Kost bekam, würde er der erste und einzige Held sein, der mit offenem Hosenstall in die Schlacht ritt…

Dieser Gedanke gab den Ausschlag, und sobald er sein Geschäft erledigt hatte, machte sich Rupert daran, seine Rüstung abzustreifen. Er hatte das verdammte Blech nur getragen, weil man ihm versichert hatte, dass es nach alter Tradition ein Muss für jeden war, der auszog, um Heldentaten zu vollbringen. Scheißtradition, dachte Rupert glücklich, und seine Laune besserte sich mit jedem verbeulten Teil, das in den Morast am Wegrand fiel. Nach kurzem Überlegen beschloss er, wenigstens die eisengenieteten Stiefel zu behalten; vielleicht bekam er ja Gelegenheit, jemandem einen Tritt zu versetzen. Mit Lederwams, Reithose und seinem besten Umhang angetan, fühlte sich Rupert zum ersten Mal seit Wochen bequem. Zugegeben, er fühlte sich auch verwundbar, aber wenn er bedachte, wie viel Pech er in jüngster Zeit gehabt hatte, wäre das Ding wohl irgendwann eingerostet und hätte ihn eingesperrt bis zum qualvollen Hungertod.

»Ich hasse Gras«, sagte das Einhorn mürrisch.

»Warum frisst du es dann?«, fragte Rupert, während er sein Schwert umschnallte.

»Weil ich hungrig bin.« Das Einhorn kaute angewidert.

»Und da wir schon seit Wochen kein anständiges Futter mehr haben…«

»Was stört dich an Gras?«, erkundigte sich Rupert sanft.

»Pferde fressen es ständig.«

»Ich bin kein Pferd!«

»Das habe ich nie behauptet…«

»Ich bin ein Einhorn, absolut reinrassig, und habe Anspruch darauf, ordentlich versorgt zu werden. Mit Hafer und Gerste und…«

»Im Schlingpflanzenwald?«

»Ich hasse Gras«, murmelte das Einhorn. »Das Zeug bläht so.«

»Versuch's mal mit einer Hand voll Disteln«, schlug Rupert vor.

Das Einhorn warf ihm einen empörten Blick zu. »Habe ich auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Esel?«, fragte es drohend.

Rupert drehte den Kopf zur Seite, um sein Grinsen zu verbergen, und entdeckte ein Dutzend Kobolde, die lautlos aus den Schatten traten und ihm den Weg versperrten. Sie waren etwa einen Meter groß, dürr wie Vogelscheuchen, spitzohrig und mit kurzen rostzerfressenen Schwertern und schartigen Hackebeilen bewehrt. Ihre unförmigen Bronze- und Silberrüstungen hatten sie offensichtlich von Rittern auf der Durchreise erbeutet, und ihr hässliches Grinsen verriet nur zu deutlich, was sie mit den Vorbesitzern angestellt hatten. Wütend dar­

über, dass er sich so auf dem linken Fuß hatte erwischen lassen, zog Rupert das Schwert und ließ seine Blicke grimmig über die Kerlchen schweifen. Die Kobolde umklammerten ihre Waffen und sahen einander zaghaft an. Lange Zeit rührte sich keiner vom Fleck.

»Nun steht nicht wie angewurzelt da!«, knurrte eine tiefe Stimme aus den Schatten. »Packt ihn!«

Die Kobolde traten unsicher von einem Fuß auf den anderen.

»Habt ihr das Riesenschwert gesehen?«, fragte der Kleinste aus der Schar.

»Und die Narben im Gesicht und das getrocknete Blut auf seiner Rüstung!«, wisperte ein anderer ehrfürchtig. »Er muss mindestens ein Dutzend Leute niedergemetzelt haben.«

»Hat sie wahrscheinlich zu Brei zerstampft«, malte der kleinste Kobold schaudernd aus.

Rupert ließ die blitzende Klinge lässig durch die Luft sausen. Die Kobolde fuchtelten halbherzig mit ihren Waffen und drängten sich dicht zusammen, weil gemeinsame Furcht nur die halbe Furcht war.

»Holt euch wenigstens sein Pferd!«, befahl die Stimme aus den Schatten.

»Pferd?« Das Einhorn warf den Kopf hoch, und seine blutroten Augen funkelten zornig. » Pf erd? Wofür hältst du wohl das Ding auf meiner Stirn, hä? Für eine nutzlose Verzierung?

Ich bin ein Einhorn, du Blödian!«

»Pferd oder Einhorn – wo liegt da der Unterschied?«

Das Einhorn stampfte mit den Hufen und senkte den Kopf, damit alle sein gefährlich spitzes Horn sehen konnten.

»Jetzt reicht es aber! Kommt her und holt euch, was ihr verdient! Einer nach dem anderen oder alle zusammen – ich mache euch f ertig! «

»Jetzt hast du's, Chef!«, murmelte der kleinste Kobold.

Rupert sah das Einhorn grinsend an. »Ich dachte immer, du seist ein von Vernunft und Logik geleiteter Feigling.«

»Im Moment habe ich genug damit zu tun, vor Wut zu schäumen«, knurrte das Einhorn. »In Ohnmacht fallen kann ich später, wenn mehr Zeit dazu ist. Stell diese Brut der Grö­

ße nach auf, und ich spieße sie allesamt auf. Das gibt einen Schaschlik, den ihr so schnell nicht wieder vergesst, Leute!«

Die Kobolde traten unauffällig den Rückzug an.

»Wollt ihr wohl stehen bleiben und diesen elenden Fremdling auf der Stelle töten!«, brüllte die Stimme aus den Schatten.

»Wenn du ihn unbedingt tot sehen willst, dann bring ihn doch selber um!«, fauchte der kleinste Kobold und sah sich schon einmal nach dem günstigsten Fluchtweg um. »Der ganze Schlamassel ist ohnehin deine Schuld. Wir hätten ihn in einen Hinterhalt locken sollen, solange er abgelenkt war, so wie wir es immer tun.«

»Ihr braucht Nahkampf-Erfahrung.«

»Quatsch Nahkampf-Erfahrung! Wir sollten bei unseren alt bewährten Methoden bleiben: Überraschungsangriffe von hinten bei großer Überzahl auf unserer Seite.«

Man vernahm einen tiefen Seufzer, und dann trat der Anführer der Kobolde majestätisch aus den Schatten. Breitschultrig, mit eindrucksvollen Muskelpaketen und fast einen Meter fünfzig groß, war er der stattlichste Kobold, den Rupert je gesehen hatte. Er drückte eine übel stinkende Zigarre auf seinem mit Grünspan überzogenen Bronze-Brustharnisch aus und bedachte seine Schar, die sich mitten auf dem Weg zusammendrängte, mit wütenden Blicken. Dann seufzte er noch einmal und schüttelte angewidert den Kopf.

»Was seid ihr bloß für ein jämmerlicher Haufen! Wie soll ich je richtige Kämpfer aus euch machen, wenn ihr euch vor dem Kämpfen drückt? Ich meine, wo liegt das Problem? Ihr habt es doch nur mit einem Mann zu tun.«

»Und mit einem Einhorn«, ergänzte der kleinste Kobold.

»Also schön, mit einem Mann und einem Einhorn. Na und?

Wir sind jetzt Wegelagerer, habt ihr das vergessen? Es gehört zu unseren Aufgaben, schutzlosen Wanderern aufzulauern und ihnen die Wertsachen abzunehmen.«

»Besonders schutzlos sieht mir der hier nicht aus«, murmelte der kleinste Kobold. »Allein das hässliche Schwert, das er mit sich rumschleppt…«

Die Kobolde starrten es mit morbider Faszination an, während Rupert ein paar Stöße und Hiebe übte. Das Einhorn trabte hinter ihm auf und ab, das Horn in Richtung der Kobolde gesenkt, was ihrem Mut nicht gerade förderlich war.

»He, Jungs!«, sagte der Anführer der Kobolde verzweifelt.

»Wie könnt ihr euch vor einem Kerl fürchten, der ein Einhorn reitet?«

»Was hat denn das damit zu tun?«, fragte der kleinste Kobold. Der Anführer raunte eine Erklärung, von der nur die Worte »jungfräulich« und »unberührt« deutlich zu verstehen waren. Sämtliche Kobolde starrten Rupert an und einige feixten vielsagend.

Rupert lief gegen seinen Willen knallrot an. »Als Prinz hat man es da nicht so einfach«, verteidigte er sich. »Oder will einer von euch was anderes behaupten?«

Er packte das Schwert fester und durchtrennte mit einem einzigen Hieb einen überhängenden Ast. Das lose Ende klatschte dumpf zu Boden – ein bedrohlicher Laut.

»Großartig«, murmelte der kleinste Kobold. »Jetzt haben wir es geschafft, dass er echt sauer ist!«

»Halt endlich deinen Mund!«, fauchte der Anführer der Koboldschar. »Nun überlegt doch mal: Wir sind dreizehn gegen einen. Wenn wir alle gleichzeitig auf ihn losstürmen, ist es aus mit ihm.«

»Willst du darauf wetten?«, fragte eine Stimme aus dem Hintergrund.

»Ruhe! Sobald ich den Befehl erteile, greift ihr an. At-tacke!«

Er trat vor und schwang drohend sein Schwert. Die anderen Kobolde folgten ihm eher zögernd. Rupert tat einen Schritt nach vorn, nahm sorgfältig Maß und streckte den Oberkobold mit einem Faustschlag nieder. Die übrigen Kobolde bremsten ihren Angriffsdrang, warfen einen Blick auf ihren gefallenen Anführer und ließen prompt die Waffen fallen. Rupert scheuchte sie zusammen, trieb die Schar so weit zurück, dass sie außer Reichweite ihrer Schwerter und Beile war, und lehnte sich dann lässig gegen einen Baumstamm, während er überlegte, was er mit den Kerlchen anfangen sollte. Sie waren solche absoluten Nieten, dass er nicht das Herz hatte, sie zu töten. Der Anführer setzte sich auf, schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen, und merkte, dass er das besser unterlassen hätte. Er bemühte sich, Rupert mit zornigen, herausfordernden Blicken einzuschüchtern, hatte damit allerdings wenig Erfolg.

»Hab ich nicht gleich gesagt, dass dreizehn eine Unglückszahl ist!«, motzte der kleinste Kobold.

»So«, begann Rupert, »nun hört mal alle gut zu. Wenn ihr mir versprecht, dass ihr verdammt schnell von hier verschwindet und mich nicht weiter belästigt, will ich ausnahmsweise darauf verzichten, euch dem Einhorn in kleinen Brocken zum Fraß vorzuwerfen. Wie klingt das, Leute?«

»Annehmbar«, meldete sich der kleinste Kobold hastig zu Wort. »Echt annehmbar.«

Die meisten der anderen Kobolde nickten.

»Bekommen wir zuerst unsere Waffen zurück?«, fragte der Anführer der Kobolde.

Rupert lächelte. »Sehe ich so bescheuert aus?«

Der Anführer zuckte mit den Schultern. »Versuchen kann man's ja, oder? Also gut, edler Held, der Handel gilt.«

»Und ihr werdet mir nicht folgen?«

Der Kobold-Anführer warf ihm einen säuerlichen Blick zu.

»Sehe ich so bescheuert aus? So, wie du die Truppenmoral untergraben hast, wird es mich Wochen harter Arbeit kosten, aus diesem Haufen wieder eine ordentliche Streitmacht zu machen. Ich für meinen Teil, edler Held, spüre nicht das geringste Verlangen, dich jemals wieder zu sehen!«

Er rappelte sich hoch und führte die Kobolde zurück in den Wald. Sekunden später war die Schar wie vom Erdboden verschwunden. Rupert schob grinsend das Schwert in die Scheide. Allmählich kriegte er den Heldentaten-Dreh heraus.

Eine Stunde später wechselte Rupert vom Schlingpflanzen- in den Dunkelwald, und die Helligkeit ließ rasch nach. Hoch über ihm verflochten sterbende Bäume ihre blattlosen Äste zu einer dichten Kuppel, die keinen Sonnenstrahl durchließ, und von einer Sekunde zur nächsten verwandelte sich der Nachmittag in tiefste Nacht. Er zügelte das Einhorn und warf einen Blick über die Schulter zurück, aber kein noch so schwacher Lichtschimmer folgte ihm in den Dunkelwald. Rupert starrte wieder nach vorn, tätschelte dem Einhorn beruhigend den Hals und wartete, um seine Augen an die Finsternis zu gewöhnen.

Phosphoreszierende Schwämme umgaben die modrigen Stämme mit einem silbrigen Schimmer, und in weiter Ferne glaubte er kurz einen hellen Schein zu sehen, als hätte jemand eine Tür geöffnet und dann rasch wieder geschlossen, aus Angst, unerwünschte Aufmerksamkeit zu wecken. Rupert spähte nervös umher und horchte auf jeden Laut, aber ringsum herrschte Grabesstille. In der Luft hing schwer der süßliche Gestank von Tod und Verwesung.

Allmählich hatten sich seine Augen so an die Umgebung angepasst, dass er den schmalen Pfad erkannte, der ins Herz des Dunkelwaldes führte, und er bedeutete dem Einhorn, sich wieder in Bewegung zu setzen. Die langsamen, rhythmischen Hufschläge dröhnten gefährlich laut durch die Stille. Es gab nur eine Möglichkeit, die endlose Nacht zu überwinden: einen schnurgeraden, schmalen Weg, der die Finsternis von einer Grenze zur anderen durchschnitt und so alt war, dass kein Mensch mehr wusste, wer ihn angelegt hatte und warum.

Der Dunkelwald existierte seit undenklichen Zeiten, und er behielt seine Geheimnisse für sich. Rupert drehte unruhig den Kopf hin und her, eine Hand ständig am Schwertknauf. Er musste an den Dämon denken, den er im Schlingpflanzenwald bekämpft hatte, und ein Schauer lief ihm plötzlich über den Rücken. Aber das Eindringen in den Dunkelwald war ein kalkuliertes Risiko, denn wenn jemand wusste, wo er einen Drachen finden konnte, dann war es die Nachthexe.

Vorausgesetzt, dass sie nach all den Jahren noch am Leben war. Vor Antritt seiner Reise hatte Rupert zusammen mit dem Hofastrologen die Burg-Archive nach einer Karte durchstöbert, die ihn zu einer Drachenhöhle führen könnte. Sie hatten keine Karte gefunden, was Rupert ungemein erleichterte, aber sie waren auf das offizielle Hofprotokoll gestoßen, das Großvater Eduards Begegnung mit der Nachthexe schilderte. Der erstaunlich kurze Bericht (erstaunlich insofern, als die jüngste Ballade zu diesem Thema aus nicht enden wollenden einhundertsiebenunddreißig Versen bestand) enthielt einen flüchtigen Querverweis auf einen Drachen und den Tipp, dass die verbannte Hexe möglicherweise immer noch in ihrer Hütte im Dunkelwald anzutreffen sei, nicht weit von der Grenze zum Schlingpflanzenwald entfernt.

»Nenn mir einen guten Grund, weshalb sie mir bei meiner Suche helfen sollte«, sagte Rupert zweifelnd. »Immer vorausgesetzt, dass ich so wahnsinnig bin, ein Weib aufzusuchen, das sein Leben lang erwiesenermaßen nach dem Blut anderer Leuten trachtet.«

»Allem Anschein nach war sie deinem Großvater sehr zugetan«, entgegnete der Astrologe geheimnisvoll.

Rupert musterte den Astrologen argwöhnisch und bedrängte ihn, diese Aussage näher zu erläutern, aber der wich ihm wie gewohnt aus. Rupert traute dem Astrologen etwa so weit, wie man in den Wind spucken konnte, aber da er sonst keinerlei Hinweis hatte, wie man an einen Drachen herankam

… Knorrige, krumm gewachsene Bäume ragten bedrohlich aus der Schwärze, als Rupert tiefer in die endlose Nacht ritt.

Die einzigen Laute weit und breit waren die rhythmischen Hufschläge des Einhorns, und selbst diese wirkten durch das unerbittliche Dunkel irgendwie gedämpft. Mehr als einmal ließ er das Einhorn unvermittelt anhalten und spähte angestrengt in die Finsternis, fest davon überzeugt, dass ganz in seiner Nähe etwas Schreckliches lauerte. Aber da war nichts

– außer dem Dunkel und der Stille. Er hatte keine Laterne, und wenn er einen Ast von einem der abgestorbenen Bäume abbrach, um ihn als Fackel zu benützen, zerbröselte ihm das morsche Holz unter den Fingern. Ohne den Wechsel von Tag und Nacht verlor er bald jedes Zeitgefühl und ritt einfach dahin, bis mit einem Mal die dicht gedrängten Bäume zu beiden Seiten zurückwichen. Rupert ruckte an den Zügeln, und das Einhorn blieb stehen. Vor ihnen lag eine kleine Lichtung, begrenzt vom Schimmer phosphoreszierender Schwämme, und in der Mitte dieser Lichtung erhob sich ein dunkler Umriss, der nichts anderes als die Hexenhütte sein konnte. Rupert warf einen Blick zum Nachthimmel, aber er sah weder Mond noch Sterne, nur eine schwarze Leere, die sich endlos auszudehnen schien.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, wisperte das Einhorn.

»Nein«, sagte Rupert. »Aber es ist unsere einzige Chance, einen Drachen zu finden.«

»Wenn du mich fragst, finde ich diesen Plan auch nicht gerade grandios«, murmelte das Einhorn.

Rupert grinste und schwang sich aus dem Sattel. »Du bleibst hier, während ich mir die Hütte ansehe.«

»Du kannst mich hier nicht allein zurücklassen«, beschwerte sich das Einhorn.

»Soll ich dich vielleicht mitnehmen und der Nachthexe vorstellen?«, fragte Rupert.

Das Einhorn hatte mit einem Satz den Weg verlassen und sich hinter dem nächsten Baum versteckt.

»Ich komme so schnell wie möglich zurück«, versprach Rupert. »Lauf inzwischen nicht weg!«

»Das ist der überflüssigste Ratschlag, der mir je erteilt wurde«, maulte das Einhorn.

Rupert zog sein Schwert, holte tief Luft und trat vorsichtig auf die Lichtung hinaus. Seine Schritte klangen in der Stille entsetzlich laut. Er begann zu rennen. Beim Gedanken an den Angriff, den er vermutlich gar nicht mehr mitkriegen würde, kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Die Hexenhütte lag geduckt wie ein schlafendes Raubtier da. Aus Tür- und Fensterritzen sickerte ein rötlicher Schein. Rupert kam schlitternd zum Stehen, lehnte sich mit dem Rücken gegen das raue Holz der Hüttenwand und versuchte das Dunkel, aus dem er gekommen war, mit Blicken zu durchbohren, um zu erkennen, ob ihm jemand gefolgt war. Nichts regte sich in der Ebenholzschwärze. Der einzige Laut in der endlosen Nacht war sein rasselnder Atem. Er schluckte trocken, wartete einen Moment, bis er wieder Luft bekam, und klopfte dann sehr höflich an. Ein grellroter Glanz stach ihm in die Augen, als die Hüttentür unvermittelt aufsprang. Eine große dürre Hand mit langen, gekrümmten Fingernägeln schoss hervor und packte ihn an der Kehle. Rupert stieß und schlug wild um sich, konnte aber nicht verhindern, dass er ins Innere der Hütte gezerrt wurde.

Die bucklige Hexe schloss die Tür mit einem Fußtritt und ließ Rupert ohne große Umstände auf den schmutzstarrenden Teppich plumpsen. Dann rieb sie sich die knochigen Hände und kicherte teuflisch, während er sich mühsam aufsetzte und die wunde Kehle massierte.

»War nicht persönlich gemeint«, griente sie. »Aber was tut man nicht alles für sein Image! Wenn ich nicht hin und wieder die garstige Alte gebe, denken die anderen, dass mit mir nicht mehr viel los ist. Aber was suchst du eigentlich hier?«

»Ich dachte, du könntest mir vielleicht weiterhelfen«, krächzte der Prinz.

»Dir weiterhelfen?«, wiederholte die Nachthexe und zog eine schiefe Braue hoch. »Bist du ganz sicher, dass du an der richtigen Tür geklopft hast?« Die schwarze Katze auf ihrer Schulter fauchte und rieb das Fell gegen das lange graue Zottelhaar der Hexe. Die Alte begann sie geistesabwesend zu streicheln.

»Nenn mir einen guten Grund, der mich daran hindern kann, dich in einen Frosch zu verwandeln«, meinte sie dann.

Rupert deutete auf sein Schwert. Die Hexe griente wieder.

»Steck das Ding weg, oder ich mache einen Knoten in die Klinge!«

Rupert dachte einen Moment lang darüber nach, schob dann das Schwert in die Scheide und wagte einen neuen Versuch. »Ich glaube, du hast meinen Großvater gut gekannt.«

»Möglich«, erklärte die Nachthexe von oben herab. »Ich habe in meiner besten Zeit viele Männer gekannt. Wie hieß denn dein Großvater?«

»König Eduard vom Waldkönigreich.«

Die Nachthexe starrte ihn verblüfft an. Dann erlosch jegliches Feuer in ihren Augen. Sie wandte sich langsam ab und ließ sich in einen arg mitgenommenen alten Schaukelstuhl am Feuer sinken.

»Ja«, sagte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihm.

»Ich erinnere mich an Eduard.«

Sie starrte reglos ins Nichts, und Rupert nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurappeln und ein wenig umzusehen. In der Hütte herrschte ein verschwommenes, graues Licht, das von überall zugleich zu kommen schien, obwohl nirgends eine Lampe zu sehen war. Die Wände gingen schief nach außen, und Fledermäuse kreischten hoch oben in den Dachbalken. Der Schatten einer Katze huschte eine Wand entlang, ohne dass er die dazu gehörige Katze entdecken konnte, und etwas Dunkles, Formloses starrte mit glühenden Augen vom rauchgeschwärzten Kamin zu ihm herüber.

Rupert musterte die Nachthexe neugierig. Irgendwie wirkte sie überhaupt nicht mehr gefährlich, seit sie ihn nicht mehr direkt bedrohte. Wie sie so auf ihrem Stuhl hin und her schaukelte, die Katze auf dem Schoß, sah sie aus wie jedermanns Großmutter, eine verschrumpelte grauhaarige alte Dame, den Rücken von den Jahren gebeugt. Sie war entsetzlich dünn, und das Leben hatte tiefe Furchen in ihre Züge gegraben. Das konnte nicht die sagenumwobene Nachthexe sein, die Männerverführerin mit der rabenschwarzen Haarpracht, das Furcht einflößende Geschöpf der Dunkelheit. Vor ihm saß eine müde alte Frau, versunken in Erinnerungen an bessere Zeiten. Sie schaute auf und merkte, dass Rupert sie eingehend betrachtete.

»Ja, schau mich nur an«, sagte sie ruhig. »Vor langer Zeit war ich berühmt für meine Schönheit. So berühmt, dass viele Männer von weither kamen, nur um mir Komplimente zu machen. Kaiser, Könige, edle Ritter – ich hätte sie alle kriegen können. Aber ich wollte sie nicht. Es reichte mir, dass ich

… schön war.«

»Wie viele Jungfrauen mussten für deine Schönheit sterben?«, fragte Rupert scharf.

»Ich habe irgendwann aufgehört, sie zu zählen«, sagte die Hexe. »Es erschien mir damals nicht wichtig. Ich war jung und strahlend, und die Männer umwarben mich; das allein zählte. Wie heißt du, mein Junge?«

»Rupert.«

»Du hättest mich damals sehen sollen, Rupert. Ich war so hübsch. So wunderhübsch.«

Sie lächelte sanft und schaukelte, die Blicke in die Vergangenheit gerichtet.

»Ich war jung und mächtig und machte mir die Finsternis Untertan. Ich errichtete in einer einzigen Nacht einen Palast aus Eis und Diamanten, und feine Damen und Herren von einem Dutzend Höfen kamen, um mir zu huldigen. Ihnen fiel nie auf, dass hier und da ein paar Bauernmädchen aus ihren Dörfern verschwanden. Vermutlich wäre es ihnen auch gleichgültig gewesen.

Und dann tauchte Eduard auf, mit der festen Absicht, mich zu töten. Irgendwie hatte er die Wahrheit herausgefunden und wollte das Waldkönigreich von meiner bösen Macht befreien.« Sie kicherte leise in sich hinein. »Viele Nächte verbrachte er aus freien Stücken in meinen kalten Gemächern. Er war hoch gewachsen, stattlich und tapfer und dachte nicht daran, sich mir zu unterwerfen. Weder die Wunder noch die Schrecken dieser Welt konnten seinen Willen brechen. Wir tanzten in meinem Ballsaal, nur wir beide, in einem weiten, widerhallenden Rund aus glitzerndem Eis, mit Kronleuchtern, die aus einzelnen Stalaktiten geformt waren. Allmählich gewann er mein Herz und ich das seine. Ich war jung und dumm und glaubte, unsere Liebe werde bis in alle Ewigkeit dauern.

Sie dauerte einen Monat.

Ich brauchte frisches Blut, und das konnte Eduard nicht zulassen. Er liebte mich, aber als König trug er die Verantwortung für sein Volk. Er konnte mich nicht töten, und ich konnte mein Wesen nicht verändern. Also wartete ich, bis er schlief, und dann verließ ich meinen Palast und das Waldkönigreich und begab mich hierher, um fortan im Dunkeln zu leben und vor den Augen der Menschen zu verbergen, dass meine Schönheit entschwunden ist.

Ich hätte ihn umbringen und so mein Geheimnis wahren können. Ich hätte ewig jung und schön und mächtig bleiben können. Aber ich liebte ihn. Eduard. Der einzige Mann, den ich je geliebt habe. Vermutlich ist er inzwischen tot.«

»Seit über dreißig Jahren«, sagte Rupert.

»So lange schon«, flüsterte die Hexe. Ihre Schultern sanken nach vorn, und sie zerrte an ihren verkrümmten Fingern.

Sie atmete tief ein und seufzend wieder aus, ehe sie Rupert mit einem müden Lächeln ansah. »Du bist also Eduards Nachfahre. Eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich nicht leugnen.

Was willst du von mir, mein Junge?«

»Ich suche einen Drachen«, erklärte Rupert in einem Tonfall, der zum Ausdruck bringen sollte, dass er nicht scharf darauf war, tatsächlich einen zu finden.

»Einen Drachen?« Die Hexe starrte ihn einen Moment lang verständnislos an, doch dann erhellte ein breites Grinsen ihre verschrumpelten Züge. » Einen Drachen! Potzblitz, du gefällst mir, mein Junge! Seit Jahren hat keiner mehr den Mumm gehabt, einem Drachen auf den Leib zu rücken. Kein Wunder, dass du es gewagt hast, bei mir anzuklopfen.« Sie musterte ihn mit neuem Respekt, während Rupert sich alle Mühe gab, einen bescheidenen Eindruck zu erwecken. »Also schön, mein Schätzchen, heute scheint dein Glückstag zu sein. Du suchst einen Drachen, und ich besitze ganz zufällig eine Karte, die dich auf kürzestem Weg zu einem dieser Untiere bringen wird. Für drei Halbe Blut kannst du sie haben, einverstanden? Ein echtes Schnäppchen.«

Rupert warf ihr einen strafenden Blick zu. Die Hexe zuckte verlegen mit den Schultern.

»War zumindest den Versuch wert. Aber bei Eduards Enkel mache ich natürlich eine Ausnahme. Die Karte gehört dir, ganz umsonst. Wenn ich mich erinnern kann, wo ich das verdammte Ding hingetan habe.«

Sie scheuchte die Katze vom Schoß, zog sich ächzend aus ihrem Schaukelstuhl hoch, humpelte zu einem schäbigen Aktenschrank aus Eiche, der im hintersten Winkel des Zimmers stand, und wühlte in seinen Tiefen. Rupert runzelte unschlüssig die Stirn. Er hatte sich fest vorgenommen, der Nachthexe den Garaus zu machen, falls sich die Gelegenheit dazu ergab, doch obwohl sie ganz lässig zugegeben hatte, mehr Jungfrauen ermordet zu haben, als sie zählen konnte, brachte er es nun nicht übers Herz, seinen Vorsatz auszuführen. So seltsam es klang, tat sie ihm irgendwie sogar Leid; die langen Jahre, die sie allein im Dunkelwald verbracht hatte, waren Strafe genug. Mehr als genug. Die Hexe stand plötzlich vor ihm, und er wich erschrocken zurück, als sie ihm eine zerfledderte Pergamentrolle in die Hand drückte.

»Da, mein Junge, das bringt dich direkt zu ihm. Falls du nicht vorher umkommst. Denn erst mal musst du den Dunkelwald von einem Ende zum anderen durchqueren, und das haben bisher verdammt wenige so geschafft, dass sie danach ihre Ruhmestaten erzählen konnten.«

»Ich bin immerhin bis hierher vorgedrungen«, sagte Rupert zuversichtlich.

»So dicht an der Grenze zum Schlingpflanzenwald gibt es noch eine Spur von Helligkeit«, erklärte die Hexe. »Aber jenseits dieser Lichtung herrscht vollkommene Dunkelheit.

Pass gut auf dich auf, Rupert! Es bläst ein kalter Wind durch die lange Nacht, und er trägt den Geruch von Blut und Tod.

Tief im Dunkelwald regt sich etwas… Grauenvolles. Wenn ich nicht so alt wäre, hätte ich Angst.«

»Ich bin auf das Schlimmste gefasst«, sprach Rupert mit gepresster Stimme und umklammerte unwillkürlich den Schwertknauf.

Die Hexe lächelte müde. »In deinen Adern fließt Eduards Blut. Er glaubte auch, jede Schwierigkeit lasse sich mit kaltem Stahl lösen. Wenn ich dich so ansehe, scheint er wieder vor mir zu stehen. Mein Eduard.« Ihre Stimme zitterte plötzlich. Sie wandte sich von Rupert ab, humpelte stöhnend zu ihrem Schaukelstuhl und ließ sich in die Kissen fallen. »Sieh zu, dass du von hier verschwindest, mein Junge! Geh endlich und such deinen Drachen!«

Rupert zögerte. »Kann ich… noch irgendetwas für dich tun?«

»Geh«, sagte die Nachthexe unwirsch. »Lass mich in Frieden. Bitte.«

Rupert wandte sich ab und verließ die Hütte. Ganz leise schloss er die Tür hinter sich.

Die Nachthexe saß allein vor ihrem leeren Kamin und schaukelte versonnen in ihrem Stuhl hin und her. Nach einer Weile fielen ihr langsam die Augen zu, und sie schlief ein.

Und sie war wieder jung und schön, und Eduard kam zu ihr, und sie tanzten die ganze Nacht hindurch in ihrem Ballsaal aus schimmerndem Eis.


Ein paar Tagereisen später hatte Rupert den letzten Proviant verbraucht. Es gab kein Wild im Dunkelwald, und wenn er hin und wieder auf Wasser stieß, roch es faulig. Der Durst brannte ihm in der Kehle, und der Hunger machte sich als dumpfer Bauchschmerz bemerkbar.

Seit er die Lichtung der Nachthexe hinter sich gelassen hatte, bewegte er sich durch absolute Schwärze. Die Stille bedrückte ihn. Er sah weder den Weg vor sich noch das Einhorn unter sich; und seine Hand erkannte er nicht einmal dann, wenn er sie dicht vor die Augen hielt. Der einzige Beweis, dass die Zeit verging, waren seine wachsenden Bartstoppeln. Er wurde zunehmend schwächer, während das Einhorn ihn immer tiefer in den Dunkelwald trug, und obwohl sie anhielten und rasteten, wann immer sie erschöpft waren, konnte Rupert nicht schlafen. Die Finsternis hielt ihn wach.

Etwas konnte sich unbemerkt heranschleichen, während er schlief.

Er fuhr sich mit zitternden Fingern über die trockenen, aufgesprungenen Lippen und zog die Stirn kraus, als ihm zu Bewusstsein kam, dass das Einhorn stehen geblieben war. Er wollte fragen, was los sei, aber seine Zunge war so geschwollen, dass sie fast die ganze Mundhöhle ausfüllte. Mühsam rutschte er aus dem Sattel und lehnte sich gegen die Flanke des Einhorns, bis seine Beine zu zittern aufhörten. Dann stolperte er ein paar Schritte vorwärts, die Hände nach vorn ausgestreckt. Er stöhnte, als sich spitze Stacheln schmerzhaft in sein Fleisch bohrten. Vorsichtiges Tasten verriet ihm, dass die Ausleger eines Dornengestrüpps den schmalen Pfad überwucherten. Rupert zog sein Schwert und merkte zu seinem Entsetzen, dass er inzwischen zu schwach war, um es mit einem Arm zu schwingen. Er nahm seine letzten Kräfte zusammen und machte sich daran, mit ungeschickten, an den Muskeln zerrenden Hieben eine Gasse durch das Gestrüpp zu bahnen. Das Einhorn folgte ihm langsam, den einst so stolz erhobenen Kopf mit dem gedrehten Horn müde gesenkt.

Die Pausen zwischen den Schwerthieben wurden länger, und Rupert kämpfte gegen die wachsenden Schmerzen in Brust und Armen an. Die widerspenstigen Dornen zerkratzten ihm Hände und Gesicht, aber er war so erschöpft, dass er die Risse kaum spürte. Das Schwert wog immer schwerer in seinen schlaffen Fingern, und seine Beine zitterten, aber er gab nicht auf. Er war Prinz Rupert vom Waldkönigreich. Er hatte gegen einen Dämon gekämpft und dem Dunkelwald getrotzt, und er wollte verdammt sein, wenn er sich jetzt von einem blöden Dornenstrauch besiegen ließ. Während er mit dem Schwert wild auf das Hindernis einhackte, drang er immer tiefer in das Gestrüpp ein – und schrie auf, als ihm plötzlich Sonnenlicht entgegenflutete.

Rupert hob eine Hand, um die Augen vor der gleißenden Helle abzuschirmen, und stolperte blind vorwärts. Lange Zeit konnte er nichts weiter tun als zwischen den Fingern hervor blinzeln und den Tränen des Schocks freien Lauf lassen. Als er sich endlich an das Licht gewöhnt hatte, starrte er verblüfft die Landschaft an, die sich vor ihm ausbreitete. Er war hoch oben auf einem steilen Hügel aus dem Dunkelwald getreten und sah zu seinen Füßen einen Fleckenteppich aus bestellten Felder – Weizen, Mais und Gerste, die in der Mittagshitze reiften. Lange Reihen hoch gewachsener Eichen dienten als Windschutz, und Sonnenlicht spiegelte sich hell in glitzernden Flüssen. Niedrige Steinmauern markierten die Ackergrenzen, und eine unbefestigte Straße wand sich zu einem mächtigen dunklen Berg, der den Horizont beherrschte und mit seinem Gipfel bis in die Wolken stieß.

Der Berg, den man Drachenfels nannte.

Rupert riss mühsam den Blick von dem bedrohlichen Ungetüm los und sah sich in seiner näheren Umgebung um.

Dann stockte ihm der Atem. Keine zehn Schritte vom Rand des Dunkelwaldes entfernt sprudelte ein Wildbach aus einer verborgenen Quelle und schoss sprühend und schäumend zu Tal. Rupert ließ das Schwert fallen, stolperte vorwärts und sank am Ufer in die Knie. Er schöpfte mit einer Hand das Nass und leckte vorsichtig seine Finger ab. Das Wasser war klar und rein. Rupert spürte, wie ihm erneut die Tränen über die Wangen liefen, als er sich nach vorn beugte und das Gesicht in den Bach tauchte.

Er schlürfte gierig das eiskalte Wasser, verschluckte sich und musste husten. Irgendwie fand er die Kraft, sich von dem Bach loszureißen. Wenn er jetzt zu viel trank, würde ihm nur schlecht. Er streckte sich auf dem weichen Gras aus, den Bauch angenehm prall von dem köstlichen Nass. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er lange nichts mehr gegessen hatte, aber das konnte noch eine Weile warten. Im Moment fühlte er sich zu wohl, um aufzustehen. Er beobachtete das Einhorn, das sehr beherrscht trank und dann zufrieden das Ufergras zu rupfen begann. Rupert lächelte zum ersten Mal seit Tagen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und blickte zurück. Der Dunkelwald ragte schweigend hinter ihm auf, und kein einziger Sonnenstrahl vermochte die düstere Barriere zu durchdringen. Eine kalte Brise wehte von den morschen, dürren Bäumen herüber. Rupert grinste dem Dunkel triumphierend entgegen und schmeckte Blut, als seine spröden Lippen einrissen, aber das war ihm einerlei.

»Ich habe dich besiegt«, murmelte er. »Ich habe dich besiegt!«

»Mit meiner Hilfe«, erklärte das Einhorn. Rupert drehte sich um und fing einen besorgten Blick seines Reittiers auf.

Er streckte den Arm aus und tätschelte dem Gefährten die Schnauze.

»Ohne dich hätte ich es nicht geschafft«, sagte Rupert.

»Du warst immer da, wenn ich dich brauchte. Ich danke dir.«

»Bitte«, erwiderte das Einhorn. »Und nun möchte ich mich noch eine Weile an diesem herrlichen Gras gütlich tun und nicht gestört werden, bis ich satt bin. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Rupert lachte. »Mehr als klar. Keine Einwände von meiner Seite. Die Sonne steht hoch am Himmel, und ich habe jede Menge Schlaf nachzuholen. Danach zeige ich dir vielleicht, wie man eine Forelle hervorkitzelt.«

»Was geht mich das Vergnügen eines albernen Fisches an?«, fragte das Einhorn, aber Rupert schlief bereits wie ein Stein.


Rupert und das Einhorn brauchten fast einen Monat, bis sie den Drachenfels erreicht hatten. Regelmäßige Mahlzeiten und frisches Wasser halfen ihnen, sich von den Strapazen zu erholen und neuen Mut zu fassen, aber der Dunkelwald hatte seine Spuren hinterlassen. Jeden Abend, wenn die Sonne rot hinter dem Horizont versank, entfachte Rupert ein großes Feuer, obwohl die Nächte warm waren und keine gefährlichen Tiere die Gegend unsicher machten. Und jede Nacht deckte er die Glut vor dem Einschlafen sorgfältig mit Asche zu, um sicherzugehen, dass sie noch glomm, wenn er vor dem Morgengrauen erwachte. Sein Schlaf war unruhig und von Albträumen geplagt, an die er sich lieber nicht erinnerte. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit fürchtete sich Rupert vor dem Dunkel. Jeden Morgen schlug er beschämt die Augen auf, verwünschte seine Schwäche und schwor sich, der Angst nicht mehr nachzugeben. Aber jeden Abend, wenn die Sonne unterging, entfachte er wieder ein Feuer.

Je näher der Drachenfels rückte, desto imposanter türmte er sich auf, und Rupert überlegte mit wachsendem Unbehagen, was er tun sollte, wenn er den Fuß des Berges erreicht hatte. Wenn die Karte der Nachthexe stimmte, würde er irgendwo in Gipfelnähe auf eine Drachenhöhle stoßen, aber als er sich seinem Ziel näherte, beschlichen ihn zunehmend Bedenken, dass ein gewöhnlicher Mensch die schroffe Basaltwand erklimmen konnte, die dunkel vor ihm aufragte und den Horizont verdrängte. Aber trotz seiner Zweifel und trotz der unvernünftigen Furcht, die ihn des Nachts quälte, dachte Rupert keinen Wimpernschlag lang an eine Umkehr. Er war zu weit geritten und hatte zu viel durchgemacht, um jetzt, so dicht vor dem Ziel, aufzugeben.

Zieh aus, mein Sohn, und erlege einen Drachen! Beweise, dass du des Thrones würdig bist!

In der Morgenluft lag noch die Kälte der Nacht, als Rupert die hügeligen Ausläufer des Berges erreichte. Spärliches Gras und niedrige Sträucher wichen bald blankem Fels, erodiert und ausgewaschen von Wind und Regen. Ein in die Bergflanke gehauener Pfad führte steil nach oben, und das Einhorn fluchte pausenlos vor sich hin, während es sich vorsichtig über das holprige Gelände tastete. Rupert hielt die Augen fest auf den Weg vor sich gerichtet und bemühte sich, nicht an den Abgrund zu denken, der hinter ihm lag. Der Pfad wurde immer schmaler und tückischer, je höher sie stiegen. Schließlich gelangten sie an eine Stelle, wo ihnen ein breiter Geröllstreifen den Weg versperrte. Das Einhorn warf einen Blick auf die losen Steine und blieb mit gespreizten Beinen stehen.

»Vergiss es! Ich bin ein Einhorn und keine Gemse.«

»Aber es ist die einzige Möglichkeit, nach oben zu gelangen. Wenn du dieses kleine Stück geschafft hast, ist der Rest kinderleicht.«

»Ich denke nicht darüber nach, wie ich nach oben gelangen kann, sondern stelle mir vor, wie ich nach unten stürzen werde. Vermutlich Hals über Kopf, während mir der Wind um die Ohren pfeift.«

Rupert schwang sich mit einem Seufzer aus dem Sattel.

»Also gut. Dann kehrst du eben um und wartest drunten in den Hügeln auf mich. Gib mir zwei Tage Zeit. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin…«

»Rupert«, sagte das Einhorn langsam, »du musst das nicht bis zum bitteren Ende durchstehen. Was hältst du davon, wenn wir umkehren und bei Hofe erzählen, dass wir einfach keinen Drachen finden konnten? Kein Mensch wüsste, dass das nicht stimmt.«

» Ich wüsste es«, erklärte Rupert.

Ihre Blicke trafen sich, und das Einhorn verneigte sich vor dem Prinzen.

»Viel Glück, Sire.«

»Danke«, sagte Rupert und wandte sich rasch ab.

»Und sei vorsichtig«, murmelte das Einhorn. »Es fiele mir sehr schwer, einen neuen Reiter anzulernen.« Es vollführte eine behutsame Wende auf dem engen Pfad und tastete sich die Bergflanke hinunter.

Rupert blieb eine Weile stehen und horchte auf die sich entfernenden Hufschläge. Dem Einhorn drohte in den Hügeln kaum eine Gefahr. Wäre das Geröll nicht gewesen, hätte er sich eine andere Ausrede einfallen lassen, um das Einhorn zurückzuschicken. Den Rest des Abenteuers musste er ganz allein bestehen. Es war nicht nötig, dass sie beide ihr Leben aufs Spiel setzten. Rupert straffte energisch die Schultern und warf einen prüfenden Blick auf das Geröllband, das ihm auf einer Länge von zwölf Metern und einer Breite von drei Metern den Weg versperrte. Es machte einen trügerischen Eindruck. Ein falscher Schritt, und die losen Steine würden sich in Bewegung setzen. Rupert warf einen kurzen Blick in die Tiefe und schluckte. Wenn er erst einmal ins Rutschen geriet, erreichte er die Vorberge vermutlich schneller als das Einhorn. Mit einem säuerlichen Grinsen setzte er einen Fuß auf das Geröll.

Die Steine unter seiner Sohle rollten abwärts, und Rupert wagte nicht zu atmen, bis sie wieder zur Ruhe gekommen waren. Langsam, Schritt für Schritt, einen Fuß dicht vor den anderen gesetzt, arbeitete er sich auf das Geröllband vor, vorsichtig den Untergrund ertastend, ehe er das Gewicht verlagerte. All seinen Anstrengungen zum Trotz trugen ihn die schlitternden Steine immer näher an die Kante, und Rupert wusste, dass er es nicht schaffen würde. Der böige Wind zerrte aufgeregt an seinem Umhang, und er spürte, wie sich das Geröll unter seinen Stiefeln bewegte. Er verlagerte ein wenig das Gewicht, um dem Abwärtsgleiten entgegenzuwirken; das Geröll begann wie Wasser zu strömen und trug ihn unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Rupert warf sich flach zu Boden und grub die Finger tief in die Geröllschicht. Ein Fuß hing bereits über die Kante, als er endlich zu rutschen aufhörte. Er hörte, wie links und rechts von ihm Steine in die Tiefe prasselten.

Nicht einmal anderthalb Meter Geröll befanden sich zwischen ihm und dem festen Felsuntergrund, aber es hätten ebenso gut anderthalb Meilen sein können. Rupert lag reglos da und wagte kaum zu atmen. Er konnte weder vor noch zurück; jede noch so kleine Bewegung würde das Aus bedeuten. Angestrengt dachte er nach, doch erst nach geraumer Zeit dämmerte ihm die Lösung. Eine kleine Bewegung konnte ihn nicht retten, aber wenn er seinen Körper mit aller Kraft nach vorne schnellte, schaffte er es vielleicht. Oder er stürzte in den Tod. Rupert stieß plötzlich ein grimmiges Lachen aus.

Zum Henker mit den Bedenken! Ob er sich hier das Genick brach oder im Kampf mit dem Drachen starb, war im Grunde genommen gleich! Er zog die Knie mit einer langsamen, kontrollierten Bewegung an und stemmte die Zehen in das Geröll. Die kullernden Steine trugen ihn noch etwas näher dem Abgrund entgegen. Rupert atmete einmal tief durch und hechtete dann nach vorn. Die Landung war so hart, dass ihm die Luft wegblieb, aber mit einer der weit ausgestreckten Hände bekam er einen Felsvorsprung zu fassen, den er nicht mehr losließ, obwohl das Geröll seinen Körper in die Tiefe zu zerren versuchte. Einen Moment lang hing sein ganzes Gewicht an dieser einen Hand, während seine Füße hilflos nach einem Halt suchten und eine kleine Steinlawine in die Tiefe donnerte. Dann fand auch die zweite Hand eine Stütze, und langsam zog er sich auf den harten, sicheren Felsenpfad.

Rupert wankte ein paar Meter von der Kante weg, ehe die Reaktion einsetzte. Er brach zusammen, am ganzen Körper zitternd und mit heftig pochenden Schläfen. Der harte Felsenpfad unter seinem Körper vermittelte ihm ein herrliches Gefühl der Sicherheit.

Eine Weile ruhte er aus, doch dann rappelte er sich wieder hoch. Jeder Muskel schmerzte vom Kampf mit dem Geröll, und er hatte sich die Hände und Knie aufgescheuert. Da er ohne die Wasserflaschen, die er dem Einhorn mitgegeben hatte, nicht einmal seine Wunden auswaschen konnte, tat Rupert das Nächstliegende und nahm sie einfach nicht zur Kenntnis. Er schickte lediglich ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie sich nicht entzündeten, denn hier oben gab es aller Voraussicht nach keinen Heiler. Er verdrängte den Gedanken, wandte sich endgültig von dem Geröllband ab und stapfte müde den holprigen Weg entlang, der ihn irgendwann zu seinem Drachen bringen musste.

Einige Zeit später endete der Pfad abrupt und wurde von einer schier endlosen Reihe schmaler Stufen ersetzt, die in die schroffe Felswand gehauen waren. Rupert drehte sich um und spähte in die Tiefe. Jenseits der bestellten Felder war der Wald zu erkennen, weit weg und winzig klein. Rupert stieß einen Seufzer des Bedauerns aus und begann mit dem langen Aufstieg.

Die Stufen waren krumm und holprig, und Ruperts Kreuz und Beine begannen zu schmerzen, als er sich Stunde um Stunde höher kämpfte. Die steinerne Treppe erstreckte sich hinter ihm und vor ihm, so weit das Auge reichte, aber nach einer Weile hatte er seine Lektion gelernt: Er hielt er den Kopf gesenkt und konzentrierte sich nur auf die Stufen direkt vor ihm. Je höher er kam, desto kälter wurde die Luft. Ein scharfer Wind fegte ihm vom Gipfel Eiskörner und Schnee entgegen. Rupert wickelte den dünnen Umhang enger um sich und kletterte verbissen weiter. Heftige Böen zerrten an ihm, und die Augen tränten ihm. Allmählich erstarrten Finger und Zehen, der Atem dampfte in der frostigen Luft, und immer noch erklomm er Stufe um Stufe um Stufe, ohne auf die Kälte, den Sturm und die Schmerzen zu achten.

Er war Prinz Rupert vom Waldkönigreich, und er war ausgezogen, um einen Drachen zu erlegen.

Die in den Fels gehauenen Stufen endeten auf einem schmalen Sims vor einem riesigen Höhleneingang. Rupert stand schwankend da, gleichgültig gegenüber dem Wind, der sich in seinem Umhang verfing. Er spürte nicht, dass sein Atem in der Luftröhre brannte und in den Lungen stach. Die Höhle erinnerte an eine tiefe, mit Dunkelheit angefüllte Wunde in der rissigen Haut des Berges. Rupert bewegte sich langsam darauf zu, obwohl ihm die Knie vor Erschöpfung zitterten. Die Karte der Nachthexe hatte ihn nicht im Stich gelassen; er stand vor seiner ersten Begegnung mit einem Drachen.

Seit seinem Aufbruch hatte er sich gefragt, was er wohl in diesem Augenblick empfände. Ob er… Angst hätte. Aber nun war der große Moment gekommen, und er fühlte, wenn er ehrlich sein sollte, überhaupt nichts. Er hatte sein Wort gegeben, und da war er nun. Er glaubte nicht, dass er den Drachen besiegen konnte, das hatte er von Anfang an nicht geglaubt.

Tief im Innern hatte er immer gewusst, dass er in den Tod ritt. Rupert zuckte mit den Schultern. Der Hof erwartete von ihm, dass er umkam; vielleicht sollte er sich gerade deshalb Mühe geben, am Leben zu bleiben. Er zog sein Schwert und suchte sich die sicherste Stelle auf dem schmalen Felsensims.

Dann verdrängte er den Gedanken an den tiefen Abgrund in seinem Rücken und konzentrierte sich auf die korrekte Form der Herausforderung.

Alles in allem hatte er sich noch nie im Leben weniger heldenhaft gefühlt.

»Abscheuliches Untier, ich, Prinz Rupert vom Waldkönigreich, fordere dich hiermit zum Duell heraus. Tritt hervor und kämpfe!«

Lange Zeit rührte sich gar nichts. Schließlich grollte eine dumpfe Stimme aus den Tiefen der Höhle: »Wie bitte?«

Der Prinz kam sich ein wenig lächerlich vor, als er sein Schwert fester packte und die Herausforderung wiederholte.

Es entstand eine noch längere Pause. Dann tauchte der Drache langsam aus dem Dunkel auf, ein Koloss, der den Höhleneingang vollständig ausfüllte, und Rupert nahm seine schönste Gefechtshaltung an. Ausladende Schwingen umgaben das Untier wie ein gerippter smaragdgrüner Umhang, an der Brust zusammengehalten von grausam gekrümmten Klauenfingern. Der Drache maß von der Schnauze bis zur Schweif spitze gut zehn Meter. Lichtstrahlen glitten schmeichelnd über seine grünen Schuppen. Hoch aufgerichtet stand er da und musterte den Prinzen mit golden glänzenden Augen.

Rupert hob das Schwert, und der Drache grinste breit, wobei er Dutzende ungemein scharfer Zähne enthüllte.

»Hi«, sagte der Drache. »Prächtiger Tag heute, was?«

Rupert blinzelte empört. »Du sollst hier nicht über das Wetter plaudern«, erklärte er dem Drachen. »Du sollst Furcht erregend brüllen, mit den Klauen Staub aufwirbeln und mich dann Feuer speiend angreifen!«

Der Drache dachte darüber nach. Zwei dünne Rauchfahnen stiegen von seinen Nüstern auf. »Warum?«, fragte er schließlich.

Rupert senkte das Schwert, das mit jeder Minute schwerer wurde, und stützte sich darauf. »Nun«, entgegnete er langsam, »das verlangt die Tradition. So war es immer schon.«

»Nicht bei mir«, sagte der Drache. »Warum willst du mich töten?«

»Das ist eine lange Geschichte«, seufzte der Prinz.

»Dachte ich mir«, brummte der Drache. »Willst du nicht reinkommen?«

Er zog sich vom Höhleneingang zurück, und nach einem kurzen Zaudern folgte ihm Rupert in eine Art Tunnel. Seltsamerweise war er beinahe wütend, dass er nicht kämpfen musste; er hatte sich so lange auf diesen Moment vorbereitet und nun kam alles anders als erwartet. Er fragte sich, ob der Drache sein Spiel mit ihm trieb, doch das kam ihm eher unwahrscheinlich vor. Hätte der Drache ihn umbringen wollen, dann wäre er jetzt bereits tot. Er stolperte unbeholfen den Tunnel entlang, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als das Licht hinter ihm versickerte. Der unbeleuchtete Stollen erinnerte ihn an den Dunkelwald, und er war froh, als ein Stück weiter vorn das warme Rot eines vor sich hin glimmenden Feuers auftauchte. Er beschleunigte seine Schritte und stürmte aus dem Tunnel in eine Felsenkammer von mindestens hundertfünfzig Metern Durchmesser, wo der Drache bereits geduldig auf ihn wartete. Die Wände der Höhle waren mit der größten Schmetterlingssammlung bedeckt, die Rupert je gesehen hatte.

»Ich dachte, Drachen sammelten Gold- und Silberschätze«, sagte Robert und betrachtete staunend die zahllosen, auf Hochglanz polierten Schaukästen.

Der Drache zuckte mit den Schwingen. »Manche sammeln Gold und Silber. Manche sammeln Edelsteine. Ich sammle Schmetterlinge. Sie sind genauso schön, findest du nicht?«

»Doch, doch«, meinte der Prinz besänftigend, als er ein paar Funken aus den Nüstern des Drachen stieben sah. Er schob sein Schwert in die Scheide, kauerte neben dem Drachen nieder, der sich lang auf dem Boden ausgestreckt hatte, und musterte ihn neugierig.

»Was ist?«, fragte der Drache.

»Du bist ganz anders als Drachen, die ich aus Sagen und Märchen kenne«, gab Rupert offen zu.

Der Drache lachte gutmütig. »Märchen stimmen selten.«

»Aber du kannst sprechen!«

»Du auch.«

»Ich bin schließlich ein Mensch…«

»Das ist mir nicht entgangen«, meinte der Drache trocken.

»Schau, die meisten dieser Schauergeschichten, dass wir groß, stark und bösartig sind und aus diesem oder jenem oder gar keinem Grund Menschen fressen, wurden von Drachen erfunden, um die Leute abzuschrecken.«

»Aber…«

»Pass auf«, sagte der Drache und beugte sich plötzlich vor.

»Im Einzelkampf nehme ich es mit jedem Menschen auf, aber gegen ein Heer kann kein Drache etwas ausrichten.« Der Koloss fauchte leise, und seine goldenen Augen starrten an Rupert vorbei in Fernen, die nur er sah. »Einst wimmelte es in den Lüften von Drachen, und alles war uns Untertan. Die Sonne schien warm auf unsere Schwingen, wenn wir über den Wolken schwebten und beobachteten, wie sich tief unter uns die Erde drehte. Wir entrissen dem Gestein mit bloßen Klauen Gold und Silber, und wenn wir brüllten, erbebte die Erde.

Jedes Lebewesen zitterte vor uns. Und dann kam der Mensch mit seinen Schwertern und seinen Lanzen, seinen Rüstungen und seinen Heeren. Wir hätten uns zusammenschließen sollen, solange wir dazu noch in der Lage waren. Aber nein –

wir kämpften gegeneinander, führten unsere kleinlichen Fehden und bewachten unsere kostbaren Schätze. Und einer nach dem anderen fand den Tod. Unsere Zeit war abgelaufen.«

Der Drache grübelte noch eine Weile und schüttelte sich dann. »Warum hast du die Mühe auf dich genommen, mich zum Kampf herauszufordern?«

»Weil es mir befohlen wurde. Ich soll den Nachweis erbringen, dass ich des Königsthrones würdig bin.«

»Willst du mich denn töten?«

Robert zuckte verunsichert die Achseln. »Es wäre einfacher, wenn du das Monster wärst, für das man dich im Allgemeinen hält. Du hast doch sicher Frauen und Kinder ermordet, Höfe niedergebrannt und Vieh gestohlen?«

»Niemals!«, sagte der Drache entsetzt. »Ich bin doch kein Unhold!«

Rupert zog eine Augenbraue hoch, und der Drache tat ihm den Gefallen, etwas zerknirscht dreinzublicken. »Also schön, vielleicht habe ich hier und da ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht und die eine oder andere Jungfrau verspeist, aber das ist lange her. Jeder erwartete das von mir; schließlich war ich ein Drache. Jetzt befinde ich mich längst im Ruhestand.«

Es entstand eine lange Pause. Rupert schaute stirnrunzelnd in das leise knisternde Feuer. So hatte er sich das nicht vorgestellt.

»Willst du mich denn töten?«, fragte er den Drachen.

»Eigentlich nicht. Ich bin allmählich zu alt für solche Kindereien.«

»Und du willst mich auch nicht fressen?«

»Nein«, erklärte der Drache entschieden. »Von Menschen bekomme ich Sodbrennen.«

Wieder schwiegen sie lange.

»Hör mal«, sagte der Drache schließlich, »wenn ich dich recht verstanden habe, sollst du dich durch das Töten eines Drachen als Held erweisen.«

»Genau«, bestätigte der Prinz.

»Warum bringst du ihnen keinen lebenden Drachen in die Burg? Wäre das nicht noch viel heldenhafter?«

Rupert dachte darüber nach. »Möglich«, sagte er dann zögernd. »Bis jetzt hat noch niemand einen echten lebenden Drachen gefangen…«

»Na bitte – da haben wir es!«

»Würde es dir denn nichts ausmachen, wenn ich dich gefangen nähme?«, fragte Rupert schüchtern.

Der Drachen lachte leise. »Ich sehne mich ohnehin nach Urlaub. In fremde Länder reisen, andere Leute kennen lernen

– genau das, was ich brauche.« Der Drache schaute sich ängstlich um und winkte Rupert etwas näher. »Äh… Prinz…«

»Ja?«

»Du rettest nicht zufällig Prinzessinnen? Ich hätte nämlich eine hier – und sie treibt mich zum Wahnsinn!«

»Du hältst eine Prinzessin gefangen?«, schrie Rupert. Er sprang auf und versuchte das Schwert aus der Scheide zu zerren.

»Leise!«, zischte der Drache. »Sonst hört sie dich noch.

Ich halte sie nicht gefangen. Im Gegenteil, ich wäre froh, sie endlich loszuwerden. Irgendwelche Hofschranzen schickten sie als Opfergabe hier herauf, und ich brachte es nicht übers Herz, sie zu töten. Ich dachte, ob du mich vielleicht von ihr befreien könntest…«

Rupert setzte sich langsam wieder hin und massierte sanft seine schmerzenden Schläfen. Immer wenn er glaubte, er habe die Spielregeln kapiert, wurden sie wieder geändert.

»Eine echte Prinzessin?«

»Soweit ich weiß, ja.«

»Und worin besteht ihre Macke?«, fragte Rupert misstrauisch.

»Drache!«, gellte eine durchdringende Stimme aus einem Seitentunnel. Der Drache zuckte zusammen.

»Das wirst du gleich sehen.«

Die Prinzessin platzte von einem der Nebenstollen in die Höhle und blieb wie angewurzelt stehen, als sie den Fremden sah. Rupert rappelte sich auf. Die Prinzessin trug ein fließendes langes Gewand, das irgendwann einmal vermutlich weiß gewesen war, inzwischen aber mit Flecken in einem Dutzend Schattierungen und Schmierern aus getrocknetem Schlamm übersät war. Sie war jung, knapp zwanzig, und keine ausgesprochene Schönheit, aber immerhin hübsch anzusehen. Tiefblaue Augen und ein voller Mund bildeten einen starken Kontrast zu ihrem männlich energischen Kinn. Das lange blonde Haar fiel ihr in zwei stramm geflochtenen Zöpfen bis fast zur Taille. Sie war schlank, gut gewachsen und locker eins achtzig groß. Während Rupert noch nach der passenden Begrüßungsformel für eine Prinzessin suchte, stieß sie ein Freudengeheul aus und rannte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Erschrocken wich Rupert einen Schritt zurück.

»Mein Held!«, strahlte sie und klatschte ihm einen nassen Kuss aufs Ohr. »Bist du gekommen, um mich zu retten?«

»Äh, ja«, murmelte Rupert und versuchte sich aus ihrer Umklammerung zu lösen, ohne unhöflich zu wirken. »Stets zu Diensten. Ich bin Prinz Rupert…«

Die Prinzessin drückte ihn an sich, bis ihm die Luft wegblieb. Der Drache ist weniger gef ährlich, dachte Rupert, dem farbige Ringe vor den Augen tanzten. Endlich ließ ihn die Prinzessin los und trat einen Schritt zurück, um ihn genauer zu betrachten.

Sie kam zu dem Schluss, dass er nicht viel älter sein konnte als sie, obwohl ihm die jüngst erworbenen Narben ein verwegenes und gefährliches Aussehen verliehen. Die langen schlanken Hände waren aufgerissen und mit getrocknetem Blut bedeckt. Sein Lederwams und die Reithose hatten offensichtlich einiges mitgemacht, der Umhang taugte nicht mehr viel, und alles in allem sah der Typ eher wie ein Bandit als ein Prinz aus. Die Prinzessin runzelte argwöhnisch die Stirn, doch dann zuckten ihre Mundwinkel; alles in allem sah sie vermutlich auch nicht wie eine Prinzessin aus.

»Wo hast du deine Rüstung gelassen?«, fragte sie.

»Im Schlingpflanzenwald.«

»Und dein Streitross?«

»Am Fuß des Berges.«

»Hast du wenigstens dein Schwert mitgebracht?«

»Klar.« Rupert holte das Schwert aus der Scheide, um es ihr zu zeigen, aber sie entriss es ihm sofort, wog die Klinge in der Hand und durchschnitt mit ein paar geübten Hieben die Luft.

»Könnte gehen«, entschied sie und gab ihm die Waffe zurück. »Also los, fang an!«

»Womit?«, erkundigte sich Rupert höflich.

»Mit dem Drachentöten, womit denn sonst?«, sagte die Prinzessin. »Deshalb bist du doch hergekommen, oder?«

»Äh…«, stammelte Rupert. »Der Drache und ich haben uns dahingehend geeinigt, dass ich ihn lebend in meine Burg heimführen werde. Dich natürlich auch.«

»Das ist nicht gerade ruhmvoll«, stellte die Prinzessin trocken fest.

»Und ob das ruhmvoll ist!«, widersprach der Drache.

»Du hältst dich da raus!«, fauchte die Prinzessin.

»Mit Vergnügen«, brummte der Drache.

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte Rupert. Er hatte das Gefühl, dass er dringend eine Rückenstärkung brauchte.

»Auf der Seite eines jeden, der mich vor dieser Prinzessin rettet«, sagte der Drache mit Nachdruck.

Die Prinzessin versetzte ihm einen Tritt.

Rupert schloss kurz die Augen. Wenn er an den Hof zurückkehrte, musste er sich einmal die Barden vorknöpfen.

Ihre Balladen hatten sich allem Anschein nach ziemlich weit von der Realität entfernt. Er hüstelte höflich, und die Prinzessin ließ, immer noch wütend, von dem Drachen ab.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er.

»Julia. Prinzessin Julia vom Hügelland.«

»Also schön, Julia, du kannst wählen. Entweder du kommst mit mir und dem Drachen in meine Burg, oder du bleibst allein hier droben.«

»Du kannst mich nicht zurücklassen. So etwas tut ein Held nicht.«

»Bist du da ganz sicher?«, fragte Rupert.

Julia blinzelte empört und sah dann den Drachen an, der zur Höhlendecke starrte und verschiedenfarbige Rauchringe durch die Nüstern ausstieß.

» Du würdest mich nicht allein zurücklassen, oder?«

Der Drache grinste breit. Der Feuerschein färbte seine spitzen Zähne blutrot.

Julia warf ihm einen zornigen Blick zu. »Na warte!«, murmelte sie drohend.

»Könnten wir sofort aufbrechen?«, drängte Rupert. »Mein Einhorn wartet nämlich nur zwei Tage auf mich.«

»Du reitest ein Einhorn?«, fragte der Drache. Rupert warf der Prinzessin einen Blick zu und merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.

»Das ist für uns Prinzen nicht so einfach. Es hat mit der Dynastie zu tun. Das Letzte, was ein Herrschergeschlecht brauchen kann, sind Bastarde, die wie Pilze aus dem Boden schießen und Anspruch auf den Thron erheben. Also müssen unverheiratete Nachkommen des Königs… enthaltsam leben.«

»Genau«, pflichtete ihm die Prinzessin bei. »Deshalb haben mich die Ratsältesten hier heraufgeschickt.«

Der Drache hüstelte taktvoll. »Ist es weit bis zu deiner Burg, Rupert?«

Rupert wollte antworten, doch dann blieb ihm keine andere Wahl, als sich an Julia festzuhalten, weil ihm plötzlich schwarz vor den Augen wurde. Seine Knie begannen zu schlackern, und er setzte sich rasch auf den Höhlenboden, um nicht umzukippen.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Julia, während sie ihn fürsorglich stützte.

»Ich brauche nur eine kleine Verschnaufpause«, murmelte er benommen und fuhr sich mit zitternder Hand über die Schläfen. »Ziemlich heiß hier drinnen. Aber es geht gleich wieder.«

Der Drache studierte den Prinzen eingehend. »Rupert, wie bist du diesen Berg heraufgekommen?«

»Auf dem Kletterpfad, bis mir ein Geröllstreifen den Weg versperrte. Daraufhin schickte ich das Einhorn zurück, überquerte das Geröll und benutzte die Felsentreppe.«

»Du hast den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt? Bei diesem Wetter?« Julia betrachtete Rupert mit neuem Respekt.

»Ich kam mitten im Sommer. Ich hatte eine Eskorte von sieben Mann und ein Packmuli, und dennoch brauchten wir fast vier Tage, bis wir am Ziel waren.« Sie nahm seine zerschundenen Hände in die ihren und zuckte zusammen. »Die sind ja eiskalt. Vermutlich spürst du deshalb deine Wunden nicht. Du musst bis ans Mark durchgefroren sein. Es ist ein Wunder, dass du dich überhaupt auf den Beinen halten konntest.«

Rupert zuckte verlegen mit den Schultern. »Mir fehlt nichts weiter. Ich bin nur ein wenig müde.«

Julia und der Drache wechselten einen Blick.

»Klar«, sagte der Drache. »Hör mal, warum wärmst du dich nicht eine Weile am Feuer auf? Anschließend fliege ich euch beide nach unten. Es ist ein prächtiger Tag zum Fliegen.«

»Hmm«, murmelte Rupert schläfrig. »Prächtiger Tag…

zum Fliegen.« Das Kinn sank ihm langsam auf die Brust, und der Schlaf schwappte wie eine riesige Flutwelle über ihm zusammen. Die Prinzessin bettete ihn sanft auf Fellen, ehe sie seine Hände wusch und bandagierte. Rupert merkte nichts davon, aber zum ersten Mal seit Verlassen des Dunkelwaldes war sein Schlaf frei von Albträumen.


Nach ein paar Stunden Rast war Rupert beinahe wieder der Alte. Viel zu bald kauerte der Prinz nicht gerade elegant auf dem Rücken des Drachen und umklammerte den Hals des Kolosses, als wollte er ihn nie mehr loslassen. Prinzessin Julia saß hinter Rupert und schnürte ihm die Luft ab.

»Ich habe Höhenangst«, gestand sie verzagt.

»Da bist du nicht die Einzige«, versicherte ihr Rupert. Er warf einen Blick auf die dunklen Wolken, die über den Himmel zogen, und fröstelte, als ein kalter Windstoß über den schmalen Felsensims vor dem Höhleneingang fegte. »Wenn das ein prächtiger Tag zum Fliegen ist, dann möchte ich nicht wissen, wie ein weniger prächtiger Tag aussieht.«

»Fertig?«, fragte der Drache und dehnte eifrig die Schwingen.

»Äh…«, begann Rupert.

»Dann haltet euch gut fest!«, rief der Drache. Er nahm einen kurzen Anlauf, stieß sich vom Sims ab und fiel wie ein Stein in die Tiefe. Der Wind pfiff an ihnen vorbei, als sie nach unten sackten, und Rupert schloss ganz fest die Augen.

Dann breitete der Drache unvermittelt die Schwingen aus und ging nach einer Reihe wenig magenfreundlicher Manöver in einen kontrollierten Gleitflug über. Rupert öffnete nach einer Weile vorsichtig die Augen und spähte am Nacken des Drachen vorbei, um einen Blick auf die Landschaft zu erhaschen, ein Entschluss, den er gleich darauf bereute. Weit unten breiteten sich die bestellten Felder wie ein pastellfarbener Fleckenteppich aus. Das Waldkönigreich lag im Norden, bedrängt vom Dunkelwald, der sich wie ein Geschwür ins Land fraß. Rupert schluckte; sein Mund war plötzlich trocken, als die Vorberge mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zukamen. Nachträglich besehen, wäre ihm ein Fußmarsch vielleicht doch lieber gewesen. Die mächtigen Flügel des großen Geschöpfes schlugen kraftvoll auf und ab und spannten sich dann voll aus, als der Drache zu einer holprigen Landung ansetzte, die Ruperts Skelett gehörig in Unordnung brachte. Der Drache faltete die Schwingen und schaute sich um.

»Da wären wir. War das nicht aufregend?«

»Sehr aufregend«, bestätigte Rupert.

»Tut gut, wieder mal den Wind um die Nase zu spüren«, sagte der Drache. »Äh… eigentlich könnt ihr mich jetzt loslassen und absteigen.«

»Wir machen uns gerade mit diesem Gedanken vertraut«, meinte Julia. »Mein Magen glaubt allerdings, er sei noch irgendwo droben in den Wolken.«

Sie löste ihre Arme vorsichtig von Rupert, und dann rutschten sie gemeinsam vom Rücken des Drachen. Der feste Boden unter den Füßen war ihnen noch nie so angenehm und sicher erschienen. Sie befanden sich am Ausgangspunkt des Kletterpfades. Rupert spähte umher, aber wie erwartet war das Einhorn nirgends zu sehen.

»Einhorn! Wenn ich bis zehn zähle und du immer noch nicht auftauchst, übergebe ich dich dem Königlichen Streichelzoo als Reittier für die Kinder!«

»Das würdest du nicht wagen!«, ertönte eine empörte Stimme hinter einem Felsblock.

»Wollen wir wetten?«, knurrte Rupert.

Es entstand eine Pause, ehe das Einhorn den Kopf hinter dem Felsblock hervorstreckte und sich mit einem breiten Lächeln einzuschmeicheln versuchte. »Willkommen im Tal, edler Prinz! Wer sind deine Freunde?«

»Dies ist Prinzessin Julia. Ich habe sie gerettet.«

»Pah!«, fuhr die Prinzessin dazwischen.

»Und das ist ein Drache. Er begleitet uns zur Burg.«

Das Einhorn verschwand wieder hinter dem Felsblock.

»Einhorn, entweder du kommst sofort heraus oder ich schicke dir den Drachen. Noch schlimmer: Ich schicke dir die Prinzessin!«

Julia trat ihm gegen das Schienbein. Rupert lächelte mit zusammengebissenen Zähnen und schwor sich, dem ersten Barden, der ihm etwas von den Freuden großer Abenteuerfahrten sang, den Hals umzudrehen. Das Einhorn trottete mürrisch herbei und blieb in sicherer Entfernung vom Drachen stehen.

»Ach, bist du doch zu dem Entschluss gekommen, uns zu begleiten?«, fragte Rupert.

»Nur unter Protest.«

»Es tut alles nur unter Protest«, erklärte Rupert der Prinzessin.

»Diese Bemerkung ist mir nicht entgangen!« Das Einhorn starrte den Drachen skeptisch an. »Ich darf wohl kaum davon ausgehen, dass dieses Ding Vegetarier ist…«

Der Drache lächelte. Seine spitzen Zähne blitzten in der Sonne.

»Dachte ich es mir doch!«, murmelte das Einhorn.


Der Dunkelwald lag dumpf brütend vor ihnen, modernde Bäume, umsponnen von einer Nacht, die weder Mond noch Sterne kannte. Der Weg, den Rupert mit dem Schwert durch das Dornengestrüpp gebahnt hatte, lag offen vor ihm. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er die schmale Lücke angewidert und fasziniert zugleich betrachtete. Während der viele Wochen dauernden Reise zum Drachenfels und wieder zurück war es ihm nicht einen Augenblick lang gelungen, die tief sitzende Furcht abzuschütteln, die seit dem Ritt durch die Dunkelheit auf ihm lastete. Ein Schauer überlief ihn plötzlich, als die kühle Brise von den halb verrotteten Bäumen den vertrauten Verwesungsgestank zu ihm herüberwehte. Seine Hand senkte sich auf den Schwertgriff, als suche er Halt oder Sicherheit. Sein Atem ging rau und stoßweise, während sich das Entsetzen in ihm ausbreitete.

Nicht schon wieder! Bitte, nicht schon wieder!

»Der Dunkelwald«, sagte Prinzessin Julia mit einer Spur von Ehrfurcht in der Stimme. »Ich dachte immer, der sei im Reich der Legenden angesiedelt, ein Märchen, das man kleinen Kindern vor dem Schlafengehen erzählt, um sie zu erschrecken. Das riecht ja, als lägen hier Leichen rum. Bist du sicher, dass wir ihn durchqueren müssen, um ins Waldkönigreich zu gelangen?«

Rupert nickte wortlos. Er hatte Angst, seine Stimme könnte verraten, wie sehr ihn allein der Anblick der Finsternis aus der Fassung brachte. Sie mussten den Dunkelwald durchqueren. Es gab keinen anderen Weg. Aber immer noch zauderte er und stand steif wie ein Brett neben dem Einhorn, unfähig, auch nur einen winzigen Schritt in Richtung der langen Nacht zu tun, die seine Seele gewogen und für zu leicht befunden hatte.

»Vielleicht könnte ich dich und Julia über den Dunkelwald fliegen«, meinte der Drache bedächtig. »Aber das hieße, dass wir das Einhorn zurücklassen müssten.«

»Nein«, entgegnete Rupert ohne das geringste Zögern.

»Das kommt nicht in Frage.«

»Danke«, sagte das Einhorn.

Rupert nickte nur kurz, die Blicke starr auf die undurchdringliche Finsternis gerichtet.

»Nun mach schon!«, forderte ihn die Prinzessin schließlich auf. »Je eher wir aufbrechen, desto schneller sind wir auf der anderen Seite.« Sie sah Rupert erwartungsvoll an.

»Ich kann nicht«, murmelte er hilflos.

»Was ist los?«, fauchte Julia. »Angst vor der Dunkelheit?«

»Ja«, gestand Rupert leise. »Du hast es erfasst.«

Julia sah ihn verblüfft von der Seite an. Jetzt erst bemerkte sie, dass seine Hände zitterten und sein Gesicht kalkweiß war.

»He, machst du Witze? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Angst vor der Dunkelheit! «

»Sei still!«, fuhr das Einhorn die Prinzessin an. »Du hast ja keine Ahnung!«

»Ich vielleicht schon«, warf der Drache ein. Seine großen goldenen Augen spähten argwöhnisch in die Schwärze. »Der Dunkelwald war bereits alt, als ich mich in der Blüte meiner Jahre befand, Julia. Wenn man den Legenden glauben darf, gab es ihn von Anfang an und wird ihn immer geben – die auf der Erde sichtbar gewordene Macht der Finsternis. Wer es wagt, diesen Wald zu betreten, kann Schaden an Leib und Seele nehmen.« Der Drache starrte eine Weile in das Dunkel und wandte sich dann unbehaglich ab. »Was ist dir im Dunkelwald zugestoßen, Rupert?«

Rupert rang nach Worten, um das wahre Ausmaß des Grauens zu schildern, aber es gab keine geeigneten Worte für seine Erlebnisse. Er wusste einfach, wusste es ohne den Schatten eines Zweifels, dass er sterben oder den Verstand verlieren würde, wenn er den Dunkelwald noch einmal beträte. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als er den Blick endlich von der Finsternis losriss. Er hatte dem Dunkelwald schon einmal getrotzt; er würde es ein zweites Mal schaffen.

Verzweifelt klammerte sich Rupert an diesen Gedanken. Die lange Nacht hatte ihn gezeichnet, aber nicht gebrochen. Vielleicht war die Reise diesmal leichter zu ertragen. Er hatte Nahrung und Wasser. Er hatte Gefährten. Und es gab genügend trockenes Holz, das sich für Fackeln verwenden ließ.

Wenn ich es jetzt nicht wage, werde ich immer Angst vor der Dunkelheit haben.

Es klang wie ein Schluchzen, als Rupert tief Luft holte und wieder ausatmete.

»Rupert«, sagte der Drache, »was ist dir im Dunkelwald zugestoßen?«

»Nichts«, entgegnete Rupert mit rauer Stimme. »Überhaupt nichts. Ich bin bereit.«

Er drängte das Einhorn vorwärts, aber das Tier zögerte und sah ihn unschlüssig an.

»Rupert, niemand zwingt dich, diesen Weg zu gehen…«

»Setz dich in Bewegung, verdammt noch mal!«, raunte Rupert und das Einhorn folgte ihm schweigend in den Dunkelwald. Julia folgte dem Einhorn, und der Drache übernahm die Nachhut, ohne auf die nadelspitzen Dornen zu achten, die mit einem hässlichen Geräusch seine Schuppenhaut streiften.

Die Nacht senkte sich wie ein Gewicht über sie, als sie die Grenze zum Dunkelwald überschritten, und Rupert biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Die vertrauten Geräusche der Natur verstummten – Vogelgesang, Insektensummen und Windgeflüster – und wichen einer bedrückten, bleiernen Stille. Draußen im Dunkel lauerten Dämonen. Er sah sie nicht, aber er wusste, sie waren da. Alle seine Instinkte kreischten, er solle eine Fackel anzünden, doch er wagte es nicht. Licht zog die Dämonen unweigerlich an, und das Dornengestrüpp ringsum würde die Gruppe zu einem leichten Opfer machen. Er hastete vorwärts und zuckte zusammen, als sich die Stacheln in seine ausgestreckten Hände bohrten. Der Pfad war schmaler, als er ihn in Erinnerung hatte, aber schließlich wichen die Sträucher zurück, und Rupert raunte seinen Begleitern zu, einen Moment stehen zu bleiben. Er kramte die Zunderbüchse aus dem Knappsack und entfachte nach mehreren vergeblichen Versuchen eine einzelne Fackel.

Die tanzende Flamme wirkte seltsam gedämpft, so als dulde der Dunkelwald nicht einmal ihren Schein in seinem Herrschaftsbereich. Halb verfaulte Bäume säumten den Weg, knorrig und krumm. Ihr Astwerk trug kein Laub, und klaffende Risse enthüllten schwärzliches Kernholz, aber Rupert wusste mit furchtbarer Gewissheit, dass sie irgendwie noch am Leben waren.

»Rupert…«, begann Julia.

»Später«, unterbrach er sie grob. »Beeilt euch!«

Umgeben von dem winzigen Lichttümpel der Fackel, zog die Gruppe langsam den gewundenen Pfad entlang, auf das Herz der Finsternis zu.

Sie waren noch nicht lange unterwegs, als der erste Dämon sie entdeckte. Bucklig und missgestaltet kauerte er am Rand des Lichtscheins; seine Augen glommen rot aus den Schatten.

Rupert zog sein Schwert, und der Dämon verschwand lautlos im Dunkel.

»Was zum Henker war denn das?«, flüsterte Julia.

»Ein Dämon«, erwiderte Rupert knapp. Die Narben an seiner Wange begannen in Erinnerung an die scharfen Klauen zu pochen. Er drückte Julia die Fackel in die Hand, tat einen Schritt nach vorn und spähte angespannt in die Schwärze.

Raschelnde, knackende Geräusche drangen an sein Ohr, und dann erkannte er im Fackelschein die Umrisse grotesk verzerrter Gestalten, die geduckt vor und hinter der Reisegruppe umherwuselten. Glühende Augen starrten unverwandt aus den Schatten der modrigen Bäume. Rupert packte sein Schwert fester, aber der kalte Stahl vermochte ihm keine Sicherheit zu geben.

»Das kann nicht sein«, murmelte er wie betäubt. »Dämonen jagen niemals in Rudeln. Jeder weiß das.«

»Offenbar halten sich diese Dämonen nicht an die Regeln«, sagte der Drache. »Und du kommst jetzt bitte zurück!

Mir ist ziemlich unwohl, wenn du dich zu weit von uns entfernst.«

Rupert wartete, bis die anderen ihn eingeholt hatten. Die Dämonen schlossen den Kreis enger.

»Warum greifen sie nicht an?«, fragte Julia ruhig.

»Bring sie nicht auf solche Gedanken!«, stöhnte das Einhorn. »Vielleicht können sie einfach nicht glauben, dass jemand so blöd ist, in diese Falle zu rennen. Ich kann es auch nicht glauben und tue es trotzdem.«

»Sie haben Angst vor dem Drachen«, sagte Rupert.

»Sehr gescheit von ihnen«, lobte der Drache.

Rupert versuchte zu lächeln, aber seine Züge entgleisten zu einer Grimasse. Er musste sich eisern zusammennehmen, um nicht blindlings mit dem Schwert um sich zu schlagen. Angst krampfte ihm den Magen zusammen und zitterte in seinen Armen, aber er wollte ihr nicht nachgeben. Noch nicht. Dämonen konnte man im Gegensatz zur Finsternis bekämpfen.

Das Schwert fest umklammert haltend, stürmte er los. Die Dämonen verschmolzen mit der Schwärze und waren verschwunden. Julia seufzte erleichtert. Jetzt erst zitterten ihr die Hände, was sich durch ein unruhiges Flackern der Fackel bemerkbar machte. Rupert starrte in das teilnahmslose Dunkel ringsum, erbost darüber, dass die Dämonen der Konfrontation ausgewichen waren und damit verhinderten, dass er Trost und Befreiung durch mutiges Handeln fand. Er stieß das Schwert mit einem Ruck zurück in die Scheide und führte die Gruppe tiefer in die endlose Nacht.

Etwas später erreichten sie eine kleine Lichtung und rasteten eine Weile, um ihre Kräfte vor dem Weitermarsch zu sammeln. Julia schichtete in der Mitte ein Feuer auf, während Rupert Fackeln in den Boden rammte, um die Grenze zum Wald zu markieren. Sie mussten keine Vorsicht mehr walten lassen; es war klar, dass die Dämonen ihr Lager aufspüren konnten, wann immer sie Lust dazu hatten. Rupert entzündete die letzte Fackel und zog sich dann rasch an das lodernde Feuer zurück. Die tanzenden Flammen vertrieben das Dunkel, und die Wärme löste nach und nach seine Erstarrung. Rupert sah sich mit gerunzelter Stirn um, während er erschöpft neben Julia zu Boden sank. Bei der Hinreise war ihm der Dunkelwald längst nicht so kalt vorgekommen, und er entsann sich auch nicht an diese Lichtung. Mit einem Achselzucken warf er einen weiteren Ast in das knisternde Feuer und zog den Umhang enger um sich. Jenseits der Flammen sah er das Einhorn, das im Halbdunkel vor sich hin döste. Der Drache streifte irgendwo am Rand der Lichtung umher, vielleicht, um den Dämonen einen Schrecken einzujagen. Rupert sah verstohlen zu Julia hinüber. Die Prinzessin hatte sich zähneklappernd in die einzige freie Decke gewickelt und hielt die Hände über das zuckende Feuer.

»Hier«, sagte Rupert schroff und reichte ihr seinen Umhang. »Du frierst.«

»Du auch«, entgegnete Julia. »Lass nur, mir geht es gut.«

»Ehrlich?«

»Klar.«

Rupert beharrte nicht auf seinem Angebot.

»Wie lange dauert es noch, bis wir den Dunkelwald hinter uns haben?«, fragte Julia, als sich Rupert den Umhang wieder über die Schultern geworfen hatte.

»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Die Gesetze der normalen Welt scheinen hier nicht mehr zu gelten. Meine erste Reise könnte Tage oder Wochen gedauert haben; man verliert in der Dunkelheit jegliches Gefühl für die Zeit. Zumindest haben wir diesmal Feuerholz und genug zu essen und zu trinken.

Das macht einen großen Unterschied.«

»Du hast den Dunkelwald ohne Licht und ohne Proviant durchquert?« Julia sah Rupert einen Moment mit widerstrebender Bewunderung an und senkte dann rasch den Blick. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme betont kühl. »Erzähl mir mehr von deiner Burg, Rupert.«

»Ein uralter Kasten«, meinte Rupert mit einem Lächeln.

»Sie wird dir gefallen.«

»Glaubst du?«

»Natürlich. Und meine Leute werden dich mit offenen Armen empfangen.«

»Weshalb sollten sie?«, fragte Julia leise und starrte angestrengt ins Feuer. »Ich kriege keine Mitgift und bin auch sonst alles andere als eine gute Partie. Sieben Schwestern stehen zwischen mir und dem Thron – immer vorausgesetzt, dass die Ältesten meiner Rückkehr zustimmen. Und das tun sie ganz gewiss nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Weil…« Julia warf ihm einen finsteren Blick zu. »Du lachst mich doch bloß aus.«

»Ehrlich nicht!«

»Ich bin von daheim abgehauen. Sie wollten mich mit einem Prinzen vermählen, den ich überhaupt nicht kannte. Aus politischen Gründen, verstehst du.«

»Ich verstehe.« Rupert nickte. »Dynastisches Denken.«

»Genau. Also lief ich weg. Ich kam nicht mal bis zur Grenze. Und da das Reich bereits mit sieben Prinzessinnen gesegnet war und keine achte mehr gebrauchen konnte, schickte man mich in die Drachenhöhle.« Julia starrte wütend ins Feuer. »Mein Vater unterzeichnete den Beschluss. Mein eigener Vater!«

Rupert wollte ihr tröstend einen Arm um die Schultern legen, doch sie wich ihm unwirsch aus.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er ohne große Überzeugung. »Das renkt sich alles wieder ein. Ich finde sicher einen Weg, dich heimzubringen.«

»Ich will aber nicht heim! Für meine Leute bin ich tot.

Und manchmal wünsche ich, es wäre so.«

Sie sprang auf und rannte in die Dunkelheit. Rupert erhob sich, um ihr nachzugehen.

»Bleib hier!«

Rupert drehte sich um und sah, dass der Drache ihn aus den Schatten heraus beobachtete. »Warum?«

»Sie will nicht, dass jemand sie weinen sieht«, erklärte der Drache.

»Ach so.« Rupert trat von einem Fuß auf den anderen und setzte sich dann wieder.

»Sie kommt sicher bald zurück«, meinte der Drache und rückte ein Stück näher.

»Hmm. Ich würde ihr gern helfen, wenn ich könnte.«

»Nett von dir. Julia ist nicht die Schlechteste – für eine Prinzessin, meine ich.«

Rupert zuckte mit den Schultern. »Wir haben alle unsere Probleme.«

»Du etwa auch?«

»Natürlich. Weshalb hätte ich mich sonst auf diese blöde Abenteuerreise eingelassen?«

»Ehre, Ruhm, edle Taten?«

Rupert sah ihn nur an.

»Entschuldige«, murmelte der Drache.

»Ich bin der zweite Sohn«, erklärte Rupert. »Ich habe kein Anrecht auf den Thron, solange mein älterer Bruder lebt.«

»Und du bringst es nicht übers Herz, ihn zu töten.« Der Drache nickte verständnisvoll.

Rupert schnaufte verächtlich. »Ach was, ich kann den Typen nicht ausstehen. Aber wenn ich ihm den Krieg erkläre, bricht ein Bürgerkrieg aus, der das ganze Land spaltet. Deshalb befahl mir mein Vater, mich auf die Drachensuche zu begeben. Er hoffte, du würdest mich töten und das lästige Problem auf diese Weise lösen.«

»Dein eigener Vater wollte dich in den Tod schicken?«

»Ja«, sagte Rupert leise. »Mein eigener Vater. Offiziell sollte ich eine Heldentat vollbringen, um mich des Thrones würdig zu erweisen, doch jeder wusste, worum es in Wahrheit ging. Selbst ich wusste es.«

»Aber warum hast du die Sache durchgezogen? Es bestand keinerlei Notwendigkeit, mich zum Duell zu fordern.«

»Ich bin ein Prinz des Waldkönigreichs«, sagte Rupert.

»Ich hatte mein Wort gegeben. Außerdem…«

»Ja?«

Rupert zuckte die Achseln. »Das zweite große Problem meiner Familie ist das Geld. Wir sind pleite.«

»Pleite? Aber ihr herrscht über das ganze Land! Wie könnt ihr da pleite gehen?«

»Wir hatten zwei Missernten in Folge, dem Volk droht eine Hungersnot, und die Barone weigern sich, ihre Abgaben zu entrichten. Wenn wir den Wert unserer Münzen noch mehr vermindern, können wir sie bald als Kronkorken verwenden.«

»Hmm.«

»Genau – hmm.«

»Das heißt, es nützt dir nicht viel, wenn du mich lebend anschleppst.«

»Nicht allzu viel«, gab der Prinz zu. »Mal abgesehen von dem Goldschatz, den angeblich jeder Drache hütet, könnte man für deine Haut einen guten Preis erzielen. Auch für deine Zähne. Und besonders begehrt sind Drachen…«

»Ich weiß, was sie wert sind«, unterbrach ihn der Drache leicht gekränkt. »Aber ich würde mich nur ungern von ihnen trennen.«

Rupert wurde rot und wandte den Blick ab. »Ich wollte dir auch nur meine Schwierigkeiten schildern.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte der Drache.

»Hört endlich zu labern auf und lasst mich schlafen!«, beschwerte sich das Einhorn mit einem müden Seufzer.

Die Prinzessin kam aus der Dunkelheit zurück und ließ sich am Feuer nieder. Die anderen hüteten sich, einen Kommentar zu ihren leicht verschwollenen Augen abzugeben.

»Worüber habt ihr beide geredet?«, wollte sie wissen.

»Allem Anschein nach befindet sich die Familie des Prinzen momentan in einer finanziellen Krise«, sagte der Drache.

»Pleite«, erklärte das Einhorn ohne eine Spur von Taktgefühl.

»Vielleicht sollte ich mich erneut auf große Abenteuerfahrt begeben, wenn das hier vorbei ist«, meinte der Prinz düster,

»und nach dem Goldtopf am Ende des Regenbogens suchen.«

»Wenn du das tust, kannst du zu Fuß gehen«, drohte das Einhorn.

»Das Ende des Regenbogens«, meinte der Drache versonnen. »Das ist mehr als eine Legende.«

»Willst du damit sagen, dass es diesen Ort tatsächlich gibt?«, fragte Julia.

Der Drache zögerte. »Manchmal.«

»Und wie finde ich ihn?«, erkundigte sich Rupert.

»Gar nicht. Er findet dich.« Der Drache tat sich sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. »Das Ende des Regenbogens ist weniger ein Ort als ein innerer Zustand. Wenn du ihn erreichst, kann dein Herzenswunsch in Erfüllung gehen –

obwohl du ihn nicht immer als solchen erkennst. Es gibt einen Zauberbann…«

Sie erstarrten, als irgendwo draußen im Dunkeln ein Zweig knackte. Im Nu waren sie auf den Beinen. Rupert zog sein Schwert, während Julia einen gefährlich aussehenden Dolch aus dem Stiefel holte. Das Einhorn drängte sich dicht an den Drachen und scharrte unruhig mit den Hufen. Und dann flackerten und erloschen die Fackeln am Rand der Lichtung, eine nach der anderen, und die Finsternis rollte auf sie zu wie eine große Woge.

»Sie haben uns wieder aufgespürt«, sagte Rupert.

Eine Gestalt trat auf die Lichtung, hoch gewachsen, spindeldürr und leichenfahl, und blieb geduckt jenseits des Feuerscheins stehen. Die Hände mit den Klauenfingern zuckten unruhig. Schwach glimmende Augen starrten sie aus einem breiten Krötengesicht an. Während die Gruppe das Geschöpf entsetzt und fasziniert zugleich beobachtete, kamen weitere Dämonen aus dem Dunkel angeschlichen, auf zwei Beinen, auf vier Pfoten oder wie Schlangen auf dem Bauch kriechend.

Das Licht der Flammen huschte rötlich über Krallen und Fänge. Keins der Wesen sah wie das andere aus, aber allen haftete eine tiefe Verderbtheit an, eine Verkommenheit der Seele. Rupert trat mit hoch erhobenem Schwert vor, und der Krötendämon kam mit schnellen, grotesken Sprüngen auf ihn zu. Rupert ging mit einem Ausfallschritt in Zweikampf-Position und wich erst im letzten Moment zur Seite, sodass der Dämon an ihm vorbeischoss. Das Schwert beschrieb einen weiten Bogen und drang tief in den Rücken des Angreifers. Dunkles Blut spritzte auf. Der Dämon stürzte und wand sich lautlos am Boden, bis ihm das Einhorn mit einem gut gezielten Hufschlag den Rest gab. Die missgestalteten Schemen der Beobachter wichen ins Dunkel zurück.

»Wie stehen unsere Aussichten?«, murmelte Julia.

»Nicht gut«, gestand Rupert ein, während er das Schwert durch die Luft sausen ließ. »Es sind zu viele.«

»Aber wir haben einen Drachen bei uns«, widersprach Julia. »Und jeder weiß, dass nur ein Held, der reinen Herzens ist, einen Drachen töten kann.«

»Legenden«, wiegelte der Drache müde ab. »Ich bin alt, Julia. Älter, als du dir vorstellen kannst. Meine Augen lassen nach, im Winter tun mir die Knochen weh, und ich habe seit Jahren kein Feuer mehr gespuckt. Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch kann. Nein, Julia – Drachen sind ebenso wenig vor dem Tod gefeit wie alle anderen Lebewesen.«

»Heißt das, dass wir überhaupt keine Chance haben?«, fragte Julia leise.

»Es gibt immer eine Chance«, sagte Rupert und umklammerte sein Schwert.

»So nicht«, meinte der Drache. »Du wirst den Regenbogen-Lauf wagen müssen.«

»Was heißt das schon wieder?«, fauchte Rupert, den Blick fest auf die lauernden Schatten zwischen den halb verfaulten Bäumen gerichtet.

»Ich kenne einen Zauberspruch, der dich geradewegs ans Ende des Regenbogens bringt. Wenn du stark genug bist.

Jedem Menschen, der den Regenbogen nach unten laufen kann, geht sein Herzenswunsch in Erfüllung, was immer das sein mag.«

»Dann versuch es damit«, sagte Julia. »Ich will diesen Bestien auf keinen Fall lebend in die Hände fallen. Es gibt Gerüchte…«

Rupert nickte grimmig. Er kannte die Gerüchte ebenfalls.

»Pass auf!«, schrie Julia. Rupert stieß seinen Schlachtruf aus und schwang das Schwert beidhändig, als die Dämonen aus den Schatten des Dunkelwaldes hervorbrachen. Die Klinge schnitt mit kurzen, wilden Bogenhieben durch die Angreiferschar und mähte sie nieder wie überreifen Weizen. Blut spritzte umher, aber die Getroffenen gaben keinen Laut von sich. Die Stille des Dunkelwaldes wurde nur von stampfenden Schritten und den dumpfen Hieben des Schwertes durchbrochen. Der Drache richtete sich zu seiner vollen Größe auf, hieb mit den Pranken auf die Feinde ein und walzte alles nieder, was sich ihm in den Weg zu stellen versuchte. Um ihn häuften sich die Toten und die Sterbenden, aber immer noch drängten die Dämonen heran. Julia rammte einem Gegner den Dolch bis zum Heft in das vorquellende Auge und stieß den zuckenden Leichnam mit dem Fuß zur Seite. Das Einhorn galoppierte an ihre Seite, um sie zu schützen; Hufe und Horn trieften von Blut, Rupert wirbelte hierhin und dahin und gebrauchte sein Schwert mit tödlicher Sicherheit, aber für jeden Dämon, der fiel, tauchte ein neuer aus dem Dunkel auf.

Seine Arme und sein Nacken schmerzten, und jedes Mal, wenn er die Klinge niedersausen ließ, erschien sie ihm ein wenig schwerer, aber er kämpfte wild entschlossen weiter.

Der seit Monaten aufgestaute Zorn brach sich Bahn, und er fletschte die Zähne wie ein Wolf, als das Schwert einen Feind nach dem anderen niedermetzelte.

Und dann war der Kampf vorbei. Die Dämonen flohen in die Sicherheit des Dunkels, ohne ihre Toten mitzunehmen.

Rupert senkte langsam das Schwert und schaute sich um. Sein Atem ging stoßweise. Die Lichtung war von Leichen übersät.

Allmählich ebbte sein Zorn ab. Er fror und fühlte sich plötzlich matt und elend. Er war gründlich im Schwertkampf ausgebildet worden, wie es sich für einen Königssohn geziemte, aber die neu entdeckte Lust am Töten beunruhigte ihn. Freude an einem Gemetzel zu finden – das war Dämonen-Art. Das Blut, das von seiner Klinge tropfte, erfüllte ihn plötzlich mit Ekel, und er schob das Schwert in die Scheide, ohne es vorher abzuwischen. Dann schluckte er trocken und hielt nach seinen Gefährten Ausschau. Der Drache schien so gut wie unversehrt zu sein; das frische Blut an seinen Zähnen und Klauen stammte von den Gegnern. Das Einhorn hatte ebenfalls nur ein paar Kratzer abbekommen, obwohl sein weißes Fell blutverschmiert war. Julia wirkte kühl bis ins Herz, während sie ihren Dolch säuberte, aber ihre Hände zitterten dabei. Rupert schüttelte den Kopf. Ohne den Zorn, der ihn vorwärts gepeitscht hatte, fühlte er sich schwach und zittrig, aber schon vernahm er wieder das Rascheln und Knacken jenseits der Lichtung. Er wandte sich dem Drachen zu.

»Los, sag deinen Zauberspuch auf!«, sagte er mit rauer Stimme. »Noch so ein Sturmangriff, und wir sind platt!«

Der Drache nickte. »Es liegt ganz an dir, Rupert. Zuerst wirst du ein Licht in der Ferne sehen, eine Art Leuchtfeuer, und dann wird dir die Wilde Magie einen Weg weisen.. Folge ihm. Das ist der Regenbogen-Lauf. Was du an seinem Ende findest, hängt ganz von dir ab.«

Rupert starrte in die Finsternis hinaus, und eine Stimme tief in seinem Innern sagte: Ich kann nicht. Es war ihm schwer genug gefallen, mit Fackeln und Gefährten in den Dunkelwald zurückzukehren, aber sie aufzugeben und ganz allein in die Schwärze vorzudringen… Habe ich nicht schon genug getan? Ich kann nicht zurück ins Dunkel! Ich habe Angst!

»Rupert?«

Ich habe Angst!

»Wo bleibt der Zauberspruch?«, fragte Rupert.

»Halte dich bereit«, sagte der Drache. »Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln.«

Rupert nickte steif und schlenderte hinüber zum Einhorn.

»Beschützt du die Prinzessin, falls mir etwas zustoßen sollte?«

»Mit meinem Leben!«, versprach das Einhorn. »Ich kann nämlich sehr heldenhaft sein, wenn ich keine andere Wahl habe.«

»Das war mir von Anfang an klar.« Der Prinz lächelte.

Das Einhorn scharrte verlegen mit den Hufen. »Alles in allem habe ich schon schlimmere Abenteuerreisen mitgemacht.«

»Ich male mir lieber nicht aus, wie furchtbar sie gewesen sind.«

»Nun übertreib nicht gleich«, sagte das Einhorn geschmeichelt. »Und sei vorsichtig, wenn du diesen Regenbogen-Lauf antrittst! Ich habe mich an unser Gezänk gewöhnt.«

Rupert tätschelte dem Einhorn zum Abschied den Hals.

Als er sich von seinem Reittier abwandte, stand unvermittelt Julia vor ihm. Sie reichte ihm ein Taschentuch.

»Ein Gunstbeweis«, sagte sie. »Der Held trägt immer den Gunstbeweis einer edlen Dame bei sich.«

»So etwas wollte ich schon immer haben«, murmelte Rupert. Er schob das Seidentüchlein in sein zerfleddertes Lederwams. »Ich werde dieses Unterpfand unversehrt zurückbringen.«

»Bring lieber Hilfe mit, das ist wichtiger.« Plötzlich beugte sie sich vor und küsste ihn. »Und komm selbst unversehrt zurück, sonst bin ich dir auf ewig böse.«

Sie rannte los und verschmolz mit den Schatten. Der Prinz fuhr sich mit der Hand scheu über die Lippen. Zumindest in diesem Punkt hatten die Barden nicht gelogen. Der Drache gesellte sich zu ihm.

»Bist du bereit?«

Rupert starrte in die Schwärze. Ich habe Angst. Aber versprochen ist versprochen.

»Besser wird es nicht. Und du?«

»Der Zauber müsste wirken.«

Rupert zog sein Schwert, wog es kurz in der Hand und reichte es dem Drachen. »Gib es Julia! Mich behindert das Ding nur beim Laufen.«

»Klar«, sagte der Drache.

»Ein Licht!«, schrie das Einhorn. Rupert fuhr herum. Tief im Dunkelwald zeigte sich ein grellroter Schein.

»Das ist es!«, rief der Drache, aber Rupert war bereits unterwegs. Er durchbrach die Kette der Dämonen am Rande der Lichtung und war verschwunden, ehe sie ihn aufhalten konnten. Im Dunkel vor ihm zeichnete sich ein Weg ab, der unter seinen Füßen zu schimmern und zu funkeln schien. Ein Dämon sprang aus den Schatten, um ihm den Weg abzuschneiden, und schrie auf, als der Pfad plötzlich hell loderte und ihn verschlang. Rupert warf einen flüchtigen Blick auf den reglosen Körper und eilte weiter. Hinter sich hörte er die ersten Kampfgeräusche, als die Dämonenschar über seine Gefährten herfiel. Er zwang sich, noch schneller zu laufen. Die Bäume des Dunkelwaldes flogen an ihm vorbei. Der Pfad zog eine leuchtende Spur durch die Finsternis. Der Atem brannte ihm in den Lungen, stach in der Brust, und kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinunter, aber er achtete weder auf den Schmerz noch auf die Angst. Der verzweifelte Wunsch, irgendwie seine Freunde zu retten, trieb ihn vorwärts. Er wusste nicht, wie lange er gelaufen war, aber der Weg schimmerte immer noch vor ihm, und das Licht schien keine Spur näher zu kommen. Es geht nicht darum, wie schnell du rennst, wisperte eine Stimme in seinem Innern, sondern wie sehr du dich überwindest. Erschöpfung lähmte seine Muskeln, und er sah mit Entsetzen, dass der Pfad immer fahler leuchtete. Er holte das Letzte aus sich heraus, schrie laut über den Schmerz, der ihn durchzuckte, und dann stolperte er und fiel der Länge nach hin, als der Pfad kurz flackerte und erlosch.

Tut mir Leid, Julia, dachte er verzweifelt, während ihn das Dunkel einhüllte. Ich hätte so gern eine Heldentat f ür dich vollbracht.

Licht warf sich tosend gegen die Finsternis. Rupert kam wankend auf die Beine, während funkelnde Kaskaden auf ihn niederregneten. In seinen Ohren rauschte der Donner mächtiger Wasserfälle. Die Zeit schien zu stocken und stillzustehen.

Gleißende Farben brannten in Ruperts Augen, als er den Kopf nach hinten warf und die Arme nach dem Glanz des Regenbogens ausstreckte.

Und dann erlosch der Regenbogen, und die Nacht war schwärzer als zuvor.

Einen Moment lang blieb Rupert einfach stehen, verzückt von der Herrlichkeit des Regenbogens. Dann senkte er langsam den Kopf und sah sich um. Wo das Ende des Regenbogens die Erde berührt hatte, standen die knorrigen, verkrüppelten Bäume hoch aufgerichtet da; dicht belaubte Zweige umrahmten eine Öffnung in der Kuppel des Waldes, durch die helles Mondlicht strömte und den Prinzen mit einem silbernen Lichtkreis umgab. Und im Moos zu seinen Füßen lag ein Schwert. Rupert bückte sich und hob es auf. Es war ein ganz gewöhnliches Schwert, scharf geschliffen und gut gewichtet.

Rupert lächelte bitter, während die Dunkelheit näher an ihn heranrückte. Der Schatz am Ende des Regenbogens… wieder eine solche Legende. Von weit weg drang Kampflärm an sein Ohr, und als Rupert sich umdrehte, sah er den schimmernden Pfad, der nur darauf zu warten schien, ihn zu seinen belagerten Freunden zu führen. Er wog das Schwert in der Hand und rannte zurück durch den Dunkelwald.

Er stürmte auf die Lichtung, und einen Moment lang sah er nichts außer einer wogenden, ineinander verkrallten Masse von Dämonen. Der Drache stürzte sich immer wieder mit kräftigen Flügel- und Schwanzhieben ins Gewühl, während der Feuerschein rötlich über seine Schuppen zuckte. Blut strömte ihm von den Furcht erregenden Fängen. Julia stand geduckt hinter dem Drachen, das Schwert in der Hand, den Umhang blutgetränkt, verzweifelt darum bemüht, das Feuer als Barriere gegen die Dämonen zu nutzen. Vom Einhorn war nichts zu sehen. Während Rupert zögernd am Rand der Lichtung innehielt, durchbrach ein Angreifer die Deckung des Drachen, stieß die Prinzessin zu Boden und warf sich über sie. Rupert schrie auf und rannte los. Ein Dämon hechtete ihm entgegen. Er hieb ihn in zwei Teile und rannte weiter ohne innezuhalten. Eine ganze Gruppe von Gegnern blockierte ihm den Weg. Das Schwert in seiner Hand schien schwerelos zu sein. Dämonenblut bedeckte das Moos wie schwarzer Tau.

Er erreichte die Prinzessin im gleichen Moment, als sie den Dämon aufschlitzte, der sie zu Boden gedrückt hatte. Sie schaute auf und wischte sich mit der blutverschmierten Hand über die Stirn.

»Du hast dir ganz schön Zeit gelassen!«

Rupert grinste. Sie zückten die Schwerter und stellten sich Rücken an Rücken auf, um dem nächsten Ansturm der Dämonen zu begegnen. Julia setzte ihre Waffe mit wild entschlossener Miene und erstaunlichem Geschick ein. Rupert wirbelte umher und holte einen Gegner nach dem anderen von den Beinen, aber er wusste, dass es hoffnungslos war.

Die wuselnden Geschöpfe schwärmten in schier endloser Zahl aus dem Dunkel, und er war bereits am Ende seiner Kräfte. Irgendwann würden sie ihn überwältigen. Die einzige Hoffnung der Gruppe war der Regenbogen-Lauf gewesen, und der hatte nichts gebracht. Rupert stöhnte, als ihm ein Dämon mit seinen Klauen den Brustkorb aufriss. Er tötete den Angreifer mit einem Schwertstreich, aber er spürte, wie ihm das Blut die Rippen entlanglief. Ihm wurde schwindlig, doch der Schmerz hielt ihn auf den Beinen. Immer mehr Dämonen drangen auf ihn ein, und Rupert erkannte, dass er nicht mehr schnell genug war, um sie alle abzuwehren. Lautlos verfluchte er das Einhorn wegen seiner verdammten Feigheit und umklammerte das Schwert noch fester. Er hoffte nur, dass sie keinen qualvollen Tod sterben mussten.

Und dann bäumte sich der Drache wie in alten Zeiten hoch auf, und ein Feuerstrahl zerriss die Nacht. Dämonen rollten sich zusammen wie welke Blätter, als der flammende Atem des Drachen über sie hinwegstrich. Andere wälzten sich in lautloser Qual am Boden, ehe sie ihr Leben aushauchten. Der Furcht erregende Schädel des Drachen schwenkte hin und her, und das Feuer schlug breite Breschen in die Reihen der Angreifer. Doch dann flackerten die Flammen schwächer und erloschen.

Im letzten Feuerschein sah Rupert, wie die Überlebenden in die Schatten jenseits der Lichtung flohen, wo sich ihre Gefährten versammelt hatten. Horden von Dämonen. Mit jeder Minute schienen es mehr zu werden. Rupert senkte langsam das Schwert und stützte sich darauf. Er wagte es nicht, sich hinzusetzen, weil er Angst hatte, nicht wieder hochzukommen. Er setzt sich zur Wehr mit dem Mut von zehn Recken, denn rein ist sein Herz und lauter sein Sinn. Barden.

Rupert seufzte leise. Julia plumpste neben ihm zu Boden, weil ihre Knie nachgaben. Ihre Augen waren glasig vor Erschöpfung, aber sie hielt mit letzter Kraft das Schwert umklammert. Neue Wut stieg in Rupert hoch, als er bemerkte, dass die roten Flecken auf Julias Gewändern nicht nur Dämonenblut waren. Die Prinzessin hatte mehr als eine tiefe Wunde davongetragen, und Rupert machte sich bittere Vorwürfe.

Wenn er sie nicht aus der Drachenhöhle geholt hätte; wenn er sie nicht in den Dunkelwald mitgenommen hätte; wenn er nicht zugelassen hätte, dass sie einer Legende nachjagte…

Wenn. Du bist ein tapf eres Mädchen, Julia, dachte Rupert müde. Du hast etwas Besseres verdient als mich. Er starrte in die Finsternis hinaus, weil er Julias Anblick nicht ertragen konnte. Er hörte, wie die Dämonen sich zum nächsten Angriff sammelten. Es schien ihnen nicht an Nachschub zu mangeln.

Rupert wandte sich dem Drachen zu, der erschöpft am Feuer kauerte. Ein Flügel hing schlaff und halb zerfleddert herab, und goldenes Blut rann unentwegt über die zitternde Flanke.

Langsam hob der Drache den großen Kopf und musterte den blutbespritzten Prinzen.

»Hast du das Ende des Regenbogens erreicht?«

»Ja«, sagte Rupert. »Es war ein herrlicher Anblick.«

»Und was hast du am Ziel gefunden?«

»Ein Schwert. Ein ganz gewöhnliches Schwert.« Rupert konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, als er die Waffe vor sich auf den Boden warf. Der Drache sah das Schwert lange an und senkte den Blick.

»Die Wilde Magie neigt manchmal zu… Kapriolen.« Er starrte in die Dunkelheit. »Ich glaube, die Dämonen sind bereit. Eine letzte Attacke – und wir haben alles hinter uns.«

»Wir dürfen jetzt nicht einfach aufgeben«, widersprach Rupert. »Wir haben sie zweimal in die Flucht geschlagen…«

»Ich bin verletzt, Rupert«, sagte der Drache ruhig. »Und ich bin zu alt für solch unsinnige Kämpfe.«

Rupert schüttelte den Kopf. Er suchte nach einem Ventil für seinen Ärger, um die wachsende Verzweiflung zurückzudrängen. »Was ist eigentlich mit dem Einhorn los?«

»Es liegt dort drüben.«

Rupert folgte dem Blick des Drachen. Keine zehn Meter vom Feuer entfernt lag das Einhorn reglos am Boden, alle viere von sich gestreckt, halb begraben unter einem Berg von Dämonenleichen.

»Einhorn!« Rupert kniete neben seinem Reittier nieder.

Das Einhorn versuchte den blutüberströmten Kopf zu heben und sank hilflos zurück.

»Schrei mich nicht so an! Mein Kopf schmerzt.«

Tiefe Risse zerfurchten seine Flanken, der Brustkorb war eingedrückt, und das Horn war dicht über dem Stirnansatz abgebrochen, sodass nur noch ein scharfkantiger Stummel zu sehen war.

»Es tut mir Leid«, murmelte Rupert. »Es tut mir so Leid.«

»Es war nicht deine Schuld«, sagte das Einhorn. Seine Stimme versagte, und es hustete blutigen Schaum.

Rupert liefen Tränen über die Wangen.

»Lass das!«, meinte das Einhorn unwirsch. »Du hättest mal sehen sollen, wie ich meine Gegner zugerichtet habe. Hast du das Ende des Regenbogens gefunden?«

Rupert nickte wortlos.

»Na, das ist doch schon mal was! Sie werden uns zu Ehren Balladen singen, mein Junge!«

»Und wieder alles in die falsche Kehle kriegen!«

»Kann gut sein«, pflichtete ihm das Einhorn bei. »Ich glaube, ich muss jetzt ein wenig schlafen, mein Junge. Ich bin müde.«

»Einhorn?«

»Ich bin so müde.«

»Einhorn!«

Nach einer Weile kam Julia und kauerte sich neben ihn.

»Es hat für mich sein Horn geopfert«, sagte Rupert bitter.

»Und ich? Ich habe es ohne die geringste Rücksicht von einer Gefahr in die nächste geführt.«

»Es war dein Freund«, sagte Julia sanft.

Sie hätte ihn nicht schlimmer treffen können.

»Rupert!«, warnte der Drache. »Dämonen!«

»Ich habe dir dein Schwert mitgebracht«, sagte Julia, während sie sich mühsam erhoben, und reichte Rupert die Klinge, die er am Ende des Regenbogens gefunden hatte. Rupert starrte die Waffe an und spürte einen heißen Zorn. Von allen Seiten stürmten Dämonen auf die Lichtung und schleppten die Schwärze hinter sich her. Im Feuerschein blitzten Fänge und Klauen auf. Der Drache richtete sich hoch auf, eine Schwinge hing ihm schlaff herab, aber er war unbesiegt. Julia stand vor Rupert, blutverschmiert, doch auch sie ungebeugt, und wartete darauf, dass er sein Schwert nahm und an ihrer Seite kämpfte. Und das Einhorn lag sterbend zu seinen Fü­ßen.

Es war dein Freund.

Rupert griff nach dem Schwert. Wut und Trauer wallten in ihm auf, als ihm bewusst wurde, dass er keine andere Wahl hatte, als tapfer zu sterben und möglichst viele Gegner mit in den Tod zu reißen. Er schwang die Waffe hoch über den Kopf, und plötzlich schienen sein ganzer Zorn, sein ganzer Schmerz, seine ganze Entschlossenheit in die Klinge zu strömen und hinaus in die lange Nacht, immer weiter, wie ein mächtiger Schrei, der die Dunkelheit zum Kampf herausforderte. Licht schoss aus dem Schwert, und die Dämonen duckten sich und wichen zurück, flohen Hals über Kopf, als der Regenbogen sich wölbte und mit dem Donner gigantischer Wasserfälle auf den Dunkelwald herabstürzte.

Die Zeit schien zu stocken und stillzustehen. Leuchtende Farben vertrieben die Nacht, mähten die Dämonen nieder, die in Scharen auf den blutgetränkten Boden stürzten und reglos liegen blieben. Und immer noch ergoss sich das schimmernde Licht über die grotesken Gestalten, bis sie schmolzen und in das aufgerissene Erdreich sickerten. Erst als sie alle verschwunden waren, verblasste der Regenbogen, und die Nacht nahm wieder Besitz vom Dunkelwald.

In der plötzlichen Stille wirkte das Knistern des Lagerfeuers unnatürlich laut. Mondlicht fiel durch eine breite Öffnung des verfilzten Astwerks, und wo der Regenbogen die Bäume berührt hatte, standen sie aufrecht und in voller Laubpracht da. Rupert senkte langsam das Schwert und musterte es lange, aber es unterschied sich in nichts von einem ganz gewöhnlichen Schwert. Hmm, dachte er schließlich, of f enbar enthalten manche Legenden doch einen wahren Kern…

»Kann mir jemand erklären, warum ich nicht tot bin?«, fragte das Einhorn.

»Einhorn!« Rupert fuhr herum und sah gerade noch, wie sein Reittier zitternd auf die Beine kam. Seine Wunden waren verheilt und hatten nur schwache Narben hinterlassen, und aus Mund und Nüstern floss kein Blut mehr. Der Prinz starrte das Einhorn mit offenem Mund an und untersuchte dann seine eigenen Wunden. Er hatte eine ganze Kollektion von Narben, aber nicht die Spur von Schmerzen. Er fühlte sich großartig.

»Mir fehlt auch nichts«, sagte eine verwunderte Stimme hinter ihm, und ehe Rupert sich umdrehen konnte, hatte Julia ihn gepackt und mit Bärenkräften an sich gedrückt. Sie legte ihm einen Arm um die Schultern, während er sich von dem Überfall erholte, und zerrte ihn im Laufschritt zum Drachen hinüber, der gerade vorsichtig seinen sauber verheilten Flügel dehnte.

»Kann mir bitte jemand sagen, was hier vorgeht?«, meldete sich das Einhorn erneut zu Wort.

»Ich habe einen Regenbogen gebannt und dir damit das Leben gerettet«, sagte Rupert und grinste dabei von einem Ohr zum anderen.

»Ha«, meinte das Einhorn, »ich wusste doch, dass du zu irgendetwas nütze wärst.«

Rupert schob lachend das Regenbogenschwert in die Scheide. Die Freude sprudelte in ihm wie Wasser in einer seit langem verschütteten Quelle. Doch dann verstummte sein Lachen, als er das Einhorn genauer ansah.

»Was ist los?«, fragte das Einhorn und runzelte die Stirn.

»Irgendwie kommst du mir verändert vor«, meinte der Prinz nachdenklich.

»Ich fühle mich blendend.« Das Einhorn drehte und wendete den Kopf, um sich von allen Seiten zu betrachten.

»Ach, du liebe Güte!«, murmelte Rupert, als ihm die Wahrheit dämmerte.

»Was ist los?«

»Äh…« Rupert überlegte verzweifelt, wie er den Sachverhalt möglichst taktvoll zur Sprache bringen könnte.

Julia und der Drache gesellten sich zu ihnen. »He«, sagte Julia ungeniert, »was ist denn mit deinem Horn passiert?«

»Meinem was?« Das Einhorn schielte wie verrückt, um einen Blick auf sein Horn zu erhaschen, aber außer einem kleinen Knochenwulst mitten auf der Stirn war nichts zu sehen.

»Die Dämonen brachen es ab, als sie über dich herfielen«, erklärte Rupert. »Offensichtlich kann der Regenbogen zwar Wunden heilen, aber verlorene Körperteile wachsen nicht mehr nach.«

»Mein Horn!«, kreischte das Einhorn. »Jetzt wird mich jeder für ein Pf erd halten!«

»Nie im Leben«, versicherte Rupert.

»Darf ich eure Diskussion kurz unterbrechen?«, warf der Drache ein. »Ich schlage vor, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Wir sind noch ein ganzes Stück von der Grenze entfernt, und ich bin sicher, dass im Dunkelwald weitere Dämonen ihr Unwesen treiben.«

»Allerdings«, sagte Julia. »Der Albtraum ist vorbei, aber die Nacht bleibt für alle Zeiten.«

»Nicht für alle Zeiten«, widersprach Rupert leise und legte die Hand auf den Griff des Regenbogenschwerts. »Jede Nacht geht irgendwann zu Ende.«

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