Band 2

Erstes Capitel Erste Scharmützel

Die Vorgänge auf der Farm von Chipogan machten erklärlicher Weise überall großes Aufsehen. Von der Grafschaft Laprairie aus hatte sich die Nachricht davon durch die Provinzen Canadas verbreitet. Die öffentliche Meinung fand kaum eine bessere Gelegenheit, sich offen kundzugeben. Handelte es sich doch nicht allein um einen Zusammenstoß zwischen Polizei und »Bewohnern« des Landes - einen Zusammenstoß, bei dem die Vertreter der Behörden und die Kronfreiwilligen den Kürzeren gezogen hatten. Ernster war jedenfalls der Umstand, der die Absendung einer Polizeimacht nach Chipogan veranlaßt hatte. Johann ohne Namen war eben wieder im Lande aufgetaucht. Der Minister Gilbert Argall wollte ihn, auf die Meldung von seinem Aufenthalte in der Farm, verhaften lassen. Dieser Versuch mißglückte; die Person, in der sich der nationale Widerstand verkörperte, war frei und man ahnte, daß der Mann in nächster Zeit schon Gebrauch von seiner Freiheit machen werde.

Wohin Johann ohne Namen sich nach seinem Weggange von Chipogan gewendet, konnten die eifrigsten, die peinlichsten und strengsten Nachforschungen nicht aufklären. Sein dermaliger Aufenthaltsort war und blieb Geheimniß. Immerhin verzweifelte Rip, wenn er über den Mißerfolg seiner Maßregeln natürlich auch verbittert war, keineswegs daran, sich noch dafür zu rächen. Außer dem persönlichen Interesse kam hierbei ja auch die Ehre seines Hauses ins Spiel; er wollte die Partie fortsetzen, bis sie für ihn gewonnen wäre. Die Colonialregierung wußte ja, woran sie mit ihm war, und hatte ihm niemals ihr Vertrauen entzogen, noch es an Unterstützung fehlen lassen. Jetzt kannte Rip übrigens den jungen Patrioten, dem er Auge in Auge gegenüber gestanden hatte, und er brauchte nicht mehr als Blinder seinen Spuren nachzugehen.

Seit dem gescheiterten Angriff auf Chipogan waren vierzehn Tage - vom 7. bis zum 23. - vergangen. Die letzte Woche des November nahte schon ihrem Ende, und Rip hatte trotz seiner Bemühungen eigentlich noch nichts erzielt.

Nach den Vorfällen, deren Schauplatz die Farm gewesen war, hatte sich übrigens Folgendes zugetragen:

Am nächsten Tage hatte sich Thomas Harcher gezwungen gesehen, Chipogan zu verlassen. Nachdem er die dringlichsten Angelegenheiten in aller Eile nothdürftig geordnet, war er mit seinen Söhnen tief in die Wälder der Grafschaft Laprairie eingedrungen und hatte sich nach Ueberschreitung der amerikanischen Grenze in einem nahegelegenen Dorfe aufgehalten, voller Ungeduld der Wendung entgegensehend, welche die Ereignisse in Canada nehmen sollten. St. Albans am Ufer des Champlain-Sees bot ihm alle wünschenswerthe Sicherheit; die Söldlinge Gilbert Argall's konnten ihn hier nicht erreichen.

Wenn die von Johann ohne Namen vorbereitete Volksbewegung Erfolg hatte, wenn Canada, indem es seine Selbstbestimmung erlangte, der angelsächsischen Unterdrückung ledig ward, wollte Thomas Harcher ruhig nach Chipogan zurückkehren. Scheiterte die Bewegung aber, so konnte er hoffen, daß man mit der Zeit die früheren Vorfälle vergessen werde. Ohne Zweifel mußte nämlich eine Amnestie frühere Thaten ungeschehen machen, und Alles verlief dann allmählich wieder wie früher.

Vorläufig war mindestens eine Herrin in der Farm zurückgeblieben. Während des Winters, der ja doch die Landarbeit unterbrach, konnten die Interessen des Herrn de Vaudreuil auch unter der Leitung Catherine Harcher's nicht geschädigt werden.

Pierre und seine Brüder übten natürlich nach wie vor ihr Geschäft als Jäger in den benachbarten Gebieten der canadischen Colonie, und nach sechs Monaten verhinderte sie voraussichtlich nichts, wieder zum Fischfang zwischen den beiden Ufern des St. Lorenzo auszuziehen.

Thomas Harcher hatte nur zu recht daran gethan, sich in Sicherheit zu bringen. Schon nach vierundzwanzig Stunden war Chipogan durch eine Abtheilung regulärer Truppen, welche von Montreal kamen, militärisch besetzt. Catherine Harcher, welche für ihren Mann und ihre älteren Söhne nichts mehr zu fürchten hatte, ließ sich dadurch nicht außer Fassung bringen. Die Polizei, welche auf Befehl des GeneralGouverneurs möglichst Nachsicht übte, ließ sie das Vergangene nicht entgelten. Im Uebrigen wußte die energische Frau, sich und den Ihrigen seitens der Soldaten schon den nöthigen Respect zu verschaffen.

Mit der Villa Montcalm lag es ganz ebenso wie mit der Farm von Chipogan, doch begnügte sich die Behörde, dieselbe überwachen zu lassen, ohne sie direct zu besetzen. Herr de Vaudreuil, der ja nachgewiesenermaßen für den jungen Patrioten Partei ergriffen, hatte sich auch gehütet, nach seiner Wohnung auf der Insel Jesus zurückzukehren, zumal da ein Haftbefehl gegen ihn vom Polizeiminister Gilbert Argall ergangen war. Wäre er nicht entflohen, so hätte man ihn im Gefängniß von Montreal eingekerkert und er hätte nicht in die Reihen der Aufständischen treten können, wenn es zum Kampfe kam. Wahrscheinlich hatte er bei einem seiner politischen Freunde Zuflucht gefunden; jedenfalls aber hatte er sich dahin mit größter Vorsicht begeben, denn es war unmöglich, das Haus zu entdecken, das ihm jetzt Obdach bieten mochte.

Clary de Vaudreuil kehrte allein nach der Villa Montcalm zurück. Von hier aus blieb sie in Verbindung mit den Herren Vincent Hodge, Farran, Clerc und Grammont.

Betreffs Johanns ohne Namen wußte sie, daß dieser sich in St. Charles bei seiner Mutter in Sicherheit gebracht hatte. Zu wiederholten Malen erhielt sie übrigens durch Freundeshand mehrere Briefe von ihm; doch wenn Johann sich in denselben meist nur über die politische Lage aussprach, fühlte sie recht gut heraus, daß auch noch eine andere Empfindung das Herz des jungen Patrioten beunruhigte.

Wir hätten nun schließlich mitzutheilen, was aus Meister Nick und seinem Schreiber geworden war.

Der Leser hat nicht vergessen, welchen Antheil die Huronen bei dem Ereignisse auf der Farm von Chipogan nahmen. Ohne ihre Einmischung wären die Freiwilligen nicht zurückgedrängt worden und Johann ohne Namen wäre den Leuten Rip's in die Hände gefallen.

Doch wer hatte jene Intervention der Mahogannis veranlaßt? War es der friedfertige Notar von Montreal gewesen?... Nein, gewiß nicht! Sein Bemühen war ja einzig und allein auf die Verhütung jedes Blutvergießens gerichtet gewesen, er hatte sich nur in das Getümmel gewagt, um die kämpfenden Parteien aufzuhalten. Wenn sich die Krieger von Walhatta gerade in dem Augenblicke in den Kampf einmengten, so erfolgte das nur deshalb, weil Nicolas Sagamore, dem die Belagerer übel genug mitspielten, Gefahr lief, von diesen ebenfalls als Rebell behandelt zu werden. Da war es denn ganz natürlich, daß die indianischen Krieger zur Vertheidigung ihres Häuptlings herbeieilten. Hierdurch wurde freilich erst das Zurückweichen und die Versprengung der Angreifer gerade zur Zeit bewirkt, wo diese die Thür der Wohnung zu forciren im Begriff waren. Von hier aus betrachtet, war es ja nur ein Schritt bis zu seiner Verhaftung, und Meister Nick mußte mit Recht fürchten, daß dieser Schritt zum Nachtheile seiner eigenen Person nicht ausbleiben werde.

Hieraus ergibt sich, daß der würdige Notar alle Ursache hatte, sich wegen einer einfachen Schlägerei gelegentlich einer Verhaftung, die ihn gar nichts anging, sehr schwer compromittirt zu sehen. In der löblichen Absicht, nach seiner Expedition in Montreal nicht eher zurückzukehren, als bis sich die Wogen der Erregung über jene tumultuarischen Vorgänge einigermaßen gelegt hätten, ließ er sich ohne viel Widerstreben nach dem Dorfe Walhatta in den Wigwam seiner Ahnen entführen. Sein Bureau blieb also während eines Zeitraums, dessen Dauer unmöglich abzuschätzen war, geschlossen. Wohl mußte seine Kundschaft darunter leiden und die alte Dolly zur Verzweiflung getrieben werden. Doch was war andres zu thun? Es schien doch immer noch besser, Nicolas Sagamore inmitten seines Mahoganni-Stammes, als Meister Nick im Gefängniß von Montreal zu sein, auf welch' Letzterem die Beschuldigung der thatsächlichen Auflehnung gegen die Vertreter der Staatsgewalt lastete.

Selbstverständlich war Lionel seinem Herrn und Meister nach jenem, in den dichten Wäldern der Grafschaft Laprairie verlorenen Indianerdorfe gefolgt. Er hatte sich in bester Form gegen die Freiwilligen geschlagen und hätte einer harten Strafe nicht entgehen können. Doch wenn Meister Nick in petto lamentirte, so jubelte Lionel über die Wendung, welche die Sache genommen hatte. Er bedauerte es keineswegs, Johann ohne Namen, den Helden, dem alle französischen Canadier zujauchzten, vertheidigt zu haben. Er hoffte sogar auf eine noch weitere Entwicklung der Dinge und darauf, daß sich die Indianer offen zu Gunsten der Insurgenten erklären würden.

Meister Nick war ja nicht mehr Meister Nick, sondern wohlbestallter Huronenhäuptling; Lionel war nicht mehr sein zweiter Schreiber, sondern die rechte Hand des letzten der Sagamores.

Es war vielleicht zu befürchten, daß der General-Gouverneur auch die Mahogannis wegen ihrer damaligen Einmischung in Chipogan zur Strafe ziehen wollte, doch legte die einfache Klugheit, welche die Umstände ihm aufdrängten, dem Lord Gosford eine gewisse Zurückhaltung auf. Repressalien seinerseits hätten den eingebornen Indianerstämmen nur Gelegenheit geboten, ihren Brüdern zu Hilfe zu kommen und sich in Masse zu erheben - eine unter den vorliegenden Verhältnissen immerhin zu fürchtende Erschwerung der Sachlage. Aus diesem Grunde hielt es Lord Gosford für angezeigt, die Krieger von Walhatta ebensowenig wie deren neuen Häuptling, der nach dem Rechte der Erbfolge an ihre Spitze gerufen worden war, zu verfolgen, und so wurden Meister Nick und Lionel an ihrem neuen Zufluchtsorte nicht weiter belästigt.

Im Uebrigen behielt Lord Gosford das Verhalten der Reformer, welche unablässig die Kirchspiele von Ober- und Unter-Canada aufzuwiegeln strebten, mit größter Aufmerksamkeit im Auge. Gerade der Bezirk von Montreal wurde von der Polizei mit schärfster Wachsamkeit beobachtet, da diese eine aufständische Bewegung in den benachbarten Kirchspielen von Richelieu erwartete. Wenn es unmöglich wäre, derselben ganz zuvorzukommen, so waren doch alle Maßregeln getroffen, eine solche im Keime zu ersticken. Die Truppen der königlichen Armee, über welche John Colborne verfügen konnte, hatten ihre Cantonnements in den Gebieten der Grafschaft Montreal und der angrenzenden Grafschaften bezogen. Die Anhänger der Reform wußten also recht gut, daß ihnen ein ernster Kampf bevorstand. Doch das vermochte ihren Eifer nicht zu zügeln. Die nationale Sache, so hofften sie, werde schon die gesammte franco-canadische Bevölkerung mit sich fortreißen. Diese erwartete nur noch das Signal zu den Waffen zu eilen, seit die Vorgänge in Chipogan die Anwesenheit Johanns ohne Namen außer Zweifel gestellt hatten. Wenn der volksthümliche Held jenes noch nicht gegeben, so lag das nur daran, daß die antiliberalen Beschlüsse, deren sich derselbe seitens des britischen Cabinets versah, bisher noch nicht gefaßt worden waren.

Bis dahin hörte Johann niemals auf, von dem geheimnißvoll geschlossenen Hause aus, in dem er seine Mutter aufgesucht hatte, aufmerksam die Stimmung der Massen zu beobachten. Während der seit seinem Eintreffen in St. Charles verflossenen sechs Wochen war auch der Abbe Joann wiederholt mitten in der Nacht erschienen, um ihn zu besuchen. Durch seinen Bruder blieb er über die politische Lage stets unterrichtet. Was er von den zu Gewaltmaßregeln drängenden Beschlüssen der englischen Kammern hoffte, das heißt, die Aufhebung der Verfassung von 1791 und, daran anschließend, die Auflösung oder Vertagung der canadischen Volksvertretung, bestand bisher nur im Projecte.

In seinem Eifer war Johann wohl schon zwanzigmal nahe daran, das geschlossene Haus zu verlassen, um mit offenem Visir durch die Grafschaft zu ziehen und die Patrioten aufzurufen, in der Hoffnung, daß die Einwohnerschaft der Städte und des platten Landes sich auf seine Stimme erheben werde, daß Alle den besten Gebrauch von den Waffen machen würden, mit denen er bei Gelegenheit der letzten Fischzugsfahrt auf dem St. Lorenzo die reformistischen Sammelpunkte hatte versehen können. Wurden die Königstreuen gleich zu Anfang durch eine große Uebermacht erdrückt, so blieb, seiner Ansicht nach, der Regierung keine andere Wahl als sich zu unterwerfen. Der Abbe Joann hatte ihm aber von einem solchen Versuch abgeredet, indem er ihm nachwies, daß ein anfänglicher Fehlschlag verderblich werden und voraussichtlich die auf die Zukunft gesetzten Hoffnungen gänzlich zu Schanden machen müsse. In der That waren die rings um Montreal vereinigten Truppen bereit, sich sofort nach jedem beliebigen Punkte der angrenzenden Grafschaften, wo die Empörung nur ausbrechen mochte, zu begeben.

Es galt also mit äußerster Vorsicht zu handeln und es erschien besser, zu warten, bis die allgemeine Entrüstung durch die tyrannischen Maßnahmen des Parlaments und durch die Quälereien der Kronbeamten den höchsten Gipfel erreicht hätte. Daher kamen jene Verzögerungen, welche sich unabsehbar zum größten Leidwesen der Söhne der Freiheit verlängerten.

Als Johann von Chipogan entfloh, rechnete er darauf, daß der Monat October nicht vergehen werde, ohne daß es zu einem allgemeinen Aufstand in ganz Canada käme.

Auch am 23. October deutete noch nichts darauf hin, daß diese Erhebung nahe bevorstehe, als die von Johann vorhergesehene Gelegenheit es zu einer ersten Kundgebung kommen ließ.

Entsprechend dem Berichte der drei neuerdings von der englischen Regierung ernannten Commissäre hatte sich das Haus der Lords und das der Gemeinen beeilt, folgende Vorschläge anzunehmen: Verwendung der Colonialeinkünfte ohne weitere Vollmacht seitens der canadischen Volksvertretung, Versetzung der hervorragendsten reformistischen Abgeordneten in Anklagezustand, Abänderung der Verfassung dahin, daß der französische Wähler einem doppelt so hohen Census wie der englische unterliege, und endlich Unverantwortlichkeit der Minister gegen die Kammer.

Diese ungerechten und gewaltthätigen Maßregeln erregten das ganze Land; die ganze franco-canadische Race fühlte sich in ihren patriotischen Empfindungen aufs tiefste verletzt. Das war mehr als die Bürger vertragen konnten, und die Kirchspiele von beiden Ufern des St. Lorenzo traten zu Meetings zusammen.

Am 15. September findet in Laprairie eine Versammlung statt, welcher auch ein Abgesandter Frankreichs, der von seiner Regierung Verhaltungsbefehle gegenüber dieser Angelegenheit empfangen hatte, und außerdem der Geschäftsträger der Vereinigten Staaten in Quebec beiwohnte.

In St. Scholastique, in St. Ours und vor Allem in den Grafschaften Unter-Canadas verlangt man die sofortige Losreißung von Großbritannien, fordert die Reformer auf, von Worten zu Thaten überzugehen, und entscheidet man sich dafür, die Hilfe Amerikas anzurufen.

Eine Kasse wird gegründet, um die geringfügigsten wie die größten Zuwendungen zur Durchführung der nationalen Sache zu sammeln.

Verschiedene Abtheilungen ziehen mit fliegendem Banner umher, auf dem sich mit hellem Jubel begrüßte Inschriften, wie:

»Flieht Ihr Tyrannen! Das Volk ist aufgestanden!«

»Ein Bund der Völker - der Schrecken der Großen!«

»Lieber ein baldiger Kampf, als die Unterdrückung durch eine corrumpirte Staatsgewalt!« - befinden.

Eine schwarze Fahne mit Todtenkopf und gekreuzten Gebeinen darunter enthielt die Namen der verabscheuten Gouverneure Craig, Dalhousie, Aylmer und Gosford. Endlich zeigt ein weißes Banner zu Ehren Frankreichs auf der einen Seite den von Sternen umgebenen amerikanischen, auf der anderen den canadischen Adler mit dem Ahornzweige im Schnabel und mit den Worten:

»Unsere Zukunft! Frei wie die Himmelsluft!«

Man erkennt hieraus, bis zu welchem Grade die Geister schon erhitzt waren. England kann die Befürchtung hegen, daß die Colonie mit einem Schlage das Band zerreißt, das sie mit ihm verbindet. Die Vertreter seiner Autorität in Canada ergreifen die umfassendsten Maßregeln in Voraussicht eines erbitterten Kampfes, versteifen sich aber darauf, da nur die Schliche einer Fraction zu erkennen, wo es sich um die heiligsten nationalen Empfindungen handelt.

Am 23. October findet eine Versammlung in St. Charles statt, in demselben Flecken, in dem Johann ohne Namen sich zu seiner Mutter geflüchtet und welcher der Schauplatz von beklagenswerthen Ereignissen werden sollte. Die sechs Grafschaften Richelieu, St. Hyazinthe, Rouville, Chambly, Verchere und Acadien haben hierzu ihre Vertreter geschickt. Dreizehn Abgesandte nehmen bei dieser Gelegenheit das Wort, und unter ihnen Papineau, der gerade jenerzeit auf dem Gipfel seiner Popularität stand. Mehr als sechstausend Personen, Männer, Frauen und Kinder, strömen aus dem Umkreise von zehn Lieues zusammen und lagern sich auf einer großen, dem Doctor Duvert gehörigen Wiese rings um eine mit der Freiheitsmütze gekrönte Säule. Und um Jedermann zu zeigen, daß auch militärische Elemente mit den bürgerlichen gemeinschaftliche Sache machen, schwingt eine Compagnie Milizen ihre Waffen am Fuße jener Säule.

Nach anderen mehr Feuer und Flamme speienden Rednern hielt Papineau einen Vortrag, der vielleicht etwas zu gemäßigt erschien, da er anrieth, sich mit allen Maßnahmen auf gesetzlichem Boden zu halten. Der Doctor Nelson, als Vorsitzender der Versammlung, antwortete ihm auch unter wahnsinnigen Beifallsrufen mit den Worten: »daß die Zeit herangekommen sei, die Löffel einzuschmelzen, um Kugeln daraus zu gießen.« Das bekräftigte Doctor Cöte, der Vertreter von Acadien, noch mit den entschlossenen und aufreizenden Worten:

»Die Zeit der Verhandlungen ist vorüber! Jetzt gilt es unsere Feinde mit Blei zu begrüßen!«

Dreizehn Vorschläge gelangen zur Annahme, während die Hurrahs des Volkes sich mit den Gewehrsalven der Miliz vermischen.

Diese Vorschläge, welche O. David in seiner Schrift »Die Patrioten« wiedergibt, enthalten zuerst einen Hinweis auf die unveräußerlichen Menschenrechte, erläutern dann das Recht und die Nothwendigkeit, sich gegen eine tyrannische Regierung aufzulehnen, suchen die Soldaten der englischen Armee zur Fahnenflucht zu verleiten, ermuntern das Volk, den Behörden und den von der Regierung ernannten Milizofficieren den Gehorsam zu verweigern und endlich sich gleich den Söhnen der Freiheit zu organisiren.

Zuletzt bewegen sich Papineau und seine Gefährten im feierlichen Aufzuge an der symbolischen Säule vorüber, während durch einen Chor junger Leute mit lauter Stimme ein Hymnus gefangen wird.

Jetzt schien es, als ob die Begeisterung den höchsten Grad erreicht hätte, und doch sollte sie sich noch weiter steigern, als nach einigen Minuten größerer Ruhe eine neue Persönlichkeit auf den Schauplatz trat. Es war das ein junger Mann mit leidenschaftlichen Blicken und energischen Gesichtszügen. Er erklimmt den Sockel der Säule, und so die Tausende von Theilnehmern an der Versammlung von St. Charles überragend, schwingt seine Hand die Fahne der canadischen Unabhängigkeit. Verschiedene erkennen ihn wieder. Vor ihnen aber hat der Advocat Grammont seinen Namen ausgerufen und unter dröhnenden Hurrahs wiederholt die Menge: »Johann ohne Namen! Johann ohne Namen!«

Johann kam eben aus dem geschlossenen Hause. Zum ersten Male seit dem letzten Waffentanze im Jahre 1834 zeigte er sich hier öffentlich; nachdem er dann seinen Namen dem der übrigen Politiker hinzugefügt, verschwand er wieder... Man hatte ihn jedoch einmal wieder gesehen, und die Wirkung davon war eine ungeheuere.

Die einzelnen Ereignisse, welche sich in St. Charles zugetragen hatten, verbreiteten sich mit Windeseile über ganz Canada. Man könnte sich nur schwer eine Vorstellung machen von der ermuthigenden Wirkung, die sie erzeugten. In den meisten Kirchspielen des Bezirks wurden nun weitere Versammlungen abgehalten. Vergebens suchte der Bischof von Montreal, Mgr. Lartigue, die Gemüther zu besänftigen, indem er sie zu evangelischer Mäßigung und zum Verharren auf dem Boden der Gesetze ermahnte. Der Ausbruch stand jetzt nahe bevor. Sowohl Herr de Vaudreuil in seinem Versteck als auch Clary in der Villa Montcalm waren durch zwei Billets, deren Unterschrift ihnen den Absender verrieth, davon benachrichtigt worden. Dieselbe Mittheilung hatten Thomas Harcher und seine Söhne in St. Albans, jenem amerikanischen Dorfe erhalten, in dem sie des Augenblickes harrten, die Grenze wieder zu überschreiten.

Zu dieser Jahreszeit hatte sich der Winter schon mit der dem amerikanischen Klima eigenthümlichen Schroffheit angemeldet. Hier bieten die endlosen Ebenen dem aus den Polargegenden herabbrausenden Sturme keine Hindernisse, und der nach Europa zu abweichende Golfstrom erwärmt sie nicht mit seinem segenspendenden Gewässer. Hier fehlte es also sozusagen an jedem Uebergang zwischen der Wärme des Sommers und der Kälte der Winterperiode. Fast ohne Unterlaß strömte der Regen herab, nur selten unterbrochen von einem flüchtigen, doch jeder Wärme beraubten Sonnenstrahl. Binnen wenigen Tagen hatten die bis zum äußersten Ende ihrer Zweige kahl gewordenen Bäume die Erde mit einer Unmenge von Blättern bedeckt, über welche sich im ganzen Gebiete Canadas bald darauf eine dichte Schneeschicht ablagern sollte. Doch weder die Wucht des Sturmes, noch die kalte Temperatur des Klimas sollte die Patrioten abhalten, sich auf das erste Signal zu erheben.

Unter solchen Verhältnissen kam es - am 6. November -zwischen den beiden Parteien in Montreal zu einem ersten Zusammenstoße.

Am ersten Montage jeden Monats versammelten sich die Söhne der Freiheit in den größeren Städten zu einer öffentlichen Kundgebung. An genanntem Tage beabsichtigten die Patrioten von Montreal dieser Demonstration eine weiter hinausreichende Wirkung zu verleihen. Es wurde deshalb ein Zusammentreffen im Herzen der Stadt selbst, zwischen den Mauern eines an die Straße St. Jacques stoßenden Hofes, verabredet.

Auf diese Nachricht hin ließen die Mitglieder des Doric-Clubs einen Anschlag des Inhalts verbreiten, daß die Stunde gekommen sei, »die Rebellion in ihrem Keime zu ersticken«. Die Loyalisten, die Constitutionellen und die Bureaukraten wurden veranlaßt, sich auf dem Place-d'Armes einzufinden.

Die Volksversammlung wurde am bestimmten Tage und Orte abgehalten. Papineau erntete hier wieder den gewohnten stürmischen Beifall; auch andere Redner, wie Brown, Guimet, Eduard Rodier riefen begeisterte Zustimmung hervor.

Plötzlich fiel ein Hagel von Steinen in den Hof, die Loyalisten waren es, welche die Patrioten angriffen. Nur mit Stöcken bewaffnet, bildeten letztere vier Colonnen, stürmten nach außen, warfen sich auf die Mitglieder des Doric-Club und drängten diese im ersten Anlauf bis nach dem Place-d'Armes zurück. Jetzt knallten von verschiedenen Seiten auch Pistolenschüsse. Brown erhielt einen gefährlichen Schuß, der ihn zu Boden streckte, und einem der entschiedensten Reformer, dem Chevalier de Lorimier, wurde der Schenkel durch eine Kugel zerschmettert.

Obwohl sie zurückgeschlagen worden waren, hielten sich die Mitglieder des Doric-Club noch nicht für besiegt. Unter dem Beifall der Bureaukraten und dem Bewußtsein, daß ihnen die Rothröcke bald zu Hilfe kommen mußten, zerstreuten sie sich in die Straßen von Montreal, warfen mit Steinen die Fenster von Papineau's Haus ein und zerstörten die Druckpressen des »Vindicator«, eines liberalen Blattes, welches schon seit längerer Zeit für die franco-canadische Sache in die Schranken trat.

In Folge dieses Handgemenges wurden die Patrioten von den Behörden in schlimmster Weise gemaßregelt. Auf Anordnung des Lord Gosford ergehende Haftbefehle zwangen die bedeutendsten Führer, vorläufig zu flüchten. Uebrigens öffneten sich diesen alle Häuser, um ihnen Obdach zu bieten. Herr de Vaudreuil, der gleichfalls mit seiner Person eingetreten war, mußte den geheimen Zufluchtsort wieder aufsuchen, wo ihn die Polizei seit den Ereignissen von Chipogan vergeblich zu entdecken bemüht war.

Dasselbe war mit Johann ohne Namen der Fall, obwohl dieser bald darauf unter folgenden Umständen wieder erschien.

Nach dem blutigen Zusammentreffen am 6. November waren einige hervorragende Bürger in der Umgebung von Montreal inhaftirt worden, unter Anderen ein gewisser Denaray und der Doctor Davignon von St. Jean d'Iberville, und diese beiden wollte eine Cavallerieabtheilung im Laufe des 22. November nach der Stadt bringen.

Einer der kühnsten Parteigänger der nationalen Sache, der Vertreter der Grafschaft Chambly, L. M. Viger - »der schöne Viger«, wie man ihn in den Reihen der Aufständischen nannte - erhielt von der Verhaftung seiner beiden Freunde Nachricht.

Der Mann, der ihm diese überbrachte, war ihm bisher unbekannt.

»Wer sind Sie? fragte er.

- Darauf kommt ja nichts an, antwortete jener Mann. Die in einem Wagen gefesselten Gefangenen werden unverzüglich durch das Kirchspiel Longueuil kommen, und sie müssen befreit werden!

- Sie sind allein?

- Meine Freunde erwarten mich.

- Wo werden diese uns treffen?

- Unterwegs.

- Ich folge Ihnen.«

Das geschah denn auch. An Hilfsmannschaften fehlte es weder Viger noch seinem Begleiter. Sie gelangten nach dem Eingange von Longueuil, gefolgt von einer Anzahl von Patrioten, die sie noch vor dem Dorfe zurückließen. Es mußte jedoch etwas von ihrem Vorhaben verlautet haben, denn schon kam eine Abtheilung königlicher Truppen herbei, um den den Wagen begleitenden Reitern Unterstützung zu gewähren. Ihr Anführer ließ den Einwohnern ansagen, daß das Dorf, im Fall sie sich Viger anschlössen, in Flammen aufgehen würde.

»Hier ist nichts zu machen, sagte der Unbekannte, als er von diesen Maßnahmen hörte. Kommen Sie.

- Wohin denn? fragte Viger.

- Folgen Sie mir nur bis zwei Meilen von Longueuil, antwortete er. Wir wollen den Bureaukraten keinen Anlaß geben, hier Wiedervergeltung zu üben. Diese wird so wie so früher oder später nicht ausbleiben.

- Brechen wir auf!« sagte Viger.

Gefolgt von ihren Leuten, schlugen Beide wieder den Weg über die Felder ein.

Sie gelangten bis zur Farm Trudeau und nahmen in einem benachbarten Felde Stellung. Es war hohe Zeit. In der Entfernung einer Viertelmeile erhob sich eine Staubwolke, welche die Annäherung der Gefangenen und ihrer Bedeckungsmannschaft ankündigte.

Der Wagen kam an. Sofort begab sich Viger zu dem Anführer der Abtheilung:

»Halt, sagte er, und liefert uns im Namen des Volkes die Gefangenen aus!

- Achtung, rief der Officier, sich nach seinen Leuten umkehrend. Macht schnell!.

- Halt!« wiederholte der Unbekannte.

Plötzlich stürmte ein Mann heran, um sich dieses zu bemächtigen. Es war ein Agent des Hauses Rip & Cie. - Einer von Denen, die in der Farm von Chipogan mit gewesen waren.

»Johann ohne Namen! rief er, sobald er des jungen Proscribirten ansichtig wurde.

- Johann ohne Namen!« wiederholte Viger, der seinem Begleiter zu Hilfe eilte.

Plötzlich ertönten in unaufhaltsamem Ausbruche begeisterte Rufe.

In dem Augenblicke, wo er seinen Leuten Befehl gegeben, sich Johanns ohne Namen zu bemächtigen, wurde der Officier von einem kräftigen Canadier zurückgestoßen. Letzterer war quer über das Feld herangestürmt, während die Anderen, die noch hinter der Hecke bereit standen, auf Viger's Befehle warteten - Befehle, welche dieser mit lautschallender Stimme sehr vielfach ertheilte, als könne er wenigstens über hundert Kämpfer verfügen.

Während dessen war Johann ohne Namen an den Wagen herangekommen und ihn umgaben verschiedene seiner Anhänger, welche ebenso entschlossen waren, ihn zu vertheidigen, wie die Herren Denaray und Davignon zu befreien.

Nachdem er sich wieder erhoben, commandirte der Officier Feuer. Sechs bis sieben Flinten krachten. Viger wurde von zwei Kugeln getroffen, zum Glück nicht tödtlich, da eine derselben ihm nur das Bein gestreift und die andere ihm die Spitze des kleinen Fingers weggerissen hatte. Er antwortete mit einem Pistolenschuß und traf den Anführer der Begleitmannschaft ins Knie.

Jetzt scheuten auch die Pferde der Mannschaft, von denen einige durch Schüsse verletzt waren, und rasten davon. Die Königlichen, welche glaubten, es vielleicht mit tausend Mann zu thun zu haben, zerstreuten sich über das Land. Der Wagen war befreit, und Johann ohne Namen und Viger sprangen nach dessen Thür, um diese aufzureißen. Die Gefangenen wurden erlöst und im Triumph nach dem Dorfe Boucherville geleitet.

Als Viger und die Anderen aber nach dem Scharmützel Johann ohne Namen suchten, war er nicht mehr da. Gewiß hatte er gehofft, bis zum Ausgang der Sache sein Incognito zu bewahren, und gewiß hätte ihn nichts vermuthen lassen, daß er sich hier einem Agenten Rip's gegenüber befand und seine Person den anderen Betheiligten bekannt werden würde. Sobald der kurze Kampf vorbei war, hatte er sich denn auch beeilt, wieder zu verschwinden, ohne daß Jemand gesehen hatte, nach welcher Seite er sich wandte. Jedenfalls rechneten aber die Patrioten einer wie der andere fest darauf, ihn zur Stunde des beginnenden Kampfes, der über die canadische Unabhängigkeit entscheiden sollte, wieder erscheinen zu sehen.

Zweites Capitel St. Denis und St. Charles

Der Tag zur Ergreifung der Waffen sollte nicht mehr fern sein. Der Schauplatz, an dem der Kampf entbrennen sollte, waren offenbar diejenigen Grafschaften, welche an die Grafschaft Montreal grenzten und in denen die Aufregung schnell eine für die Regierung bedenkliche Höhe erreichte, unter anderen die Grafschaft Vercheres und St. Hyazinthe. Man bezeichnete dafür besonders zwei der reichsten, vom Laufe des Richelieu durchschnittenen und nur wenige Meilen von einander entfernten Kirchspiele - St. Denis, wo die Reformer ihre Kräfte zusammengezogen hatten, und St. Charles, wo Johann, der nach dem geschlossenen Hause zurückgekehrt war, bereit stand, das Signal zur Erhebung zu geben.

Der General-Gouverneur hatte alle durch die Nothwendigkeit gebotenen Maßregeln getroffen. Die Reformer konnten deshalb nicht mehr daran denken, ihn in seinem Palaste überrumpeln und die Autorität des Staates durch die des Volkes ersetzen zu können. Ja es war sogar zu befürchten, daß der erste Angriff von den Bureaukraten ausgehen werde. Die Gegner derselben hatten sich denn auch in leicht zu vertheidigende Stellungen zurückgezogen, wo sie sich unter günstigeren Bedingungen organisiren konnten. Ihr weiteres Streben erst ging dann dahin, von der Vertheidigung zum Angriff überzugehen.

Ein erster Sieg in der Grafschaft St. Hyazinthe errungen - das war die Erhebung der Uferbevölkerung von St. Lorenzo, d. h. die Vernichtung der anglosächsischen Tyrannei vom See Ontario bis zur Mündung des Stromes.

Lord Gosford wußte das recht wohl. Er verfügte nur über beschränkte Kräfte, welche von der Uebermacht erdrückt werden mußten, wenn der Aufstand wirklich ganz allgemein wurde. Es galt also jenen durch einen zweifachen Schlag in St. Denis und St. Charles gleich empfindlich zu treffen - was nach den Vorfällen von Longueuil versucht werden sollte.

Sir John Colborne, der Oberbefehlshaber, theilte die anglo-canadische Armee in zwei Colonnen.

An der Spitze der einen stand der Oberstlieutenant Whiterall, an der der anderen der Oberst Gore.

Nach eiligst vollendeten Vorbereitungen brach der Oberst Gore im Laufe des 22. November von Montreal auf. Seine aus fünf Compagnien Füselieren und einer Schwadron Reiterei bestehende Abtheilung besaß an Artillerie nur ein einziges Feldstück. Am Abend desselben Tages traf dieselbe noch in Sorel ein. Trotz des abscheulichsten Wetters und der fast ungangbaren Wege zögerte Gore nicht im Geringsten, in pechdunkler Nacht weiter hinauszuziehen.

Seine Absicht ging dahin, die Aufständischen in St. Charles vor die Klinge zu bekommen, nachdem er die von St. Denis zerstreut, und vor jedem eigentlichen Angriffe durch den Sherif-Deputirten, der ihn begleitete, regelrechte Verhaftungen vorzunehmen.

Der Oberst Gore hatte Sorel seit einigen Stunden verlassen, als der Lieutenant Weir vom 32. Regiment dahin kam, um ihm eine Depesche von Sir John Colborne zu übergeben. Die Depesche war dringender Natur, so daß der Lieutenant sich sofort aufmachte, einen Querweg einschlug und so eilig vorwärts drang, daß er in St. Denis vor den Truppen Gore's eintraf und so den Patrioten in die Hände fiel.

Der mit der Vertheidigung beauftragte Doctor Nelson fragte den jungen Officier aus und entlockte ihm auch wirklich das Geständniß, daß die Königlichen schon auf dem Marsche hierher seien, wo sie etwa am Morgen eintreffen mußten. Dann übergab er ihn der Obhut einiger Männer mit der Empfehlung, die einem Gefangenen gebührenden Rücksichten nicht aus den Augen zu setzen.

Nun wurden die letzten Vorbereitungen in größter Hast getroffen. Unter anderen Compagnien von Patrioten befand sich auch die, welche man allgemein als »Raketen« und als »Biber« bezeichnete, Mannschaften, welche sehr geschickt im Gebrauche der Waffen waren und die sich bei dieser Gelegenheit ganz außerordentlich bewährten. Unter dem Befehle des Doctor Nelson standen auch Papineau und einige Abgeordnete, der General-Commissär Philipp Pacaud, ferner die Herren de Vaudreuil, Vincent Hodge, Andre Farran, William Clerc und Sebastian Grammont. Auf ein Wort, das ihnen von Johann zukam, waren sie den Reformern zu Hilfe geeilt, wobei sie nur mit Mühe der Polizei in Montreal entgehen konnten.

Clary war gleichfalls zu ihrem Vater gekommen, den sie seit dem Weggange von Chipogan nicht wieder gesehen hatte. Nach Erlassung eines Haftbefehls gegen ihn gezwungen, jede Verbindung mit der Villa Montcalm abzubrechen, war Herr de Vaudreuil höchst unruhig, seine Tochter daselbst allein und Gefahren aller Art ausgesetzt zu wissen. Als er sich dann entschlossen, nach St. Denis zu gehen, schlug er ihr vor, ihn dort zu treffen. Clary zauderte nicht, dem Rufe zu folgen, da sie an dem endlichen Siege gar nicht zweifelte, wenn Johann die Führung der Patrioten übernahm. Herr und Fräulein de Vaudreuil waren also vereinigt in dem Flecken, wo das Haus eines Freundes, des Richters Froment, ihnen Unterkunft gewährte.

Inzwischen wurde eine Maßnahme beschlossen, der sich Papineau sehr gegen seinen Wunsch unterwerfen mußte. Der Doctor Nelson und einige Andere, auf deren Anrathen dieselbe erfolgte, stellten dem kampfesmuthigen Abgeordneten vor, daß sein Platz auf dem Schlachtfelde nicht, dagegen sein Leben zu kostbar sei, um es ohne Nothwendigkeit schweren Gefahren auszusetzen. Er sah sich also gezwungen, St. Denis zu verlassen, um sich an einen sicheren Ort zu begeben, wo die Agenten Sir Gilbert Argall's ihn nicht entdecken konnten.

Die ganze Nacht wurde angewendet, Kugeln zu gießen und Patronen zu verfertigen. Der Sohn des Doctor Nelson und seine Genossen, Herr de Vaudreuil und dessen Freunde, gingen, ohne einen Augenblick zu verlieren, an die Arbeit. Leider ließ die Bewaffnung recht viel zu wünschen übrig. Die wenig zahlreichen Gewehre bestanden aus leicht einmal versagenden Steinschloßflinten, welche kaum weiter als hundert Schritte trugen.

Während seiner Fahrten auf dem St. Lorenzo hatte Johann, wie wir erzählten, Munition und Waffen mehrfach vertheilt; da aber jedes Comite in Erwartung eines allgemeinen Aufstandes davon erhalten hatte, konnten diese' nicht auf einem bestimmten Punkte concentrirt sein, was doch in St. Denis und St. Charles, wo es offenbar zum ersten Zusammenstoß kommen mußte, jetzt so nöthig erschien.

Inzwischen marschirte Oberst Gore durch die dunkle kalte Nacht weiter. Kurz vor der Ankunft in St. Denis hörte er von zwei in seine Hände gefallenen französischen Canadiern, daß die Aufständischen ihm den Durchzug durch das Kirchspiel verwehren und auf das äußerste kämpfen würden.

Ohne seinen Leuten die geringste Rast zu gönnen, feuerte Oberst Gore diese vielmehr noch weiter an, mit der Eröffnung, daß sie hier keinen Pardon zu erwarten hätten. Hierauf bildete er aus denselben drei Abtheilungen, postirte die eine in ein kleines Gehölz, das den Flecken im Osten deckte, und die andere längs des Flusses, während die dritte, die einzige Kanone mit sich führend, die Hauptstraße weiter hinabzog.

Um sechs Uhr Morgens stiegen der Doctor Nelson, die Herren Vincent Hodge und de Vaudreuil zu Pferde, um eine Recognoscirung auf dem Wege von St. Ours vorzunehmen. Die Dunkelheit war noch so stark, daß alle Drei beinahe den Vortruppen der Königlichen in die Hände gefallen wären. Sofort umkehrend, eilten sie nach St. Denis zurück. Nun wurde der Befehl ertheilt, die Brücke abzubrechen und mit allen Kirchenglocken zu läuten. Binnen wenigen Minuten strömten die Patrioten in dem Lager zusammen.

Dieselben zählten zwischen sieben- und achthundert Mann, von denen nur eine geringe Anzahl mit Gewehren bewaffnet war, während die Anderen sich mit Sensen, Heugabeln und Aexten ausgerüstet hatten. Alle aber beseelte der feste Vorsatz, sich nöthigenfalls tödten zu lassen, aber die Soldaten des Oberst Gore zurückzuschlagen.

Doctor Nelson vertheilte diejenigen seiner Leute, welche in der Lage waren, ein Feuergefecht zu unterhalten, so, daß davon sechzig im zweiten Stockwerk eines steinernen, an der Landstraße stehenden Gebäudes Platz nahmen, unter ihnen auch Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge; etwa fünfundzwanzig Schritte davon und hinter der Mauer einer dem Doctor gehörigen Brennerei sollten sich gegen dreißig, unter ihnen William Clerc und Andre Farran, aufstellen; innerhalb eines zur Brennerei gehörigen Schuppens fanden noch zehn Mann Platz, unter denselben auch der Abgeordnete Grammont. Die Anderen, welche sich nur mit blanker Waffe schlagen konnten, hatten sich vorläufig hinter den Mauern der Kirche zu halten, um im geeigneten Moment auf die Angreifer einzustürmen.

Zu dieser Zeit - gegen neuneinhalb Uhr Vormittags -ereignete sich ein beklagenswerther Zwischenfall, der später -auch durch eine deshalb angestellte Criminaluntersuchung -niemals vollständig aufgeklärt wurde.

Der Lieutenant Weir, der sich unter Bedeckung auf der Landstraße befand, wollte, als er den Vortrab des Oberst Gore erblickte, entfliehen, um wieder zu diesem zu gelangen. Er that aber einen falschen Tritt, und ehe er Zeit gewann wieder aufzuspringen, war er durch Säbelhiebe getödtet.

Jetzt krachten die ersten Schüsse. Eine auf das steinerne Gebäude geschleuderte Kanonenkugel zerfleischte zwei im oberen Stockwerke befindliche Canadier, während ein dritter, der an einem Fenster stand, tödtlich verletzt wurde. Während einiger Minuten wurden nun von beiden Seiten zahlreiche Flintenschüsse gewechselt. Die ein bequemes Ziel bietenden Soldaten bezahlten sehr theuer die verwerfliche Unklugheit, mit der sie sich dem Feuer dieser »Bauern«, wie ihr Führer sagte, aussetzten. Sie wurden von den Vertheidigern des steinernen Hauses decimirt, und drei Kanoniere fielen mit der Lunte in der Hand neben dem von ihnen bedienten Geschütze. Trotzdem legten die Geschosse desselben bald eine Bresche, und das zweite Stockwerk bot damit keine genügende Sicherheit mehr.

»Nach dem Erdgeschoß! rief der Doctor Nelson.

- Ja, antwortete Vincent Hodge, und von da werden wir auf die Rothröcke desto besser schießen können!«

Alle eilten hinunter und das Gewehrfeuer begann mit erneuter Heftigkeit. Die Reformer bewiesen eine außerordentliche Tapferkeit; ja, einige von ihnen stürmten sogar auf die Landstraße hinaus, wo sie sich ohne Deckung der schlimmsten Gefahr aussetzten. Der Doctor sandte seinen Adjutanten O. Perrault von Montreal ihnen nach, um ihnen den Befehl zum Zurückgehen zu überbringen. Von zwei Kugeln durchbohrt, stürzte Perrault todt zu Boden.

Während einer Stunde kreuzten sich nun schon die Gewehrschüsse - im Ganzen mehr zum Nachtheil der Angreifer, obwohl diese sich hinter dickem Gebüsch und Holzhausen verbargen.

Da befahl der Oberst Gore im Augenblicke darauf, als die Munition schon fast zu Ende ging, dem Capitän Markman, die Stellung der Patrioten zu umgehen.

Dieser Officier sachte dem Befehl nachzukommen, verlor aber dabei den größten Theil seiner Leute. Er selbst fiel, von einer Kugel getroffen, vom Pferde und mußte von seinen Soldaten weggetragen werden.

Das Gefecht nahm für die Königlichen eine üble Wendung. Da drangen von der Landstraße laute Rufe her, und sie sahen jetzt ein, daß sie selbst in die Lage kamen, umzingelt zu werden.

Ein Mann war dort aufgetaucht - derselbe, um den die französischen Canadier die Gewohnheit hatten, sich wie um eine Fahne zu schaaren.

»Johann ohne Namen! Johann ohne Namen!« riefen sie, die Waffen schwingend.

Wirklich war es Johann, an der Spitze von etwa hundert Aufständischen, welche von Antoin, St. Ours und von Contrecoeur gekommen waren. Unter dem Pfeifen der Kugeln und unter dem Sausen der Kanonenkugeln, welche die Fläche des Flusses bestrichen, hatten sie den Richelieu überschritten, wobei eine der letzteren das Ruder im Hintertheile, an dem Johann stand, zerschmetterte.

»Vorwärts, Raketen und Biber!« rief er, seine Begleiter anfeuernd.

Beim Schall seiner Stimme wälzten sich die Königlichen heran. Die, welche sich noch in dem belagerten Hause befanden, machten, ermuthigt durch jene unerwartete Verstärkung, einen Ausfall. Der Oberst Gore mußte zum Rückzuge nach Sorel blasen lassen und ließ mehrere Gefangene und eine Kanone in den Händen der Sieger. Er zählte neben dreißig Todten ebensoviel Verwundete, gegen zwölf Todte und vier Verwundete auf Seiten der Reformer.

So verlief das Treffen bei St. Denis. Binnen wenigen Stunden verbreitete sich die Nachricht von diesem Siege durch die Nachbarkirchspiele von Richelieu und selbst bis zu den Grafschaften am Ufer des St. Lorenzo.

Es war ein ermuthigender Anfang für die Parteigänger der nationalen Sache, freilich nur ein Anfang. Da diese noch die Befehle ihrer Führer erwarteten, rief ihnen Johann, um ihnen die Aussicht auf einen neuen Sieg zu eröffnen, die Worte zu:

»Patrioten, auf nach St. Charles!«

Wir erwähnten schon oben, daß dieser Flecken von der Truppenabtheilung Whiterall's bedroht war.

Kaum eine Stunde später hatten Herr de Vaudreuil und Johann nach dem Abschiede von Clary, welche von dem schönen Erfolge des Tages unterrichtet worden war, sich ihren Genossen auf dem Marsche nach St. Charles wieder angeschlossen.

Hier sollte sich zwei Tage später das Schicksal des Aufstandes von 1837 entscheiden.

In Folge des Zusammenströmens der Reformer war dieser Flecken zum Hauptschauplatze der Empörung geworden, und ebendahin begab sich der Oberstlieutenant Whiterall mit verhältnißmäßig starken Streitkräften.

Brown, Desrivieres, Gauvin und Andere hatten die Vertheidigung nach Kräften organisirt. Sie konnten auf diese kampfesfreudige Bevölkerung rechnen, die sich schon durch Vertreibung eines Edelmanns hervorgethan hatte, welchen man einer Begünstigung der Anglo-Canadier verdächtigte. Rings um das in eine Festung verwandelte Haus dieses Edelmanns errichtete Brown ein Lager, in dem sich die ihm zur Verfügung stehenden Streitkräfte sammeln sollten.

Da St. Denis und St. Charles kaum sechs (englische) Meilen von einander entfernt liegen, hörte man im Laufe des 23. den Kanonendonner von dem einen Flecken bis zum anderen. Vor Einbruch der Nacht erfuhren es noch die Bewohner von St. Charles, daß die Königlichen zum Rückzuge nach Sorel gezwungen worden seien. Der moralische Eindruck dieses ersten Sieges war ein sehr tiefer. Aus allen Häusern, deren Thüren weit offen standen, strömten die Bewohner in überquellender patriotischer Freude hervor.

Nur ein einziges öffnete sich nicht, das geschlossene Haus an der Straßenbiegung, das durch seine Lage von dem Kampfplatze etwas entfernt war. Bridget's Haus drohte also etwas weniger Gefahr als den benachbarten Gebäuden, für den Fall, daß das Lager von den königlichen Truppen angegriffen und eingenommen wurde.

Allein zurückgeblieben, wartete Bridget, bereit ihre Söhne aufzunehmen, wenn die Umstände sie nöthigten, bei ihr Schutz zu suchen. Der Abbe Joann besuchte aber damals die Kirchspiele Ober-Canadas und predigte den Aufruhr, während Johann, der sich jetzt nicht länger verborgen hielt, an der Spitze der Patrioten erschienen war. Sein Name hallte jetzt in allen Grafschaften am St. Lorenzo wieder. So wenig Verbindung das geschlossene Haus auch mit der Außenwelt hatte, war doch dieser Name und mit ihm die Nachricht von dem Siege von St. Denis dahin gelangt, mit dem jener so rühmlich verknüpft war.

Bridget fragte sich, ob Johann nicht auch nach dem Lager bei St. Charles kommen und seiner Mutter einen Besuch abstatten werde; ob er nicht die Thür ihrer Wohnung überschreiten werde, um ihr zu sagen, was er noch zu thun gedenke, und vielleicht um sie zum letzten Male zu umarmen. Das hing natürlich von der Fortentwickelung des Aufstandes ab. Bridget hielt sich deshalb zu jeder Stunde des Tages wie der Nacht bereit, ihren Sohn im geschlossenen Hause aufzunehmen.

Bei der Nachricht von der Niederlage vor St. Denis hatte Lord Gosford, in Befürchtung, daß die Sieger die Patrioten von St. Charles verstärken könnten, Befehl ertheilt, die Colonne Whiterall's zurückzuziehen.

Es war schon zu spät. Die durch Sir John Colborne von Montreal abgesendeten Curiere wurden unterwegs aufgehalten, und statt umzukehren, marschirte die Truppenabtheilung auf St. Charles weiter.

Von jetzt ab lag es in keines Menschen Macht, den Zusammenstoß zwischen den Aufständischen dieses Fleckens und den Soldaten der regulären Armee zu verhindern.

Noch am 24. war auch Johann erschienen, um zu den Vertheidigern des Lagers von St. Charles zu stoßen.

Mit ihm eilten die Herren de Vaudreuil, Andre Farran, William Clerc, Vincent Hodge und Sebastian Gramont gleichzeitig herbei. Zwei Tage vorher hatte der Farmer Harcher mit seinen fünf Söhnen das Dorf St. Albans verlassen können. Sofort überschritten sie die amerikanische Grenze und begaben sich nach St. Charles, entschlossen, ihrer Pflicht bis zum Aeußersten genug zu thun.

Uebrigens zweifelte Niemand mehr an dem entscheidenden Erfolg des Aufstandes, weder die politischen Anführer der Oppositionspartei, noch Herr de Vaudreuil und seine Freunde, weder Thomas Harcher, Pierre, Remy, Michel, Tony und Jacques, seine tapfern Söhne, noch einer der Bewohner des Fleckens, welche besonders stolz waren bei dem Gedanken, daß dieser letzte gegen die angelsächsische Tyrannei geführte Schlag von ihnen ausgehen sollte.

Vor Eröffnung des Angriffs auf St. Charles hatte der Oberstlieutenant Whiterall an Brown und dessen Gefährten das Angebot ergehen lassen, daß ihnen nichts geschehen sollte, wenn sie sich unterwerfen wollten.

Dieser Vorschlag wurde von den Waffengefährten Brown's einstimmig zurückgewiesen. Wenn die Königlichen mit demselben hervortraten, so geschah das ihrer Meinung nach nur, weil sie sich nicht in der Lage befanden, das Lager mit Gewalt zu nehmen. Nein, man wollte sie auf keinen Fall herein lassen, um dort vielleicht blutige Vergeltung zu üben; sobald die Colonne Whiterall's näher kam, sollte sie zurückgeschlagen und versprengt werden. Das war eine neue Niederlage, welche den Königlichen drohte - und dieses Mal eine vollständige Niederlage, welche den endlichen Sieg schon sicherstellen mußte.

So dachte man in den Reihen der Patrioten.

Man würde sich übrigens sehr täuschen mit der Annahme, daß die Vertheidiger des Lagers sehr zahlreich gewesen wären - nur eine handvoll Leute, dafür aber die besten der Partei. Führer und eigentliche Kämpfer berechnet waren ihrer höchstens zweihundert, bewaffnet mit Sensen, Aexten, einfachen Knütteln und Steinschloßgewehren; während sie der königlichen Artillerie nur zwei - noch dazu kaum dienstfähige Kanonen entgegenzustellen hatten.

Während die Insurgenten sich nun vorbereiteten, die Colonne Whiterall's zu empfangen, marschirte diese trotz der Hindernisse, welche der Winter dieser Gegend ihr in den Weg legte, rasch auf ihr Ziel los. Das Wetter war kalt, der Erdboden steinhart und trocken. Die Mannschaften hielten einen scharfen Schritt ein und die beiden Feuerschlünde rollten über den harten Weg hin, ohne durch Schneehaufen oder aus Wegaushöhlungen geschleppt werden zu müssen.

Die Reformer erwarteten die Truppen. Begeistert durch ihren letzten Sieg und elektrisirt durch die Anwesenheit ihrer Führer, wie Brown, Desrivieres, Gauvin, Vincent Hodge, de Vaudreuil, Amiot, A. Papineau, Marchessault und Maynard, vorzüglich aber durch die Johanns ohne Namen, hatten sie, wie wir wissen, den Vorschlag des Oberstlieutenant Whiterall ohneweiters zurückgewiesen. Seine Aufforderung, sich zu ergeben und die Waffen zu strecken, waren sie bereit mit Flintenschüssen, mit Sensenhieben und Axtschlägen zu beantworten.

Das an dem einen Ende des Fleckens errichtete Lager bot jedoch einige Nachtheile, zu deren Beseitigung es jetzt an der nöthigen Zeit fehlte. War es auch auf der einen Seite durch den Fluß gedeckt und auf der anderen durch ein Baumdickicht, welches das Haus Debartzeh's umgab, vertheidigt, so wurde es von der Rückseite doch von einem Hügel beherrscht.

Die Insurgenten nun waren an Zahl zu schwach, um diesen Hügel besetzen zu können. Gelang es den Königlichen, auf demselben Stellung zu nehmen, so gab es gegen deren Feuer keinen anderen Schutz mehr als das Debartzeh'sche Haus, welches aus Vorsorge schon mit Schießscharten versehen worden war. Immerhin blieb es sehr fraglich, ob dasselbe einem Sturme würde widerstehen können, und ob Brown und seine Gefährten die Macht besitzen würden, den Angreifern darin hinreichenden Widerstand entgegenzusetzen.

Etwa um zwei Uhr Nachmittags ertönte aus der Ferne ein verworrenes Geschrei, und bald bemerkte man in derselben Richtung ein auffallendes Getümmel. Das rührte von einer Menge Frauen, Kinder und alter Leute her, welche quer über das Feld nach St. Charles zu entflohen.

Es waren Landleute, die hier Schutz suchten. In weiterer Ferne stiegen schwärzliche Rauchsäulen von den längs der Straße in Brand gesetzten Häusern auf - so weit man sehen konnte, brannten die Farmen. Inmitten von Ruinen und grausamen Metzeleien, welche ihren Weg bezeichneten, drangen Whiterall's Colonnen vor.

Brown gelang es, diejenigen der Flüchtlinge, welche noch kampffähig schienen, zum Stehen zu bringen, und nach Ueberlassung des Oberbefehls an Marchessault jagte er jetzt selbst auf die Landstraße hinaus, um die Schwachen und Hilflosen zu holen. Nachdem Marchessault alle Maßregeln zur Verlängerung des Widerstandes getroffen, ließ er seine Mannschaft unter dem Schutze der Hecken, welche das Lager umschlossen, antreten.

»Hier, Ihr Leute, sagte er, hier wird sich das Schicksal des Landes entscheiden! Hier müssen wir dasselbe vertheidigen!...

- Bis zum Tode!« antwortete Johann ohne Namen.

In diesem Augenblicke krachten die ersten Schüsse in der Nähe des Lagers, und jeder sah wohl ein, daß die königlichen Truppen von Beginn des Gefechts an die Vortheile auf ihrer Seite hatten.

Sich dem Feuer der Insurgenten, welche längs der Hecken standen und die ihm schon einige Leute getödtet hatten, auszusetzen, das wäre seitens des Oberstlieutenants Whiterall ein kaum zu verzeihender Fehler gewesen. Mit seinen aus drei-bis vierhundert Fußtruppen und Reitern bestehenden Streitkräften, welche noch zwei Feldgeschütze unterstützten, war es ihm ja ein Leichtes, die Vertheidiger des Lagers von St. Charles, wenn er eine das letztere beherrschende Stellung einnahm, zu vernichten. So ertheilte er denn auch Befehl, die Verschläge zu umgehen und den im Rücken der feindlichen Stellung gelegenen Hügel zu besetzen.

Diese Bewegung vollzog sich ohne Schwierigkeiten; die beiden Kanonen wurden auf die Höhe geschleppt, nebeneinander aufgestellt und der Kampf begann nun mit einer auf beiden Seiten gleich großen Entschlossenheit. Das geschah Alles mit solcher Schnelligkeit, daß Brown, der noch dabei war, die sich über das Land zerstreuenden Flüchtlinge zu sammeln, nicht mehr ins Lager zurückkehren konnte und bis nach St. Denis verschlagen wurde.

Trotz ihrer nur sehr mangelhaften Deckung vertheidigten sich die Patrioten mit bewundernswerthem Muthe. Marchessault, Herr de Vaudreuil, Vincent Hodge, Clerc, Farran, Gramont, Thomas Harcher und seine Söhne, sowie Alle, welche mit Gewehren bewaffnet waren, erwiderten Schuß für Schuß das Feuer der Angreifer. Johann ohne Namen trug schon durch seine Anwesenheit allein dazu bei, ihren Muth zu erhöhen. Ihm fehlte hier aber eins, ein eigentliches Kampfesfeld für ein Handgemenge, um die Tapfersten mit sich fortzureißen und sich Mann an Mann auf den Feind zu stürzen. Bei diesem Kampfe auf größere Entfernung erlahmte seine Thatenlust.

Der Kampf dauerte nichtsdestoweniger an, so lange die Hecken noch einigermaßen Schutz gewährten. Wenn die Vertheidiger des Lagers mehr als einen Rothrock hingestreckt hatten, so blieben doch auch ihnen empfindliche Verluste nicht erspart. Von Kanonen- oder Flintenkugeln getroffen, waren ein Dutzend von ihnen gefallen und entweder todt oder doch kampfunfähig gemacht. Unter den ersteren befand sich Remy Harcher, der, von einer Kartätschenkugel mitten durch die Brust getroffen, in seinem Blute schwamm. Als seine Brüder ihn aufhoben, um ihn hinter das Haus zu tragen, war er nur noch eine Leiche.

Hier lag auch schon Andre Farran mit zerschmetterter Schulter. Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge waren, nachdem sie ihn aus dem Feuerbereiche geschafft, wieder an ihren Platz zurückgekehrt.

Bald machte es sich aber nöthig, die erste Deckungslinie zu räumen. Die von den Kanonenkugeln zerrissenen Hecken eröffneten den Feinden Zugang zum Lager, so daß der Oberstlieutenant Whiterall Befehl gab, die Belagerten mit dem Bajonnet anzugreifen. Das wurde zur »wirklichen Schlächterei«, wie die Berichte über diese blutige Episode der franco-canadischen Insurrection sich ausdrückten.

Hierbei fielen tapfere Patrioten, welche nach Erschöpfung ihrer Munition sich nur noch mit Kolbenschlägen wehrten, hier wurden die beiden Hebert getödtet, welche minder glücklich waren als A. Papineau, Amiot und Marchessault, denen es gelang, sich durch die Angreifer nach wüthendem Einzelkampfe durchzuschlagen. Hier unterlagen andere Parteigänger der nationalen Sache, deren Anzahl niemals bekannt geworden ist, da der Fluß eine Menge Leichen hinwegschwemmte.

Unter denjenigen, welche im engeren Zusammenhange mit unserer Erzählung stehen, zählte man ebenfalls einige Opfer. Wenn Johann ohne Namen sich wie ein Löwe geschlagen, wenn er, immer in der ersten Reihe der Seinigen und im dichtesten Handgemenge, heute denen, die mit und die gegen ihn waren, offen gegenüberstand, so war es ein wirkliches Wunder zu nennen, daß er ohne jede Verwundung davon kam, während so viele Andere minder glücklich waren. Nach Remy wurden noch zwei seiner Brüder, Michel und Jacques, von Kartätschensplittern schwer verwundet, von Thomas und Pierre Harcher aus dem Lager weggetragen und damit dem wilden Gemetzel entzogen, mit dem die Königlichen ihren Sieg krönten.

William Clerc und Vincent Hodge hatten sich ebenfalls nicht geschont. Zwanzigmal hatte man sie, Flinte und Pistole in der Hand, sich mitten unter die Belagerer stürzen sehen. Während des hitzigsten Gefechtes waren sie Johann ohne Namen bis zu der auf der Höhe des Hügels befindlichen Batterie gefolgt. Da wäre Johann getödtet worden, wenn Vincent Hodge nicht den Schlag abgelenkt hätte, den ein Unterofficier des Geschützes nach ihm führte.

»Ich danke, Herr Hodge! sagte Johann zu ihm. Vielleicht haben Sie aber doch Unrecht gethan!... Jetzt wäre dann Alles vorbei!«

In der That wäre es vielleicht besser gewesen, wenn Simon Morgaz' Sohn hier auf dem Platze blieb, da die Sache der Unabhängigkeit auf dem Schlachtfelde von St. Charles unterliegen sollte.

Schon hatte Johann sich wieder in das Getümmel geworfen, als er am Fuße des Hügels Herrn de Vaudreuil im Blute schwimmend auf der Erde liegen sah.

Der tapfere Freund seines Vaterlandes war von einem wuchtigen Säbelhiebe getroffen worden, als die Reiter Whiterall's über das Lager hereinsprengten, um die Vernichtung der Aufständischen zu vollenden.

In diesem Augenblick erschien es Johann, als ob eine innere Stimme ihm zurief: »Rette meinen Vater!«

Gedeckt vom Pulverdampfe - schlich sich Johann zu dem bewußtlosen, vielleicht schon gestorbenen Herrn de Vaudreuil hin; er nahm ihn auf die Arme und trug ihn längs der Verschanzungen hin; dann gelang es ihm auch, während die Reiter die Rebellen scharf verfolgten, inmitten der brennenden Häuser den höher gelegenen Theil von St. Charles zu gewinnen und mit seiner Last in die Vorhalle der Kirche zu flüchten.

Es war jetzt um fünf Uhr Abends. Der Himmel wäre schon dunkel gewesen, wenn nicht aus den Ruinen des Fleckens züngelnde Flammen emporstiegen.

Der bei St. Denis siegreiche Aufstand war vor St. Charles niedergeworfen worden, und man konnte nicht einmal sagen, daß das einander ausgeglichen hätte. Nein, diese Niederlage mußte schlimmere Nachtheile für die nationale Sache haben, als der Sieg ihr wirkliche Vortheile gebracht hatte. Da dieselbe auch dem ersteren nachfolgte, vernichtete sie alle Hoffnungen, welche die Reformisten vorher etwa gehegt hatten.

Die Kämpfer alle, welche nicht das Schlachtfeld bedeckten, mußten so eilig flüchten, daß es gar nicht möglich wurde, ihnen einen Befehl zur Wiedersammlung zu ertheilen.

William Clerc sah sich gezwungen, in Begleitung des nur leicht verwundeten Andre Farran quer hinein ins Land zu entweichen. Nur unter tausend Gefahren gelang es beiden Männern, welche nicht das Mindeste von dem Schicksal de Vaudreuil's und Vincent Hodge's wußten, die Grenze zu überschreiten.

Und was sollte aus Clary de Vaudreuil werden in jenem Hause von St. Denis, wo sie auf Nachrichten wartete? Hatte sie von den Repressalien der Loyalisten nicht Alles zu fürchten, wenn es nicht auch ihr gelang zu entfliehen?

Das waren die Gedanken Johanns, als er sich im Hintergrunde der kleinen Kirche verbarg. Hatte Herr de Vaudreuil auch das Bewußtsein noch nicht wieder so erlangt, fühlte man doch den, wenn auch schwachen Schlag seines Herzens. Bei sorgsamer Pflege konnte er wohl gerettet werden, doch wo und wie würde er diese finden?

Hier galt kein Zögern, er mußte den Verletzten noch diese Nacht nach dem geschlossenen Hause schaffen.

Letzteres lag nicht weit entfernt, höchstens einige hundert Schritte, wenn er die Hauptstraße des Fleckens hinunterging. In der Dunkelheit, wenn die Soldaten Whiterall's St. Charles wieder geräumt, oder wenn sie Nachtquartier bezogen haben würden, wollte Johann ihn aufnehmen und in dem Hause seiner Mutter unterbringen.

Seiner Mutter!... Herr de Vaudreuil bei Bridget!... Bei der Gattin Simon Morgaz'!. Und wenn er nun jemals hörte, unter wessen Dach er ihn geschafft hatte.

Und doch, war er, der Sohn Simon Morgaz', nicht Gast der Villa Montcalm gewesen?. Er nicht der Waffengefährte des Herrn de Vaudreuil geworden?. Hatte er diesen nicht aus den Klauen des Todes gerettet?. War es denn wirklich so schlimm für Herrn de Vaudreuil, sein Leben der Pflege einer Bridget Morgaz zu verdanken?

Er sollte das übrigens nicht erfahren und Niemand das Incognito errathen, in welches sich die unglückliche Familie hüllte.

Nachdem er seinen Beschluß gefaßt, hatte Johann nur noch die gelegene Zeit zur Ausführung - einige Stunden später -abzuwarten.

Dann flogen seine Gedanken nach dem Hause in St. Denis, wo Clary die Niederlage der Patrioten erfahren sollte und, wenn sie ihren Vater nicht wiederkehren sah, vermeinen mußte, daß auch dieser gefallen sei. Doch würde es wohl möglich sein, sie zu benachrichtigen, daß Herr de Vaudreuil nach dem geschlossenen Hause geschafft worden war, und sie selbst den Gefahren zu entziehen, die ihr in jenem der Rache der Sieger preisgegebenen Flecken drohten?

Derlei Befürchtungen lasteten gar schwer auf Johann, neben der Qual, welche der letzte, für die nationale Sache so schreckliche Vorfall ihm bereitete. Jede Hoffnung, die man nach dem Siege bei St. Denis zu hegen berechtigt schien, Alles, was derselbe unmittelbar zu bewirken versprach, nämlich die Erhebung der Grafschaften, die Ausbreitung des Aufstandes über das Thal des Richelieu und des St. Lorenzo, die Brachlegung der königlichen Truppen, die Wiedererlangung der Unabhängigkeit, wobei Johann das Unrecht, welches der Verrath seines Vaters dem Lande zugefügt, wieder gut zu machen geglaubt hatte. Alles war verloren. Alles!

Alles?. Gab es denn keine Möglichkeit, den Kampf noch einmal aufzunehmen? Wäre der Patriotismus im Herzen der französischen Canadier getödtet gewesen, weil wenige Hundert Patrioten bei St. Charles schon mit dem Leben gezahlt hatten?. Nein! Johann konnte sein Werk nicht aufgeben. Er mußte kämpfen bis zum Tode.

Obgleich es schon recht dunkel war, erscholl in dem Flecken doch noch immer das Hurrah der Soldaten und tönte der Schmerzensschrei der Verwundeten durch die von den Flammen erhellten Straßen; nachdem die Feuersbrunst das Lager zerstört, hatte sie sich nämlich den benachbarten Gebäuden mitgetheilt, ohne daß Jemand hätte sagen können, wo sie wieder erlöschen würde. Wenn sie nun bis zum Ausgang des Fleckens weiterfraß. Wenn auch das geschlossene Haus zerstört und Johann weder seine Mutter noch deren Wohnstätte wieder fand?.

Diese Angst drohte ihn fast zu lähmen. Er selbst konnte ja durch das Land entfliehen, konnte die Waldmassen der Grafschaft erreichen und während der Nacht entkommen. Vor Tagesanbruch würde er für seine Person in Sicherheit sein. Doch was sollte dann aus Herrn de Vaudreuil werden? Wenn dieser in die Hand der Königlichen fiel, war er verloren, denn selbst die Verwundeten fanden bei dieser blutigen Affaire keine Schonung.

Gegen acht Uhr schien in St. Charles jedoch einige Ruhe einzutreten. Entweder waren die Einwohner nun vertrieben oder sie hatten sich nach Abzug der Whiterall'schen Colonne in die von dem Brande verschont gebliebenen Gebäude gerettet. Jetzt waren die Straßen menschenleer - jetzt galt es davon zu Nutzen zu ziehen.

Johann näherte sich vorsichtig der Thür der Kirche. Diese halb öffnend, warf er einen prüfenden Blick über den kleinen Platz vor dem Gotteshause und stieg die Stufen der Vorhalle hinab.

Kein Mensch befand sich auf dem von den entfernten Flammen hell erleuchteten Platze.

Johann kehrte zu Herrn de Vaudreuil zurück, der ausgestreckt neben einem Pfeiler lag. Er hob ihn auf und nahm ihn die Arme. Doch selbst für einen so muskelstarken Mann wie Johann bildete der Körper eine sehr schwere Last, wenn er diese bis nach der Biegung der Landstraße, wo das geschlossene Haus stand, tragen sollte.

Johann überschritt den Platz und glitt über die nächste Straße hin.

Es war die höchste Zeit. Kaum hatte er einige zwanzig Schritte zurückgelegt, als er laute Rufe vernahm, während der Erdboden von Pferdegetrappel wiederhallte.

Die Reiterabtheilung war es, welche nach St. Charles zurückkehrte. Ehe diese zur weiteren Verfolgung der Flüchtlinge aufbrechen sollte, hatte der Oberstlieutenant Whiterall ihr Befehl gegeben, zur Nachtruhe in den Flecken zurückzukehren, wo sie bis Tagesanbruch verweilen sollte, und gerade die Kirche war zur Unterkunft der Leute ausersehen worden.

Kaum eine Minute nachher hatten sich die Reiter unter dem Schiff derselben eingerichtet, doch nicht ohne sich durch geeignete Maßregeln vor feindlicher Ueberrumpelung zu schützen. Aber nicht die Mannschaften allein machten es sich im Innern der Kirche bequem, nein, auch die Pferde waren in dieser mit untergestellt worden. Da ist es wohl kaum nöthig, auf die Profanationen hinzuweisen, denen sich die wilde Soldateska, von Blut und Gier berauscht, in diesem, dem katholischen Cultus geweihten Gebäude hingab.

Johann ging die verlassene Straße weiter hinunter und machte nur dann und wann Halt, um einmal Athem zu schöpfen. Immer quälte ihn die Furcht, je mehr er sich dem geschlossenen Hause näherte, nur dessen Ruinen wiederzufinden.

Endlich erreichte er die Straße und blieb vor der Wohnung seiner Mutter stehen. Die Feuersbrunst hatte sich nach dieser Seite hin nicht ausgebreitet. Das Haus war unversehrt, im Schatten verloren. Durch seine Fenster drang nicht die Spur eines Lichtstrahls.

Herrn de Vaudreuil tragend, stand Johann jetzt vor der Gitterthür, welche den kleinen Vorhof abschloß; er stieß dieselbe auf, schleppte sich bis zur Hausthür und gab das verabredete Zeichen.

Einen Augenblick später waren Herr de Vaudreuil und Johann im Hause der Bridget Morgaz in Sicherheit.

Drittes Capitel Herr de Vaudreuil im geschlossenen Hause

»Mutter, begann Johann, nachdem er den Verwundeten auf das Bett, welches er oder sein Bruder gelegentlich benutzte, wenn sie einmal im geschlossenen Hause übernachteten, niedergelegt, Mutter, es kostet diesem Manne das Leben, wenn ihm nicht die sorgsamste Pflege zu Theil wird.

- Ich werde ihn pflegen, Johann.

- Doch es geht auch Dir aus Leben, wenn Whiterall's Soldaten ihn bei Dir finden!

- Mir aus Leben!. Was zählt denn mein Leben, lieber Sohn?« antwortete Bridget.

Johann wollte sie nicht wissen lassen, daß Herr de Vaudreuil, eines der Opfer Simon Morgaz', vor ihr lag. Das hätte zu beschämende Erinnerungen in ihr wachgerufen. Besser war es jedenfalls, wenn Bridget davon nichts erfuhr. Der Mann, dem sie Obdach bot, gehörte zu den Patrioten - das war genug, um ihm ein Anrecht auf ihre Hilfe und Ergebenheit zu sichern.

Zuerst waren Johann und Bridget nach der Hausthür zurückgegangen. Sie lauschten. Drang auch von der Kirche her noch wüstes Geschrei, so herrschte auf der Landstraße doch vollkommene Ruhe. Der letzte Schein des im höheren Theil der Stadt entfachten Brandes war dem Verlöschen nahe und auch das Lärmen der Königlichen verstummte allmählich. Sie mochten des Brennens, Raubens und Mordens satt geworden sein. Alles in Allem waren etwa zwanzig Wohnstätten durch das Feuer zerstört. Das geschlossene Haus gehörte zu denen, die dem Unheil entgingen; doch hatten Bridget und Johann noch Alles von den Siegern zu fürchten, wenn die Sonne erst die traurigen Ruinen von St. Charles beleuchtete.

Uebrigens wurden sie auch im Laufe der Nacht mehrfach erschreckt. Von Stunde zu Stunde kamen Patrouillen von Soldaten und Freiwilligen an dem geschlossenen Hause vorüber und beobachteten die Umgebung des Fleckens an der Biegung der Landstraße. Zuweilen machten dieselben Halt. Wie leicht war zu befürchten, daß Befehl zu Hausdurchsuchungen gegeben worden war, daß die Agenten der Polizei an die Thüren klopfen und die Oeffnung derselben fordern konnten. Für sich selbst zitterte Johann nicht im mindesten, wohl aber für Herrn de Vaudreuil, der fast im Sterben lag und der dann sein Leben im Hause seiner Mutter ausgehaucht hätte.

Jene Befürchtungen sollten sich nicht erfüllen - wenigstens nicht während dieser Nacht. Bridget und ihr Sohn hatten sich neben das Kopfkissen des Verwundeten gesetzt. Alles, was sie thun konnten, war geschehen. Hier wären aber Arzneimittel nöthig gewesen - doch wie solche beschaffen? Hier hätte es eines Arztes bedurft - doch wie einen finden, dem man mit dem Leben des Patrioten auch die Geheimnisse des geschlossenen Hauses hätte anvertrauen können?

Sie untersuchten die bloßgelegte Brust des Herrn de Vaudreuil. Eine tiefe, von einem Säbelhieb herrührende Wunde verlief schräg über die linke Seite des Brustkastens. Es schien jedoch, daß diese Wunde nicht tief genug eindrang, um ein besonders lebenswichtiges Organ getroffen zu haben. Und dennoch athmete der Verwundete so schwach und hatte einen so großen Blutverlust erlitten, daß er unter dieser Ohnmacht hinscheiden konnte.

Nach Reinigung der Wunde mit frischem Wasser näherte Bridget die Ränder derselben einander und bedeckte sie mit zusammengefalteten Tüchern. Johann und seine Mutter wagten aber trotzdem kaum zu hoffen, daß Herr de Vaudreuil bei den wiederholten Aufschlägen, welche Bridget ihm machte, und durch die Wärme, welche er im geschlossenen Hause genoß, wieder zu sich kommen würde, ehe Whiterall's Truppen den Flecken verließen.

Zwei Stunden nach seiner Hierherkunft ließ Herr de Vaudreuil, obgleich er die Augen noch nicht geöffnet, einige Worte entschlüpfen. Offenbar fesselte ihn nur noch eins - die Erinnerung an seine Tochter - an das Leben. Er rief nach ihr, vielleicht um von ihr gepflegt zu werden, vielleicht schwebten ihm auch nur die Gefahren vor Augen, von denen sie jetzt in St. Denis bedroht war.

Bridget hielt seine Hand gefaßt und lauschte. Johann, der daneben stand, sachte die Wiederaufreißung der Wunde bei einer etwaigen schnellen Bewegung zu verhindern. Auch er bemühte sich, die von Seufzern unterbrochenen Worte des Armen aufzufassen. Wenn nun Herr de Vaudreuil gar etwas sagte, was Bridget nicht hätte hören sollen?.

Da ließ sich unter den unzusammenhängenden Sätzen ein Name deutlich vernehmen.

Es war der Name Clarys.

»Der Unglückliche hat also eine Tochter? murmelte Bridget, ihren Sohn ansehend.

- So scheint es, liebe Mutter.

- Und er verlangt nach ihr. Er will nicht sterben, ohne sie noch einmal gesehen zu haben!. Wäre seine Tochter ihm zur Seite, so würde er ruhiger sein. Wo befindet sich aber dieselbe?. Könnte ich nicht versuchen, sie zu entdecken.. sie. ganz im Geheimen. hierher zu bringen?

- Sie!. rief Johann.

- Ja. Ihr Platz ist hier bei ihrem Vater, der sie, mit dem Tode ringend, ruft.«

Da wollte sich der Verletzte, den das Wundfieber schüttelte, im Bett aufrichten.

Dann entrangen sich seinem Munde flehende Worte, welche das, was ihn quälte, deutlich verriethen:

»Clary. allein. da unten. in St. Denis!«

Bridget erhob sich.

»St. Denis?. fragte sie. Da hat er seine Tochter zurückgelassen?. Hörst Du's, Johann?

- Die Königlichen!. In St. Denis!. fuhr der Verwundete fort. Sie wird ihnen nicht entgehen können!. Die Elenden werden an Clary de Vaudreuil Rache nehmen.

- Clary de Vaudreuil?« wiederholte Bridget.

Dann senkte die Frau den Kopf und stammelte:

»Herr de Vaudreuil. hier bei mir!

- Ja, Herr de Vaudreuil, gestand jetzt Johann, und da er einmal im geschlossenen Hause ist, so muß auch seine Tochter hierher kommen!«

Regungslos, neben dem Bette, auf dem Herr de Vaudreuil lag, betrachtete sie diesen Patrioten, dessen Blut für die Unabhängigkeit floß, derselbe, der zwölf Jahre vorher den Verrath Simon Morgaz' fast mit dem Kopfe hatte bezahlen müssen. Wenn er nun erfuhr, welches Haus ihm Obdach geboten, welche Hand ihn dem Tode abgerungen, würde ihn da nicht ein Schauder durchbeben und würde er sich nicht auf den Knien fortschleppen, um so schnell wie möglich die Berührung mit dieser Familie, die ihn nur schändete, zu fliehen?

In einem längeren Seufzer ließ Herr de Vaudreuil wiederum den Namen Clarys hören.

»Er könnte sterben, sagte Johann, aber er darf nicht, ohne seine Tochter wiedergesehen zu haben.

- Ich werde sie holen, erklärte Bridget.

- Nein!. Das ist meine Aufgabe, Mutter!

- Du, den man in der Grafschaft auf Schritt und Tritt verfolgt?. Willst Du unterliegen, ehe Du Dein Werk vollendet?. Nein, Johann, Du hast noch nicht das Recht, zu sterben. Ich werde Clary de Vaudreuil holen!

- Clary de Vaudreuil wird sich aber weigern, Dir zu folgen, Mutter!

- Sie wird sich nicht weigern, wenn sie hört, daß ihr Vater im Sterben liegt und nach ihr ruft. Wo ist Fräulein de Vaudreuil in St. Denis?

- Im Hause des Richters Froment. Es ist aber zu weit bis dahin, Mutter!. Du wirst nicht die Kraft dazu haben!. Hin-und Rückweg betragen ja gegen zwölf Meilen. Ich, wenn ich unverzüglich aufbreche, habe Zeit genug, nach St. Denis zu gehen und Clary de Vaudreuil hierher zu führen, noch ehe der Tag anbricht. Niemand wird mich fortgehen sehen. Niemand wird es merken, wenn ich in das geschlossene Haus zurückkehre.

- Niemand?. antwortete Bridget. Und wie willst Du die Soldaten, welche die Landstraßen überwachen, vermeiden?. Wie willst Du, ihnen einmal in die Hände gefallen, wieder entkommen?. Selbst zugegeben, daß sie Dich nicht sofort erkennen, würden sie Dich deshalb freien Weges ziehen lassen?. Ich dagegen, eine alte Frau, warum sollten sie mich anhalten?. Genug der Worte, Johann; Herr de Vaudreuil will seine Tochter sehen!. Er muß sie sehen, und ich allein bin es, die jene ihm zuzuführen vermag!. Ich breche auf!«

Johann mußte sich den Vorstellungen Bridgets fügen. Obwohl die Nacht sehr dunkel war, wäre es für ihn, wenn er sich auf die von den Patrouillen Whiterall's bewachten Wege wagte, gleich der Gefahr gewesen, sein Vorhaben nicht ausführen zu können; und Clary de Vaudreuil mußte unbedingt vor Tagesanbruch die Schwelle des geschlossenen Hauses überschritten haben. Wer konnte wissen, ob das Leben ihres Vaters überhaupt noch so lange währte! Johann ohne Namen, der jetzt als solcher bekannt war, nachdem er mit offenem Visir gekämpft, hätte schwerlich nach St. Denis und von da mit Fräulein de Vaudreuil zurückkommen können, da er bei einem solchen Versuche sich fast zweifellos den Händen der Königlichen überliefern mußte.

Der letzte Grund vorzüglich bestimmte seinen Entschluß, denn die ihn persönlich drohenden Gefahren achtete er sehr gering. So gab er denn Bridget die nöthigen Nachweise, um das junge Mädchen beim Richter Froment aufzufinden. Er händigte ihr ein Billet ein mit den Worten: »Vertrauen Sie sich meiner Mutter an, folgen Sie ihr!« - die bei Clary jeden etwaigen Verdacht zerstören mußten. Dann öffnete Johann die Thür, schloß sie hinter Bridget wieder und setzte sich an das Schmerzenslager des Herrn de Vaudreuil.

Schon etwas über zehn Uhr war es, als Bridget die um diese Stunde verlassene Straße hinabging. Der eisige Frost der langen canadischen Nächte, welcher auf dem ganzen Lande lag, hatte den Erdboden zu einem schnelleren Vorwärtskommen geeigneter gemacht. Das erste Viertel des Mondes, der am Horizonte bald verschwinden sollte, ließ durch die hochschwebenden Wolken noch einzelne Sterne flimmern.

Bridget wanderte schleunigen Schrittes durch die finstere Einöde, ohne Furcht und ohne Schwäche hin. Um eine Pflicht zu erfüllen, war die einstige Energie, von der sie so manche Probe abgelegt, noch einmal in ihr erwacht. Uebrigens kannte sie genau die Strecke von St. Charles bis St. Denis, die sie in ihrer Jugend oft genug gegangen war. Das Einzige, was sie zu fürchten hatte, war höchstens das Zusammentreffen mit einer Abtheilung Soldaten.

Das ereignete sich denn auch zwei- oder dreimal in der Entfernung von zwei Meilen von St. Charles. Es fiel jedoch Niemand ein, die alte Frau aufzuhalten, und diese kam mit verschiedenen schlechten Bemerkungen der mehr oder weniger betrunkenen Soldaten davon. In der Richtung nach St. Denis hatte der Oberstlieutenant Whiterall keine weitreichenden Patrouillengänge unternehmen lassen. Ehe er diesen unglücklichen Flecken zur Rechenschaft zog, wollte er sich erst über die weiteren Maßnahmen der Sieger vom Vortage unterrichten und hütete sich, seinen eigenen Sieg durch einen unüberlegten Angriff wieder zu compromittiren.

Während der zwei anderen Drittel ihrer Wanderung blieb Bridget in Folge dessen von weiteren gefährlichen Heimsuchungen verschont. Die armen Leute, denen sie begegnete oder die sie sogar überholte, waren Flüchtlinge von St. Charles, die sich über die Kirchspiele der Grafschaften verstreuten, da sie seit der Plünderung und Niederbrennung ihrer Häuser kein schützendes Dach mehr besaßen.

Doch - das war nur zu gewiß - wo Bridget hatte ungehindert passiren können, wäre das Johann ganz unmöglich gelungen. Bei Annäherung der Soldatenrotten hätte er mindestens Seitenwege einschlagen müssen, und das um den Preis von Zeitverlust, der es ihm ganz unmöglich gemacht hätte, vor Sonnenaufgang wieder im geschlossenen Hause einzutreffen. Hätte ihn aber ein Cavalleriepiquet nur einmal verhaftet, so wäre ihm doch, selbst ein Nichterkennen seiner Person vorausgesetzt, eine längere Freiheitsberaubung sicher gewesen.

Vielleicht aber wurde er erkannt, und der Leser weiß ja, welches Urtheil der Gerichtshof von Montreal über ihn gefällt hätte.

Gegen einhalb ein Uhr erreichte Bridget das Ufer des Richelieu. Das ihr bekannte Haus des Richters Froment lag an diesem Ufer, etwas außerhalb St. Denis. Bridget brauchte also nicht über den Richelieu zu setzen, was ohne ein Boot, welches sie erst suchen mußte, nicht ausführbar gewesen wäre. Sie hatte hier vielmehr nur eine Viertelmeile flußabwärts zu wandern, um vor der Thür des betreffenden Hauses zu stehen.

Die Umgebung war völlig verlassen und tiefes Schweigen herrschte in diesem Theile des Thales.

In der Ferne schimmerten kaum einige schwache Lichter durch die Fenster der ersten Gebäude des Fleckens, der jetzt in vollkommener, von keinem Lärmen gestörter Ruhe lag.

Bridget glaubte hieraus schließen zu dürfen, daß eine Nachricht von der Niederlage bei St. Charles noch nicht bis St. Denis gedrungen wäre.

Clary de Vaudreuil konnte also noch nichts von der Niederlage wissen, und erst von ihr, der Unglücksbotin, sollte sie Alles erfahren.

Bridget stieg die Stufen der kleinen Treppe an der Ecke des Hauses hinan und klopfte.

Keine Antwort.

Bridget klopfte von Neuem.

Da erschallten im Inneren der Hausflur, in der es ein wenig hell wurde, zögernde Schritte. Dann fragte eine Stimme:

»Was wünschen Sie?

- Den Richter Froment zu sprechen.

- Der Richter Froment ist nicht in St. Denis, und in seiner Abwesenheit darf ich nicht öffnen.

- Ich habe ihm wichtige Nachrichten mitzutheilen, fuhr Bridget dringlicher fort.

- Das werden Sie bei seiner Rückkehr thun können.«

Die Erklärung, nicht öffnen zu wollen, wurde in so bestimmtem Tone abgegeben, daß Bridget nicht mehr zögerte, sich des Namens Clarys zu bedienen.

»Wenn der Richter Froment nicht hier ist, sagte sie, so muß doch Fräulein de Vaudreuil hier sein, und diese wenigstens muß ich sprechen.

- Fräulein de Vaudreuil ist abgereist, antwortete die Stimme, dieses Mal aber etwas zaudernd.

- Sie ist abgereist?

- Seit gestern.

- Und wissen Sie, wohin das Fräulein gegangen ist?

- Jedenfalls hat sie ihren Vater aufsuchen wollen.

- Ihren Vater?. antwortete Bridget. Nun, eben um des Herrn de Vaudreuil willen komm' ich sie zu holen.

- Mein Vater! rief Clary, die im Hintergrunde der Hausflur gestanden hatte. Oeffnen Sie schnell!.

- Clary de Vaudreuil, nahm Bridget darauf mit gedämpfter Stimme das Wort, ich bin nur hierher gekommen, Sie zu Ihrem Vater zu führen, und Johann ist es, der mich sendet.«

Schon waren die Riegel der Thür zurückgeschoben worden, als Bridget mit leiser Stimme sagte:

»Nein, öffnen Sie jetzt nicht, warten Sie ein wenig!«

Die Stufen hinabgehend, setzte sie sich still am Fuße der Treppe nieder. Es schien in der That von Wichtigkeit, daß sie nicht gesehen wurde und Niemand ihren Eintritt in dieses Haus bemerkte. In diesem Augenblicke aber näherte sich ein Haufen Männer, Frauen und Kinder, der am Ufer des Richelieu hinzog.

Es waren die ersten Flüchtlinge, welche St. Denis erreichten, nachdem sie Nebenwege eingeschlagen, um die große Straße zu vermeiden. Da gab es Verwundete, gestützt und geführt von ihren Eltern und Freunden, da kamen Frauen, welche noch mit sich schleppten, was ihnen von ihrer Familie geblieben war, doch auch noch kampffähige Patrioten, welche der Feuersbrunst und der Niedermetzelung hatten entgehen können. So manche derselben mußten Bridget wohl kennen, und diese hielt doch darauf, Niemand wissen zu lassen, daß sie aus dem geschlossenen Hause weggegangen sei; deshalb wollte sie, im Schatten der Mauer verborgen, diese erste Woge der Flüchtlinge vorüberziehen lassen.

Doch was mußte Clary während dieser wenigen Minuten denken, wenn sie die Klagelaute der Leute - das Jammern der Verzweiflung hörte? Seit mehreren Stunden schon harrte sie sehnsüchtig auf Nachrichten von St. Charles. Vielleicht beeilte sich ihr Vater, vielleicht auch Johann, ihr diese zu übermitteln, wenn dieser nicht nach einem erneuten Siege beschloß, sofort auf Montreal zu marschiren.

Nein! Durch die Thür, welche Clary noch nicht zu öffnen wagte, drangen nur Seufzer und Klagelaute herein.

Nachdem die Flüchtlinge am Hause vorübergezogen, wandten sie sich weiter draußen dem Wasser erst an einer Stelle zu, wo sie dasselbe jedenfalls hofften, überschreiten zu können.

Die Straße war wieder still geworden, obgleich sich flußaufwärts schon wieder ein dumpfes Getöse vernehmen ließ.

Bridget hatte sich erhoben. Eben als sie noch einmal anklopfen wollte ging die Thür auf und schloß sich wieder unmittelbar hinter ihr.

Clary de Vaudreuil und Bridget Morgaz standen sich jetzt gegenüber, und zwar in einem Zimmer des Erdgeschosses, das eine Lampe, deren Schein nicht durch die festgeschlossenen Läden dringen konnte, nur matt erhellte.

Die alte Frau und das junge Mädchen sahen einander an, während die Dienerin etwas abseits stand.

Clary sah sehr bleich aus und wagte, in der Voraussetzung eines entsetzlichen Unglücks, erst keine Frage zu stellen.

»Die Patrioten von St. Charles?. sagte sie endlich.

- Geschlagen! antwortete Bridget.

- Mein Vater?

- Verwundet!

- Todt?.

- Vielleicht.«

Clary hatte nicht mehr die Kraft sich aufrecht zu erhalten und Bridget mußte sie in ihren Armen auffangen.

»Muth! Clary de Vaudreuil! sagte sie. Ihr Vater wünscht, daß Sie zu ihm kommen. Sie müssen dem Wunsche nachkommen, müssen mir, ohne einen Augenblick zu verlieren, folgen.

- Wo ist mein Vater? fragte Clary, sich aus diesem Schwächeanfall aufraffend.

- Bei mir. in St. Charles, erklärte Bridget.

- Wer sendet Sie, Madame?

- Ich sagte es Ihnen bereits. Johann!. Ich bin seine Mutter.

- Sie?. rief Clary.

- Hier, lesen Sie selbst!«

Clary nahm das Billet, welches Bridget ihr hinhielt. Es war die ihr nur zu gut bekannte Handschrift Johanns ohne Namen.

»Vertrauen Sie sich meiner Mutter an.« schrieb er.

Doch wie kam es, daß Herr de Vaudreuil sich in dieser Wohnung befand? War Johann es, der ihn gerettet, der ihn vom Schlachtfeld bei St. Charles weg und nach dem geschlossenen Hause getragen hatte?

»Ich bin bereit, Madame, sagte Clary de Vaudreuil.

- So brechen wir auf,« antwortete Bridget.

Die Einzelheiten der schrecklichen Vorkommnisse sollte Clary erst später erfahren. Schon jetzt wußte sie ja genug davon. Ihr Vater dem Tode nahe, die Patrioten zerstreut, der Sieg von St. Denis aufgehoben durch die Niederlage bei St. Charles!

Clary hatte in der Eile einen dunklen Anzug gewählt, um Bridget zu begleiten.

Die Thür des Vorraumes stand offen, Beide stiegen nach der Straße hinunter.

Die Hand in der Richtung nach St. Charles ausstreckend, sprach Bridget nur die Worte:

»Wir haben sechs Meilen zurückzulegen. Damit Niemand erfährt, daß Sie in das geschlossene Haus gekommen sind, müssen wir daselbst noch diese Nacht eintreffen.«

Clary und Bridget gingen am Ufer des Flusses hinauf, um die Landstraße zu erreichen, welche in gerader Linie von Norden nach Süden die Grafschaft St. Hyazinthe durchschneidet. Das junge Mädchen hätte mehr laufen mögen als gehen, so drängte es sie, an das Schmerzenslager ihres Vaters zu kommen. Dennoch mußte sie ihren Schritt etwas mäßigen, denn Bridget hätte ihr, trotz einer für ihr Alter wunderbaren Rüstigkeit, nicht folgen können.

Uebrigens gab es auch Verzögerungen. Verschiedene Haufen Flüchtlinge kamen ihnen direct entgegen. Geriethen sie unter diese, so konnten sie leicht nach St. Denis zurückgeschoben werden, sie mußten jene also womöglich vermeiden. Bridget und Clary verschwanden deshalb bald zur Rechten, bald zur Linken in den Dickichten am Wege. Niemand bemerkte sie da, während sie Alle sehen und hören konnten.

Die armen Leute schleppten sich jämmerlich vorwärts, einige ließen ganz blutige Spuren auf dem Erdboden zurück. Frauen trugen kleine Kinder auf den Armen. Die starken Männer führten die Greise, die sich lieber niedergeworfen hätten, um auf der Stelle zu sterben. Vernahmen sie dann wieder Geschrei aus der Ferne, so verschwanden sie Alle in der Finsterniß.

Man hätte glauben können, daß Soldaten und Freiwillige diesen Unglücklichen schon auf den Fersen wären, den Armen, welche ihre brennende Heimat flohen und rings auf den Farmen eine Unterkunft suchten, die sie in St. Charles nicht mehr finden konnten. Sollte die Colonne Whiterall's etwa schon auf dem Marsche sein, um mit anbrechendem Tage die entflohenen Patrioten gefangenzunehmen?

Nein; es waren nur andere Flüchtlinge, welche durch das Land irrten. Zu Hunderten kamen dieselben bisweilen vorüber.

Und wie viele wären in dieser schrecklichen Nacht vielleicht umgekommen, wenn sich nicht einige Farmer geopfert hätten, sie aufzunehmen!

Mit von tödtlicher Angst gemartertem Herzen war Clary Zeugin der Schrecken dieser Flucht, und dennoch wollte sie an der Sache der Unabhängigkeit nicht verzweifeln, für die ihr Vater entschlossen dem Tode ins Auge gesehen hatte.

Sobald der Weg wieder frei war, setzten sich Bridget und Clary aufs neue in Bewegung. Einundeinehalbe Stunde wanderten sie so dahin. Je mehr sie sich dem Flecken näherten, desto seltener wurden die Aufenthalte, weil die Straße weniger von Flüchtigen eingenommen war. Alles, was hatte entrinnen können, befand sich jetzt weit von hier und auf der Seite nach St. Denis zu, oder hatte sich in den Grafschaften Vercheres und St. Hyazinthe zerstreut. In der Nachbarschaft von St. Charles galt es dafür nun, jeder Abtheilung von Freiwilligen aus dem Wege zu gehen.

Um drei Uhr Morgens waren noch drei Meilen nach dem geschlossenen Hause zurückzulegen.

Da sank Bridget erschöpft zusammen.

Clary wollte sie aufrichten.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen, sagte sie zu ihr. Stützen Sie sich auf mich. Wir können nicht mehr weit haben.

- Doch, eine Stunde Wegs, antwortete Bridget, und ich werde leider nicht im Stande sein.

- Ruhen Sie einen Augenblick aus; nachher gehen wir weiter. Sie nehmen meinen Arm!. Fürchten Sie nicht, mich zu ermüden!. Ich bin stark.

- Stark!. Armes Kind. auch Sie werden bald niedersinken!«

Bridget hatte sich auf die Knie erhoben.

»Hören Sie mich an, sagte sie, ich werde versuchen noch einige Schritte zu machen. Doch wenn ich wieder nicht weiter fort kann, so lassen Sie mich zurück.

- Sie zurücklassen?. rief Clary.

- Ja, denn nur Eins ist jetzt nöthig, daß Sie noch diese Nacht bei Ihrem Vater sind. Die Straße geht gerade aus. Das geschlossene Haus ist das erste, welches sich linker Hand vor der Ortschaft findet. Sie klopfen da an die Thür. Nennen Ihren Namen. Johann wird dann schon öffnen.

- Nein, ich verlasse Sie nicht, antwortete das junge Mädchen. Ohne Sie gehe ich nicht weiter.

- Doch, es muß sein, Clary de Vaudreuil, antwortete Bridget. Wenn Sie dann in Sicherheit sind, wird schon mein Sohn kommen, mich zu holen. Er wird mich tragen, wie er Herrn de Vaudreuil getragen hat.

- Ach, ich flehe Sie an, versuchen Sie zu gehen, Madame Bridget!«

Bridget gelang es, sich noch einmal aufzurichten; sie schleppte sich aber nur mit größter Anstrengung vorwärts. Immerhin kamen Beide noch etwa eine Meile weiter.

Da erhellte sich der Horizont mit einem Schein, der im Osten von St. Charles emporstieg. Waren das schon die ersten Strahlen des Morgenrothes und sollte es nicht möglich sein, das geschlossene Haus vor dem Tage zu erreichen?

»Vorwärts, gehen Sie! murmelte Bridget. Gehen Sie, Clary de Vaudreuil, lassen Sie mich hier!

- Das ist nicht der Tag, antwortete Clary. Es ist kaum vier Uhr Morgens. Das muß der Widerschein einer Feuersbrunst sein.«

Clary vollendete den Satz nicht ganz; ihr kam der Gedanke ebenso wie Bridget, daß vielleicht das geschlossene Haus eine Beute der Flammen werde, daß das Versteck des Herrn de Vaudreuil aufgefunden worden sei, daß er und Johann von den Soldaten Whiterall's gefangen wären, wenn sie nicht bei der Vertheidigung den Tod gefunden hätten.

Diese Furcht regte in Bridget noch einmal die letzten Kräfte an. Ihre Schritte beschleunigend, näherten sie sich St. Charles mehr und mehr.

Die Landstraße bildete an dieser Stelle einen ziemlich scharfen Winkel, und jenseits desselben erhob sich das geschlossene Haus.

Clary und Bridget gelangten zu der Straßenbiegung.

Das geschlossene Haus war es nicht, welches in Flammen stand, es brannte vielmehr eine zur Rechten des Fleckens gelegene Farm, deren Flammenschein sich am Horizonte widerspiegelte.

»Da!. Da ist es!« rief Bridget, indem sie mit zitternder Hand nach ihrer Wohnung hinwies.

Noch fünf bis sechs Minuten, und die beiden Frauen mußten darin Schutz gefunden haben.

In diesem Augenblicke erschien ein Trupp von drei Männern, welche die Straße herabkamen - drei Freiwillige, schwankend auf den Füßen, betrunken von Branntwein und besudelt mit Blut.

Clary und Bridget wollten ihnen aus dem Wege gehen und wichen seitlich aus. Es war zu spät.

Die Freiwilligen hatten sie bemerkt und stürzten sich auf sie zu. Von diesen erbärmlichen Burschen war das Schlimmste zu fürchten. Einer derselben hatte das junge Mädchen gepackt und suchte dieses mit sich fortzuziehen, während die beiden Anderen Bridget festhielten.

Bridget und Clary riefen um Hilfe. Wer hätte ihre Rufe aber sonst hören können, als andere Soldaten, die vielleicht weniger betrunken und vielleicht noch gefährlicher waren, als diese hier?

Plötzlich sprang ein Mann aus dem Dickicht zur Linken und streckte mit einem Schlage den Schurken zu Boden, der sich an dem jungen Mädchen vergriffen hatte.

»Clary de Vaudreuil!. rief er.

- Vincent Hodge!«

Und Clary klammerte sich an den Arm Hodge's, den sie beim Scheine der Flammen erkannt hatte.

Als Herr de Vaudreuil auf dem Schlachtfelde von St. Charles gefallen war, hatte Vincent Hodge ihm nicht zu Hilfe eilen können, er wußte auch nicht, daß Johann ohne Namen diesen gleich darauf aus dem Getümmel getragen, und war deshalb, als das Feuer verstummte, in die Nachbarschaft des Fleckens zurückgekehrt, auf die Gefahr hin, den Königlichen in die Hände zu fallen. Nach Einbruch der Nacht versuchte er dann, Herrn de Vaudreuil unter den Verwundeten oder Todten zu entdecken, welche in großer Menge den Kampfplatz bedeckten.

Nachdem er vergeblich bis zur Stunde, wo es im Osten zu dämmern begann, umhergesucht, schlich er eben wieder die Straße herunter, als ferne Hilferufe ihn nach dem Orte führten, wo Clary gegen eine Gefahr, die schlimmer gewesen wäre als der Tod, ankämpfte.

Vincent Hodge hatte nicht Zeit genug, um zu erfahren, daß Herr de Vaudreuil in dieses nur wenige Schritte entfernte Haus geschafft worden war, sondern mußte sich gegen zwei Schurken wehren, welche von Bridget losgelassen hatten, um sich auf ihn zu stürzen. Ihr Geschrei war auch weit die Straße hinauf gehört worden. Fünf oder sechs Freiwillige kamen herzugelaufen, ihnen Hilfe zu leisten. Für Clary und Bridget war es die höchste Zeit, sich in das geschlossene Haus zu retten.

»Flieht!. Flieht! rief Vincent Hodge. Ich werde schon von den Burschen loskommen.«

Bridget und Clary eilten die Straße hinab, während Vincent Hodge seine beiden Gegner, die in Folge ihrer Trunkenheit weniger gefährlich waren, tüchtig bearbeitete.

Und ehe deren Kameraden ganz heran kommen konnten, sprang er ins Dickicht. Wohl knallten ihm einige Flintenschüsse nach, doch ohne daß die Kugeln ihr Ziel erreichten.

Bald klopfte Bridget an die Thür des geschlossenen Hauses, die sich sofort öffnete; sie ließ das junge Mädchen eintreten und sank in die Arme ihres Sohnes.

Viertes Capitel Die folgenden acht Tage

Das geschlossene Haus bot also jetzt Herrn und Fräulein de Vaudreuil ein, wenn auch etwas unsicheres Obdach. Beide befanden sich im Schutze der Familie ohne Namen, bei der Gattin und dem Sohne des Verräthers. Wenn sie noch nicht wußten, welche Bande die bejahrte Frau mit Simon Morgaz verknüpften und ebenso diesen jungen Mann, welche Beide ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihnen Unterkommen zu gewähren, so wußten das doch Bridget und Johann nur zu gut, und vor Allem fürchteten sie, daß auch ihre Schutzbefohlenen es durch einen unglücklichen Zufall erfahren könnten.

Gegen Morgen dieses Tages - des 26. September - kam Herr de Vaudreuil wieder ein wenig zum Bewußtsein. Die Stimme seiner Tochter hatte ihn aus dem Todesschlafe erweckt. Er schlug die Augen auf.

»Clary!. murmelte er.

- Mein Vater!. Ich bin es! antwortete Clary. Ich bin hier bei Dir!. Ich werde Dich nicht mehr verlassen.«

Johann stand im Halbdunkel am Fußende des Lagers, als bemühte er sich, ungesehen zu bleiben. Der Blick des Verwundeten fiel auf ihn und seinen Lippen entschlüpften die Worte:

»Johann!. Ach. ich entsinne mich!.«

Dann bemerkte er Bridget, welche sich über seinen Pfühl niederbeugte, und seine Miene schien zu fragen, wer diese Frau sei.

»Es ist meine Mutter, sagte Johann. Sie sind im Hause meiner Mutter, Herr de Vaudreuil. An ihrer Pflege und der Ihrer Tochter wird es ihnen nicht fehlen.

- Ihrer Pflege!. wiederholte Herr de Vaudreuil mit schwacher Stimme. Ja, ja, jetzt kommt mir die Erinnerung wieder!. Verwundet!. Besiegt!. Meine Gefährten entflohen. todt. wer weiß es?. Ach, mein armes Vaterland. nun drückt Dich ein schlimmeres Joch als je zuvor!«

Herr de Vaudreuil ließ den Kopf herabsinken und seine Augen schlossen sich wieder.

»Mein liebster, liebster Vater!« rief Clary niedersinkend.

Sie hatte seine Hand gefaßt und fühlte einen leichten Druck den ihrigen erwidern.

Dann nahm Johann das Wort und sagte:

»Es wäre recht nöthig, einen Arzt hierher zu holen; doch wo wollen wir einen finden und an wen uns in dem von den Königlichen besetzten Lande wenden?. Nach Montreal?. Ja, das böte noch den einzigen Ausweg. Nennen Sie mir den Arzt, zu dem Sie dort besonderes Vertrauen haben, und ich werde nach Montreal gehen.

- Nach Montreal?. fiel Bridget ein.

- Es muß sein, Mutter! Herrn de Vaudreuil's Leben gilt mehr als das meinige!

- O, für Dich fürchte ich ja nichts, Johann. Auf dem Wege nach Montreal kannst Du aber beobachtet werden, und wenn dann der Verdacht aufstiege, daß Herr de Vaudreuil hier ist, so wäre er verloren.

- Verloren! murmelte Clary.

- Er ist es nicht weniger, wenn er keine sachverständige Hilfe bekommt, antwortete Johann.

- Ist seine Verwundung eine tödtliche, meinte Bridget, so wird ihn leider Niemand heilen. Ist sie es nicht, so wird Gott geben, daß wir, seine Tochter und ich, ihn retten. Seine Wunde rührt von einem Säbelhiebe her, der nur die Fleischtheile trennte. Herr de Vaudreuil ist gewiß nur durch den Blutverlust geschwächt. Es wird, hoffe ich, genügen, die Wunde bedeckt zu halten und Compressen mit kaltem Wasser aufzulegen, um eine Vernarbung herbeizuführen, die wir schon nach und nach erzielen werden. Glaube mir, mein Sohn, Herr de Vaudreuil ist hier in verhältnißmäßiger Sicherheit, und, soweit irgend ausführbar, ist es nothwendig, daß Niemand von seinem Versteck etwas erfährt.«

Bridget sprach mit einer so lebendigen Ueberzeugung, daß diese als erste Wirkung in Clary wieder einen schwachen Hoffnungsstrahl wachrief. Vor Allem galt es entschieden, Niemand in das geschlossene Haus einzuführen. Das Leben Johanns ohne Namen hing davon ab, und nicht minder das des Herrn de Vaudreuil, denn wenn etwas von Beiden verlautete, konnte wohl Johann durch die Wälder der Grafschaft entfliehen und die amerikanische Grenze erreichen, nicht aber der aus Bett gefesselte Kranke.

Uebrigens schien der Zustand des Verwundeten das Vertrauen, welches Bridget in dessen Tochter erweckt hatte, vom ersten Tage an zu rechtfertigen. Seit die Blutung gestillt war, blieb Herr de Vaudreuil, wenn auch immer sehr schwach, doch im Besitze des Bewußtseins. Was ihm vor Allem Noth that, war Ruhe des Gemüthes - diese fand er aber jetzt, da seine Tochter bei ihm weilte, neben der Ruhe des Körpers, und es schien, als ob ihm diese im geschlossenen Hause gesichert wäre.

In der That sollten die Soldaten Whiterall's nicht zögern, St. Charles zu verlassen, um die Grafschaft zu durchstreifen, und der Flecken sollte dann von ihrer Gegenwart befreit sein.

Bridget richtete sich nun ein, um ihren Gästen in der beschränkten Wohnung mehr Bequemlichkeit zu bieten. Herr de Vaudreuil nahm das für Joann und Johann bestimmte Zimmer ein, wenn diese eine Nacht im geschlossenen Hause zubrachten. Das andere Zimmer, das Bridgets, wurde Clary eingeräumt. Beide wachten abwechselnd am Bett des Kranken.

Was Johann angeht, so brauchte man sich weder um diesen noch um seinen Bruder Sorge zu machen für den Fall, daß in Folge der letzten Ereignisse der Abbe Joann zufällig bei seiner Mutter zum Besuche eintreffen sollte; für diese Beiden genügte im Nothfalle ein Winkel des geschlossenen Hauses.

In Johanns Absicht lag es übrigens gar nicht, in St. Charles länger zu verweilen. So bald er sich über den Zustand des Herrn de Vaudreuil beruhigt, und mit diesem die von ihm vorausgesehenen Ereignisse und den weiteren Verlauf ihrer Bestrebungen besprochen, wollte er sich aufs neue seiner Aufgabe widmen. Die Niederlage bei St. Charles konnte ja noch nicht die völlige Vernichtung der Patrioten herbeigeführt haben; ja, Johann ohne Namen glaubte sie schon zur Wiedervergeltung mit sich fortreißen zu können.

Der 26. verlief in Ruhe. Bridget konnte sogar, ohne Verdacht zu erwecken, das geschlossene Haus verlassen, um die nöthigsten Lebensbedürfnisse und ein labendes Getränk für den Kranken einzukaufen. Seit stattgefundener Räumung der Stadt hatten sich auch verschiedene Häuser wieder aufgethan. Doch welche Zerstörung, welche Ruinen, vorzüglich im oberen, von der Feuersbrust ergriffenen Stadttheile nach der Seite des Lagers zu, wo die Vertheidiger sich wahrhaft heldenmüthig geschlagen hatten! Etwa Hundert von den Patrioten hatten bei jenem entsetzlichen Kampfe ihr Blut vergossen und die meisten derselben waren entweder todt oder doch tödtlich verletzt. Außerdem waren gegen vierzig Gefangene gemacht worden. Es war ein Jammer mit anzusehen, wie die zügellose Soldateska, welche deren Befehlshaber vergeblich zu zügeln sachte, mit den Aermsten umging.

Zum Glück - diese Nachricht brachte Bridget nach dem geschlossenen Hause mit - rüstete sich die Colonne zum Abmarsch.

Im Laufe dieses Tages fand Herr de Vaudreuil, dessen Zustand sich in keiner Weise verschlimmerte, einige Standen erquickender Ruhe und Schlaf. Jetzt vernahm man von ihm keine Delirien und nicht jene unzusammenhängenden Worte mehr, mit welchen er früher nach seiner Tochter verlangte.

Er wußte es vollständig, daß Clary an seiner Seite und geschützt war gegen alle Gefahren, welche ihr mit der Rückkehr der Loyalisten nach St. Denis gedroht hätten.

Während er schlief, konnte Johann dem jungen Mädchen die Ereignisse der jüngsten Zeit ausführlich schildern. Sie erfuhr nun Alles »was sich seit dem Aufbruche ihres Vaters aus dem Hause des Richters Froment zugetragen hatte, um sich seinen Waffenbrüdern in St. Charles anzuschließen; wie die Patrioten bis zum letzten Mann gekämpft; unter welchen Umständen endlich Herr de Vaudreuil aus dem Gewühle fort und nach dem geschlossenen Hause geschafft worden war.

Clary lauschte bangen Herzens und mit feurigen Augen seiner Erzählung. Es schien ihr, als ob jenes Mißgeschick Johann und sie selbst am meisten anging. Beide empfanden ja, wie eng sie aneinander gefesselt waren.

Wiederholt erhob sich Johann tief erregt, da er vor sich selbst erschrak und die Vertraulichkeit meiden wollte, welche die unglückliche Lage noch gefährlicher als sonst erscheinen ließ. Nach den wenigen Tagen des Zusammenseins mit Clary in der Villa Montcalm hatte er darauf gerechnet, bei den sich vorbereitenden Ereignissen wieder ganz von seiner Aufgabe in Anspruch genommen zu werden. Gerade diese Ereignisse aber waren es, welche das junge Mädchen in das Haus seiner Mutter geführt hatten, während er gleichzeitig gezwungen war, ebenda Schutz zu suchen.

Bridget hatte die Natur der Gefühle ihres Sohnes bald genug erkannt und sie erschrak darüber nicht weniger als Johann selbst. Er!. Der Sohn des Simon Morgaz!. Die energische Frau ließ von ihrer Angst jedoch nichts merken, so schwere Leiden sie in der kommenden Zeit auch voraussah.

Am nächsten Tage wurde Herr de Vaudreuil von dem Abzuge der Truppen Whiterall's unterrichtet. Da er sich weniger schwach fühlte, wollte er Johann über die nächsten Folgen der Niederlage bei St. Charles fragen, vorzüglich um zu erfahren, was aus seinen Genossen, aus Vincent Hodge, Farran, Clerc, Sebastian Gramont, dem Farmer Harcher und dessen fünf Söhnen, die Alle an jenem unseligen 25. so muthig gekämpft hatten, nachher geworden sei.

Bridget, Clary und Johann hatten sich neben das Bett des Herrn de Vaudreuil gesetzt.

Auf den von ihm ausgesprochenen Wunsch antwortete Johann mit der Bitte, sich nicht durch zu viele Fragen anzustrengen:

»Ich werde Ihnen mittheilen, was ich von Ihren Freunden weiß, sagte er. Nachdem sie bis zur letzten Stunde gekämpft, wurden sie schließlich nur durch die Uebermacht niedergedrückt. Einer meiner braven Gefährten aus Chipogan, der arme Remy Harcher, fiel schon bei Beginn des Gefechts, ohne daß ich ihm zu Hilfe, eilen konnte. Später mußten Michel und Jacques in Folge erhaltener Verwundungen den Kampfplatz verlassen und wurden von ihrem Vater und den beiden anderen Brüdern fortgetragen. Ich weiß nicht, wohin sie entflohen sind, als jeder Widerstand unmöglich geworden war, hoffe jedoch, daß sie die amerikanische Grenze erreicht haben. Der Abgeordnete Gramont fiel in Gefangenschaft, dürfte sich also in einem Gefängnisse Montreals befinden, und wir wissen, welches Los die Richter Lord Gosford's ihm bestimmt haben werden. Die Herren Farran und Clerc haben wahrscheinlich der Verfolgung der königlichen Reiterei entgehen können, doch ist mir unbekannt, ob sie noch heil und gesund sind. Von Vincent Hodge vermag ich nicht zu sagen.

- Vincent Hodge ist dem Gemetzel glücklich entgangen, fiel da Clary ein. Im Laufe der Nacht ist er in der Umgebung von St. Charles umhergeirrt, um Dich, lieber Vater, vielleicht zu finden. Bridget und ich sind ihm auf der Straße begegnet. Ihm verdanken wir es, den Gewaltthaten mehrerer Soldaten entkommen zu sein und das geschlossene Haus erreicht zu haben. Ohne Zweifel befindet er sich jetzt in einem Dorfe der Vereinigten Staaten in Sicherheit.

- Es ist ein edler Charakter, ein glühender Patriot! sagte Johann. Was er für Fräulein de Vaudreuil und meine Mutter gethan, das that er im hitzigsten Kampfe auch für mich. Er hat mir das Leben gerettet, und doch wär' es vielleicht besser gewesen, er hätte mich sterben lassen. Ich hätte dann wenigstens die Niederlage der Söhne der Freiheit nicht mit angesehen!

- Johann, wandte sich da das junge Mädchen an ihn, Sie werden doch an unserer heiligen Sache nicht verzweifeln?

- Mein Sohn und verzweifeln! erwiderte lebhaft Bridget. Das werd' ich nimmermehr glauben!

- Nein, Mutter! rief Johann. Nach dem Siege bei St. Denis sollte sich der Aufstand über das ganze Thal des St. Lorenzo verbreiten - nach der Niederlage bei St. Charles gilt es nun, einen neuen Feldzug zu beginnen, und ich werde diesen ins Werk setzen. Noch sind die Reformer keineswegs besiegt. Schon dürften sie wieder bereit stehen, den Colonnen Sir John Colborne's Widerstand zu leisten. Leider hab' ich schon zu lange gezögert, sie aufzusuchen; doch heute Nacht reife ich ab.

- Wohin wollen Sie, Johann? fragte Herr de Vaudreuil.

- Zunächst nach St. Denis. Daselbst hoffe ich die tüchtigsten Anführer zu treffen, mit denen wir die Soldaten Gore's so glücklich zurückgeschlagen hatten.

- Gehe, ja, gehe, mein Sohn! sagte Bridget mit einem bedeutsamen Blick auf Johann. Ja, gehe bald! Dein Platz ist nicht hier. Er ist da unten. in den vordersten Reihen.

- Ja, Johann, ziehen Sie hinaus mit Gott! Sie müssen Ihre Waffengefährten wieder aufsuchen, müssen an deren Spitze erscheinen!. Die Loyalisten sollen es erfahren, daß Johann ohne Namen nicht todt ist.«

Clary konnte nicht weiter reden.

Sich halb aufrichtend, ergriff Herr de Vaudreuil die Hand Johanns, und auch er wiederholte:

»Ziehen Sie hin, Johann! Ueberlassen Sie mich der Pflege Ihrer Mutter und meiner Tochter. Wenn Sie meine Freunde wiederfinden, so sagen Sie ihnen, daß sie mich in ihrer Mitte sehen werden, sobald meine Kräfte es irgend gestatten. - Doch, fügte er mit einer Stimme hinzu, welche seine äußerste Schwäche erkennen ließ, wenn Sie uns auf dem Laufenden erhalten können über das, was im Werke ist. wenn es Ihnen möglich wäre, einmal selbst nach dem geschlossenen Hause zurückzukommen!. Ach, Johann!. Es verlangt mich so sehr zu wissen. was aus allen Denen, die mir theuer sind, geworden ist. sie, die ich vielleicht niemals wiedersehen werde!

- Sie werden es erfahren, Herr de Vaudreuil, versicherte Johann. Jetzt pflegen Sie der Ruhe!. Vergessen Sie Alles bis zur Stunde, wo es wieder zu kämpfen gilt!«

Bei dem Zustand, in dem der Verwundete sich befand, mußte ihm wirklich jede Aufregung erspart bleiben. Er fing jetzt schon an einzuschlummern, und dieser Schlummer dauerte bis zur Mitte der Nacht an. Er währte auch noch fort, als Johann gegen elf Uhr das geschlossene Haus verließ, nachdem er Clary ein Lebewohl gesagt und nachdem er seine Mutter umarmt, die auch in der Minute, wo sie sich von ihrem Sohn trennte, ihre Standhaftigkeit bewahrte.

Uebrigens waren die Verhältnisse nicht dieselben wie am Tage vorher, als Bridget Johann abhielt, sich nach St. Denis zu begeben. Seit dem Abzuge Whiterall's hatten sich die Gefahren wesentlich vermindert. St. Denis war ebenso ruhig wie St. Charles. Seit der Niederlage der Reformer am 25. vermied die Regierung vorläufig weitere Gewaltmaßregeln. Man mußte sogar darüber erstaunen, daß sie ihren Sieg nicht durch einen Vormarsch gegen die Sieger vom 23. zu vervollständigen suchte. Sir John Colborne war nicht der Mann dazu, zurückzuschrecken vor den Repressalien, welche eine feindliche Rückkehr hervorrufen konnte, und der Oberst Gore durfte wohl Eile haben, seine Niederlage zu rächen.

Doch wie dem auch sein mochte, in St. Charles und folglich auch im geschlossenen Hause erhielt man keine Neuigkeiten. Auch das Vertrauen der Einwohner des Ortes war wieder gestiegen. Nachdem sie sich erst weithin verstreut, kehrten die meisten jetzt nach ihren Wohnstätten zurück und arbeiteten schon daran, die Zerstörungen von der Plünderung und der Feuersbrunst wieder nach Möglichkeit auszugleichen. Bei Bridgets seltenen Ausgängen fragte diese auch nach Nichts, hörte dagegen auf Alles und konnte so Herrn und Fräulein de Vaudreuil über alles Vorgehende unterrichten. Doch wie gesagt, keine bedrohliche Neuigkeit tauchte jetzt mehr im Lande auf, und von einer Truppenannäherung auf der Straße von Montreal verlautete nicht das Geringste.

Auch während der drei folgenden Tage wurde diese Ruhe ebenso in der Grafschaft Hyazinthe wie in den benachbarten Grafschaften nicht gestört. Man hätte fast glauben mögen, daß die Regierung den Aufstand für vollständig gedämpft halte, und es gewann den Anschein, als lasse sie nur die Häupter der Opposition verfolgen, die die Signale zur Empörung gegeben hatten. Niemand konnte dagegen annehmen, daß die Reformer schon auf jede Fortsetzung des Kampfes verzichten und sich für unbedingt besiegt halten könnten, so daß ihnen nichts als die unbedingte Unterwerfung übrig bliebe. Nein! Im geschlossenen Hause wie in ganz Canada erwartete man bestimmt ein neues Auflodern des schweren Kampfes.

Unter Bridgets und Clarys liebevoller Pflege besserte sich der Zustand des Herrn de Vaudreuil zusehends. Trotz der noch fortdauernden Schwäche begann die Wunde doch zu vernarben. Leider drohte die völlige Wiedergenesung recht lange Zeit in Anspruch zu nehmen, selbst bis zu dem Zeitpunkt, wo Herr de Vaudreuil voraussichtlich das Bett verlassen konnte. Gegen Ende des dritten Tages vermochte er etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Das Fieber, welches ihn anfänglich verzehrte, war fast gänzlich verschwunden. Trat jetzt keine unerwartete Complication ein, so war nichts Besonderes mehr zu fürchten.

In den langen müßigen Stunden, welche Bridget und Clary an seinem Lager verbrachten, berichteten sie ihm Alles, was man draußen sagte. Der Name Johann flocht sich immer und immer wieder in ihre Aussagen ein, da sie noch nicht wußten, ob er sich seinen Gefährten in St. Denis habe anschließen können, und sie doch kaum glaubten, daß er die Insassen des geschlossenen Hauses ohne Nachricht lassen werde.

Und während Clary, die Augen gesenkt und in Gedanken in die Weite schweifend, da saß, erschöpfte sich Herr de Vaudreuil in Lobsprüchen bezüglich des jungen Patrioten, der ihm die nationale Sache gewissermaßen zu verkörpern schien. Ja, Frau Bridget konnte stolz sein auf einen solchen Sohn!

Den Kopf niederbeugend, antwortete Bridget entweder gar nicht, oder wenn sie es that, erklärte sie nur, daß Johann vielleicht seine Pflicht, gewiß aber nichts mehr gethan habe.

Es konnte weder Wunder nehmen, daß Clary eine warme Freundschaft, fast eine kindliche Liebe für Bridget empfand, noch daß ihr Herz sich so innig zu Jener hingezogen fühlte. Es erschien ihr so natürlich, sie »Mutter« zu nennen. Und doch kam es ihr vor, wenn sie ihre Hand ergreifen wollte, als ob Bridget diese zurückzuziehen suchte. Wenn Clary Bridget umarmte, wandte diese fast auffallend den Kopf zur Seite. Das junge Mädchen vermochte sich das nicht zu erklären, und wie gern hätte sie auch etwas von der Vergangenheit dieser Familie erfahren, welche nicht einmal mehr einen Namen hatte. Bridget blieb aber dieser Frage gegenüber stumm. Die gegenseitige Lage der beiden Frauen gestaltete sich also so, daß auf der einen Seite die aufrichtigste Hingebung und fast kindliche Liebe, auf der anderen eine sorgsame Zurückhaltung bestand, bei der die betagte Mutter sich von der jungen Tochter sozusagen zu entfernen suchte.

Am Abend des 2. December war St. Charles durch neue beunruhigende Nachrichten erregt, welche so ernster Natur waren, daß Bridget, der dieselben da und dort zu Ohren kamen, sie Herrn de Vaudreuil gar nicht mittheilen wollte. Clary stimmte ihr hierin bei, denn es schien auch ihr nicht gerathen, die Ruhe zu stören, deren ihr Vater noch so nöthig bedurfte.

So theilten sie ihm nur mit, daß die Königlichen noch einmal über die Patrioten einen Sieg davon getragen hatten.

Die Regierung konnte und wollte sich nämlich nicht damit zufriedengeben, den Aufstand bei St. Charles niedergeworfen zu haben; sie mußte mindestens die Scharte auswetzen, welche Oberst Gore in St. Denis erlitten hatte. Gelang ihr das, so war nicht mehr viel zu fürchten von den Reformern, welche die Agenten Gilbert Argall's überall verfolgten, und die sich genöthigt sahen, nach allen Kirchspielen des Bezirks zu entweichen. Dann galt es nur noch, die Anführer der Aufständischen, welche zum Theil schon in den Gefängnissen von Montreal und Quebec schmachteten, mit harten Strafen zu treffen.

Zwei Kanonen, fünf Compagnien Infanterie und eine Schwadron Cavallerie waren unter Befehl des Oberst Gore gestellt worden, der mit dieser, der der Patrioten weit überlegenen Streitkraft aufbrach und im Laufe des 1. December vor St. Denis anlangte.

Die erst gerüchtweise sich verbreitende Nachricht von diesem Zuge erreichte St. Charles gegen Abend, und wurde dieselbe von verschiedenen aus den Feldern heimkehrenden Einwohnern weiter bestätigt. Dabei erfuhr Bridget auch davon, und während sie Herrn de Vaudreuil gegenüber verschwieg, was sie wußte, so hatte sie doch nicht gezögert, Clary davon Mittheilung zu machen.

Man begreift leicht, welche Unruhe, welche Herzensangst die beiden Frauen erdulden mußten.

In St. Denis hatte Johann seine Waffengefährten wieder treffen wollen, um aufs neue den Aufstand zu organisiren. Daß diese freilich so zahlreich und gut genug bewaffnet sein würden, um den Königlichen Widerstand leisten zu können, war nicht wohl anzunehmen. Hatten die Loyalisten aber einmal begonnen, Repressalien zu nehmen, so mußte man erwarten, daß sie hier keine Beschränkung keimen und unter Vornahme von Haussuchungen diese auf alle Flecken und Dörfer der durch den letzten Aufstand am meisten compromittirten Grafschaften ausdehnen würden. St. Charles vor Allem drohten gewiß die schärfsten und strengsten Polizeimaßregeln mit voraussichtlich sehr ernsten Folgen, und auch das Geheimniß des geschlossenen Hauses konnte damit recht leicht verrathen werden. Was wurde aber aus dem noch an sein Bett gefesselten Herrn de Vaudreuil, der im jetzigen Zustand unbedingt noch nicht über die Grenze zu schaffen war?

In welcher Angst verbrachten Bridget und Clary diesen Abend! Schon trafen einzelne Nachrichten von St. Denis ein, und diese waren sehr entmuthigender Art.

Der Oberst Gore hatte den Ort von seinen Vertheidigern verlassen gefunden. Gegenüber den Aussichten eines so ungleichen Kanipfes hatten diese es vorgezogen, zum Rückzuge zu blasen. Die Einwohner verließen ebenfalls ihre Häuser, retteten sich in die Wälder und überschritten auch den Richelieu, um in den benachbarten Kirchspielen Unterkunft zu suchen. Und was dann geschehen, als St. Denis den Ausschreitungen der Soldaten preisgegeben war, das konnte man sich, wenn die Flüchtlinge es auch nicht wußten, leicht genug vorstellen.

Mit Dunkelwerden setzten sich Bridget und Clary wieder an das Lager des Herrn de Vaudreuil. Wiederholt mußten sie ihm Auskunft geben, warum auf den einige Tage hindurch so friedlichen Straßen von St. Charles jetzt ein auffälliges Getöse herrsche. Clary bemühte sich, für diese Erscheinung eine Ursache anzugeben, welche ihren Vater nicht beunruhigen konnte. Schweiften ihre Gedanken dann aber weiter hinaus, so fragte sie sich, ob die Sache der Unabhängigkeit nicht etwa den letzten Stoß erlitten habe, von dem sie nicht wieder aufstehen könne, ob Johann und seine Genossen nicht gezwungen gewesen wären bis zur Grenze zu flüchten, und ob nicht der und jener von denselben in die Gewalt der Königlichen gefallen wäre. Und er, Johann, hatte er dann entkommen können? Sollte er nicht versuchen, das geschlossene Haus zu erreichen?

Clary ahnte so etwas, und dann würde es freilich unmöglich werden, Herrn de Vaudreuil die neue Niederlage der Patrioten zu verheimlichen.

Vielleicht fürchtete Bridget dasselbe, und Beide saßen, von den gleichen Gedanken verfolgt und einander verstehend, ohne ein Wort zu wechseln, schweigend bei dem Kranken.

Gegen elfeinhalb Uhr erschallten drei kurze Schläge an der Thür des geschlossenen Hauses.

»Ach, er!« rief das junge Mädchen.

Bridget hatte das Zeichen erkannt; es mußte einer ihrer Söhne sein, der draußen war.

Anfänglich glaubte sie, Joann werde es sein, den sie seit länger als zwei Monaten nicht wieder gesehen hatte. Clary hatte sich indessen nicht getäuscht und wiederholte:

»Nein, er ist es. er. Johann!«

Als die Thür sich öffnete, zeigte sich wirklich Johann, und dieser schritt eiligst über die Schwelle.

Fünftes Capitel Haussuchungen

Kaum hatte die Thür sich geschlossen, als Johann, das Ohr an deren Füllung gelegt, nach außerhalb lauschte. Mit der Hand machte er dabei ein Zeichen, daß seine Mutter und Clary kein Wort sprechen und sich ganz ruhig verhalten möchten.

Und Bridget, welche schon ausrufen wollte: »Warum bist Du zurückgekommen, mein Sohn?« - Bridget schwieg.

Draußen hörte man auf der Straße hin und her gehen. Zwischen einem halben Dutzend von Männern wurden abgebrochene Sätze gewechselt und jene hatten gerade in der Nähe des geschlossenen Hauses Halt gemacht.

»Wohin ist er denn entwichen?

- Hier hat er sich doch nicht verstecken können!

- Er wird sich weiter oben in ein Haus geflüchtet haben.

- Gewiß ist nur das Eine, daß er uns entwischt ist.

- Und er hatte doch kaum hundert Schritte Vorsprung gegen uns.

- Den Teufel auch, Johann ohne Namen verfehlt zu haben!

- Und die sechstausend Piaster, die sein Kopf werth ist!«

Als Bridget die Stimme des Mannes vernahm, der diese letzten Worte ausgesprochen, durchrieselte es sie wie ein kalter Schauer. Es erschien ihr, als erkenne sie die Stimme, und könne sie sich nur nicht genau erinnern.

Johann dagegen hatte dieselbe erkannt und mit ihr den Mann, der ihn so hartnäckig verfolgte. Es war Rip, und wenn er das seiner Mutter nicht sagen wollte, so geschah es, um sie nicht an die schmerzliche Vergangenheit zu mahnen, die sich an diesen Namen knüpfte.

Inzwischen war es wieder still geworden. Die Polizisten hatten ihren Weg fortgesetzt, ohne zu vermuthen, daß Johann sich habe in das geschlossene Haus flüchten können.

Da wendete sich der junge Mann an seine Mutter und Clary, welche im Dunkel der Hausflur standen.

In dem Augenblicke ließ sich auch, ehe Bridget noch eine Frage an ihren Sohn richtete, die Stimme des Herrn de Vaudreuil vernehmen.

Johann, Clary und Bridget mußten sich sofort nach dem Zimmer des Herrn de Vaudreuil begeben, und tief erregt nahmen sie neben seinem Bette Platz.

»Ich habe die Kraft, Alles zu hören, sagte Herr de Vaudreuil, und ich will Alles wissen!

- Sie werden Alles erfahren!« antwortete Johann.

Er lieferte ihnen dann folgenden Bericht, den Clary und Bridget ohne ihn zu unterbrechen anhörten.

»In jener Nacht, wo ich das geschlossene Haus verließ, traf ich nach zwei Stunden in St. Denis ein. Dort fand ich noch einige Patrioten, die das letzte Unglück überlebt hatten, und Marchessault, Nelson, Cartier, Vincent Hodge, Farran und Clerc hatten sich diesen angeschlossen. Sie rüsteten sich zur Abwehr. Die Bevölkerung wünschte nichts mehr, als sie unterstützen zu können. Gestern aber hörten wir, daß Colborne von Sorel eine starke Abtheilung Reguläre und Freiwillige zur Plünderung und Niederbrennung der Flecken abgesendet habe. Diese Colonne traf im Laufe des Abends ein. Vergebens wollten wir ihr Widerstand entgegensetzen. Sie drangen in St. Denis, das die Bewohner verlassen mußten, ein. Mehr als fünfzig Häuser wurden durch die Flammen verzehrt. Dann sahen sich auch meine Kameraden genöthigt zu entfliehen, um nicht von den Henkern hingeschlachtet zu werden: sie wichen nach der Grenze hin aus, wo Papineau und Andere sie in Plattsburg, an der Rouse's-Spitze oder in Swanton erwarteten. Jetzt überschwemmen nun die Soldaten Whiterall's und Gore's die Grafschaften im Süden des St. Lorenzo, brennend und sengend, bringen Frauen und Kinder an den Bettelstab und ersparen ihnen auch nicht die schlimmsten Gewaltthätigkeiten, die abscheulichste Schmach, während man ihre Spuren an dem Scheine der Feuersbrünste verfolgen könnte!. Das. das ist inzwischen geschehen, Herr de Vaudreuil, und doch verzweifle ich noch nicht, doch will ich an unserer Sache nicht verzweifeln!«

Ein dumpfes, schmerzliches Schweigen folgte diesen Aussagen Johanns. Herr de Vaudreuil war in die Kissen zurückgesunken.

Bridget nahm das Wort, indem sie, den Blick fest auf ihren Sohn gerichtet, diesem die Frage stellte:

»Warum bist Du hier? Warum nicht da, wo Deine Gefährten verweilen?

- Weil ich Ursache habe, zu fürchten, daß die Königlichen auch nach St. Charles kommen, hier Haussuchung vornehmen, und daß die Flammen verzehren werden, was bis jetzt noch übrig blieb von.

- Und kannst Du das abwenden, Johann?

- Nein, Mutter!

- Nun also, so wiederhole ich die Frage, warum bist Du hier?

- Weil ich habe sehen wollen, ob es nicht thunlich wäre, daß Herr de Vaudreuil das geschlossene Haus, welches ebensowenig wie die anderen Wohnstätten verschont werden dürfte, nicht verlassen könnte.

- Das ist nicht möglich, erklärte Bridget.

- So bleibe auch ich hier und werde mich tödten lassen, während ich Alle vertheidige.

- Für das Vaterland dürfen Sie in den Tod gehen, nicht aber für uns! sagte Herr de Vaudreuil. Ihr Platz ist da, wo die Patrioten sind.

- Da, wo auch der Ihrige ist, Herr de Vaudreuil! entgegnete Johann. Hören Sie mich an. Sie können nicht in diesem Hause wohnen, wo Sie bald entdeckt werden müßten. Heute Abend, als ich etwa noch eine halbe Meile zurückzulegen hatte, bin ich von einer großen Abtheilung Polizeibeamter verfolgt worden. Es steht außer Zweifel, daß die Männer mich erkannt haben, da Sie ja auch dieselben haben meinen Namen aussprechen hören. Man wird den ganzen Ort durchsuchen, und selbst wenn ich nicht mehr hier wäre, wird das geschlossene Haus dennoch von oben bis unten durchsucht werden. Sie, Herr de Vaudreuil, werden die Beamten finden, Sie werden von denselben weggeschafft werden und auf Gnade dürfen Sie dann nicht hoffen!

- Was thut das, Johann, erwiderte Herr de Vaudreuil, was thut das, wenn Sie nur wieder zu Ihren Waffengefährten an der Grenze gelangt sind?

- Bitte, hören Sie mich ruhig an! fuhr Johann fort. Alles, was für unsere Sache irgend geschehen kann, werd' ich gewiß thun. Jetzt handelt es sich aber um Sie, Herr de Vaudreuil. Vielleicht ist es doch nicht unmöglich, daß Sie die Vereinigten Staaten erreichen. Schon außerhalb der Grafschaft St. Hyazinthe werden Sie in Sicherheit sein, und dann haben Sie nur noch wenige Meilen bis zum amerikanischen Gebiete. Zugegeben, daß Ihnen jetzt die Kräfte fehlen, sich dahin zu schleppen, selbst wenn ich Sie so gut wie möglich unterstütze. Doch in einem Wagen, ausgestreckt auf einem Strohlager, wie hier in Ihrem Bette - sollten Sie die kleine Reise auch so nicht aushalten? Nun wohl, meine Mutter mag einen solchen Wagen unter irgend einem Vorwande besorgen - vielleicht unter dem Vorgeben, nachdem so viele Andere entflohen, St. Charles ebenfalls verlassen zu wollen - mit einem Worte, sie mag es auf jeden Fall versuchen. Nächste Nacht verlassen wir dann, Ihre Tochter und Sie, meine Mutter und ich, diese Wohnung und wir können bequem außer Schußweite sein, ehe die Mordgesellen Gore's aus St. Charles dasselbe wie aus St. Denis machen - einen traurigen Hausen von Ruinen!«

Der Vorschlag Johanns verdiente gewiß erwogen zu werden. Wenige Meilen südlich von der Grafschaft würde Herr de Vaudreuil die Sicherheit finden, welche ihm das geschlossene Haus nicht zu bieten vermochte, sobald die königlichen Truppen den Flecken besetzten und bei den Bewohnern Haussuchungen vornahmen. Es war nur zu gewiß, daß die Leute Rip's von Johanns Anwesenheit hier erfahren hatten. War er ihnen bisher entgangen, so mußten sie wohl annehmen, daß er sich in irgend einem Hause von St. Charles versteckt halte. Und sollten sie nicht Alles aufbieten, um ihn zu finden? Die Lage gestaltete sich demnach sehr bedrohlich. Auf jeden Fall erschien es unumgänglich, daß nicht allein Johann, sondern auch Herr de Vaudreuil und dessen Tochter das geschlossene Haus rechtzeitig verlassen hatten.

Die Flucht erschien nicht unausführbar, im Falle es Bridget gelang, einen Wagen zu erhalten, und Herr de Vaudreuil im Stande war, eine Fahrt von einigen Stunden zu ertragen. Selbst angenommen, daß er zu schwach wäre, bis zur Grenze zu kommen, so würde er doch in jeder Farm der Grafschaft St. Hyazinthe Aufnahme finden.

Kurz, die Nothwendigkeit, St. Charles zu verlassen, ergab sich daraus, daß die Polizei Nachsuchungen vornahm.

Johann hatte keine Mühe, Herrn de Vaudreuil und seine Tochter zu überzeugen. Auch Bridget billigte den Plan. Leider konnte man nicht daran denken, dieselbe Nacht aufzubrechen. Erst mit Tagesanbruch sollte Bridget ein Gefährt zu erlangen suchen, und im Laufe der nächsten Nacht der Vorschlag zur Ausführung kommen.

Der Tag brach an. Bridget hielt es für besser, ganz offen zu Werke zu gehen. Niemand würde es ja auffallend finden, daß sie sich entschlossen hätte, den Schauplatz des Aufstandes zu verlassen. Schon war eine große Anzahl Einwohner entflohen, und ein gleicher Entschluß ihrerseits konnte Niemand verwundern.

Zuerst war es ihre Absicht gewesen, Herrn de Vaudreuil, Clary und Johann nicht zu begleiten. Ihr Sohn gab ihr aber zu erwägen, daß, wenn sie ihre Abreise einmal angemeldet, ihre Nachbarn, sobald diese sie noch immer sähen, auf die Vermuthung kommen müßten, daß der entliehene Wagen nur einem im geschlossenen Hause versteckt gewesenen Patrioten gedient haben werde, daß auch die Polizeibeamten das schließlich hören würden, und daß sie, im eigenen Interesse wie in dem des Herrn de Vaudreuil, keine Veranlassung geben dürfe, eine Untersuchung hierüber anzustellen.

Bridget mußte sich diesen drei schwerwiegenden Gründen fügen. Wenn die unruhige Zeit vorüber war, wollte sie dann nach St. Charles zurückkehren und hoffte ihr trauriges Leben im Innern des Hauses, das sie niemals hatte verlassen wollen, einst zu beendigen.

Nach endgiltiger Lösung dieser Fragen beschäftigte sich Bridget mit der Beschaffung eines Transportmittels. Wäre es auch nur ein leichter Planwagen, so mußte ein solcher hinreichen, bis zur Grafschaft Laprairie zu gelangen, welche die königlichen Truppen vorläufig noch nicht bedrohten. Am frühen Morgen machte sich dann Bridget schon auf. Sie war zur Miethung, oder vielmehr zur Beschaffung eines Wagens hinlänglich mit Geld versehen, welches Herr de Vaudreuil zu diesem Zwecke gegeben hatte.

Während ihrer Abwesenheit entfernten sich Johann und Clary nicht aus dem Zimmer des Herrn de Vaudreuil. Dieser hatte seine ganze Energie wieder gewonnen.

Gegenüber der Anstrengung, die es ihm kosten mußte, die Fahrt auszuhalten, fühlte er, daß es ihm an physischer Kraft nicht fehlen werde. Schon hatte eine Art Reaction seinen Zustand merkbar verändert. Trotz noch andauernder großer Schwäche, war er bereit, sich zu erheben, bereit, vom Bette aus sich auf den Weg zu begeben, wenn der Augenblick kam, das geschlossene Haus zu verlassen. Er stand für sich ein -wenigstens für einige Stunden. Das Weitere blieb dann Gott anheimgestellt. Doch kümmerte er sich um nichts weiter, hatte er nur seine Kampfgenossen wiedergesehen, seine Tochter in Sicherheit bringen können, und wußte er nur, daß sich Johann inmitten der zu einer letzten Anstrengung entschlossenen französischen Canadier befand.

Ja, der Aufbruch drängte. Was wäre aus Fräulein de Vaudreuil im geschlossenen Hause geworden, wenn ihr Vater seinen Wunden erlag, wenn sie dann allein stand in der Welt und nur diese bejahrte Frau zur Stütze hatte? An der Grenze, in Swanton oder in Plattsburg, mußte er seine Waffenbrüder, seine vertrauten Freunde finden. Und unter diesen war besonders Einer, dessen Gefühle Herr de Vaudreuil billigte. Er wußte, daß Vincent Hodge seine Clary liebte, und Clary würde sich nicht weigern, die Gattin Desjenigen zu werden, der sein Leben gewagt hatte, sie zu retten. Welchem edelmüthigeren, welchem aufrichtigeren Patrioten hätte sie wohl ihre Zukunft anvertrauen können? Er war ihrer ebenso würdig, wie sie seiner.

Mit Gottes Hilfe hoffte Herr de Vaudreuil die Kraft zu haben, sein Ziel zu erreichen. Er dachte nicht zu erliegen, ehe er nicht den Fuß auf amerikanische Erde gesetzt, wo die Ueberlebenden der Reformerpartei den Augenblick zur Wiederergreifung der Waffen erwarteten.

Das waren die Gedanken, welche Herrn de Vaudreuil lebhaft erregten, während Johann und Clary, an seinem Bette sitzend, nur wenige Worte wechselten.

Von Zeit zu Zeit erhob sich Johann und trat an das Fenster, welches nach der Straße hinauszu lag und dessen Läden geschlossen waren. Dort lauschte er, ob sich etwa ein Geräusch auf der Straße in der Nähe des Fleckens vernehmen ließe.

Nach zweistündiger Abwesenheit kehrte Bridget nach dem geschlossenen Hause zurück. Sie hatte sich, um einen Wagen und ein Pferd zu erhalten, an mehrere Leute wenden müssen. Wie verabredet, verhehlte sie dabei kaum ihre Absicht, St. Charles zu verlassen - worüber sich auch Niemand erstaunt zeigte. Der Besitzer einer benachbarten Farm, Luc Archambaut, hatte eingewilligt, ihr für guten Preis einen leichten Wagen zu überlassen, der bespannt und zum Abfahren fertig, gegen neun Uhr Abends nach dem geschlossenen Hause gebracht werden sollte.

Herr de Vaudreuil empfand eine wirkliche Erleichterung, als er hörte, daß Bridget Erfolg gehabt hatte.

»Um neun Uhr fahren wir ab, sagte er, und ich stehe auf, um selbst Platz zu nehmen.

- O nein, Herr de Vaudreuil! unterbrach ihn Johann. Sie dürfen sich nicht unnütz anstrengen. Ich werde Sie nach dem Wagen tragen, in dem wir ein weiches Strohlager zurecht machen und eine Decke aus Ihrem Bette darüber breiten. Dann fahren wir nur langsam, um alle Stöße zu vermeiden, und so werden Sie hoffentlich die Reise aushalten. Da die Luft jedoch ziemlich kalt ist, werden Sie die Vorsicht beachten, sich gut zuzudecken. Was die Besorgniß angeht, daß wir auf der Straße ein unangenehmes Zusammentreffen haben könnten. Du hast nichts Neues gehört, Mutter?

- Nein, antwortete Bridget, doch erwartet man jeden Tag eine zweite Heimsuchung durch die Königlichen.

- Und die Polizisten, die mich bis St. Charles verfolgten?.

- Von denen hab' ich keinen gesehen, und wahrscheinlich folgen sie längst einer falschen Fährte.

- Sie können aber zurückkehren, meinte Clary.

- Gewiß, und darum müssen wir wegfahren, sobald der Wagen vor der Thür steht, fiel Herr de Vaudreuil ein.

- Um neun Uhr, sagte Bridget.

- Bist Du des Mannes, der ihn Dir verkauft, auch sicher, Mutter?

- Ja, es ist ein ehrbarer Farmer, und was er zu thun versprochen, das wird er auch halten!«

Inzwischen wollte Herr de Vaudreuil sich ein wenig stärken. Mit Hilfe Clarys hatte Bridget sehr bald das einfache Frühstück hergerichtet, welches gemeinsam verzehrt wurde.

Die Stunden verliefen ohne Zwischenfall. Keine Störung von außen.

Von Zeit zu Zeit öffnete Bridget ein wenig die Thür und warf einen schnellen Blick nach rechts und links. Jetzt herrschte eine lebhafte Kälte. Der gleichmäßig graue Himmel ließ auf vollkommene Ruhe der Atmosphäre schließen. Wäre freilich ein Südwestwind aufgesprungen und hätten sich die Dünste der Luft in Schneeform niedergeschlagen, so wäre die Fortschaffung des Herrn de Vaudreuil sehr erschwert worden -wenigstens bis zur Grenze der Grafschaft.

Trotzdem gestalteten sich alle Aussichten so, daß die Fahrt in erträglichen Verhältnissen zu verlaufen versprach, als gegen drei Uhr Nachmittags in St. Charles ein unerwarteter Zwischenfall eintrat. Von ferne her hörte man in der Richtung auf den Flecken zu scharfe Trompetentöne schallen.

Johann öffnete die Thür und horchte. Er konnte eine Bewegung, welche seinen Unmuth verrieth, nicht unterdrücken.

»Trompeten! rief er. Ohne Zweifel, ein Trupp Soldaten, der sich auf St. Charles zu bewegt?

- Was sollen wir thun? fragte Clary.

- Warten, antwortete Bridget. Vielleicht ziehen jene Soldaten nur durch den Flecken.«

Johann schüttelte den Kopf.

Da Herr de Vaudreuil unmöglich am lichten Tage fortgeschafft werden konnte, mußte man wohl warten, wie Bridget gesagt, wenn sich Johann nicht etwa entschlösse, doch allein zu entfliehen.

Wenn er das geschlossene Haus augenblicklich verließ und einen Weg durch die neben der Straße sich hinziehenden Wälder einschlug, konnte es ihm wohl gelingen, in Sicherheit zu kommen, ehe die Königlichen St. Charles besetzt hatten. Damit hätte er aber Herrn und Fräulein de Vaudreuil gerade zur Zeit der schlimmsten Gefahr im Stiche gelassen, und daran dachte Johann ganz und gar nicht. Doch wie konnte er sie vertheidigen, wenn ihr Versteck aufgefunden wurde?

Uebrigens sollte die Besetzung der Ortschaft sehr schnell vor sich gehen. Es war eine Truppenabtheilung Whiterall's mit dem Befehl, die Patrioten der Grafschaft zu verfolgen, welche längs des Richelieu hingezogen war und noch einmal ein Lager bei St. Charles beziehen sollte.

Im geschlossenen Hause hörte man schon den Klang der Trompeten, der näher herankam.

Endlich schwieg derselbe. Die Truppen waren am Ende der Ortschaft angelangt.

Da sagte Bridget:

»Noch ist nicht Alles verloren. Die Straße auf der Seite nach Laprairie ist noch offen und kann das vielleicht auch noch sein, wenn die Nacht kommt. Wir dürfen unsere Pläne nicht ändern. Mein Haus gehört nicht zu denjenigen, welches die Plünderer besonders anlocken wird. Es liegt vereinzelt und ihm bleibt vielleicht deren Heimsuchung erspart!«

Man konnte das wohl hoffen.

Es fehlte ja nicht an anderen Wohnungen, wo den Soldaten Sir John Colborne's offenbar eine reichere Beute winkte. Jetzt in den ersten Tagen des December mußte es auch bald Nacht werden, und damit bot sich vielleicht die Möglichkeit, doch noch, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, das Weite suchen zu können.

Die Vorbereitungen zur Abfahrt wurden also nicht unterbrochen. Galt es doch, sofort fertig zu sein, wenn der Wagen vor der Thür halten würde. War dann die Straße nur eine Stunde lang und auf die Strecke von drei Meilen frei, so gedachten die Flüchtlinge, im Falle der Zustand des Herrn de Vaudreuil das erforderte, in einer der Farmen der Grafschaft Unterkunft zu suchen.

Die Nacht kam ohne weitere Störung. Einige Abtheilungen Freiwilliger, die bis zum unteren Theil der Straße hinabgegangen waren, kehrten jetzt zurück. Das geschlossene Haus schien ihre Blicke nicht auf sich zu lenken. Die Hauptmacht der Colonne hatte sich in der Umgebung des Lagers von St. Charles festgesetzt. Dort herrschte ein wahrhaft betäubender Lärm, welcher für die Sicherheit der Bewohner nicht eben Gutes ahnen ließ.

Gegen sechs Uhr wünschte Bridget, daß Clary und Johann ein kleines Mahl verzehrten, das sie bereitet hatte. Herr de Vaudreuil aß kaum einen Bissen. Aufs äußerste erregt durch die Gefahr der Lage und durch die Nothwendigkeit, ihr Stand zu halten, erwartete er ungeduldig den Augenblick, sich auf den Weg zu machen.

Kurz vor sieben Uhr klopfte es leise an die Hausthür.

War das der Farmer, der den Wagen noch vor der verabredeten Zeit herbrachte? Jedenfalls war es keine Feindeshand, die mit solcher Vorsicht anklopfte.

Johann und Clary zogen sich in das Zimmer des Herrn de Vaudreuil, dessen Thür sie halb angelehnt ließen, zurück.

Bridget schritt durch die Hausflur und öffnete, nachdem sie die Stimme Luc Archambaut's erkannt hatte.

Der ehrsame Farmer kam, um Frau Bridget mitzutheilen, daß es ihm unmöglich sei, sein Versprechen einzulösen, und brachte das Geld für den Wagen wieder, den er nicht liefern konnte.

Seine Farm war nämlich ebenso wie die benachbarten Farmen von Soldaten besetzt worden.

Der Flecken selbst war eingeschlossen, und selbst wenn der Wagen Frau Bridget zur Verfügung gestanden hätte, würde sie davon haben keinen Gebrauch machen können.

Man mußte wohl oder übel warten, bis St. Charles endgiltig geräumt war.

Johann und Clary hörten von dem Zimmer aus, in dem sie regungslos stillstanden, was Luc Archambaut sagte; Herr de Vaudreuil natürlich ebenfalls.

Der Farmer setzte noch hinzu, daß Frau Bridget für das geschlossene Haus nichts zu fürchten habe, und daß die Rothröcke nur nach St. Charles zurückgekehrt seien, um die Polizei bei den vorzunehmenden Nachforschungen in allen Grundstücken des Ortes zu unterstützen. Und weshalb?. Weil das Gerücht ging, Johann ohne Namen habe sich hier im Flecken verborgen, wo nun alle Mittel daran gesetzt werden sollten, ihn zu entdecken.

Als der Farmer den Namen ihres Sohnes aussprach, unterdrückte Bridget jede Bewegung, die sie hätte verrathen können.

Luc Archambaut zog sich dann zurück, und Bridget sagte, als sie das Zimmer betrat:

»Entfliehe, Johann! Flieh' auf der Stelle!

- Es muß sein, rief Herr de Vaudreuil.

- Fliehen ohne Sie? erwiderte Johann.

- Sie haben nicht das Recht, sich für uns zu opfern, erklärte Clary. Das Vaterland geht vor.

- Und ich gehe doch nicht von hier! sagte Johann. Ich werde Sie nicht den Gewaltthätigkeiten und Rohheiten dieser Schurken ausgesetzt lassen!.

- Und was könnten Sie thun, Johann?

- Das weiß ich nicht, aber ich weiche nicht von hier!«

Der Entschluß Johanns schien so unerschütterlich, daß Herr de Vaudreuil ihn gar nicht weiter zu bekämpfen sachte.

Es wird sich übrigens zeigen, daß eine Flucht unter den jetzigen Umständen auch nur wenig Aussicht auf Gelingen gehabt hätte. Der ganze Flecken war ja nach der Aussage Luc Archambaut's eingeschlossen, die Landstraße von Soldaten überwacht, und durch das platte Land streiften Einzelabtheilungen Cavallerie.

Da Alle auf Johann aufmerksam gemacht waren, hätte dieser ihnen wohl kaum entgehen können, und so erschien es vielleicht rathsamer für ihn, im geschlossenen Hause zu bleiben.

Diese Erwägungen waren es jedoch keineswegs, welche seinen Entschluß bestimmt hatten, doch war's ihm unmöglich, seine Mutter, sowie Herrn und Fräulein de Vaudreuil zu verlassen.

Hatte man sich hierüber geeinigt, so entstand die Frage, ob die drei Zimmer des geschlossenen Hauses oder der darüber gelegene Boden wohl ein verläßlicheres Versteck enthalte, in dem sich die zwei meist gefährdeten Bewohner den Nachforschungen der Beamten zu entziehen hoffen durften.

Johann hatte nicht Zeit genug, sich hiervon zu unterrichten.

Fast gleichzeitig erzitterte die Thür unter gewaltsamen Schlägen.

Der kleine Vorhof war schon von einem Dutzend Polizisten besetzt.

»Aufmachen! rief man von außen, während die Schläge sich verdoppelten. Aufmachen, oder wir sprengen die Thür.«

Johann und Clary schlossen eiligst das Zimmer des Herrn de Vaudreuil und begaben sich in dasjenige Bridgets, von wo aus sie Alles besser hören konnten.

In dem Augenblicke, wo Bridget durch die Hausflur nach vorn ging flog die Thür des geschlossenen Hauses in Stücke.

Ein heller Schein, von den Fackeln, welche die Polizisten trugen, herrührend, drang in den schmalen Gang.

»Was wollen Sie hier? fragte Bridget einen der Männer.

- Ihr Haus durchsuchen, antwortete dieser. Hat sich Johann ohne Namen hierher geflüchtet, so verhaften wir erst diesen und dann setzen wir Ihnen den rothen Hahn aufs Dach!

- Johann ohne Namen ist nicht hier, erklärte Bridget ruhigen Tones, und ich weiß auch nicht.« Plötzlich drängte sich der Führer des Polizeitrupps schnell nach der alten Frau vor.

Es war Rip - dessen Stimme ihr schon auffiel, als Johann eben ins geschlossene Haus getreten - Rip, der ihren Gatten einst zu jenem abscheulichen Verbrechen zu verleiten gewußt hatte.

Bridget erkannte ihn höchst bestürzt.

»Ah, sieh' da! rief Rip erstaunt, das ist ja Frau Bridget. Das ist die Gattin jenes braven Simon Morgaz!«

Als er den Namen seines Vaters nennen hörte, wich Johann bis tief ms Zimmer zurück.

Bridget, welche diese entsetzliche Erinnerung wie ein Donnerschlag traf, fand nicht die Kraft zu einer Antwort.

»Wahrhaftig!. Frau Morgaz!. wiederholte Rip. In der That, ich hätte geglaubt, daß Sie nicht mehr unter den Lebenden wandelten!. Wer hätte auch erwartet, Sie hier und nach vollen zwölf Jahren wiederzusehen!«

Bridget schwieg noch immer.

»Vorwärts, Ihr Leute, fügte Rip, sich an seine Leute wendend, hinzu, hier haben wir nichts zu thun! - Wackre Frau, die Bridget Morgaz!. Sie wird keinen Rebellen verbergen!. Kommt, wir wollen unsere Nachsuchungen an anderer Stelle fortsetzen! Da Johann ohne Namen in St. Charles ist, müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir ihn nicht fänden!«

Rip, dem seine Beamten folgten, war bald nach der Straße hinauf verschwunden.

Das Geheimniß Bridgets und ihres Sohnes war aber jetzt enthüllt. Hatte auch Herr de Vaudreuil nichts hören können, so konnte Clary doch kein Wort entgangen sein.

Johann ohne Namen war der Sohn von Simon Morgaz!

In einer ersten Erregung des Entsetzens eilte Clary, aus dem Zimmer Bridgets entfliehend, nach dem ihres Vaters.

Johann und Bridget waren allein.

Nun wußte Clary Alles - Alles!

Bei dem Gedanken, sich ihr und Herrn de Vaudreuil gegenüber zu befinden, dem Freunde jener Patrioten, denen der Verrath Simon Morgaz' den Kopf gekostet hatte, fürchtete Johann den Verstand zu verlieren.

»Mutter, liebste Mutter! rief er; keinen Augenblick bleib' ich mehr hier!. Herr und Fräulein de Vaudreuil bedürfen meiner nicht mehr, um sie zu vertheidigen!. Sie werden - im Hause eines Morgaz in Sicherheit sein!. Leb' wohl!.

- Mein Sohn!. Mein Sohn!. murmelte Bridget. Ach, Du Unglücklicher! Glaubst Du, ich hätte Dich nicht durchschaut?. Du, der Sohn von. Du liebst Clary de Vaudreuil!

- Ja, Mutter, was soll ich es leugnen, doch eher würd' ich sterben, eh' ich ihr eine Silbe davon sagte!« Und Johann stürmte aus dem geschlossenen Hause fort.

Sechstes Capitel Meister Nick in Walhatta

Nach dem Vorfall in Chipogan und dem Mißerfolg der Polizisten und Freiwilligen waren Thomas Harcher und seine Söhne, welche sich nach außerhalb des canadischen Gebietes hatten flüchten müssen, zurückgekehrt, um an dem Kampfe von St. Charles theilzunehmen. In Folge dieser traurigen Niederlage aber, welche Remy das Leben gekostet, hatten Thomas, Pierre, Michel, Tomy und Jacques sich den Reformern in St. Albans an der amerikanischen Grenze angeschlossen.

Was den Meister Nick angeht, weiß der Leser, daß dieser sich wohl gehütet hatte, in Montreal wieder zu erscheinen, da er sein Auftreten in Chipogan nur schwer hätte erklären können. Trotz der Achtung, die er überall genoß, würde Gilbert Argall doch nicht gezögert haben, ihn wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu verfolgen. Dann hätten sich die Pforten des Gefängnisses von Montreal sicherlich hinter ihm geschlossen, und in Gesellschaft mit ihm hätte Lionel hinreichend Muße gefunden, sich seinen poetischen Eingebungen intra muros zu widmen.

Meister Nick hatte also das einzige Theil erwählt, welches die Umstände ihm aufnöthigten: den Mahogannis nach Walhatta zu folgen und unter dem Dache seiner Ahnen zu warten, bis eine Beruhigung der Gemüther ihm gestattete, seine Rolle als Häuptling eines Indianerstammes aufzugeben und bescheiden in seine Expedition wieder einzuziehen.

Lionel freilich begriff das nicht. Der junge Dichter rechnete sicher darauf, daß der Notar für immer sein amtliches Schild am Markte Bon Secours abreißen und den berühmten Namen der Sagamores bei den Huronen verewigen würde.

Zwei Meilen von der Farm zu Chipogan, im Dorfe Walhatta, hatte sich Meister Nick seit einigen Wochen häuslich eingerichtet. Hier begann ein ganz neues Leben für den Gerichtsschreiber. Wenn Lionel begeistert war von dem Empfang, den die Männer, Greise, Weiber und Kinder seinem Patron zu Theil werden ließen - so ist es nicht genug, das auszusprechen, man mußte es vielmehr selbst sehen.

Das Flintenknattern, das ihn begrüßte, die Ehrenbezeigungen, die man ihm darbrachte, die Freudenrufe, die für ihn ertönten, die feierlichen Reden, die an ihn gerichtet wurden, die Antworten, welche er in der bilderreichen Sprache der Phraseologie des Fernen-Westen ertheilen mußte - alles das war gewiß dazu angethan, der menschlichen Eitelkeit zu schmeicheln. Jedenfalls betrachtete der vortreffliche Mann mit bitterer Empfindung die verzwickte Geschichte, in welche er gegen seinen Willen verwickelt worden war; und wenn auch Lionel dem Dunste der Schreibstube und den staubigen Acten die freie Luft der Prairie beiweitem vorzog, wenn die Redekunst der Mahoganni-Krieger ihm dem Jargon der Rechtsbeflissenen hoch überlegen schien, so theilte Meister Nick diese Anschauungen doch nicht im mindesten.

Das veranlaßte auch zwischen ihm und seinem Schreiber manche Auseinandersetzungen, welche damit endeten, daß Beide auf recht gespanntem Fuße zu einander standen.

Obendrein fürchtete Meister Nick, daß er noch gar nicht am Ende dieser Prüfungen sei. Er sah schon die Huronen sich rüsten, um für die Patrioten mit in den Kampf einzutreten, ohne daß er die Möglichkeit erkannte, sich ihnen zu widersetzen, wenn diese aufbrechen wollten, wenn Johann ohne Namen sie zu Hilfe riefe oder wenn Thomas Harcher und seine Söhne in Walhatta seine Vermittelung in Anspruch nähmen. Schon jetzt schwer compromittirt, wie würde er das erst sein, wenn er an der Spitze einer wilden Völkerschaft gegen die anglo-canadische Regierung ins Feld zog! Wie konnte er dann jemals hoffen, in Montreal seine Thätigkeit als Notar wieder aufnehmen zu dürfen!

Und doch sagte er sich, daß die Zeit am Ende ja Alles ausgleicht. Schon waren mehrere Wochen seit dem Handgemenge zu Chipogan verstrichen, und da sich dieses zu einem einfachen Act des Widerstandes gegen die Polizei reducirte, so ließ man die ganze Sache wahrscheinlich in Vergessenheit gerathen. Uebrigens war die eigentliche aufständische Bewegung noch gar nicht zum Ausbruch gekommen, und nichts wies darauf hin, daß dieser besonders nahe bevorstehe.

Herrschte in Canada fernerhin die gewünschte Ruhe, so würden sich die Behörden jedenfalls tolerant zeigen, und Meister Nick konnte dann ohne Gefahr nach Montreal heimkehren.

Lionel dagegen rechnete stark darauf, daß diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen werde. Er. er wollte seine Beschäftigung in der Expedition nicht wieder aufnehmen und je sechs Stunden von zehn trockene Urkunden abschreiben!. Nein, lieber wollte er Waldläufer oder Bienenjäger werden! Er sollte seinem Brodherrn gestatten, die hohe Stellung, welche jener bei den Mahogannis einnahm, wieder aufzugeben?. Niemals! Für ihn gab es überhaupt keinen Meister Nick mehr; es war nur noch der legitime Abkomme der uralten Rasse der Sagamores! Auch die Huronen würden ihn voraussichtlich nicht wieder die Streitaxt des Krieges mit der Feder des Amtsschreibers vertauschen lassen!

Seit seinem Eintreffen in Walhatta hatte Meister Nick in dem Wigwam wohnen müssen, von dem aus sein Vorgänger dahin gegangen war, um seine Ahnen in den seligen Jagdgründen aufzusuchen. Lionel hätte alle Gebäude Montreals, Hotels und Paläste für diese ungemüthliche Hütte hingegeben, nach der sich freilich junge Männer und junge Frauen drängten, seinen Herrn und Meister zu bedienen. Auch er erhielt einen guten Theil ihrer Ehrenbezeigungen. Die Mahogannis betrachteten ihn ja als die rechte Hand ihres großen Häuptlings. Und wenn dieser nicht umhin konnte, am Berathungsfeuer das Wort zu ergreifen, konnte Lionel sich nicht enthalten, die Reden Nicolas Sagamore's mit den ausdrucksvollsten Gesten zu begleiten.

Es ergibt sich hieraus, daß der junge Schreiber der Glücklichste unter den Sterblichen gewesen wäre, wenn sein Herr und Meister sich nicht hartnäckig geweigert hätte, seinen liebsten Wunsch zu erfüllen. Meister Nick hatte nämlich die Tracht der Mahogannis noch immer nicht angelegt. Lionel wünschte aber nichts sehnlicher, als ihn endlich einmal in Huronenkleidung zu sehen, mit Mocassins an den Füßen, hochaufstrebenden Federn auf dem Kopfe und mit dem gestreiften Mantel um die Schultern. Immer und immer wieder hatte er ihn dazu zu bewegen versucht - stets vergeblich; doch ließ er sich durch die schlechte Aufnahme, welche sein Vorschlag fand, keineswegs abschrecken.

»Er wird schon nachgeben! wiederholte er sich. Ich lasse ihn einmal nicht in der Kleidung eines Notars die Herrschaft führen! Ich bitte einen Menschen, wonach sieht er denn aus in seinem langen Ueberrock, der Sammetweste und der weißen Halsbinde? Noch hat er den alten Adam nicht ausgezogen, doch das wird schon kommen! Wenn er in der Versammlung der Vornehmsten seines Standes den Mund aufthut, fürchte ich immer ihn sagen zu hören: »In Anwesenheit des Meister Nick und seines Amtsbruders.!« Das kann nicht so fortgehen! Ich bestehe darauf, daß er die Tracht der eingebornen Krieger anlegt, und wenn es einer Gelegenheit bedarf, ihn dazu zu bestimmen, so werd' ich eine solche schon herbeizuführen wissen!«

Zu diesem Zwecke kam Lionel denn auch auf einen höchst einfachen Gedanken. Aus seinen gelegentlichen Gesprächen mit den ersten Männern in Walhatta erkannte er, daß diese ihren Häuptling nur mit großem Leidwesen noch nach europäischer Art gekleidet sahen. Auf die Einflüsterungen des jungen Schreibers hin beschlossen die Mahogannis also, eine feierliche Throneinsetzung ihres Häuptlings vorzunehmen, und entwarfen deshalb das Programm zu dieser Festlichkeit, an der auch die benachbarten Stämme theilnehmen sollten. Dazu war ein Feuerwerk, Tänze und Festmahl vorgesehen, wobei doch Meister Nick unmöglich den Vorsitz führen konnte, ohne in der Nationaltracht zu erscheinen.

Dieser Beschluß war in der zweiten Hälfte des Monats November endgiltig gefaßt worden, wobei man die Festlichkeit selbst für den 23. desselben Monats bestimmte, so daß alle Vorbereitungen beschleunigt werden mußten, um dieser den möglichsten Glanz zu verleihen.

Hätte Meister Nick sich am bezeichneten Tage nur darauf zu beschränken gehabt, daß er die Huldigung seines Volkes entgegennahm, so hätte man ihm wohl die ganze Sache verheimlichen und ihn zuletzt damit überraschen können. Da er aber in der Stellung und Kleidung eines Huronenhäuptlings dabei eine thätige Rolle zu spielen hatte, wurde der junge Schreiber beauftragt, ihn von dem Plane zu unterrichten.

Aus diesem Grunde nun hatte Lionel am 22. November mit ihm ein Zwiegespräch, in dem die schwebende Frage zum größten Mißvergnügen Meister Nick's ausführlich behandelt wurde.

Zuerst, als dieser vernahm, daß der Stamm ihm zu Ehren eine Festlichkeit vorhatte, begann er damit, diesen gleich mit seinem Schreiber zum Teufel zu wünschen.

»Möge Nicolas Sagamore geruhen, dem Rathe eines Bleichgesichtes zu folgen, antwortete Lionel.

- Von welchem Bleichgesicht sprichst Du? fragte Meister Nick, der ihn nicht verstand.

- Von Ihrem ergebenen Diener, großer Häuptling.

- Nun, dann nimm Dich in Acht, daß ich aus Deinem bleichen Gesichte nicht mit einer gepfefferten Ohrfeige ein rothes mache!«

Lionel hielt es nicht für nothwendig, dieser Drohung die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, und fuhr unbeirrt fort:

»Möge Nicolas Sagamore niemals vergessen, daß ich ihm stets tief ergeben bin! Fiele er je in die Gefangenschaft der Sioux, der Oneidas, der Irokesen oder anderer Wilder, wäre er schon an den Marterpfahl gefesselt, so würde ich es sein, der ihn gegen jede Gewaltthat, gegen die Klauen der alten Weiber schützte, und nach seinem Tode würde ich es sein, der seine Axt und seine Friedenspfeife in sein Grab niederlegte.«

Meister Nick wollte Lionel nach Belieben schwatzen lassen, da er sich schon vorgenommen hatte, das Gespräch auf eine Art zu beendigen, von der Lionels Ohren noch lange Zeit die Spuren zeigen sollten.

So begnügte er sich denn zu antworten:

»Es handelt sich also darum, mich den Wünschen der Mahogannis geneigt zu machen?

- Ja, den Wünschen des Stammes.

- Nun gut, es sei darum. Wenn es nicht anders geht, werd' ich dem Feste beiwohnen.

- Sie hätten es gar nicht abschlagen können, da ja das Blut der Sagamores in Ihren Adern fließt.

- Das Blut der Sagamores gemischt mit dem Blute eines Notars!« knurrte Meister Nick.

Darauf berührte Lionel den kitzlichsten Punkt der Sache.

»Einverstanden, sagte er, der große Häuptling wird der Feierlichkeit beiwohnen. Doch um sich dort in seinem Range entsprechender Erscheinung zu zeigen, wird es nöthig sein, daß er sich auf dem Schädeldache ein Büschel Haare nach oben hin in eine Spitze auslaufend ordnen läßt.

- Und warum?

- Aus Rücksicht auf die Ueberlieferungen.

- Was?. Die Ueberlieferungen verlangten, daß.

- Ja; und wenn der Chef der Mahogannis jemals auf dem Kriegspfade fiele, so muß ihn doch, als Zeichen des Sieges, ein Feind regelrecht skalpiren können.

- Richtig! antwortete Meister Nick. Es ist nothwendig, daß meine Feinde mich skalpiren können. Da faßt er dann wohl an jenem Haarschopf an?.

- Das ist Indianersitte, und kein Krieger würde von derselben abgehen. Jede andere Haartracht müßte die Kleidung beleidigen, welche Nicolas Sagamore am Tage der Feierlichkeit anlegen wird.

- Ach, ich werde mich schmücken mit.

- Die Leute arbeiten augenblicklich an diesem Feierkleide. Es wird prächtig ausfallen, das Wams aus Damhirschfell, die Mocassins aus Naturleder, der Mantel, den der Vorgänger Nicolas Sagamore's trug, ohne die Bemalung des Gesichts zu rechnen.

- Das Gesicht wird dazu auch noch bemalt?

- Erst nachdem die berühmten Künstler des Stammes die Tätowirung der Arme und der Brust vollendet haben.

- Fahre nur fort, Lionel, antwortete Meister Nick mit zusammengepreßten Zähnen, Du rufst mein lebhaftestes Interesse wach. Die Gesichtsmalerei, der Haarschopf, die Mocassins aus Naturleder, die Tätowirung der Brust. Du hast doch nichts vergessen?

- Nichts, versicherte der junge Schreiber, und wenn der große Häuptling sich dann in der Tracht, die seine Vorzüge nur noch mehr hervorheben wird, den versammelten Kriegern zeigt, so zweifle ich keinen Augenblick, daß die schönsten Indianerinnen sich darum streiten werden, seinen Wigwam mit ihm theilen zu dürfen.

- Wie? Die Indianerinnen sollten kämpfen um die Gunst?.

- Und um die Ehre, dem Erwählten des großen Geistes eine lange Nachkommenschaft zu sichern!

- Da wird es also rathsam, daß ich eine Huronin heirate? fragte Meister Nick.

- Ja, könnte es um der Zukunft der Mahagannis willen denn anders sein? Sie haben übrigens schon eine Sqwaw von edler Geburt ausgewählt, die sich dem Glücke des großen Häuptlings weihen wird.

- Und kannst Du mir auch sagen, wer die rothhäutige Prinzessin sein wird, die sich zu opfern bereit wäre?.

- O, gewiß! antwortete Lionel, sie ist der Ahnenreihe der Sagamore ganz würdig!

- Und wer ist sie?

- Die Witwe des Vorgängers.«

Es war ein Glück für die Wangen des jungen Schreibers, daß er diese in respectvoller Entfernung von Meister Nick hielt, denn dieser holte zu einer wirklich preiswerthen Ohrfeige aus. Diese gelangte nur nicht an ihre Adresse, da Lionel die Entfernung weislich berechnet hatte, und sein Herr mußte sich wohl oder übel begnügen, ihn anzudonnern:

»Höre wohl auf, Lionel, wenn Du jemals auf diese Geschichte zurückkommst, zerre ich Dir die Ohren so lang, daß Du Methusalems Esel, sowie den David La Gamme's um die seinigen nicht mehr zu beneiden brauchst!«

Nach diesem Vergleiche, der im letzten Theile Lionel an einen alten Helden von Cooper's »Letzten der Mohikaner« erinnerte, zog sich dieser, da er seine Mittheilungen beendet hatte, wohlweislich zurück. Meister Nick hingegen war nicht weniger wüthend auf seinen Schreiber, wie auf alle Vornehmen des Stammes. Er. er sollte zu jener Ceremonie ganz die Mahogannitracht anlegen! Er sollte gezwungen werden, sich das Haar anders ordnen, sich aufputzen, ausmalen und tätowiren zu lassen, wie es seine Vorfahren gethan und gelitten hatten!

Und doch sah der höchst ärgerliche Meister Nick keinen Ausweg, sich den begleitenden Anforderungen seiner dermaligen Stellung zu entziehen. Und je mehr der große Tag herannahte, desto mehr quälte ihn die Frage, ob er es wagen sollte und könnte, den Blicken seiner Krieger in diesem Notaranzuge, vielleicht die friedlichste Tracht aller jener, welche die Tradition den Männern des Gesetzes je aufgezwungen, gegenüberzutreten.

Inzwischen traten - zum Glück für den Erben der Sagamores - sehr ernsthafte Ereignisse ein, welche die Pläne der Mahogannis in weitere Ferne zu rücken versprachen.

Am 23. gelangte eine wichtige Nachricht nach Walhatta. Die Patrioten von St. Denis hatten - wie im Vorhergehenden geschildert - die von dem Obersten Gore befehligten Truppen zurückgeschlagen.

Diese Neuigkeit erregte unter den Huronen laute Ausbrüche der Freude. Wir sahen schon, damals bei der Farm von Chipogan, daß ihre Sympatien der Sache der Unabhängigkeit zugewendet waren, und es bedurfte gewiß nur der passenden Gelegenheit, um sie zum Anschluß an die französischen Canadier zu bewegen.

Dieser Sieg freilich war es nicht - das wußte Meister Nick nur zu gut - der die Krieger seines Stammes veranlassen konnte, die Vorbereitungen zu dem ihm zu Ehren geplanten Feste aufzugeben. Im Gegentheile würden sie dasselbe nur mit noch mehr Begeisterung feiern und ihr Häuptling konnte dann einer Art Krönung unmöglich aus dem Wege gehen.

Drei Tage später folgten diesen guten Neuigkeiten aber die schlechten. Nach dem Siege von St. Denis die Niederlage von St. Charles.

Und als sie von den blutigen Repressalien hörten, zu denen sich die Loyalisten hatten hinreißen lassen, welche Ueberschreitungen diese begangen, wie sie geplündert, Brand gelegt, gemordet und zwei Ortschaften zerstört hatten, da konnten die Mahogannis ihre Wuth kaum noch zurückhalten. Von hier aus aber bis zu einer Massenerhebung, um den Patrioten zu Hilfe zu eilen, das war dann nur noch ein Schritt, und Meister Nick konnte fürchten, daß sie auch diesen unverzüglich thun würden.

Das legte dem Notar, der gegenüber den Behörden in Montreal schon etwas compromittirt war, die Frage nahe, ob er sich damit nicht das eigene Grab graben würde. Wenn er sich nun gar gezwungen sah, an die Spitze seiner Krieger zu treten und gemeinschaftliche Sache mit den Aufständischen zu machen? Jedenfalls konnte unter solchen Verhältnissen wenigstens von der großen Festlichkeit nicht mehr die Rede sein. Doch welchen Empfang bereitete er Lionel, als der junge Schreiber mit der Meldung kam, die Stunde habe geschlagen, um den Tomahawk auszugraben und ihn auf dem Kriegspfade zu schwingen!

Von diesem Tage an ließ es sich Meister Nick die vornehmste Sorge sein, jene kriegerischen Gelüste herabzustimmen. Wenn die Streitlustigsten kamen, um ihm zuzusetzen, daß er sich gegen die Unterdrücker erklären sollte, gab er sich die größte Mühe, weder ja noch nein zu sagen. Es empfehle sich, antwortete er etwa, nur nach reifster Ueberlegung zu handeln und erst abzuwarten, welche Folgen die Niederlage bei St. Charles haben werde. Vielleicht waren die Grafschaften jetzt schon von den Königlichen besetzt?. Und dann wußte man auch nicht, was die augenblicklich in alle Winde zerstreuten Reformer schon etwa planten, nach welchem Orte sie sich zurückgezogen und wo man zu ihnen stoßen könne. Sollten sie nicht gar ihre Pläne für jetzt aufgegeben haben, um zur Wiederaufnahme derselben eine günstigere Gelegenheit abzuwarten? Die Hauptführer befanden sich auch vielleicht in der Gewalt der Bureaukraten und wurden in den Gefängnissen von Montreal zurückgehalten?

Das waren doch recht vernünftige Gegengründe, welche Meister Nick seinen ungeduldigen Prätorianern vorführte. Diese nahmen dieselben freilich nicht so ohne Widerspruch hin. Einen oder den andern Tag konnten dieselben sich doch von ihrem Zorn hinreißen lassen, und dann mußte der Häuptling ihnen ja wohl oder übel folgen. Vielleicht kam dem geängstigten Notar gar der Gedanke, sich von seinem Stamme wegzustehlen. Doch das hatte seine Schwierigkeiten, denn man überwachte ihn schärfer, als er wohl selbst glaubte.

Und dann, in welchem Lande hätte er sein Wanderleben führen sollen? Das verleidete es ihm, Canada, seine Heimat, zu verlassen. Hielt er sich aber in einem Dorfe der Grafschaft verborgen, wo höchst wahrscheinlich Beamte Gilbert Argall's auf der Lauer lagen, so lief er Gefahr, diesen bald genug in die Hände zu fallen.

Ueberdies wußte Meister Nick nicht, was aus den Hauptführern des Aufstandes geworden war. Obgleich einige Mahogannis bis zu den Ufern des Richelieu und des St. Lorenzo hinausritten, hatten sie hierüber nichts Bestimmtes erfahren können. Selbst in der Farm zu Chipogan wußte Catherine nicht, was aus Thomas Harcher und ihren Söhnen, was aus Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter, nicht, was aus Johann ohne Namen geworden sei, der sich nach den Ereignissen bei St. Charles in das geschlossene Haus zurückgezogen hatte.

Er mußte die Dinge also ihren Lauf nehmen lassen, und das gefiel Meister Nick nicht gar so wenig. Nur Zeit gewinnen und mit der Zeit einen friedlicheren Zustand der Dinge sich herausgestalten sehen, dahin vereinigten sich alle seine Wünsche.

In Bezug hierauf kam es wieder zu neuen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und seinem jungen Schreiber, der die Loyalisten reinweg verfluchte. Die letzten Nachrichten hatten bei ihm dem Fasse noch den Boden ausgeschlagen. Jetzt war keine Zeit mehr zum Scherzen! Er machte keine Witze mehr über den Kriegspfad, über die auszugrabende Streitaxt, über das Blut der Sagamores, noch über den Indianeraufputz, den er sonst so gern im Munde führte. Er dachte jetzt nur noch an die so bedrohte nationale Sache. Was mochte aus dem heldenhaften Johann ohne Namen geworden sein? War er bei St. Charles etwa gefallen? Nein, dann hätte sich die Nachricht von seinem Tode gewiß verbreitet, und die Behörden würden nichts unterlassen haben, diese Verbreitung zu unterstützen. Das hätte Jedermann in Chipogan wie in Walhatta gehört. Doch, wenn er noch lebte, wo befand er sich dann? Lionel hätte das Leben daran gewagt, es zu wissen.

Mehrere Tage verstrichen ohne besondere Veränderung der Lage. Ein- oder zweimal drang allerdings das Gerücht bis zum Dorfe der Mahogannis, daß die Patrioten sich wieder zum Kampfe rüsteten, dasselbe blieb aber ohne Bestätigung.

Auf ausdrücklichen Befehl Lord Gosford's wurden in den Grafschaften von Montreal und Laprairie die Nachsuchungen fortgesetzt. Zahlreiche Truppenabtheilungen hielten die beiden Ufer des Richelieu besetzt. Fort und fort wurden die Bewohner der verschiedenen Ortschaften durch Haussuchungen in Athem gehalten. Sir John Colborne hatte seine Colonne bereit, sofort nach jeder Stelle abzumarschiren, wo die Fahne der Empörung wieder aufflatterte. So bald die Patrioten es wagten, die amerikanische Grenze zu überschreiten, mußten sie überall auf beträchtliche Streitkräfte stoßen.

Am 5. December hörte Lionel, der zur Einziehung von Erkundigungen in der Richtung nach Chambly zu gegangen war, daß im ganzen District von Montreal der Belagerungszustand erklärt worden war. Gleichzeitig bot der General-Gouverneur eine Belohnung von viertausend Piastern Jedem, der den Abgeordneten Papineau einliefern würde. Andere Preise wurden ferner ausgesetzt auf die Gefangennahme der Führer - unter Anderen auf die des Herrn de Vaudreuil und Vincent Hodge's. Man sagte auch, daß eine große Anzahl Reformer schon in den Gefängnissen von Quebec saßen, daß sie vor das Kriegsgericht gestellt würden und daß das politische Schaffot bald weitere Opfer verschlingen sollte.

Das waren sehr ernste Dinge. Würden nun die Söhne der Freiheit auf die gegen sie erlassenen Decrete durch eine letzte Ergreifung der Waffen antworten? Oder sank ihnen vielleicht der Muth angesichts dieser unwiderstehlichen Gewaltmaßregeln? Das war die Ansicht des Meister Nick. Er wußte, daß die Aufstände, wenn sie nicht gleich im Anfange durchschlagenden Erfolg haben, nur selten oder niemals noch später Aussicht dazu besitzen.

Freilich war das nicht die Anschauung der Mahoganni-Krieger und ebensowenig die Lionels.

»Nein! wiederholte er dem Notar, nein! Die Sache ist noch nicht verloren, und so lange Johann ohne Namen lebt, verzweifeln wir nicht daran, unsere Unabhängigkeit wieder zu erlangen.«

Im Laufe des Tages trat ein Vorfall ein, der Meister Nick wieder derselben schwierigen Lage aussetzen sollte, der er sich glücklich entronnen glaubte, da jener die kriegerischen Neigungen der Huronen bis zum Paroxysmus steigerte.

Seit einigen Tagen hatte man aus verschiedenen Kirchspielen des Landes die Anwesenheit des Abbe Joann gemeldet. Der junge Priester durchwanderte die Grafschaft Laprairie und predigte den Massenaufstand der franco-canadischen Bevölkerung. Seine flammensprühenden Reden kämpften nicht ohne Mühe gegen die Entmuthigung an, von welcher verschiedene Patrioten seit der Niederlage von St. Charles ergriffen waren.

Der Abbe Joann gab sich einer solchen nicht hin. Er ging seinen Weg geradeaus, beschwor seine Mitbürger sich bereit zu halten, um die Waffen zu ergreifen, sobald ihre Führer wieder im Districte erschienen.

Sein Bruder war freilich jetzt nicht da, und er wußte auch nicht, was aus ihm geworden sei. Ehe er seine Wanderpredigten wieder aufnahm, hatte er sich nach dem geschlossenen Hause begeben, um seine Mutter zu umarmen und Nachrichten von Johann einzuziehen.

Das geschlossene Haus blieb vor ihm verschlossen!

Joann machte sich auf, seinen Bruder zu suchen. Auch er konnte nicht glauben, daß derselbe gefallen sei, denn die Nachricht von seinem Tode hätte den verbreitetsten Widerhall finden müssen. So sagte er sich, daß Johann jedenfalls an der Spitze seiner Gefährten zurückkehren werde.

Die Anstrengungen des jungen Geistlichen richteten sich dann vorzüglich dahin, die Indianer aufzuwiegeln, und vor Allen die Krieger huronischen Stammes, welche ja danach verlangten, in den Kampf eintreten zu können. Unter diesen Verhältnissen traf der Abbe Joann bei den Mahogannis ein. Meister Nick mußte ihn schon gut aufnehmen; er hätte den Neigungen seines Stammes sich doch nicht zu widersetzen vermocht.

»Nun, sei es darum! sagte er sich kopfschüttelnd, es kann einmal Niemand seinem Schicksal entgehen. Wenn ich auch nicht weiß, wie die Rasse der Sagamores einst angefangen hat, so weiß ich leider zu gut, wie sie endigen wird!. Das wird vor dem Kriegsgericht sein!«

In der That zeigten sich die Huronen gern bereit, mit ins Feld zu ziehen, und Lionel hatte nicht wenig beigetragen, sie dazu anzureizen.

Seit seinem Eintreffen in Walhatta hatte sich der junge Schreiber als einer der wärmsten Anhänger des Abbe Joann erwiesen. Er fand in demselben nicht allein die ganze Gluth seines eigenen Patriotismus wieder, sondern er wurde auch ganz eigenthümlich berührt von der auffallenden Aehnlichkeit zwischen dem jungen Pater und Johann ohne Namen: fast dieselben Augen, dieselben feurigen Blicke, fast dieselbe Stimme und die gleichen Bewegungen! Er glaubte wirklich seinen Helden im Gewande eines Priesters wiederzusehen, glaubte ihn zu hören. War es nur eine Sinnestäuschung? Er hätte es nicht sagen können.

Seit zwei Tagen befand sich der Abbe Joann in der Mitte der Mahogannis, und diese verlangten nur, sich den Patrioten anzuschließen, welche ihre Streitkräfte in der Entfernung von etwa vierzig Lieues im Südosten, auf der Insel Navy, einer der Inseln des Niagara, zusammengezogen hatten.

Meister Nick sah sich also gezwungen, den Kriegern seines Stammes zu folgen.

In Walhatta wurden die nöthigen Vorbereitungen unmittelbar getroffen. Wenn die Mahogannis ihr Dorf verlassen hatten, wollten sie durch die angrenzenden Grafschaften ziehen, die Bevölkerung indianischen Stammes aufwiegeln, dann sich nach den Ufern des Ontario-Sees begeben und, bis zum Niagara weiter marschirend, sich den letzten Parteigängern der nationalen Sache anschließen.

Da unterbrach eine Nachricht diese Bewegung - wenigstens zeitweilig.

Am Abend des 9. December brachte ein von Montreal zurückkehrender Hurone die Nachricht mit, daß Johann ohne Namen, den die Agenten Gilbert Argall's an der Grenze von Ontario gefangen hätten, in das Fort Frontenac gebracht worden sei.

Die Wirkung dieser Nachricht kann man sich leicht vorstellen: Johann ohne Namen befand sich in der Gewalt der Königlichen!

Die Mahogannis waren wie vom Donner gerührt, und man denke sich erst die Aufregung, als der Abbe Joann, von dieser Verhaftung unterrichtet, ausrief:

»Mein Bruder!«

Dann fuhr er fort.

»Ich werde ihn vom Tode retten!

- Laßt mich mit Euch gehen! bat Lionel.

- Komm, mein Kind!« antwortete der Abbe Joann.

Siebentes Capitel Das Fort Frontenac

Johann glich einem Geisteskranken, als er aus dem geschlossenen Hause geflohen war. Das mit so rauher Hand zerrissene Geheimniß seines Lebens, die schrecklichen Worte Rip's, welche Clary gehört haben mußte, der Umstand, daß Fräulein de Vaudreuil jetzt aufgeklärt worden war, daß ihr Vater und sie bei der Gattin und bei dem Sohne jenes Simon Morgaz Zuflucht gefunden - daß Herr de Vaudreuil dasselbe sehr bald erfahren mußte, wenn er es in seinem Zimmer nicht überhaupt schon gehört hatte - Alles das trieb ihn rein zur Verzweiflung. In diesem Hause hätte er auch keinen Augenblick mehr verweilen können. Ohne sich Sorge darum zu machen, was Herr und Fräulein de Vaudreuil widerfahren könne, ohne sich zu fragen, ob der schmachbedeckte Name seiner Mutter hinreichen würde, sie gegen jede weitere Verfolgung zu sichern, ohne sich vorzustellen, daß Bridget gewiß nicht mehr werde in dem Orte wohnen wollen, wo ihr Herkommen bekannt werden mußte, und von wo man sie ohne Zweifel vertreiben würde, war er sinnlos durch die dichten Wälder geeilt, die Nacht hindurch gelaufen, denn nirgendwo glaubte er sich weit genug entfernt von Denen, für die er von jetzt ab nur ein Gegenstand der Verachtung und des Schreckens sein konnte.

Und doch war sein Werk noch nicht vollendet! Seine Pflicht blieb es zu kämpfen, so lange er lebte! Er mußte sich tödten lassen, ehe sein wahrer Name bekannt werden konnte! War er erst todt, gefallen für das Vaterland, dann hatte er vielleicht wieder ein Anrecht, wenn auch nicht auf die Achtung, so doch auf das Mitleid seiner Nebenmenschen!

Allmählich begann wieder etwas Ruhe einzuziehen in das tieferregte Herz. Mit dem kalten Blute kehrte ihm auch die Thatkraft wieder, welche keine Anwandlung von Schwäche wieder lahmlegen sollte.

Auf seiner Flucht strebte er eiligst der Grenze zu, um die Patrioten wieder zu finden und einen neuen aufständischen Feldzug vorzubereiten.

Um sechs Uhr Morgens befand sich Johann schon vier Meilen von St. Charles, nahe dem rechten Ufer des St. Lorenzo und an der Grenze der Grafschaft Montreal.

Diesen von Reiterabtheilungen durchzogenen und von Polizeiagenten geradezu wimmelnden Landestheil mußte er natürlich möglichst bald hinter dem Rücken haben. Er hätte dazu den schräg durch die Grafschaft Laprairie führenden Weg einschlagen müssen, doch dieser wurde nicht weniger überwacht als der von Montreal. Am rathsamsten erschien es, dem Ufer des St. Lorenzo zu folgen, längs desselben bis zum Ontario-See vorzudringen und dann durch das Land im Osten von diesem bis zu den ersten amerikanischen Dörfern zu gelangen.

Johann entschied sich für diesen Plan, der immerhin viel Vorsicht erforderte, da er Schwierigkeiten gerade noch genug bot. Ihm kam es jedoch darauf an, selbst auf die Gefahr kürzerer oder längerer Verzögerungen hin, nur sein Ziel zu erreichen, und er durfte kein Gewicht darauf legen, seinen Fluchtplan je nach den Umständen ändern zu müssen.

In den Ufergrafschaften des Stromes standen zahlreiche Freiwillige auf der Lauer, die Polizei setzte unaufhörlich ihre strengen Haussuchungen noch fort, um die Hauptanführer der Aufständischen zu entdecken - mit diesen natürlich auch Johann ohne Namen, der in zahllosen Maueranschlägen die Summe lesen konnte, welche die Regierung für seinen Kopf zu zahlen anbot.

Unter solchen Verhältnissen sah sich der Flüchtling genöthigt, nur des Nachts seinen Weg fortzusetzen. Tagsüber verbarg er sich in zerfallenen Hütten oder unter fast undurchdringlichem Gebüsch und hatte daneben die größte Mühe, sich nur einige Nahrung zu verschaffen.

Unfehlbar wäre Johann Hungers gestorben, ohne die Hilfe mildherziger Landleute, welche aus Besorgniß, sich selbst bloßzustellen, ihn gern nicht fragten, wer er sei und woher er komme.

So hatte er unvermeidliche Verzögerungen, dafür hoffte Johann jenseits der Grafschaft Laprairie, wenn er sonst die Provinz erreicht hatte, die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Während des 4. 5. 6. 7. und 8. December konnte Johann kaum zwanzig Lieues hinter sich bringen. In fünf Tagen -richtiger in fünf Nächten - hatte er sich fast noch gar nicht vom Ufer des St. Lorenzo entfernt und befand sich da in den mittleren Theilen der Grafschaft Beauharnais. Das Schwerste war indeß überwunden, denn die canadischen Kirchspiele des Westens und des Südens erwiesen sich in dieser Entfernung von Montreal weniger überwacht. Dennoch mußte Johann mehr und mehr erkennen, daß die Gefahren, was seine eigene Person betraf, nur noch gewachsen waren. - Starke Rotten von Polizisten folgten seinen Spuren an der Grenze der Grafschaft Beauharnais. Wiederholt gelang es seiner Kaltblütigkeit, dieselben auf falsche Fährten zu führen.

In der Nacht vom 8. zum 9. December sah er sich aber von einem Dutzend Männern eingeschlossen, welche den Befehl hatten, ihn todt oder lebend festzunehmen. Nachdem er sich mit übermenschlichem Muthe vertheidigt und verschiedene Polizeiagenten schwer verwundet, wurde er doch schließlich gefangen genommen.

Heute war es nicht Rip, sondern der Polizeichef Comeau, der sich Johanns ohne Namen bemächtigt hatte. Diese so lohnende und aufsehenerregende Affaire entging dem Leiter des Hauses Rip & Cie. - Das waren sechstausend Piaster, welche auf der Einnahmeseite des Hauptbuches der Firma fehlen mußten.

Die Nachricht von der Verhaftung Johanns ohne Namen hatte sich sofort in der ganzen Provinz verbreitet. Den anglo-canadischen Behörden lag ja selbst so viel daran, sie überall bekannt werden zu lassen. So gelangte dieselbe am nächsten Tage schon bis nach den Kirchspielen der Grafschaft Laprairie und erreichte im Laufe des 9. December auch das Dorf Walhatta.

Am nördlichen Ufer des Ontario-Sees, wenige Lieues von Kingston, erhebt sich das Fort Frontenac. Es beherrscht das linke Ufer des St. Lorenzo, durch den die Gewässer des Sees abfließen und dessen Lauf in dieser Gegend Canada und die Vereinigten Staaten von einander scheidet.

Dieses Fort wurde jenerzeit von dem Major Sinclair befehligt, der vier Officiere und etwa hundert Mann vom 20. Regiment unter sich hatte. Durch seine Lage vervollständigte es das Vertheidigungssystem der Forts Oswego, Ontario und Levis, welche zum Schutze jener entfernten und ehedem öfter durch Einfälle von Indianern bedrohten Gebiete errichtet worden waren.

Nach dem genannten Fort Frontenac war Johann ohne Namen geschafft worden. Der General-Gouverneur hatte, als er die Nachricht von jener hochwichtigen Gefangennahme durch die Mannschaften Comeau's erhielt, nicht gewollt, daß der junge Patriot nach Montreal oder nach einer anderen bedeutenden Stadt eingeliefert würde, wo seine Anwesenheit möglicher Weise einen neuen Volksaufstand hervorgerufen hätte. Aus diesem Grunde erging von Quebec der Befehl, den Gefangenen nach dem Fort Frontenac zu transportiren, ihn dort einzukerkern und aburtheilen zu lassen - das war aber gleichbedeutend mit der Verurtheilung zum Tode.

Bei dem gewöhnlich höchst summarischen Gerichtsverfahren hätte Johann schon binnen vierundzwanzig Stunden hingerichtet sein müssen. Nichtsdestoweniger erlitt seine Vorführung vor das Kreisgericht unter der Leitung des Majors Sinclair einigen Aufschub.

Das kam nämlich daher:

Daß der Gefangene der fast sagenhafte Johann ohne Namen, der unermüdliche Agitator und früher die Seele der Aufstände von 1832, 1835 und 1837 sei, darüber herrschte nicht der geringste Zweifel. Doch welcher Mann verbarg sich unter diesem Pseudonym, unter diesem Kriegsnamen - das wollte die Regierung gern erfahren, da es Handhaben geboten hätte, weiter in die Vergangenheit zurückzugreifen, vielleicht wichtige Aufschlüsse zu erhalten und gewisse geheime Umtriebe aufzudecken, da in die Sache der Unabhängigkeit noch verschiedene unbekannte Fäden hineinspielen mochten.

Es schien also von Wichtigkeit, wenn nicht die Identität, so doch die Herkunft der Persönlichkeit festzustellen, deren Namen noch nicht bekannt war, und den zu verheimlichen jener besonders schwerwiegende Gründe haben mußte. Der Kriegsrath wartete also mit der Abgabe eines Urtheils, und man drang bezüglich dieser Frage so viel wie möglich auf Johann ein. Dieser ergab sich nicht; er verweigerte es sogar hartnäckig, auf irgend eine Frage nur zu antworten, die ihm bezüglich seiner Familie gestellt wurde. Man mußte hierauf also verzichten, und am 10. December wurde der Proscribirte seinen Richtern vorgeführt.

Die Verhandlung verlief ohne besondere Verzögerung. Johann räumte unumwunden den Antheil ein, den er an den ersten wie an den letzten Aufstandsversuchen gehabt. Laut und mit stolzer Stimme forderte er von England die Canada zustehenden Rechte. Er erhob sich kühn gegenüber seinen Unterdrückern, er sprach, als hätten seine Worte die Umwallung des Forts übertönen und einen Widerhall im ganzen Lande finden können.

Als der Major Sinclair noch zum letzten Male eine Frage nach seiner Herkunft, nach der Familie, der er entstammte, an ihn richtete, begnügte er sich zu antworten:

»Ich bin Johann ohne Namen, von Geburt französischer Canadier, und das muß Ihnen genug sein. Was kommt es denn viel darauf an, wer der Mann ist, der unter den Kugeln Ihrer Söldner fallen soll? Brauchen Sie denn einen Namen für einen Leichnam?«

Johann wurde zum Tode verurtheilt, und der Major Sinclair gab Befehl, ihn in seine Zelle zurückzuführen. Um auch den Vorschriften des General-Gouverneurs Genüge zu leisten, sandte er noch einen besonderen Boten nach Quebec, um jenen zu benachrichtigen, daß das Civilverhältniß des Gefangenen von Frontenac nicht habe aufgeklärt werden können. Dabei fragte er an, ob er die Execution vollziehen lassen oder noch aufschieben solle.

Seit fast zwei Wochen schon sachte sich Lord Gosford so genau wie möglich über die Vorgänge bezüglich der Aufstandsversuche in St. Denis und St. Charles zu unterrichten und die Aburtheilungen zu beschleunigen. Fünfundvierzig der hervorragendsten Patrioten schmachteten in den Gefängnissen zu Montreal und elf in dem zu Quebec; der Gerichtshof mit seinen drei Richtern, dem General-Procurator und dem Staatsanwalt als Vertreter der Krone, sollte in Thätigkeit treten. Neben diesem Tribunal functionirte noch das Kriegsgericht unter dem Vorsitze eines General-Majors und bestand aus fünfzehn höheren englischen Officieren, welche bei der Unterdrückung des Aufstandes mitgewirkt hatten.

In Erwartung eines Urtheils, welches gewiß auf die härtesten Strafen hinauslief, sahen sich die Gefangenen einer Behandlung ausgesetzt, deren Grausamkeit durch keine politische Leidenschaft entschuldigt werden kann.

In Montreal im Gefängnisse der Pointe-a-Callieres, in dem alten Kerker am Jacques Cartier-Platze, im neuen Gefängniß am Fuße des Courant, waren Hunderte von armen Leuten zusammengepfercht, welche furchtbar von der Kälte des canadischen Winters zu leiden hatten. Dazu wurden sie von Hunger zernagt, denn die Brotration, welche sie als einzige Nahrung empfingen, war völlig unzureichend.

Wohl flehten sie wenigstens um eine Untersuchung, um eine Verurtheilung, so hart diese auch ausfallen möchte. Ehe er sie aber dem ordentlichen oder dem Kriegsgerichte zuführte, wollte Lord Gosford warten, bis die Polizei ihre Nachforschungen beendigt hätte, damit dann alle Patrioten, deren sie hatte habhaft werden können, in seinen Händen wären.

Unser diesen Verhältnissen gelangte die Nachricht von der Gefangennahme Johanns ohne Namen und von der Einlieferung desselben in das Fort Frontenac nach Quebec. Die allgemeine Meinung ging dahin, daß die Sache der Unabhängigkeit damit den Todesstoß erhalten habe.

Es war um neun Uhr Abends, als der Abbe Joann und Lionel am 12. December vor jenem Fort eintrafen. So wie Johann es gethan, waren sie erst dem rechten Ufer des St. Lorenzo gefolgt und hatten diesen dann überschritten auf die Gefahr hin, bei jedem Schritte, den sie thaten, verhaftet zu werden. War auch Lionel durch sein Auftreten in Chipogan nicht eigentlich bedroht, so suchten die Agenten Gilbert Argall's doch den Abbe Joann jetzt desto eifriger. Jene Beiden mußten also gewisse Vorsichtsmaßregeln beobachten, welche ihr Fortkommen natürlich verlangsamten.

Dazu herrschte eine wahrhaft schreckliche Witterung. Seit vierundzwanzig Stunden tobte einer jener furchtbaren Schneestürme, welche die Meteorologen des Landes mit dem Namen »Blizzard« zu bezeichnen pflegen. Zuweilen bringt das Auftreten eines solchen einen Wärmesturz von dreißig Graden, das heißt eine solche Kälte hervor, daß dadurch zahlreiche Opfer verschlungen werden.

Was hoffte denn der Abbe Joann davon, daß er selbst nach dem Fort Frontenac ging? Welchen Plan hatte er entworfen? Gab es für ihn ein Mittel, sich mit dem Gefangenen in Verbindung zu setzen? Wäre es möglich, nach vorheriger Verabredung dessen Entweichung zu begünstigen? - Jedenfalls kam es ihm darauf an, noch diesen Abend in die Zelle des Bruders Einlaß zu erhalten.

Wie der Abbe Joann war auch Lionel bereit, sein Leben hinzugeben, um das Johanns ohne Namen zu retten. Doch wie sollten Beide zu Werke gehen? Sie waren jetzt bis auf eine halbe Meile an das Fort Frontenac herangekommen, das sie hatten umgehen müssen, um einen Wald zu erreichen, dessen Saum sich in den Wellen des Sees badete. Hier unter diesen Bäumen, welche die Winterkälte ganz erstarrt hatte, brauste der eisige Samum dahin, dessen Wirbel die Oberfläche des Ontario in Aufruhr brachten.

Da sagte der Abbe Joann zu dem jungen Schreiber:

»Bleiben Sie hier, Lionel, ohne sich Jemand zu zeigen, und erwarten Sie meine Rückkehr. Die Wachtposten im Ausfalltsthore dürfen Sie nicht gewahr werden. Ich werde versuchen, in das Fort zu gelangen und mit meinem Bruder in Verbindung zu kommen. Gelingt mir nun das, so besprechen wir Beide die Möglichkeit einer Flucht. Wäre eine solche ganz unausführbar, so prüfen wir die Aussicht eines Angriffs, den die Patrioten unternehmen könnten, im Falle die Besatzung von Frontenac nicht gar zu zahlreich ist.«

Es liegt auf der Hand, daß ein derartiger Angriff länger dauernder Vorbereitungen bedurft hätte. Ueberdies wußte der Abbe Joann noch nicht, da sich die Nachricht hiervon bisher kaum verbreitet hatte, daß das Urtheil vor zwei Tagen ergangen war und daß der Befehl zur Hinrichtung von einer Stunde zur anderen eintreffen konnte. Jenen Handstreich gegen das Fort Frontenac betrachtete der junge Priester auch nur als das äußerste Mittel; er bezweckte vielmehr, Johann Mittel und Wege zu verschaffen, in kürzester Frist zu entweichen.

»Haben Sie, Herr Abbe, fragte Lionel, einige Hoffnung, Ihren Bruder zu sehen zu bekommen?

- Lionel, könnte man den Eintritt ins Fort einem Diener des Herrn verweigern, der einem jedenfalls zur Todesstrafe verurtheilten Gefangenen den Trost der Religion bringen will?

- Das wäre unwürdig!. Das wäre abscheulich! antwortete Lionel.. Nein! Man wird es Ihnen nicht abschlagen!. Gehen Sie, Herr Abbe, ich werde hier warten.«

Der Abbe Joann drückte dem jungen Schreiber die Hand und verschwand um den Rand des Waldes.

In weniger als einer Viertelstunde hatte er das Ausfallsthor des Fort Frontenac erreicht.

Das am Strande des Ontario errichtete Fort bestand aus einem in der Mitte gelegenen Blockhaus, welches hohe Palissaden umgaben. Am Fuße dieser Umplankung und nach der Seite des Sees hin erstreckte sich ein frei gelegtes schmales Gestade, welches jetzt unter der Schneedecke verschwand und mit der am Rande übereisten Seefläche verschmolz. An der anderen Seite stieß ein Dorf mit wenigen Feuerstätten daran, das in der Hauptsache von Fischersleuten bewohnt war.

Doch würde zunächst ein Entweichen und dann eine Flucht durch das Land möglich sein? Würde Johann seine Zelle verlassen, die Palissaden erreichen und die Aufmerksamkeit der Wachthabenden täuschen können? Das sollte von ihm und seinem Bruder erwogen werden, wenn dem Abbe Joann der Zutritt zum Fort nicht verboten wurde. Einmal in Freiheit, wollten sich Beide mit Lionel nicht nach der amerikanischen Grenze, sondern nach dem Niagara und der Insel Navy wenden, wo die Patrioten sich gesammelt hatten, um einen letzten Befreiungsversuch zu wagen.

Nachdem der Abbe Joann schräg über das Vorland geschritten, langte er vor dem engen Thore an, neben dem ein Wachtposten auf und ab ging. Er sprach den Wunsch aus, dem Commandanten des Forts zugeführt zu werden.

Ein Sergeant trat aus dem Wachtlocal, das sich im Innern der Palissade befand. Der ihn begleitende Soldat trug eine Fackel, da es bereits ganz dunkel geworden war.

»Was wollen Sie? fragte der Sergeant.

- Mit dem Commandanten sprechen.

- Und wer sind Sie?

- Ein Geistlicher, der dem gefangenen Johann ohne Namen seinen Beistand leisten will.

- Sie können sagen dem verurtheilten!.

- Ist das Urtheil schon gefällt?

- Vorgestern, und Johann ohne Namen ist damit dem Tode verfallen!«

Der Abbe Joann besaß Selbstbeherrschung genug, um nichts von seiner Erregung zu verrathen, und er begnügte sich zu antworten:

»Das ist nur ein Grund mehr, einem Verurtheilten den Beistand des Geistlichen nicht zu versagen.

- Ich werde dem Major Sinclair, dem Commandanten des Forts, Meldung machen,« erwiderte der Sergeant.

Er begab sich mit diesen Worten schon nach dem Blockhause, während er den Abbe Joann zunächst in das Wachtlocal eintreten ließ.

Dieser setzte sich in einer dunklen Ecke nieder und überdachte, was er soeben gehört.

Die Verurtheilung war ausgesprochen. Sollte es ihm da nicht an Zeit fehlen, seine Pläne auszuführen? Doch da der schon vor vierundzwanzig Stunden gefällte Urtheilsspruch bis jetzt noch nicht vollzogen war, so konnte das doch vielleicht daher rühren, daß der Major Sinclair Befehl erhalten hatte, die Hinrichtung aufzuschieben. An diese Hoffnung klammerte sich der Abbe Joann, obwohl er nicht wußte, wie lange dieser Aufschub dauern und ob er hinreichen würde, die Entweichung des Gefangenen vorzubereiten, ja nicht einmal, ob der Major Sinclair ihm den Zutritt ins Gefängniß erlauben werde. Was sollte aber geschehen, wenn er nur dann die Herbeiholung eines Priesters zuließ, wenn Johann ohne Namen schon auf dem Wege zur Hinrichtung war?

Man begreift leicht, welche Seelenangst der Abbe Joann gegenüber dieser Verurtheilung ausstehen mußte, da diese ihm keine Zeit zum Handeln mehr ließ.

In diesem Augenblicke betrat ein Unterofficier den Posten und wandte sich an den jungen Priester:

»Der Major Sinclair erwartet Sie!« sagte er.

Vor ihm der Sergeant, dessen Fackel den Weg erleuchtete, überschritt Joann den inneren Hof, in dessen Mitte das Blockhaus sich erhob. Soweit es die Dunkelheit gestattete, sachte er die Größenverhältnisse dieses Hofes und die Entfernung zu erkennen, die den Wachtposten von dem Ausfallsthore trennte, da letzteres den einzigen Ausweg aus dem Fort Frontenac bot, wenn man es nicht vorzog, die Palissade zu überklettern. Wenn Johann die Anordnung der Baulichkeiten und die Lage dieser Punkte nicht kannte, so wollte Joann sie ihm doch wenigstens beschreiben können.

Die Thür des Blockhauses stand offen. Der Sergeant voran und der Abbe Joann nach ihm durchschritten dieselbe. Eine Schildwache schloß sie wieder hinter ihnen. Dann betraten sie die Stufen einer nach dem oberen Stockwerk führenden und in die Wand selbst eingelassenen Treppe. Oben angelangt, öffnete der Sergeant eine gerade gegenüberliegende Thür, und der Abbe Joann trat in das Zimmer des Commandanten.

Der Major Sinclair war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, von rauhem Aeußeren und schroffem Auftreten, »sehr englisch« durch seine Steifheit und »sehr sächsisch« durch das geringe Mitgefühl, welches menschliches Elend ihm einflößte. Vielleicht hätte er es sogar abgeschlagen, dem Verdammten geistlichen Zuspruch zu gewähren, wenn er in dieser Hinsicht nicht Befehle erhalten hätte, die er nicht wohl unbeachtet lassen konnte. Den Abbe Joann empfing er nicht eben vielverheißend; ja er erhob sich nicht einmal aus dem Lehnstuhle, in dem er saß, und legte die Pfeife nicht aus der Hand, deren Rauch das durch eine einzige Lampe nur schwach erhellte Zimmer erfüllte.

»Sind Sie Geistlicher? fragte er den Abbe Joann, der einige Schritte vor ihm stehen geblieben war.

- Ja, Herr Major.

- Sie kommen, um dem Verurtheilten beizustehen?.

- Wenn Sie das gestatten.

- Woher kommen Sie?

- Aus der Grafschaft Laprairie.

- Dort haben Sie von seiner Gefangennahme gehört?.

- Ja, eben dort.

- Und auch von seiner Verurtheilung?.

- Davon vernahm ich erst bei meiner Ankunft im Fort Frontenac, und ich glaubte, der Major Sinclair würde mir ein Zusammentreffen mit dem Gefangenen nicht verweigern.

- Nein, das nicht; doch ich werde Sie erst rufen lassen, wenn es dazu Zeit ist, antwortete der Commandant.

- Etwas ist niemals zu frühzeitig, erwiderte der Abbe Joann, wenn der Mensch zum Tode verdammt ist.

- Ich sagte Ihnen, daß Sie rechtzeitig Nachricht erhalten werden. Warten Sie darauf im Dorfe Frontenac, wo einer meiner Soldaten Sie dann aufsuchen wird.

- Verzeihen Sie, wenn ich noch auf meiner Bitte bestehe, Herr Major, entgegnete der Abbe Joann. Es kann ja der Fall eintreten, daß ich gerade in dem Augenblick abwesend wäre, wo der Gefangene meinen Beistand am meisten bedarf. Gestatten Sie mir also, denselben in dieser Stunde zu sprechen.

- Ich wiederhole Ihnen, daß ich Ihnen werde eine Meldung zugehen lassen, unterbrach ihn der Commandant. Mir ist verboten, den Gefangenen vor der Stunde seiner Hinrichtung mit irgend Jemand, wer es auch sei, sprechen zu lassen. Ich erwarte jetzt nähere Befehle von Quebec, und wenn diese anlangen, hat der Gefangene noch zwei Stunden für sich. Was Teufel, diese zwei Stunden werden Ihnen genügen, und Sie mögen diese anwenden, wie es Ihnen für das Heil seiner Seele passend erscheint. Der Sergeant wird Sie nach dem Thore zurückgeleiten!«

Dieser nicht mißzuverstehenden Erklärung gegenüber blieb dem Abbe Joann nichts übrig, als sich zurückzuziehen. Trotzdem konnte er sich dazu nicht entschließen. Sah er seinen Bruder nicht, konnte er sich nicht mit diesem besprechen, so wurde jeder Fluchtversuch zur Unmöglichkeit. Schon wollte er seine Zuflucht zu Bitten nehmen, um den Commandanten zu einem anderen Beschlusse zu bestimmen, als die Thür sich aufthat.

Der Sergeant erschien auf der Schwelle.

»Sergeant, sagte der Major Sinclair zu ihm, Ihr werdet diesen Geistlichen aus dem Fort hinausführen, und er erhält nicht eher Zutritt, als bis ich nach ihm schicke.

- Die Schildwachen werden Ordre erhalten, Herr Commandant, antwortete der Sergeant. Ich habe Ihnen auch noch mitzutheilen, daß ein Expreßbote eben in Frontenac eingetroffen ist.

- Ein Courier von Quebec?.

- Ja, er überbringt diese Papiere.

- Geben Sie her, sagte der Major Sinclair.

Er entriß dem Sergeanten mehr das amtliche Schreiben, als er es dem Manne aus der Hand nahm.

Der Abbe Joann war todtenbleich geworden; er fühlte sich so schwach, daß seine Hinfälligkeit und die Farbenveränderung seines Gesichts dem Major hätten verdächtig erscheinen müssen, hätte dieser ihn im Augenblick beobachtet.

Das geschah aber nicht.

Die Aufmerksamkeit des Majors war völlig von diesem mit dem Wappen des Lord Gosford versiegelten Briefe, dessen Umschlag er eilig aufriß, in Anspruch genommen.

Er durchflog denselben, dann wandte er sich wieder zu dem Sergeanten.

»Führt diesen Geistlichen nach der Zelle Johanns ohne Namen, befahl er. Ihr laßt ihn mit dem Gefangenen allein, und wenn er wieder fortzugehen wünscht, so führt Ihr ihn nach dem Ausfallsthore.«

Es war der Befehl zur schleunigen Hinrichtung, den der General-Gouverneur eben nach Fort Frontenac geschickt hatte.

Johann ohne Namen hatte nur noch zwei Stunden zu leben.

Achtes Capitel Joann und Johann

Der Abbe Joann verließ das Zimmer des Majors Sinclair gefaßter, als er es betreten hatte. Der Donnerschlag der so nahe bevorstehenden Hinrichtung vermochte ihn nicht zu erschüttern. Gott hatte ihm eben einen Gedanken gegeben -dieser Gedanke mußte zu gutem Ende führen.

Johann wußte noch nicht, daß jener Befehl in dieser Minute von Montreal eingetroffen war, und Joann fiel die schmerzliche Aufgabe zu, ihn davon zu unterrichten.

Doch nein, das wollte er nicht. Er wollte ihm verhehlen, daß der schreckliche Urtheilsspruch binnen zwei Stunden vollzogen werden sollte. Johann durfte davon nichts erfahren, wenn Joann auf das Gelingen seiner Pläne rechnen sollte.

An eine von langer Hand vorbereitete Flucht war offenbar ebensowenig zu denken, wie an einen Angriff gegen das Fort Frontenac. Der Verurtheilte konnte dem drohenden Tode nur durch sofortige Flucht entgehen. Befand er sich nach Verlauf von zwei Stunden noch in seiner Zelle, so würde er diese nur verlassen, um mitten in der Nacht am Fuße der Palissade durch die Kugeln zu fallen.

Wenn der Bruder des Abbe Joann des Letzteren Plan zustimmte, erschien dieser recht wohl durchführbar, und jedenfalls bot er das letzte Mittel, auf welches man unter den gegebenen Umständen zurückkommen konnte. Allerdings durfte Johann nichts davon wissen, daß der Major Sinclair eben den Befehl erhalten hatte, die Hinrichtung vollziehen zu lassen.

Von dem Sergeanten geleitet, stieg der Abbe Joann die Treppe wieder hinab. Die Zelle des Gefangenen lag an einer Ecke des Erdgeschosses in demselben Blockhause und am Ende eines Verbindungsganges, der längs des Hofes hinlief. Diesen finsteren Corridor mit seiner Fackel erleuchtend, hielt der Sergeant da vor einer niedrigen, von außen mit zwei Riegeln verschlossenen Thür an.

Als der Soldat diese öffnen wollte, trat er erst noch an den jungen Priester heran und sagte zu diesem mit gedämpfter Stimme:

»Sie wissen, daß ich Sie aus dem Fort zu führen habe, wenn Sie den Gefangenen wieder verlassen?

- Das weiß ich, antwortete der Abbe Joann. Warten Sie in diesem Gange und ich werde nach Ihnen rufen.«

Die Thür der Zelle öffnete sich.

Im Innern derselben und völlig im Dunklen, lag Johann auf einer Art Feldbett und schlief; er erwachte auch noch nicht von dem Geräusche, welches der Sergeant verursachte.

Dieser wollte ihn schon an der Schulter schütteln, als der Abbe Joann ihn mit einem Wink bat, davon abzulassen.

Der Sergeant befestigte die Fackel auf einem Tischchen, ging hinaus und schloß hinter sich leise die Thür.

Die beiden Brüder waren allein, der eine schlummernd, der andere auf den Knien liegend und betend.

Dann erhob sich Joann, betrachtete noch zum letzten Male dieses sein Ebenbild, dessen Leben ebensogut wie das seinige das Verbrechen des eigenen Vaters zu einer Kette von Elend und Trauer gemacht hatte.

Dann murmelte er die Worte.

»Herr, Herr mein Gott, steh' mir bei!«

Die Zeit war ihm viel zu knapp zugemessen, um sie, und wäre es nur wenige Minuten, vergeuden zu dürfen. So legte er die Hand auf die Schulter Johanns. Dieser erwachte, öffnete die Augen, richtete sich auf und rief, als er seinen Bruder erkannte:

»Du, Joann!.

- Leiser, Johann, sprich leiser! antwortete Joann; man könnte uns hören!«

Mit der Hand machte er ihm gleichzeitig ein Zeichen, daß die Thür von außen überwacht werde.

Abwechselnd näherten und entfernten sich im Vorgange die Schritte des Sergeanten.

Halb mit großer Wollendecke bekleidet, die ihn nur sehr nothdürftig gegen die Kälte schützte, erhob sich Johann jetzt geräuschlos.

Die beiden Brüder lagen in langer Umarmung.

Dann sagte Johann:

»Unsere Mutter?

- Ist nicht mehr im geschlossenen Hause!

- Sie ist nicht mehr da?.

- Nein!

- Und Herr de Vaudreuil nebst seiner Tochter, denen unser Haus Obdach geboten hatte?

- Das Haus stand völlig leer, als ich zum letzten Male nach St. Charles kam!

- Wann war das?

- Vor acht Tagen.

- Und seitdem weißt Du nichts von unserer Mutter, von unseren Freunden?

- Gar nichts!«

Was mochte denn geschehen sein? Hatte eine wiederholte Haussuchung doch zur Verhaftung Bridgets, des Herrn de Vaudreuil und seiner Tochter geführt? Oder hatte Clary, welche ihren Vater vielleicht nicht einen Tag länger unter dem Dache der Familie Morgaz lassen wollte, diesen trotz seiner Schwäche, trotz der Gefahren, die sie bedrohten, veranlaßt, von dort wegzugehen? War Bridget wohl auch selbst aus St. Charles entflohen, wo die Schande, die auf ihrem Namen lastete, jetzt bekannt geworden war?

Alles das ging Johann gleich einem Blitze durch den Kopf, und er wollte den Abbe Joann schon von den Vorfällen erzählen, die sich gelegentlich seines letzten Besuches im geschlossenen Hause zugetragen hatten, als dieser sich an sein Ohr neigend sagte:

»Höre mich an, Johann. Nicht als Bruder bin ich hier bei Dir, sondern nur als Priester, der seines Amtes bei einem Verurtheilten walten will. Nur unter dieser Bedingung hat mir der Commandant des Forts Zutritt in Deine Zelle gestattet. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Du mußt auf der Stelle fliehen!.

- Auf der Stelle, Joann? Aber wie?

- Du legst meine Kleidung an und gehst in der Priestertracht hinaus. Wir sind einander ähnlich genug, als daß Jemand diese Verwechslung bemerken könnte. Uebrigens ist es ja Nacht, und Du wirst beim Ueberschreiten des Ganges und des innern Hofes schwerlich von einer Fackel so deutlich beleuchtet werden. Verbirgst Du das Gesicht ein wenig unter diesem Hute, so ist es unmöglich, daß Dich Jemand erkennt. Wenn wir die Kleidung gewechselt haben, halte ich mich ein wenig im Hintergrunde der Zelle und rufe nach dem Sergeanten. Dieser wird, wie verabredet, öffnen. Er hat Befehl, mich nach dem Ausfallsthore zu begleiten. Nun führt er eben Dich dorthin.

- Joann, erwiderte der Gefangene, hast Du wirklich glauben können, daß ich ein solches Opfer Deinerseits annehmen würde?

- Du mußt, Johann! Deine Anwesenheit bei den Patrioten ist jetzt mehr als je von Nöthen.

- Haben sie denn nach der erlittenen schweren Niederlage noch nicht an dem Erfolge unserer nationalen Sache verzweifelt?

- Nein! Sie sammeln sich eben am Niagara, auf der Insel Navy, und rüsten sich, den Kampf von neuem zu beginnen.

- So mögen sie es ohne mich thun, lieber Bruder! Der Erfolg unserer Sache hängt nicht von einem einzelnen Manne ab!. Ich werde Dich nicht das Leben daran wagen lassen, um das meinige zu retten!

- Ist's denn nicht meine Pflicht, Johann?. Du kennst doch unser Ziel?. Haben wir das schon erreicht?. Nein! Wir haben noch nicht einmal sterben können, um den Schaden wieder gut zu machen, den.«

Die Worte Joanns gingen seinem Bruder tief zu Herzen, er ergab sich aber deshalb noch nicht.

Joann fuhr fort:

»Bitte, höre auf mich!. Sieh, Du fürchtest für mich, Johann; doch, was habe ich eigentlich zu fürchten? Was kann mir geschehen, wenn man mich morgen in dieser Zelle findet? Nichts!. Es wäre dann etwa nur ein armer Priester an Stelle eines Verurtheilten hier, und was könnte man diesem anhaben, als daß man ihn laufen ließe?.

- Nein!. Nein!. erklärte Johann, der ebenso gegen sich selbst, wie gegen die Bitten seines Bruders ankämpfte.

- Genug der Worte! sagte Joann. Du mußt fort von hier, und wirst also gehen! Thue Deine Pflicht, wie ich die meinige gethan! Nur Du allein bist volksthümlich genug, um einen allgemeinen Aufstand zum Ausbruch zu bringen.

- Und wenn man Dich für die Mithilfe zu meiner Flucht verantwortlich machen will?

- Man kann und wird mich nicht ohne Untersuchung verurtheilen, antwortete Joann, nicht ohne directen Befehl von Quebec, und da gehen immer noch einige Tage darüber hin!

- Einige Tage, Bruder?

- Gewiß, und Du gewinnst indessen die Zeit, Deine Waffengefährten auf der Insel Navy aufzusuchen und diese nach dem Fort Frontenac zu führen, um mich zu befreien.

- Es sind gut zwanzig Meilen vom Fort Frontenac bis nach der Insel Navy, Joann! Die Zeit wird mir mangeln.

- Du weigerst Dich also, Johann? Nun wohl, bis jetzt hab' ich gebeten. jetzt muß ich befehlen! Es ist nicht mehr der Bruder, der zu Dir spricht, sondern der Diener unseres Gottes! Wenn Du sterben mußt, so geschehe es im Kampfe für unsere gute Sache - sonst hast Du nichts erfüllt von der Lebensaufgabe, die Dir zufiel. Schlägst Du es dennoch ab, nun zu gehorchen, so werd' ich auch mich zu erkennen geben, und der Abbe Joann wird an der Seite Johanns ohne Namen unter den Kugeln fallen!

- Bruder!

- Geh', Johann!. Geh' fort von hier, ich will es!. Unsere Mutter will es!. Unser Vaterland verlangt es!«

Besiegt von den herzenswarmen Worten Joanns blieb Johann nichts Anderes übrig als zu gehorchen. Die Möglichkeit, binnen zwei Tagen mit einigen Hundert Patrioten im Fort Frontenac zurück zu sein, überwand auch seine letzten Bedenken.

»Ich bin bereit!« sagte er.

Der Austausch der Kleider ging schnell von statten. Unter der Priestertracht Joanns war es schwierig zu erkennen, daß jetzt sein Bruder dessen Stelle einnahm.

Darauf unterhielten sich Beide noch einige Augenblicke über die politische Lage und über die Stimmung im Lande seit den letzten Ereignissen. Endlich sagte der Abbe Joann:

»Jetzt werd' ich den Sergeanten herbeirufen. Wenn er die Thür der Zelle geöffnet hat, trittst Du hinaus und wirst ihm ganz einfach längs des Ganges, den er mit seiner Fackel beleuchtet, folgen. Einmal aus dem Blockhause, hast Du nur noch den inneren Hof zu durchschreiten. eine Strecke von etwa fünfzig Schritten. Du kommst da an einem Wachposten zur Rechten an der Palissade vorüber. da wende den Kopf ein wenig seitwärts; dann stehst Du gleich am Thore. Außerhalb desselben gehe längs des Flusses hin, bis Du in der Entfernung einer halben Meile den Saum eines Waldes erreichst. Dort wirst Du Lionel finden.

- Lionel?. Den jungen Schreiber?.

- Ja, er hat mich begleitet und wird Dich bis zur Insel Navy begleiten. Nun, komm noch ein letztes Mal in meine Arme!

- Bruder! Liebster Bruder!« murmelte Johann, der sich Joann aus Herz warf.

Der Augenblick der Trennung war da; Joann rief mit lauter Stimme und zog sich nach dem Hintergrunde der Zelle zurück.

Der Sergeant öffnete die Thür und wendete sich an Johann, dessen Kopf unter dem breitkrämpigen Hute des Geistlichen fast verschwand.

»Sind Sie bereit?« fragte er.

Johann antwortete nur durch ein bejahendes Zeichen.

»So kommen Sie!«

Der Sergeant ergriff die Fackel, ließ Johann hinaustreten und verriegelte die Thür der Zelle.

In welcher Angst verbrachte Joann die nächstfolgenden Minuten! Was würde geschehen, wenn sich der Major Sinclair zufällig in dem Gange befand, während Johann diesen durchschritt, wenn er ihn aufhielt, ihn über den Zustand des Gefangenen ausfragte? Wurde die Unterschiebung entdeckt, so führte man den Gefangenen gewiß unverzüglich zum Tode. Ebenso konnten die Vorbereitungen zur Hinrichtung schon getroffen sein und die Mannschaft des Forts bereits die Befehle des Commandanten erhalten haben, so daß der Sergeant, in der Meinung, einen Priester vor sich zu haben, ihm davon auf dem Rückweg über den Hof zu sprechen anfing. Hörte Johann aber, daß die Execution so unmittelbar bevorstand, so würde dieser nach der Zelle zurückkehren wollen, da er sicherlich nie zugestimmt hätte, seinen Bruder an seiner Statt sterben zu lassen. Der Abbe Joann lauschte mit an die Thür gelegtem Ohre, und doch verhinderte ihn fast das laute Klopfen seines Herzens, von einem Geräusche draußen etwas zu vernehmen.

Endlich drangen von weither unbestimmte Laute bis zu ihm. Mit heißem Danke gegen Gott sank Joann in die Knie.

Das Ausfallsthor war wieder geschlossen worden

»Frei!« murmelte Joann.

In der That war Johann nicht erkannt worden. Mit der Fackel in der Hand ihm vorausgehend, hatte der Sergeant ihn, ohne ein Wort zu sprechen, über den innern Hof bis zum Thore des Forts geführt. Officiere und Soldaten wußten noch nicht, daß die Hinrichtung in einer Stunde stattfinden sollte. Bei dem Wachposten angelangt, wo auch nur spärliches Licht brannte, hatte er den Kopf abgewendet, wie sein Bruder ihm empfohlen. Erst in dem Augenblick, wo er durch das Thor gehen wollte, hatte der Sergeant ihn gefragt:

»Werden Sie wiederkommen, dem Verurtheilten Ihren Beistand zu gewähren?.

- Ja!« hatte Johann durch Nicken mit dem Kopfe geantwortet.

Einen Moment darauf hatte er das Thor hinter sich.

Nichtsdestoweniger entfernte sich Johann nur langsamen Schrittes von dem Fort Frontenac, als ob noch eine Fessel ihn mit seinem Gefängnisse verknüpfte - eine Fessel, die er nicht zu brechen wagte. Er machte sich Vorwürfe, den Bitten seines Bruders nachgegeben zu haben und an seiner Stelle fortgegangen zu sein. Alle Gefahren mit dieser Verwechslung traten ihm jetzt mit der erschreckendsten Deutlichkeit vor Augen. Er sagte sich, daß man wenige Stunden später, wenn es wieder Tag geworden, in die Zelle kommen und seine Entweichung entdecken werde; dann war sein Bruder Joann den rohesten Mißhandlungen ausgesetzt, wenn er für seine heldenmüthige Aufopferung nicht vielleicht gar mit dem Tode büßen mußte.

Bei diesem Gedanken fühlte sich Johann fast gedrängt, umzukehren. Doch nein! Er mußte ja eiligst bei den Patrioten auf der Insel Navy eintreffen und die aufständische Bewegung damit eröffnen, daß er sich auf das Fort Frontenac warf, um seinen Bruder zu befreien. Da galt es also keinen Augenblick zu verlieren.

Johann ging in schräger Richtung über das Uferland, und dann noch am Fuße der Palissadenumwallung am See nach dem Walde zu, wo Lionel ihn erwarten sollte.

Das Schneegestöber wüthete noch ungeschwächt weiter. Die Eisschollen am Ufer des Ontario krachten gegeneinander wie die Eisberge eines arktischen Meeres. In dichten Wirbeln jagte der Schnee dahin, so daß er das Sehen fast zur Unmöglichkeit machte.

Durch die Flockenhausen, die jeder Windstoß vor sich hertrieb, fast begraben, und unsicher darüber, ob er sich auf der erstarrten Fläche des Sees oder noch auf dem Uferlande befinde, sachte Johann sich zu orientiren, indem er geraden Wegs auf den Wald zuging, von dem er bei der herrschenden Finsterniß kaum etwas wahrnehmen konnte. Nachdem er fast eine halbe Stunde gebraucht, um eine halbe Meile zurückzulegen, gelangte er dorthin.

Offenbar hatte Lionel seine Annäherung nicht bemerken können, denn sonst wäre ihm dieser sicher entgegengegangen.

Johann schlüpfte unter die Bäume mit größter Unruhe, den jungen Schreiber an dem verabredeten Orte nicht aufzufinden, und wollte dessen Namen nicht rufen, um sich keiner Gefahr auszusetzen, im Falle er von einem verspätet heimkehrenden Fischer gehört würde.

Da erinnerte er sich der beiden letzten Zeilen aus der Ballade des jungen Dichters, derselben, welche er auf der Farm von Chipogan recitirt hatte! Und etwas weiter in den Wald eindringend, wiederholte er mit halblauter Stimme:

Mit Dir entstehn, Du Wandelflamme, Mit Dir vergehn, Du irrend Licht!

Sofort tauchte Lionel aus einem Dickicht in der Nähe auf und lief auf ihn zu mit den Worten:

»Sie, Herr Johann. Sie?

- Ja, Lionel.

- Und der Abbe Joann?.

- In meiner Zelle! - Doch jetzt schnell, nach der Insel Navy! Binnen achtundvierzig Stunden müssen wir mit unseren Genossen im Fort Frontenac zurück sein!«

Johann und Lionel traten eiligst wieder aus dem Walde heraus und schlugen eine Richtung nach Süden ein, um am Ufer des Ontario bis zu den Gebieten des Niagara hinunter zu gehen.

Das war der kürzeste und gleichzeitig derjenige Weg, welcher die geringsten Gefahren bot. Schon fünf Meilen von hier mußten sie, nach Ueberschreitung der amerikanischen Grenze, gegen jede Verfolgung gesichert sein und konnten die Insel Navy dann unaufgehalten erreichen.

Um dieser Richtung zu folgen, sahen sich Johann und Lionel freilich genöthigt, noch einmal am Fort vorüberzugehen. In dieser schrecklichen Nacht und inmitten des ungestümen Schneegestöbers liefen sie indeß wenig Gefahr, von einem Wachthabenden bemerkt zu werden, selbst wenn Beide zusammen das schmale Uferland überschritten. Wäre die Fläche des Ontario nicht durch jene Anhäufung von Eismassen an seinen Ufern unzugänglich und der See schiffbar gewesen, so hätte es sich gewiß empfohlen, einen Fischer aufzusuchen, der die Flüchtlinge dann schnell bis zur Einmündung des Niagara hätte bringen können. Doch daran war jetzt nicht zu denken.

Johann und Lionel gingen so eilig dahin, wie es der heulende Sturm irgend zuließ. Sie befanden sich nur noch in geringer Entfernung vom Fort, als das scharfe Knattern einer Gewehrsalve die Luft zerriß.

Eine Täuschung war nicht möglich; das war ein Pelotonfeuer im Innern der Umplankung.

»Joann!«. stieß Johann hervor.

Als wäre er selbst von den Kugeln der Soldaten im Fort Frontenac getroffen gewesen, stürzte er zusammen.

Joann war für seinen Bruder, für sein Vaterland gestorben.

Kaum eine halbe Stunde nach dem Weggange Johanns hatte der Major Sinclair Befehl zur Vollziehung der Hinrichtung gegeben, wie das die von Quebec eingetroffenen Anordnungen verlangten.

Joann war aus der Zelle und nach dem Hofe geschleppt worden, wo er den Tod finden sollte.

Der Major hatte dem Gefangenen das Urtheil vorgelesen.

Joann gab darauf keine Antwort.

In diesem Augenblicke hätte er ja rufen können:

»Ich bin gar nicht Johann ohne Namen!. Ich bin der Priester, der an seine Stelle getreten ist, um Jenen zu retten!«

Der Major wäre damit gezwungen gewesen, die Execution aufzuschieben und neue Verhaltungsmaßregeln vom GeneralGouverneur einzuholen.

Johann mußte indeß noch zu sehr in der Nähe des Fort Frontenac sein. Die Soldaten wären zu seiner Verfolgung entsendet worden und hätten ihn ohne Zweifel auch gefunden.

Dann wurde dieser doch erschossen - Johann ohne Namen durfte aber nicht anders als auf dem Schlachtfelde sterben!

Joann schwieg, er lehnte sich ein wenig an die Wand und mit den Worten: »Mutter!. Bruder!. Vaterland!« stürzte er von vielen Kugeln durchbohrt zusammen.

Die Soldaten hatten ihn lebend nicht erkannt und erkannten ihn auch jetzt im Tode nicht. In einem außerhalb der Umplankung ausgehobenen Grabe wurde er sofort verscharrt. Die Regierung mußte annehmen, mit ihm den gefährlichsten Helden der Unabhängigkeitsbestrebungen unschädlich gemacht zu haben. Das war das erste Opfer dieser Sühne für das Verbrechen eines Simon Morgaz!

Neuntes Capitel Die Insel Navy

Es war im Jahre 1668 und unter dem Befehle des Cavalier de la Salle, als die Franzosen das erste französische Fahrzeug auf dem Gewässer des Ontario segeln ließen. An dem südlichen Ende desselben angekommen, wo sie das Fort Niagara errichteten, drang ihr Schiff in den Fluß gleichen Namens ein bis zu dessen Stromschnellen, drei Meilen von den berühmten Wasserfällen. Dann wurde ein zweites Fahrzeug, stromaufwärts von letzteren gebaut und vom Stapel gelassen, welches auf den Erie-See einfuhr und seine kühne Reise bis zum Michigan-See fortsetzte.

Der Niagara ist ja in der That weiter nichts als ein natürlicher Canal von etwa sechzehn (englische) Meilen Länge, der den Gewässern des Erie-Sees Abfluß nach dem Ontario-See gestattet. Fast genau in der Mitte dieses Canals fällt dessen Grund plötzlich um hundertsechzig Fuß, und zwar an der Stelle, wo der Strom eine Biegung macht und eine Art Hufeisen bildet. Ein Eiland - Goat-Island - schneidet denselben in zwei ungleiche Theile. Zur Rechten wälzt der amerikanische, zur Linken der canadische Fall brausend und donnernd furchtbare Wassermassen in einen Abgrund, über den unablässig dichte Wolken von zerstäubtem Wasser hin- und herwallen.

Die Insel Navy liegt stromaufwärts von diesen Fällen, also nach der Seite des Erie-Sees zu, zehn Meilen von der Stadt Buffalo und drei Meilen von dem Dorfe Niagara-Falls, welch' letzteres am obern Theile der Fälle erbaut ist, deren Namen es trägt.

Hier hatten die Patrioten gleichsam die letzte Schutzwehr des Aufstandes errichtet, eine Art Feldlager, mitten im Niagara zwischen Canada und Amerika, an der natürlichen Grenze beider Länder.

Diejenigen der Führer, welchen es gelang, den Verfolgungen der Loyalisten zu entgehen, nachdem diese bei St. Denis und St. Charles den Sieg behielten, hatten das canadische Gebiet verlassen und die Grenze überschritten, um sich auf der Insel Navy zu sammeln.

Entschied das Waffenglück gegen sie und gelang es den Königlichen, den linken Arm des Stromes zu überschreiten und sie von der Insel zu vertreiben, so blieb ihnen doch noch immer der Ausweg, nach dem anderen Ufer zu entweichen, wo es ihnen an thatkräftiger Theilnahme nicht fehlen konnte. Jedenfalls sollte es nur eine kleine Anzahl sein, welche bei den Amerikanern dann Asyl sachte, denn Alle waren bereit, in diesem letzten Kampfe bis aufs Aeußerste auszuhalten.

Die gegenseitige Stellung der französischen Canadier und der von Quebec aus entsandten königlichen Truppen war anfangs December die folgende:

Die Reformer - und genauer Diejenigen, welche man als »Blaumützen« bezeichnete - hielten die Insel Navy besetzt, welche zur Vertheidigung des Stromes freilich nicht hinreichte.

Trotz der herrschenden außerordentlichen Kälte blieb der Niagara nämlich noch immer schiffbar, was durch die Schnelligkeit seines Laufes bedingt ist. In Folge dessen war also auch eine Verbindung mittelst Booten zwischen der Insel Navy und den beiden Ufern nicht behindert. Die Amerikaner und Canadier verkehrten denn auch fortwährend zwischen dem Lager und dem Dorfe Schlosser am rechten Ufer des Niagara. Sehr häufig glitten größere und kleinere Boote über diesen Flußarm, von denen die einen Schießbedarf, Waffen und Nahrungsmittel brachten, die anderen von Fremden besetzt waren, welche in der Voraussicht eines bevorstehenden Angriffs der Königlichen in Schlosser zusammenströmten.

Ein Bürger der Vereinigten Staaten, Wills mit Namen und Eigenthümer des kleinen Dampfers »Caroline«, benützte diesen zu täglichen Fahrten gegen ein geringes Entgelt, welches die Neugierigen gern entrichteten.

Am entgegengesetzten Ufer des Niagara und folglich Schlosser gegenüber lagen die Engländer unter dem Befehle des Obersten Mac Nab in dem Dorfe Chippewa.

Ihre Truppenstärke war hinlänglich groß, um die auf der Insel Navy versammelten Farmer einfach zu erdrücken, wenn es ihnen nur gelang, nach der Insel hinüber zu kommen. Zum Zwecke eines Landungsversuches waren denn in Chippewa auch große Boote bereit gelegt, und jener sollte, sobald die Vorbereitungen des Oberst Mac Nab vollendet waren, das heißt schon in einigen Tagen, unternommen werden. Der Ausgang dieses letzten Kampfes an der Grenze Canadas war also von ausschlaggebender Bedeutung.

Es kann nicht Wunder nehmen, daß die Persönlichkeiten, welche in den verschiedenen Entwickelungsstufen dieser Erzählung schon mehrfach besonders hervortraten, sich auf der Insel Navy zusammengefunden hatten. Andre Farran, der unlängst von seinen Wunden genesen, war ebenso wie William Clerc nach dem Lagerplatze geeilt, wo sich auch Vincent Hodge bald bei ihnen einfand. Nur der noch im Gefängniß zu Montreal schmachtende Abgeordnete Sebastian Gramont hatte seine Stelle unter den Waffengefährten noch nicht wieder eingenommen.

Nachdem es ihm seinerzeit gelungen, die Heimkehr Bridgets und Clarys de Vaudreuil zu sichern, welche Dank seinem Dazwischentreten das geschlossene Haus wieder erreichen konnten, war es Vincent Hodge gelungen, sich sowohl von den betrunkenen Soldaten, die ihn umringten, als von denen, die ihm den Rückzug abzuschneiden drohten, glücklich zu befreien.

Er flüchtete hierauf durch den Wald und befand sich schon mit Tagesanbruch außer Gefahr, den Königlichen in die Hände zu fallen. Achtundvierzig Stunden später erreichte er St. Albans, jenseits der Grenze. Als sich seine Landsleute auf der Insel Navy zu sammeln begannen, begab er sich dorthin mit einigen Amerikanern, welche der Sache der canadischen Unabhängigkeit mit Leib und Seele anhingen.

Hier befand sich auch Thomas Harcher mit seinen vier Söhnen, Pierre, Jacques, Tomy und Michel; nachdem sie dem Gemetzel bei St. Charles entgangen, wäre eine Rückkehr nach Chipogan die größte Unklugheit gewesen, und zwar nicht nur in Bezug auf sie selbst, sondern auch wegen Catherine Harcher's. Sie hatten sich deshalb nach dem Dorfe St. Albans geflüchtet, wo Catherine sie durch Boten über ihr Schicksal und das der übrigen Kinder unterrichtet halten konnte. Von der ersten Woche des December ab hatten auch sie sich nach der Insel Navy zurückgezogen, fest entschlossen, noch einmal in den Kampf einzutreten, und bereit, den Tod Remys zu rächen, der unter den Kugeln der Loyalisten gefallen war.

Was den Meister Nick betrifft, so wäre von ihm der hellsehendste Weissager des Far-West, der ihm prophezeit hätte: »Der Tag wird noch kommen, wo Du, königlicher Notar, friedlich von Charakter, klug durch Passion, Dich an der Spitze eines Huronenstammes gegen die von Gott verordneten Behörden Deiner Heimat schlagen wirst!« - dieser Weissager wäre von ihm für würdig erachtet worden, unverzüglich in das nächste Irrenhaus eingesperrt zu werden.

Und dennoch befand sich der Meister Nick jetzt an der Spitze der Krieger dieses Stammes. Nach einer feierlichen Verhandlung waren die Mahogannis dahin überein gekommen, sich den Patrioten anzuschließen. Ein großer Häuptling, in dessen Adern das Blut der Sagamores rollte, konnte da nicht zurückbleiben. Vielleicht wagte er noch zuletzt einige Einwendungen. Diese wurden gar nicht angehört. Am nächstfolgenden Tage, nachdem Lionel, der den Abbe Joann begleitete, Walhatta verlassen und das Feuer in der Mitte des Berathungsplatzes erloschen, hatte sich Meister Nick, gefolgt -doch nein, angeführt von etwa fünfzig Kriegern, nach dem Ontario-See begeben, um nach dem Dorfe Schlosser zu gelangen.

Der freundliche Leser begreift gewiß leicht, welcher Empfang hier dem Meister Nick zu Theil wurde. Thomas Harcher drückte ihm die Hand so übermäßig kräftig, daß es ihm vierundzwanzig Stunden lang unmöglich war, den Bogen oder Tomahawk zu handhaben. Dieselbe Bewillkommnung erfuhr er von Seiten Vincent Hodge's, Farran's, Clerc's und aller Derjenigen, welche seine Freunde oder in Montreal seine Clienten gewesen waren.

»Ja. ja freilich. stammelte er, ich hielt mich für verpflichtet. oder vielmehr diese wackeren Leute hier.

- Die Krieger Ihres Stammes?. fragten Mehrere.

- Ja. meines Stammes!« antwortete er.

Wenn der vortreffliche Mann auch selbst eine höchst klägliche Rolle spielte, der gegenüber sich Lionel um seinetwillen geschämt hätte, so begrüßte man es doch mit Freuden, daß die Huronen herbeikamen, um der nationalen Sache ihre Hilfe zu leihen. Folgten jetzt die anderen Stämme ebenfalls ihrem Beispiele und verbanden sich deren Krieger aus denselben Beweggründen mit den Reformern, so konnte die Regierung kaum im Stande sein, der aufständischen Bewegung Herr zu werden.

In Folge der letzten Vorkommnisse hatten die Patrioten freilich aus der Offensive zur Defensive übergehen müssen. Und im Fall, daß die Insel Navy in die Gewalt des Obersten Mac Nab fiel, war die Sache der Unabhängigkeit unwiderruflich verloren.

Die Anführer der Blaumützen hatten sich bemüht, den Widerstand mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu organisiren. An verschiedenen Stellen der Insel hatte man hierzu Wälle aufgeworfen, um jeden Landungsversuch unter besseren Verhältnissen zurückweisen zu können, und Waffen, Schießbedarf, sowie Proviant, der nach dem Dorfe Schlosser kam, wurden in größter Eile und mit rühmlichstem Eifer besorgt. Am schwersten empfanden es die Patrioten, daß sie hier verurtheilt waren, einen Angriff abzuwarten, statt einen solchen selbst zu unternehmen, da es ihnen an Transportmitteln, den Niagara zu überschreiten, vollständig fehlte. Wie konnten sie sich aber ohne diese Hilfsmittel auf das Dorf Chippewa stürzen und zum Sturm auf das am linken Stromufer errichtete und befestigte Lager vorgehen?

Begreiflicher Weise mußte sich ihre Lage, je länger sie in dieser Weise andauerte, nur weiter verschlimmern. Wirklich erhielten die Streitkräfte des Oberst Mac Nab immer noch Verstärkungen, während die Vorbereitungen zur Ueberschreitung des Niagara mit allem Eifer betrieben wurden. Bis zur Grenze zurückgedrängt, hätten die Vertheidiger der franco-canadischen Sache gewiß vergeblich gesucht, mit den Bevölkerungen der Provinzen Ontario und Quebec im Einvernehmen zu bleiben. Wie sollten sich denn aber die Kirchspiele sammeln, um die Waffen zu ergreifen, und wer hätte sich jetzt an ihre Spitze stellen sollen, wo die Colonnen der Königlichen alle Grafschaften am St. Lorenzo durchzogen?

Ein Einziger hätte das vermocht. Ein Einziger hatte genug Einfluß auf die Volksmassen, das war Johann ohne Namen.

Seit der Niederlage von St. Charles aber war dieser verschwunden, und alle Wahrscheinlichkeiten sprachen dafür, daß derselbe unbemerkt den Tod gefunden hatte, da er an der amerikanischen Grenze noch nicht erschienen war. Die Annahme, daß er erst neuerlich der Polizei in die Hände gefallen sein könne, erschien unhaltbar; seine Gefangennahme wäre von den Behörden in Quebec und Montreal gewiß nicht geheim gehalten worden.

Ebenso verhielt es sich bezüglich des Herrn de Vaudreuil. Vincent Hodge, Farran und Clerc wußten nicht, was aus ihm geworden sei. Ihnen war nur bekannt, daß er bei St. Charles eine schwere Verwundung erhalten; Niemand hatte aber gesehen, daß Johann ihn vom Schlachtfeld weggetragen und in Sicherheit gebracht hatte, und eine Nachricht von seiner Gefangennahme war auch nicht eingetroffen. Was Clary de Vaudreuil betrifft, so hatte Vincent Hodge nach dem Augenblicke, wo er sie aus den Händen der umherschweifenden betrunkenen Soldaten befreite, ihre Spur nicht wiederfinden können.

Nun stelle man sich die Freude vor, welche alle Freunde Herrn de Vaudreuil's empfinden mußten, als sie diesen im Laufe des 10. December in Begleitung seiner Tochter und einer bejahrten Frau, welche Niemand kannte, auf der Insel Navy eintreffen sahen.

Diese Frau war Bridget.

Nach dem Weggange Johanns wäre es ohne Zweifel das Beste gewesen, auch noch ferner im geschlossenen Hause zu bleiben, da Herr de Vaudreuil hier kaum noch Gefahr lief, entdeckt zu werden. Wo hätte seine Tochter ein anderes und sichereres Obdach finden sollen? Die durch die Freiwilligen bei ihrem Zuge durch die Insel Jesus niedergebrannte Villa Montcalm war nur noch eine Ruine. Uebrigens wußte Herr de Vaudreuil noch nicht, aus welchem Grunde Rip im geschlossenen Hause keine weiteren Untersuchungen hatte anstellen lassen. Clary hatte das Geheimniß dieser befleckenden Protection bewahrt, und er wußte also nicht, daß er der Gast einer Bridget Morgaz war.

Mehr für seine Tochter als für sich selbst das wiederholte Eindringen von Polizisten fürchtend, hatte Herr de Vaudreuil an dem einmal entworfenen Plan nichts geändert sehen wollen. Am Nachmittage des nächstfolgenden Tages, und als er sicher war, daß die Königlichen St. Charles verlassen, hatte er mit Clary und Bridget in dem Planwagen des Farmers Archambaud Platz genommen. Alle Drei begaben sich ohne Aufenthalt nach dem Süden der Grafschaft St. Hyazinthe, und sobald sie von der Wiederansammlung der Patrioten auf der Insel Navy erfuhren, beeilten sie sich, die amerikanische Grenze zu erreichen. Am Abend vorher und nach einer recht beschwerlichen und nicht minder gefährlichen Fahrt in Schlosser angelangt, befanden sie sich jetzt inmitten ihrer Freunde.

Bridget hatte also zugestimmt, Clary de Vaudreuil zu folgen, obwohl diese ihre Vergangenheit kannte?. Ja, die unglückliche Frau hatte ihren Bitten nicht zu widerstehen vermocht.

Die Abreise war unter folgenden Verhältnissen vor sich gegangen:

Als sie nach der Flucht Johanns ebenso wie dieser es empfand, daß sie ihren Gästen nur ein Gegenstand des Entsetzens sein könne, hatte sich Bridget nach ihrem Zimmer zurückgezogen. Welch' schreckliche Nacht verbrachte hier das arme Weib! Wußte sie doch nicht, ob Clary ihrem Vater verheimlichen würde, was sie erfahren hatte. Nein, wahrscheinlich nicht; und am nächsten Tage schon mußte dann Herr de Vaudreuil nichts Eiligeres zu thun haben, als das geschlossene Haus zu fliehen. ja, zu fliehen, selbst auf die Gefahr hin, den Königlichen in die Hände zu fallen; lieber zu fliehen, als noch eine Stunde unter dem Dache der Morgaz zu verweilen.

Auch Bridget wollte ja selbst nicht länger in St. Charles bleiben. Sie wollte es nicht abwarten, unter öffentlicher Beschimpfung von hier vertrieben zu werden. Weit, weit fort wollte sie gehen und von Gott erflehen, daß er sie von diesem entsetzlichen Leben bald erlöse.

Am folgenden Morgen schon mit Tagesanbruch sah Bridget aber das junge Mädchen in ihr Zimmer treten. Sie wollte eben daraus weggehen, um nicht mit ihr zusammenzutreffen, als Clary sie mit trauriger und doch so theilnehmender Stimme anredete.

»Frau Bridget, begann sie, ich habe vor meinem Vater Ihr Geheimniß bewahrt. Er weiß nichts und wird nie etwas wissen von Ihrer Vergangenheit, und auch ich will dieselbe vergessen. Ich werde mich nur erinnern, daß, wenn Sie die unglücklichste der Frauen, Sie doch auch die ehrenwertheste von allen sind!«

Bridget erhob nicht einmal den Kopf

»Hören Sie mich an, fuhr Clary fort. Ich hege für Sie gern und willig die Achtung, auf welche Sie ein so volles Recht haben, und ich habe für Ihr Unglück das Mitgefühl, die Theilnahme, welche dasselbe verdient. Nein!... Sie sind nicht verantwortlich für das Verbrechen, das Sie so grausam gesühnt haben. Jenen abscheulichen Verrath haben Ihre Söhne überreichlich gut gemacht; Sie werden noch einmal gerechte Anerkennung finden; für jetzt lassen Sie mich Sie lieben, als wären Sie meine Mutter. Ihre Hand, Frau Bridget, geben Sie mir Ihre Hand!«

Gegenüber dieser rührenden Darlegung ihrer innersten Gefühle, welcher sie so ungewohnt war, ließ sich die Unglückliche erweichen und preßte die Hand des jungen Mädchens, während ihr große Thränen aus den Augen perlten.

»Und nun, nahm Clary wieder das Wort, nun sei davon niemals mehr die Rede, denken wir vielmehr an die Gegenwart. Mein Vater fürchtet, daß Ihre Wohnung doch erneuten Haussuchungen schwerlich entgehen werde. Er will, daß wir zusammen schon nächste Nacht, wenn die Straßen frei geworden sind, abfahren. Sie, Frau Bridget, können und dürfen nicht länger in St. Charles bleiben. Ich erwarte von Ihnen das Versprechen, daß Sie uns folgen werden. Wir suchen unsere Freunde wieder auf, finden Ihren Sohn wieder, und ihm gegenüber werd' ich wiederholen, was ich Ihnen soeben gesagt, und was ich für eine die Vorurtheile der Menschen weit überwiegende Wahrheit halte, deren Quelle in meinem Herzen liegt. - Hab' ich Ihr Versprechen, Frau Bridget?

- Ich werde von hier fortgehen, Clary de Vaudreuil.

- Mit meinem Vater und mit mir?.

- Ja, und doch wär's besser, mich in der Fremde an Unglück und Schande ruhig sterben zu lassen.«

Clary mußte Bridget, die schluchzend zu ihren Füßen lag, emporrichten.

Am Abend des folgenden Tages hatten alle Drei das geschlossene Haus verlassen.

Vierundzwanzig Stunden später, auf der Insel Navy, vernahmen sie die für die nationale Sache so schmerzliche Neuigkeit:

Johann ohne Namen sei durch den Polizeihauptmann Comeau gefangengenommen und nach dem Fort Frontenac gebracht worden.

Dieser letzte Schlag vernichtete Bridget. Was aus Joann geworden, wußte sie nicht; was Johann erwartete - das wußte sie nur zu gut. Ihm drohte der Tod in allernächster Zeit.

»Ach, wenn wenigstens Niemand erfährt, daß sie die Söhne Simon Morgaz' sind!« murmelte sie.

Nur Fräulein de Vaudreuil allein kannte dieses Geheimniß. Doch was hätte sie sagen können, um Bridget zu trösten?

An dem Schmerze, den sie beim Eintreffen jener Nachricht empfand, fühlte Clary nur zu deutlich, daß ihre Liebe zu Johann keine Einbuße erlitten habe. Sie sah in ihm nichts Anderes als den glühenden, dem Tode geweihten Patrioten.

Die Gefangennahme Johanns ohne Namen hatte übrigens im Lager der Insel Navy große Entmuthigung erzeugt, und auf diese Wirkung rechnete die Regierung ganz besonders, als sie jene Nachricht möglichst geräuschvoll verbreitete. Sobald dieselbe nach Chippewa gelangte, gab der Oberst Mac Nab Befehl, sie in der ganzen Provinz bekanntzumachen.

Wie war diese Kunde auch über die canadische Grenze gekommen?. Davon hatte Niemand eine Ahnung. Ganz unerklärlich schien es obendrein, daß sie auf der Insel Navy sogar noch eher bekannt war als im Dorfe Schlosser. - Doch änderte das ja nichts an der Sachlage.

Leider war jene Verhaftung nur zu gewiß, und Johann ohne Namen mußte zu der Stunde fehlen, wo das Schicksal Canadas sich auf dem letzten Schlachtfelde entscheiden sollte.

Gleich nach Bekanntwerden der Gefangennahme wurde im Laufe des 11. December eine Berathschlagung abgehalten.

Mit Vincent Hodge, Andre Farran und William Clerc wohnten derselben die hervorragendsten Anführer bei.

Herr de Vaudreuil, als Befehlshaber des Lagers auf der Insel Navy, führte dabei den Vorsitz.

Vincent Hodge äußerte sich zunächst in dem Sinne, ob es nicht möglich sei, Johann ohne Namen durch einen Gewaltstreich zu befreien.

»In Fort Frontenac ist er eingeschlossen, sagte er; die Garnison dieses Forts ist nur schwach an Zahl, und so etwa hundert entschlossene Männer würden sie zwingen können, sich zu ergeben. Es erscheint mir nicht unmöglich, das binnen vierundzwanzig Stunden auszuführen.

- Vierundzwanzig Stunden, wiederholte Herr de Vaudreuil. Vergessen Sie denn ganz, daß Johann ohne Namen schon verurtheilt war, ehe man ihn gefangen hatte? Mindestens noch in dieser Nacht oder in höchstens zwölf Stunden müßten wir in Frontenac sein, um etwas ausrichten zu können.

- Wir werden dort sein, erklärte Vincent Hodge. Längs des Ontario-Flusses kann uns kein Hinderniß aufhalten bis zur Grenze des St. Lorenzo, und da die Königlichen von unserem Plane nicht unterrichtet sind, werden sie uns das Ueberschreiten desselben nicht streitig machen können.

- So versuchen Sie Ihr Heil, sagte Herr de Vaudreuil, doch marschieren Sie ganz im Geheimen ab. Die Spione des Lagers von Chippewa dürfen nichts von Ihrem Aufbruche bemerken!«

Nachdem der kühne Zug einmal beschlossene Sache war, fiel es nicht schwer, die hundert Mann, welche daran theilnehmen sollten, zusammenzubringen. Um Johann ohne Namen dem Tode zu entreißen, hatten alle Patrioten sich angeboten. Das von Vincent Hodge geführte Detachement setzte nach der rechten Seite des Niagara, nach Schlosser über, und schräg über das amerikanische Gebiet hinziehend, gelangte es gegen drei Uhr Morgens an das rechte Ufer des St. Lorenzo, dessen Eisdecke die Männer leicht überschreiten konnten. Das Fort Frontenac lag von hier aus nur noch fünf Meilen nach Norden zu. Vor Tagesanbruch konnte Vincent Hodge die Besatzung desselben überrumpelt und den Verurtheilten befreit haben. Den Canadiern war aber, direct von Chippewa geschickt, ein reitender Bote vorausgeeilt. Die den Wachtdienst längs der Grenze versehenden Truppen hielten das linke Stromufer besetzt.

Deshalb mußte man auf jeden Weitermarsch verzichten; das Detachement wäre einfach aufgerieben worden und kein Mann nach der Insel Navy zurückgekehrt.

Vincent Hodge und seine Begleiter sahen sich gezwungen, wieder nach Schlosser zu umzukehren.

Der gegen das Fort Frontenac geplante Handstreich war also offenbar nach dem Lager von Chippewa gemeldet worden.

Daß die durch die Zusammenziehung von hundert Mann nöthig werdenden Vorbereitungen nicht vollständig geheim verlaufen konnten, lag ja am Ende auf der Hand, erklärte aber noch nicht, wie der Oberst Mac Nab davon Kenntniß erhalten hatte. Jedenfalls legte das den Gedanken nahe, daß sich unter den Patrioten ein, wenn nicht gar mehrere Spione befänden, welche mit dem Lager von Chippewa durch Zeichen sich zu verständigen vermochten. Schon bei anderen Gelegenheiten war der Verdacht aufgestiegen, daß die Engländer von dem unterrichtet würden, was auf der Insel vorging; dieses Mal konnte man nicht länger daran zweifeln, da jene an der Grenze von Canada liegenden Truppen zeitig genug benachrichtigt worden waren, um Vincent Hodge an der Ueberschreitung derselben zu verhindern.

Uebrigens hätte der von Herrn de Vaudreuil organisirte Versuch eine Befreiung des Verurtheilten gar nicht herbeizuführen vermocht. Vincent Hodge wäre doch zu spät nach dem Fort Frontenac gekommen.

Am folgenden Tage, schon zeitig des Morgens, verbreitete sich die Nachricht, daß Johann ohne Namen am Vortage innerhalb der Umplankung des Forts erschossen worden sei.

Die Loyalisten aber wünschten sich Glück, nichts mehr von diesem volksthümlichen Helden zu fürchten zu haben, der von jeher die Seele der franco-canadischen Aufstandsversuche gewesen war.

Zehntes Capitel Bridget Morgaz

Inzwischen sollten zwei andere, nicht minder furchtbare Schläge die nationale Partei treffen und die letzten Vertheidiger des Lagers auf der Insel Navy noch weiter entmuthigen.

In der That war zu befürchten, daß die Reformisten allmählich eine Beute der Verzweiflung würden, angesichts der sich wiederholenden Mißerfolge, welche das Unglück auf sie häufte.

In erster Linie machte die im Bezirke von Montreal erfolgte Erklärung des Standrechtes ein Einvernehmen zwischen den Kirchspielen am St. Lorenzo fast unmöglich. Einerseits ermahnte der canadische Clerus, ohne sich jeder Hoffnung auf die Zukunft zu begeben, doch die widerstrebenden Mengen, sich zu unterwerfen; andererseits war es sehr schwierig, ohne Hilfe der Vereinigten Staaten den Sieg zu erringen. Abgesehen von der nächsten Grenzbevölkerung, schien aber auf eine solche Hilfe nichts hinzudeuten. Die Bundesregierung lehnte es ausdrücklich ab, für die Nachbarn französischen Ursprungs offen Partei zu ergreifen. Gute Wünsche. ja; Thaten... nicht die geringste! Außerdem bemühten sich noch eine Anzahl Canadier, unter Vorbehalt ihrer Rechte und unter Protest gegen offenbare Mißbräuche, die Gemüther möglichst zu beruhigen.

Dieser Zustand der Dinge verursachte es, daß die kampfbereiten Patrioten im letzten Monate des Jahres 1837 nicht mehr als etwa tausend Mann zählten, welche noch überdies im Lande verstreut waren. An Stelle einer Revolution hatte die Geschichte damit nur noch eine Revolte in ihre Bücher einzutragen.

Inzwischen wurden in Swanton einige isolirte Aufstandsversuche unternommen. Auf Anrathen Papineau's und O'Callaghan's drang eine kleine Truppe von achtzig Mann in das canadische Gebiet ein, gelangte hier bis Moore's-Corner und stürzte sich auf einen Haufen von vierhundert Kronfreiwilligen, welche den Patrioten den Weg verlegten. Letztere schlugen sich mit rühmenswerthem Muthe, wurden aber doch zurückgedrängt und mußten die canadische Grenze wieder rückwärts überschreiten.

Als die Colonialregierung von dieser Seite nichts zu fürchten hatte, konnte sie ihre Streitkräfte mehr nach Norden hin zusammenziehen.

Am 14. December kam es zu einem Gefechte in St. Eustache, in der Grafschaft Deux-Montagnes, nördlich vom St. Lorenzo. Hierbei zeichnete sich inmitten seiner kühnen Kampfgenossen, wie Lorimier, Ferreol und Andere, durch Entschlossenheit und Todesverachtung vorzüglich der Doctor Chenier aus, auf dessen Kopf ein Preis ausgeschrieben war. Zweitausend von Sir John Colborne entsandte Soldaten, neun Kanonen, hundertzwanzig Mann Cavallerie und eine Compagnie von achtzig Freiwilligen griffen St. Eustache an. Chenier und die Seinigen leisteten heldenhaften Widerstand. Den Vollkugeln und den Gewehrsalven ausgesetzt, mußten sie sich nach dem Pfarrhause, dem Kloster und in die Kirche zurückziehen; die Meisten besaßen nicht einmal Flinten, und als sie solche zu haben verlangten, antwortete Chenier kaltblütig:

»Ihr nehmt die Gewehre Derjenigen, welche schon gefallen sind!«

Der Kreis der Angreifer zog sich jedoch um das Dorf immer enger zusammen, und auch eine Feuersbrunst kam den Königlichen zu Hilfe.

Chenier sah sich gezwungen, die Kirche zu verlassen; da streckte ihn eine Kugel zu Boden. Er raffte sich noch einmal auf und feuerte; jetzt traf ihn eine Kugel mitten in die Brust, so daß er auf der Stelle todt zusammensank. Siebenzig seiner Gefährten fielen mit ihm.

Man sieht wohl noch heute die Zerstörungen an der Kirche, in der jene Verzweifelten kämpften, und die Canadier haben niemals aufgehört, den Ort zu besuchen, wo der muthige Arzt den Tod fand. Im ganzen Lande pflegt man noch immer zu sagen: »muthig wie Chenier.«

Nach der erbarmungslosen Niederwerfung der Aufständischen in St. Eustache sandte Sir John Colborne seine Truppen nach St. Benoit, wo sie am folgenden Tage eintrafen.

Es war das ein Schloß und reiches Dorf, einige Meilen nördlich in der Grafschaft Deux-Montagnes.

Hier begannen die Soldaten ein Gemetzel unter waffenlosen Menschen, die sich von Anfang an hatten unterwerfen wollen. Wie hätten sie auch nur die Möglichkeit gehabt, sich gegen die von St. Eustache kommenden regulären Truppen und gegen die von St. Andrew heranziehenden Freiwilligen zu vertheidigen, welche zusammen mehr als sechstausend Mann zählten und von dem General persönlich angeführt wurden?

Verwüstungen, Zerstörungen, Plünderungen, Feuersbrünste und Diebstähle - alle Ausschreitungen einer wüthenden Soldatesca, welche weder Alter noch Geschlecht schonte, Kirchenschändung, Entweihung heiliger Gefäße durch die Benützung zu den gemeinsten Zwecken, Entwendung von Meßgewändern, welche sie an den Hals ihrer Pferde banden -das waren die Acte des Vandalismus und der Unmenschlichkeit, deren Schauplatz dieses Kirchspiel wurde.

Und wenn die Freiwilligen großen Antheil an diesen Schändlichkeiten nahmen, so ist doch anzuführen, daß die Soldaten der regulären Armee nur wenig oder gar nicht von ihren Vorgesetzten davon zurückgehalten wurden. Wiederholt ertheilten letztere sogar selbst den Befehl, verschiedene Häuser von Vornehmen den Flammen zu übergeben.

Als die Nachrichten hiervon am 16. December nach der Insel Navy kamen, erregten sie natürlich einen Sturm der Entrüstung. Die Blaumützen wollten mit aller Gewalt den Niagara überschreiten und das Lager Mac Nab's angreifen, so daß Herr de Vaudreuil die größte Mühe hatte, sie zurückzuhalten.

Nach der ersten Erregung des Zornes jedoch griff eine tiefe Entmuthigung Platz. Sogar schon einzelne Desertionen begannen die Reihen der Patrioten zu lichten, wobei vielleicht ein Hundert nach der amerikanischen Grenze übertraten.

Endlich sahen auch selbst die Führer ihren Einfluß sich abschwächen und geriethen in so manchen Zwiespalt untereinander. Vincent Hodge, Farran und Clerc kamen häufig in Meinungsverschiedenheiten mit anderen Führern. Nur Herr de Vaudreuil vielleicht hätte diese Reibereien schlichten können, welche in der verzweifelten Lage ihren Ursprung fanden. Zum Unglücke fühlte er, bei fortdauernder geistiger Energie trotz schlecht verheilter Wunden, seine Körperkraft täglich abnehmen und sagte sich, daß er eine letzte Niederlage nicht überleben werde. Inmitten der Besorgnisse, welche ihm die nächste Zukunft einflößte, beschäftigte sich Herr de Vaudreuil auch mit dem traurigen Zustand, in dem er seine Tochter hinterlassen würde.

Andre Farran, William Clerc und Vincent Hodge bemühten sich fortwährend, die Niedergeschlagenheit ihrer Kampfgenossen zu bannen. Wenn die Partie auch diesmal verloren ging, wiederholten sie, so werde man nur die geeignete Stunde zur Wiederaufnahme derselben abzuwarten haben. Nachdem die Keime zu einer späteren allgemeinen Schilderhebung einmal gelegt seien, würden sich die Patrioten auf das Gebiet der Vereinigten Staaten zurückziehen, um sich hier zum neuen Feldzuge gegen ihre Unterdrücker vorzubereiten.

Nein, man durfte an der Zukunft nicht verzweifeln, und das war sogar die Meinung des Meister Nick, der gelegentlich zu Herrn de Vaudreuil sagte:

»Wenn der Aufstand vorläufig auch noch nicht siegen konnte, so müssen die Forderungen der Reformer schon allein durch die Gewalt der Thatsachen erfüllt werden. Canada wird seine Rechte früher oder später zurückerlangen, wird sich seine Selbstständigkeit erkämpfen und höchstens noch dem Namen nach mit England zusammenhängen. Sie werden das ja noch erleben, Herr de Vaudreuil; wir finden uns schon einmal wieder mit Ihrer lieben Clary in der aus den Ruinen entstandenen Villa Montcalm zusammen. Und ich - o, ich rechne stark darauf, nach endlicher Ablegung des Herrschermantels der Sagamores, der mir kaum bis an die Notarschultern reicht, in meine Expedition nach Montreal zurückzukehren.«

Sprach Herr de Vaudreuil, der sich um die Zukunft seiner Tochter sorgte, darüber mit Thomas Harcher, so antwortete ihm der Farmer:

»Gehören wir nicht auch etwas zu Ihrer Familie, gnädiger Herr? Wenn Sie für Fräulein Clary fürchten, warum senden Sie diese nicht zu meiner Frau Catherine? Dort, in der Farm von Chipogan wird sie in Sicherheit sein; dort finden Sie sie wieder, sobald die Verhältnisse das gestatten.«

Herr de Vaudreuil machte sich jedoch keine Illusionen bezüglich seines Zustandes, und da er den Tod in seinem Innern nagen fühlte, wollte er die Zukunft Clarys unter schon längst von ihm gewünschten Umständen sichergestellt wissen.

Da er Vincent Hodge's Liebe für sein Kind wohl kannte, mußte er annehmen, daß diese Liebe auch erwidert würde.

Niemals hätte er geahnt, daß Clarys Herz von dem Gedanken an einen Anderen erfüllt sein könne. Unzweifelhaft mußte sie ja, wenn sie an die Verlassenheit dachte, die ihr nach des Vaters Ableben drohte, selbst die Nothwendigkeit fühlen, eine Stütze in dieser Welt zu haben. Und gab es da eine verläßlichere als die Liebe Vincent Hodge's, der an sie schon durch die Bande des wärmsten Patriotismus gefesselt war?

Herr de Vaudreuil beschloß nun demgemäß zu handeln, um die Erfüllung seines liebsten Herzenswunsches zu erreichen. Er zweifelte ja nicht an den Empfindungen Hodge's und konnte an denen Clarys noch weniger zweifeln. So wollte er sie Beide vor sich kommen lassen, mit ihnen reden und ihre Hände ineinanderlegen. Wenn er dann starb, würde er nur noch ein Bedauern haben - das Bedauern, der Heimat ihre Unabhängigkeit noch nicht haben wiedergeben zu können.

Vincent Hodge wurde eingeladen, sich am Abend des 16. December bei ihm einzufinden.

Es war ein kleines Haus an der Ostküste der Insel, gegenüber dem Dorfe Schlosser, das Herr de Vaudreuil mit seiner Tochter bewohnte.

Bridget wohnte ebenfalls da, sie verließ dasselbe aber am Tage niemals. Meist ging das arme Weib nur mit der Dämmerung aus, versenkt in das Angedenken an ihre beiden Söhne, Johann, der für die nationale Sache gestorben war, und Joann, von dem sie keine Nachrichten mehr erhalten, und der vielleicht in einem Gefängnisse Quebecs oder Montreals nur die Stunde erwartete, wo auch er den Tod finden sollte.

Uebrigens sah sie auch niemals Jemand in dem Hause, wo Herr und Fräulein de Vaudreuil ihr die Gastfreundschaft vergalten, welche sie im geschlossenen Hause genossen hatten. Hier quälte sie nicht die Furcht, erkannt zu werden, oder die Besorgniß, daß man ihr ihren Namen ins Gesicht schleudern könne; denn wer hätte in ihr die Gattin Simon Morgaz' vermuthen können? Es war für sie aber schon zuviel, daß sie unter dem Dache des Herrn de Vaudreuil wohnte, und daß Clary ihr die Liebe und Achtung einer Tochter für ihre Mutter entgegenbrachte.

Vincent Hodge stellte sich pünktlich zur bestimmten Stunde ein. Als er eintraf, war es um acht Uhr Abends.

Bridget, welche ausgegangen war, durchirrte die Insel.

Vincent Hodge drückte Herrn de Vaudreuil die Hand und wandte sich dann zu Clary, welche ihm die ihrige entgegenstreckte.

»Ich habe über ernste Dinge mit Ihnen zu sprechen, lieber Hodge, begann Herr de Vaudreuil.

- Ich lasse Dich allein, lieber Vater, sagte Clary, sich nach der Thür begebend.

- Nein, mein Kind. Was ich zu sagen habe, geht Euch Beide an.«

Er machte Vincent Hodge ein Zeichen, sich vor seinem Lehnstuhle niederzusetzen. Clary nahm auf einem anderen Stuhle neben ihm Platz.

»Mein Freund, nahm er nun das Wort, ich habe nicht mehr lange zu leben; ich fühle es, daß meine Kräfte tagtäglich mehr schwinden. So hören Sie mich denn an, als säßen Sie am Bette eines Sterbenden, um dessen letzte Worte zu vernehmen.

- Mein lieber Vaudreuil, antwortete Hodge rasch, Sie übertreiben.

- Und Du machst uns rechten Schmerz, liebster Vater! setzte das junge Mädchen hinzu.

- Ihr Beide würdet mir noch mehr bereiten, erwiderte Herr de Vaudreuil, wenn Ihr es abschlügt, meinen Worten zu lauschen.«

Er sah Beide lange Zeit an. Dann wandte er sich an Vincent Hodge.

»Mein Freund, sagte er, bisher haben wir miteinander von nichts anderem gesprochen, als von der Angelegenheit, der wir Beide, Sie und ich, unser ganzes Leben widmeten. Meinerseits war das ja etwas sehr Natürliches, da ich von französischem Geblüt bin, und ich nur für den Triumph des französischen Canada gekämpft habe. Sie aber, der unserem Vaterlande nicht durch die Bande der Geburt angehört, Sie haben ebenfalls nicht gezaudert, in die vordersten Reihen der Patrioten einzutreten.

- Sind die Amerikaner und Canadier nicht Brüder? antwortete Vincent Hodge. Und wer weiß denn, ob Canada nicht dereinst einen Theil der amerikanischen Union bildet?.

- O, möchte dieser Tag doch kommen! rief Herr de Vaudreuil.

- Ja, mein Vater, er wird kommen, ließ sich da Clary vernehmen, er wird kommen und Du wirst ihn noch sehen.

- Nein, mein Kind, ich werde ihn nicht sehen.

- Halten Sie denn dafür, daß unsere Sache für immer verloren ist, weil sie dieses Mal besiegt wurde? fragte Vincent Hodge.

- Eine gerechte Sache muß immer zuletzt triumphiren, antwortete Herr de Vaudreuil. Die Zeit, die mir fehlt, wird doch Ihnen nicht fehlen, diesen Triumph mit anzusehen. Ja, Hodge, Sie werden Zeuge desselben sein, und gleichzeitig werden Sie auch Ihren Vater gerächt haben, Ihren Vater, der durch den Verrath eines Morgaz auf dem Schaffot sein Leben aushauchte!«

Nach diesem so unerwartet ausgesprochenen Namen fühlte sich Clary wie ins Herz getroffen. Fürchtete sie wohl, die Röthe sehen zu lassen, die ihr Gesicht überflog?

Ja, wahrscheinlich, denn sie erhob sich und nahm an einem Fenster Platz.

»Was fehlt Ihnen, Clary? fragte Vincent Hodge, der zu dem jungen Mädchen herantrat.

- Du bist leidend? setzte Herr de Vaudreuil hinzu, und machte schon eine Anstrengung, den Armstuhl zu verlassen.

- Nein, mein Vater, es ist nichts!. Ein wenig frische Luft macht Alles wieder gut!«

Vincent Hodge öffnete die Fensterflügel und wandte sich an Herrn de Vaudreuil zurück.

Dieser wartete einige Minuten. Als dann Clary wieder an seine Seite gekommen, ergriff er ihre Hand, indem er gleichzeitig das Wort an Vincent Hodge richtete:

»Mein Freund, sagte er, obwohl nur der Patriotismus bisher Ihre Brust erfüllt hat, ließ er in Ihrem Herzen doch noch für eine andere Empfindung Raum. Ja, Hodge, ich weiß es, Sie lieben meine Tochter, und ich weiß auch, welche Hochachtung diese für Sie hegt. Ich würde weit ruhiger sterben, wenn ich wüßte, daß Sie das Recht und die Pflicht hätten, über sie zu wachen, wenn sie allein in der Welt steht. Wenn sie nun dazu Ja sagte, würden Sie Clary als Weib nehmen?«

Clary hatte die Hand aus der ihres Vaters gezogen; die Augen auf Vincent Hodge gerichtet, erwartete sie dessen Erklärung.

»Mein lieber Vaudreuil, antwortete Vincent Hodge, Sie bieten mir da die Erfüllung des höchsten Glücks, das ich mir je geträumt, das, mich durch ein süßes Band an Sie zu fesseln. Ja, Clary, ich liebe Sie - schon seit langer Zeit - von ganzem Herzen; doch bevor ich Ihnen von meinen Empfindungen sprach, hatte ich die Sache unseres Volkes triumphiren sehen wollen. Jetzt sind die Verhältnisse freilich sehr ernste geworden und die jüngsten Ereignisse haben die Lage der Patrioten geändert, so daß wohl mehrere Jahre vergehen können, ehe es zu erneutem Kampfe kommt.

Nun also, wollen Sie diese Jahre an meiner Seite und in dem Amerika, welches ja fast auch Ihr Vaterland ist, verleben? Wollen Sie mir das schöne Recht einräumen, den Vater an Ihrer Seite zu ersetzen, ihm die Freude gewähren, mich seinen

Sohn zu nennen?. Sprechen Sie, Clary, ist das auch Ihr Wille?«

Das junge Mädchen schwieg.

Vincent Hodge senkte diesem Schweigen gegenüber den Kopf und wagte keine Wiederholung seiner Frage.

»Nun, mein Kind, nahm Herr de Vaudreuil wieder das Wort, Du hast mich verstanden?. hast gehört, was Hodge darauf sagt?. Es hängt jetzt nur davon ab, ob ich auch sein Vater sein kann, und ob ich, nach so vielen Leiden in diesem Leben, als letzte Tröstung die haben soll, Dich mit einem Patrioten, der Dich liebt und Deiner würdig ist, vereinigt zu sehen!«

Da gab Clary mit tief erregter Stimme eine Antwort, welche freilich jede solche Hoffnung abschnitt.

»Du weißt, mein Vater, daß ich Dir gewiß stets die größte Achtung bewahrt habe; auch für Sie, Herr Hodge, empfand ich von jeher die aufrichtigste Hochachtung und die Liebe einer Schwester; Ihre Gattin aber kann ich nicht werden!

- Du kannst nicht, Clary? murmelte Herr de Vaudreuil, den Arm seiner Tochter erfassend.

- Nein, lieber Vater!

- Und weshalb nicht?.

- Weil mein Leben einem Anderen gehört.

- Einem Anderen?. rief Vincent Hodge, in dem sich unwiderstehlich ein Gefühl der Eifersucht regte.

- Seien Sie nicht eifersüchtig, Hodge, fuhr das junge Mädchen fort. Warum sollten Sie das auch sein, mein Freund? Derjenige, den ich liebe und gegen den ich von dieser Liebe niemals eine Silbe sprach, der. ist nicht mehr! Auch wenn er noch lebte, wär' ich vielleicht sein Weib nicht geworden. Doch er ist todt, gestorben für sein Vaterland, und ich. ich werde seinem Andenken treu bleiben.

- Es ist also Johann?. rief Herr de Vaudreuil.

- Ja, Vater, es ist, oder es war Johann.«

Clary konnte ihre Antwort nicht vollenden.

»Morgaz!. Morgaz.« so ertönte es plötzlich aus einem wüsten, jetzt noch ziemlich entfernten Geschrei hervor; gleichzeitig hörte man ein Lärmen unruhiger Massen, welches vom Norden der Insel und vom Ufer des Niagara herkam, an dem das Haus des Herrn de Vaudreuil sich erhob.

Bei diesem geräuschvoll ausgerufenen Namen, der ja den Johanns jetzt so seltsam vervollständigte, wurde Clary leichenblaß.

»Was hat der Lärm zu bedeuten? fragte Herr de Vaudreuil.

- Und warum dieser Name?« fragte Vincent Hodge.

Er erhob sich, trat an das noch offene Fenster und beugte sich hinaus.

Das Uferland lag ziemlich hell vor ihm. Gegen hundert Patrioten, viele derselben mit Fackeln aus Birken- oder Buchenrinde, drängten sich am hohen Stromufer daher.

Männer, Frauen und Kinder umringten, den verhaßten Namen ausstoßend, eine alte Frau, welche ihren thätlichen Mißhandlungen nicht entfliehen konnte, da sie sich kaum selbst weiter zu schleppen vermochte.

Es war Bridget.

In diesem Augenblicke stürzte Clary aus Fenster und erkannte das Opfer der Volkswuth, deren Grund sie recht wohl errieth.

»Bridget!.« rief sie.

Sofort sprang das junge Mädchen nach der Thür, riß diese auf und eilte hinaus, ohne ihrem Vater, der ihr mit Vincent Hodge folgte, noch eine Erklärung zu geben.

Die Volksmenge befand sich jetzt kaum noch fünfzig Schritte vom Hause und das Geschrei nahm immer mehr zu. Einige warfen Bridget Straßenkoth ins Gesicht; wüthende Hände streckten sich drohend nach ihr aus, und viele sammelten Steine von der Erde, um sie damit zu werfen.

Im nächsten Augenblick stand Clary neben Bridget und deckte diese mit ihren Armen, während die Menge desto heftiger heulte und ihr zurief:

»Das ist Bridget Morgaz!. Das ist das Weib des Simon Morgaz!. Zum Tode mit ihr!. Zum Tode!«

Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge, welche sich schon zwischen die rasenden Leute hatten stürzen wollen, hielten plötzlich still. Bridget, die Gattin Simon Morgaz'!. Bridget trug diesen. diesen von Allen verfluchten Namen!

Clary unterstützte die Unglückliche, welche in die Knie gesunken war; deren Kleid war zerrissen und beschmutzt. Die weißen, jetzt wirr herabhängenden Haare verhüllten ihr Gesicht.

»Tödtet mich!. Tödtet mich! murmelte sie flehend.

- Unglücksel'ge! rief Clary, sich an die Nächststehenden wendend, welche sie bedrohten, Achtung vor dieser Frau!

- Vor der Frau des Verräthers Simon Morgaz'! heulten hundert wüthende Stimmen.

- Ja. vor der Frau des Verräthers, erwiderte Clary so laut sie konnte, doch auch der Mutter Desjenigen.«

Sie wollte den Namen Johanns aussprechen, den Namen, der Bridget vielleicht allein zu schützen und zu retten vermochte.

Bridget aber, die sich noch einmal mit aller Kraft aufrichtete, flüsterte ihr zu:

»Nein, Clary, nein!. Aus Mitleid für meinen Sohn. aus Mitleid gegen sein Andenken!«

Und wiederum erschallten die Rufe lauter und wurden die Drohungen schlimmer. Die Menge war angewachsen und schien besessen von jenem unbesieglichen Wahnwitz, der oft zu den schrecklichsten Thaten treibt.

Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge wollten versuchen, dem Volke sein Opfer zu entreißen, und einige Freunde derselben, welche den Tumult gehört, kamen ihnen bereits zur Hilfe. Vergebens versuchten sie aber Bridget, und mit dieser Clary, die sich an sie klammerte, zu befreien.

»Zum Tode!. Zum Tode mit dem Weibe Simon Morgaz'«! brüllten zahllose Stimmen.

Plötzlich erschien ein Mann unter der Menge, die er mit kraftvollem Arme theilte. Er entriß Bridget den Armen, welche schon geschwungen waren, ihr den Tod zu geben.

»Meine liebste Mutter!« rief der Mann.

Es war Johann ohne Namen, war Johann Morgaz!

Elftes Capitel Sühne

Der Name Simon Morgaz war unter den Vertheidigern der Insel Navy unter folgenden Umständen wieder genannt worden.

Dem Leser wird erinnerlich sein, daß die Vorbereitungen zum Widerstande, die Punkte, welche befestigt wurden, um einen Ueberfall seitens der Königlichen abzuschlagen, und einzelne Versuche, die Passage über den Niagara mit Gewalt zu erzwingen, zu wiederholten Malen nach dem Lager Mac Nab's hinüber gemeldet worden waren. Offenbar befand sich ein Spion unter den Reihen der Patrioten und hielt den Feind auf dem Laufenden über Alles, was auf der Insel vorging. Vergebens hatte man sich schon bemüht, diesen Spion zu entdecken und kurzer Hand abzustrafen, doch war er bis jetzt allen Nachsuchungen, welche bis auf die Dörfer am amerikanischen Ufer ausgedehnt wurden, entgangen.

Dieser Spion war kein Anderer als Rip.

Gereizt durch seine letzten Mißerfolge, welche seinem »Handelshause« immerhin beträchtliche Verluste zufügten, hatte der Chef der Agentur Rip & Compagnie das Letzte daran gewagt, seine Geschäfte durch einen höchst kühnen Versuch, der die erlittenen Schlappen ausgleichen sollte, wieder aufzubessern.

Bei dem Handgemenge in der Farm von Chipogan, wo seine Begleitmannschaft hatte zum Rückzuge blasen müssen, war sein Unternehmen gescheitert, und von St. Charles her wissen wir, wie er selbst dem im geschlossenen Hause verborgenen Johann ohne Namen die Möglichkeit bot, zu entfliehen; und endlich war es nicht er mit seinen Leuten, sondern der Polizeihauptmann Comeau mit den seinigen, dem die endliche Ergreifung des Proscribirten gelang.

Entschlossen, sich dafür Genugthuung zu verschaffen, hatte Rip, für den das »Geschäft bezüglich Johanns ohne Namen« abgethan war, da man wohl annehmen konnte, daß diesen in Fort Frontenac die Kugeln der Soldaten hingestreckt hatten, den Plan ausgeklügelt, sich verkleidet nach der Insel Navy zu begeben. Mittels verabredeter Signale meldete er dann von hier aus dem Oberst Mac Nab alle Vertheidigungsarbeiten und wies ihn auf die Punkte hin, wo am leichtesten eine Landung an der Insel zu bewerkstelligen sein würde. Gewiß wagte er seinen Kopf daran, sich auf diese Weise unter die Patrioten zu mischen, denn wenn er erkannt wurde, hatte er sicherlich auf keine Gnade zu hoffen. Gewiß erschlug man ihn wie einen Hund. Andererseits winkte ihm als Preis eine sehr beträchtliche Summe, wenn er die Einnahme der Insel erleichterte, welche mit dem Verschwinden der hervorragendsten Anführer dem Aufstande des Jahres 1837 voraussichtlich ein Ende bereiten mußte.

In dieser Absicht also begab sich Rip nach dem amerikanischen Ufer des Niagara, auf diesem nach Schlosser und fuhr dann auf der »Caroline« als einfacher Besucher, wie so viele Andere, nach der Insel Navy hinüber.

Dank seiner Verkleidung, dem Vollbarte, den er jetzt trug, der geschickten Veränderung seiner gewöhnlichen Kleidung und endlich der verstellten Stimme, war dieser tollkühne Geheimpolizist in der That kaum wiederzuerkennen. Und doch fanden sich hier Leute, welche ihn trotzdem unter dieser Maske herausgefunden haben würden: Herr de Vaudreuil und seine Tochter, Thomas Harcher und seine Söhne, mit denen er ja vor nicht gar zu langer Zeit in der Farm zu Chipogan zusammengetroffen war, und endlich auch Meister Nick, dem er vielleicht am wenigsten auf dieser Insel zu begegnen erwartet hätte. Glücklicher Weise war seine Verkleidung aber eine so vollkommene, daß Niemand nach dieser Richtung Verdacht schöpfte. So konnte er, ohne sich bloßzustellen, sein Geschäft als Spion betreiben und, wenn nöthig, mit Chippewa correspondiren; so kam es auch, daß er dem Obersten Mac Nab den von Vincent Hodge geplanten Ueberfall des Fort Frontenac rechtzeitig hatte melden können.

Da sollte ein reiner Zufall ihn verderben.

Während der acht Tage seit seinem Eintreffen hier hatte er, in der Tracht der Blaumützen auftretend, zwar öfter schon Thomas Harcher, Meister Nick und Anderen gegenübergestanden, war aber Bridget noch nirgends begegnet; und wie hätte er auch deren Anwesenheit auf der Insel Navy muthmaßen sollen? Die Gattin Simon Morgaz' inmitten der Patrioten, das war etwas, woran er in der Welt am wenigsten gedacht hätte, zumal da er wußte, daß sie unlängst noch in dem geschlossenen Hause war, wo er selbst sie mit den Repressalien, welche die übrigen Einwohner von St. Charles trafen, verschont hatte. Im Uebrigen waren sie seit zwölf Jahren, das heißt seit der Zeit, wo er damals mit ihr und ihrer Familie in Chambly zusammentraf, einander nicht wieder begegnet, außer an jenem Abend, wo in St. Charles die Haussuchungen vorgenommen wurden, so daß er fast sicher sein konnte, weder von ihr, noch von Meister Nick oder Thomas Harcher wiedererkannt zu werden.

Bridget erkannte ihn auch in der That nicht; vielmehr war er es selbst, der sich unter Umständen verrieth, welche er trotz peinlichster Vorsicht doch außer Acht gelassen hatte.

An jenem Abend, am 16. December, als Vincent Hodge sich auf die Einladung des Herrn de Vaudreuil hin daselbst einfand, hatte Bridget das Haus verlassen. Tiefdunkle Nacht verhüllte das Thal des Niagara und eine ungestörte Stille herrschte ebenso in dem von den englischen Truppen besetzten Dorfe, wie im Lager der Reformer. Nur einzelne Wachtposten wandelten am Ufer auf und ab, um den linken Arm des Stromes im Auge zu behalten.

Ohne sich von der von ihr eingeschlagenen Richtung Rechenschaft zu geben, war Bridget nach der stromaufwärts liegenden Spitze der Insel gelangt. Nachdem sie hier wenige Augenblicke gerastet, wollte sie eben zurückkehren, als ihr Auge von einem Lichtscheine getroffen wurde, der sich am Fuße des steilen Ufers hin und her bewegte. Ueberrascht und beunruhigt zugleich, begab sich Bridget nach der Uferkante, welche den Niagara an dieser Stelle überragte.

Hier schwang ein Mann eine Laterne, deren Licht auf dem Ufer von Chippewa bequem erkennbar sein mußte. Wirklich antwortete demselben auch sofort ein anderer Lichtschein aus dem dortigen Lager.

Bridget konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie den Austausch dieser verdächtigen Signale bemerkte.

Durch Bridgets Schrei aufmerksam gemacht, war jener Mann mit wenigen Sätzen den Felsenabhang hinaufgeeilt, trat der Frau gegenüber und leuchtete ihr mit seiner Laterne voll ins Gesicht.

»Bridget Morgaz!« rief er erstaunt.

Diesem Manne, der ihren Namen nannte, gegenüber anfangs ganz sprachlos, wich Bridget einen Schritt zurück. Die Stimme, welche er unachtsamer Weise jetzt nicht verstellt hatte, verrieth ihr jedoch, wer der Spion sei.

»Rip!. stammelte sie. Rip. hier!

- Ja, ich.

- Rip. hier als.

- Gewiß, Bridget, antwortete Rip leiser, thue ich nicht hier dasselbe, was zu thun auch Sie hierher gekommen sind? Weshalb sollte sich die Gattin eines Simon Morgaz im Lager der Patrioten befinden, wenn sie aus demselben nicht anderen Leuten Mittheilung machen.

- Elender! rief Bridget.

- O, schweigen Sie, rief Rip, sie kräftig am Arme packend. Schweigen Sie still oder.«

Es hatte nur eines Stoßes bedurft, um sie in die Strömung des Niagara zu werfen.

». Oder Sie wollen mich umbringen? fiel ihm Bridget ins Wort, während sie sich loszureißen sachte. Das wird wenigstens nicht geschehen, ehe ich Leute herbeigerufen, ehe ich Sie denselben angegeben habe!«

Dabei rief sie auch schon mit allen Kräften:

»Hierher!. Zu Hilfe!. Hierher!«

Fast sofort ließ ein Geräusch erkennen, daß die Wachtposten nach der Seite, woher diese Rufe drangen, herzueilten.

Rip sah ein, daß er Bridget nicht werde abthun können, ehe diese Hilfe käme.

»Nehmen Sie sich in Acht, Bridget, erklärte er drohend; sagen Sie, wer ich bin, so sag' auch ich, wer Sie sind!.

- Thun Sie, was Ihnen gefällt!« antwortete Bridget, auf welche selbst diese Drohung ohne Wirkung blieb.

Dann wiederholte sie, womöglich noch durchdringender:

»Zu Hilfe!. Hier. hierher!«

Schon umringte sie eine Anzahl Patrioten. Andere liefen von verschiedenen Seiten hinzu.

»Dieser Mann, erklärte Bridget, ist der Geheimagent Rip, er dient hier als Spion für die Königlichen.

- Und diese Frau, sagte Rip mit schlecht verhehltem Ingrimm, diese Frau ist die Gattin des Verräthers Simon Morgaz!«

Die Wirkung dieses verabscheuten Namens war überraschend. Der Rip's erlosch fast ganz vor demselben. Nur die Rufe: »Bridget Morgaz! Bridget Morgaz!« tönten aus dem Lärmen hervor, und nur gegen das unglückliche Weib wendeten sich alle Drohungen und Schimpfreden. Rip wußte sich das zu Nutze zu machen. Immer seine kühle Ueberlegenheit bewahrend, bemerkte er schnell, daß die Aufmerksamkeit sich von ihm gänzlich abwandte, und verschwand im Dunkel. Jedenfalls fuhr er noch in derselben Nacht über den rechten Arm des Niagara, gelangte nach Schlosser und schlug sich auf Umwegen in das Lager von Chippewa, denn keine spätere Nachforschung ergab von dem Schurken auch nur die geringste Kunde.

Wir wissen jetzt wie es kam, daß Bridget, umringt von einer tosenden Volksmenge, in der Richtung nach dem Hause des Herrn de Vaudreuil zu verfolgt wurde.

Im letzten Augenblicke, als sie den Mißhandlungen der Wüthenden zu erliegen nahe war, erschien noch Johann auf der Bildfläche, und durch die Worte: »Meine Mutter!« hatte er das Geheimniß seiner Geburt verrathen.

Johann ohne Namen war der Sohn des Simon Morgaz!

Es sei hier kurz mitgetheilt, wie es kam, daß der Flüchtling sich jetzt auf der Insel Navy befand.

Bei dem Krachen der Salve innerhalb der Umplankung des Forts Frontenac war Johann bewegungslos in die Arme Lionels gesunken. Er hatte die Bedeutung jener Schüsse verstanden -Joann starb dort an seiner Statt! Es bedurfte der größten Sorgfalt seines jungen Begleiters, ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Nach Ueberschreitung der Eisdecke des St. Lorenzo gelangten dann Beide an das Ufer des Ontario und waren mit Tagesanbruch schon weit vom Fort Frontenac entfernt.

Johann war entschlossen, in den Reihen der Aufständischen gegen die königlichen Truppen zu kämpfen und sich endlich tödten zu lassen, wenn auch diese letzte Anstrengung scheiterte.

Auf dem Wege durch die dem See benachbarten Gebiete, wohin sich die Nachricht von seiner Hinrichtung verbreitet hatte, konnte er die Ueberzeugung gewinnen, daß die Anglo-Canadier von ihm befreit zu sein annahmen. Nun wohl, er wollte an der Spitze der Patrioten wieder auftauchen, wollte wie der Blitz über die Söldlinge Colborne's hereinbrechen. Vielleicht verursachte sein, sozusagen wunderbares Wiedererscheinen schon allein einen Todesschrecken in deren Reihen, während die Söhne der Freiheit daraus einen unwiderstehlichen Kampfesmuth schöpfen mußten.

Wie Johann und Lionel sich aber auch beeilten, nach dem Niagara zu gelangen, so verzögerte sich das doch wegen der bedeutenden Umwege, die sie zu machen gezwungen waren. Bis an die Grenze des amerikanischen Gebietes drohten ihnen Gefahren, und so konnten sie ihren Weg nur in der Nacht fortsetzen. In Folge dessen trafen sie erst am Spätabend des 16. December im Dorfe Schlosser und bald darauf im Lager bei der Insel Navy ein.

Jetzt stand nun Johann Auge in Auge der brüllenden Menge gegenüber, die sich hinter ihm geschlossen hatte.

Der durch den Namen Simon Morgaz aufs neue erweckte Abscheu erwies sich aber als so mächtig, daß das Geschrei nicht aufhörte. Die Männer hatten ihn recht wohl wiedererkannt. Das war Johann ohne Namen, der volksthümliche Held, den man unter den englischen Kugeln gefallen glaubte. Doch trotzdem erblaßte in diesem Augenblicke die Legende, welche einst seine Erscheinung umgab. Zu den Drohungen, welche gegen Bridget ausgestoßen wurden, kamen auch noch andere gegen ihren Sohn.

Johann hielt ganz ruhig Stand. Mit dem einen Arme seine Mutter unterstützend, stieß er mit dem anderen die wüthenden Männer zurück. Herr de Vaudreuil, Farran, Clerc und Lionel bemühten sich vergeblich, die Menge zurückzuhalten. Als Vincent Hodge sich dem Sohne des Angebers seines Vaters gegenüber sah, den er von Clary de Vaudreuil geliebt wußte, da wallte in ihm der Zorn auf und drohte ihn zu übermannen. Dennoch unterdrückte er seine Rachegelüste und dachte nur daran, das junge Mädchen gegen die feindseligen Angriffe zu schirmen, die ihr die edle Ergebenheit gegen Bridget Morgaz einbrachte.

Daß derartige Empfindungen sich gegen diese beklagenswerthe Frau äußern konnten, daß man die Verantwortlichkeit für den abscheulichen Verrath des Simon Morgaz auch noch auf ihre Schultern überwälzte, war gewiß eine empörende Ungerechtigkeit und ließ sich nur begreifen von einer erregten Volksmenge, der im ersten Augenblicke jede Ueberlegung abging; daß aber auch die Erscheinung Johanns ohne Namen diese nicht in ihrem Wahnwitze gebändigt, nach Allem, was man doch von diesem wußte, das überschritt jede Grenze.

Die Empörung, welche Johann gegenüber solcher niedrigen Gesinnung empfand, war so groß, daß er, jetzt bleich vor Zorn und nicht mehr roth vor Scham, mit einer den Lärm übertönenden Stimme ausrief:

»Ja, ich bin Johann Morgaz und das ist Bridget Morgaz!. So schlagt uns doch nieder!. Wir verlangen weder Euer Mitleid, noch mögen wir Eure Verachtung! Du aber, meine Mutter, richte Dich noch einmal auf, vergieb denen, die Dich beschimpften, Dich, die beste, die ehrbarste aller Frauen!«

Dieser Haltung gegenüber hatten sich die erhobenen Arme wieder gesenkt, dennoch riefen noch viele wilde Stimmen:

»Hinaus mit der Familie des Verräthers!. Hinaus mit Allem, was Morgaz heißt!«

Wiederum drängte sich die Menge näher heran an die Opfer des Wahnsinns, um diese von der Insel zu verjagen.

Da sprang Clary vor.

»Unselige, Ihr werdet ihn anhören, ehe Ihr seine Mutter und ihn von hier vertreibt!« rief sie dem tollen Haufen entgegen.

Verblüfft durch den energischen Eingriff des jungen Mädchens schwiegen Alle still.

Da begann Johann mit einer Stimme, aus der die Verachtung ebenso herausklang wie seine Empörung:

»Ich brauche hier nicht darzulegen, was meine Mutter durch die Ehrlosigkeit ihres Namens schon Alles hat leiden und erdulden müssen; wissen sollt Ihr aber, was sie Alles gethan, um dieses Brandmal auszulöschen. Ihre beiden Söhne hat sie einzig erzogen in dem Gedanken, sich zu opfern und auf alles Erdenglück zu verzichten. Deren Vater hatte die canadische Heimat verrathen - sie sollten nur zu dem Zwecke leben, dieser ihre Unabhängigkeit wieder zu geben. Und nachdem sie einen Namen abgelegt, der überall gerechten Abscheu erregte, da zog der Eine durch die Grafschaften, von Kirchspiel zu Kirchspiel, um Parteigänger für die nationale Sache zu werben, während der Andere sich bei jedem Aufstande in die vordersten Reihen der Patrioten stellte. Der Letztere steht hier vor Euch. Der Andere, der Aeltere, war der Abbe Joann, der meine Stelle im Fort Frontenac einnahm, der unter den Kugeln der Henker gefallen ist.

- Joann. Joann todt! rief Bridget schluchzend.

- Ja, meine Mutter, todt, wie Du uns hast schwören lassen zu sterben. todt für sein Vaterland!«

Bridget war neben Clary de Vaudreuil niedergesunken, welche, ihre Arme um die schluchzende Frau legend, ihre Thränen mit denen der unglücklichen Mutter mischte.

Aus der durch diesen rührenden Auftritt gefesselten Menge hörte man jetzt nur noch ein dumpfes Gemurmel, aus dem sich jedoch immer noch der unüberwindliche Abscheu vor dem Namen Morgaz herausfühlen ließ.

Da fuhr Johann mit lebhafter Stimme fort:

»Das, das haben wir gethan, nicht etwa in der Absicht, einen Namen wieder zu Ehren zu bringen, der einmal für immer gebrandmarkt ist, einen Namen, den hier der Zufall Euch wieder verrathen und den wir mit unserer von Allen verdammten Familie für ewig begraben zu haben hofften. Gott hat es nicht gewollt! Und nachdem ich Euch nun Alles gesagt, werdet Ihr noch immer nur mit Worten der Verachtung, mit dem Geschrei nach Rache antworten?«

Ja, der durch die Erinnerung an den Verräther neu aufgestachelte Widerwillen ging so weit, daß einer der Tollsten ausrief:

»Wir werden niemals dulden, daß die Frau und der Sohn des Simon Morgaz durch ihre Gegenwart das Lager der Patrioten beschimpfen!

- Nein! Nein!. stimmten Andere zu, welche sich vom Zorne hinreißen ließen.

- Ihr Elenden!« rief Clary.

Bridget hatte sich aufgerichtet.

»Mein Sohn, bat sie, verzeihe ihnen!. Wir haben nicht das Recht, Verzeihung zu verweigern!

- Verzeihen! rief Johann in der Erregung, welche sein ganzes Wesen gegen diese Ungerechtigkeit sich aufbäumen machte. Denen verzeihen, die uns die Verantwortlichkeit zuwälzen für ein Verbrechen, das nicht das unsere ist, und trotz Allem, was wir gethan, jenes zu sühnen. Denen verzeihen, welche den Verrath noch in der Gattin Desjenigen verfolgen, der ihn beging, in dessen Söhnen, von denen schon Einer sein Blut für sie hingegeben und der Andere nur danach verlangt, es für sie verspritzen zu dürfen! Nein!. Nimmermehr!. Wir, wir wollen nicht mehr vereint bleiben mit diesen Patrioten, welche sich durch unsere Anwesenheit beschimpft nennen!. Komm' Mutter, komm'!

- Mein Sohn, sagte Bridget, Du mußt leiden lernen!. Das ist unsere Aufgabe hienieden. das ist die Sühne!.

- Johann!« flüsterte Clary.

Noch hörte man zuweilen einige Rufe - dann wurde Alles still. Die Reihen hatten sich vor Bridget und ihrem Sohne geöffnet. Beide begaben sich nach dem Ufer zu.

Bridget fehlte fast die Kraft, selbst einen Schritt zu thun. Dieser entsetzliche Auftritt hatte sie gelähmt, vernichtet. Clary unterstützte sie mit Hilfe Lionels, konnte sie aber nicht trösten.

Während Vincent Hodge, Clerc und Farran noch inmitten der Volksmenge standen, um diese zu beruhigen, war Herr de Vaudreuil seiner Tochter nachgefolgt. Wie sie, fühlte auch er sein Herz sich empören gegen dieses Uebermaß von Ungerechtigkeit, gegen die Greuelthaten dieser Verblendeten, welche die menschliche Verantwortung bis über alle Grenzen trieben. Für ihn, wie für sie, erlosch die Vergangenheit des Vaters vor der leuchtenden Vergangenheit der Söhne. Und als Bridget und Johann eines der Boote erreicht, welche die Verbindung mit Schlosser aufrecht erhielten, sagte er:

»Ihre Hand, Frau Bridget!. Ihre Hand, Johann! Erinnern Sie sich nicht der tödtlichen Beleidigungen, welche jene Unseligen Ihnen angethan haben. Diese werden noch erkennen, daß Sie über deren Schmähungen erhaben dastehen!. Sie werden schon eines Tages selbst kommen, Sie um Verzeihung zu bitten.

- Niemals! rief Johann, bereit in das Boot zu steigen, das zum Abstoßen vom Ufer fertig war.

- Wohin denken Sie zu gehen? fragte Clary.

- Dahin, wo wir nicht mehr zu fürchten brauchen, daß die Menschen uns zur Zielscheibe ihrer Beleidigungen machen!

- Frau Bridget, wandte sich das junge Mädchen an diese noch so laut, daß Alle es verstehen mußten, ich achte und liebe Sie wie eine Mutter! Vor wenig Minuten nur, als ich noch glauben mußte, daß Ihr Sohn nicht mehr unter den Lebenden wandle, hab' ich geschworen, dem Andenken Desjenigen treu zu bleiben, dem ich mein Leben weihen wollte!. Johann, ich liebe Dich!. Kannst Du von mir gehen?.«

Blaß vor tiefer innerer Erregung wäre Johann bald dem jungen Mädchen zu Füßen gesunken.

»Clary, sagte er, Sie bereiten mir eben die einzige Herzensfreude, die ich empfunden, seit ich dieses elende Leben führe. Und doch, Sie haben es selbst gesehen, nichts vermag den Abscheu zu bannen, den mein Name den Bethörten einflößt, und diesen Abscheu dürfen Sie niemals mit mir zu theilen haben!

- Nein, fügte Bridget hinzu, das Weib eines Morgaz darf Clary de Vaudreuil niemals werden!

- Komm' Mutter, komm'!« bat Johann.

Bridget mit sich fortziehend, brachte er diese in das Boot, welches sich allmählich entfernte, während der Name des Verräthers noch immer aus hundert Kehlen schallte.

Am folgenden Tage vernahm Johann, in einer vereinzelten Hütte außerhalb des Dorfes Schlosser, wohin er seine Mutter gebracht, neben dieser knieend ihre letzten Worte.

Niemand wußte, daß diese Hütte die Gattin und den Sohn Simon Morgaz' verbarg. Uebrigens sollte das nicht lange währen.

Bridget lag im Sterben. Binnen wenigen Stunden sollte ein Leben zu Ende gehen, das den Becher des Unglücks bis zur Neige gekostet und die Last alles Elends getragen hatte, welches das Schicksal einem menschlichen Wesen nur aufzubürden vermochte.

Wenn seine Mutter nicht mehr wäre, wenn er ihre alten treuen Augen zugedrückt, er die Erde sich über deren Leiche hatte schließen sehen, dann war Johann entschlossen, dieses Land zu fliehen, das ihn ja von sich stieß.

Er dachte zu verschwinden, glaubte, daß man seiner nicht mehr erwähnen werde - nicht einmal, nachdem der Tod endlich gekommen sein würde, auch ihn zu erlösen.

Die letzten Worte seiner Mutter ließen ihn aber wieder auf die Absicht verzichten, die Aufgabe zu verlassen, der er sich ergeben, um das Verbrechen seines Vaters zu sühnen.

Mit einer Stimme, aus welcher schon ihre letzten Seufzer hervorklangen, sagte Bridget:

»Mein Sohn, Dein Bruder ist todt und ich. ich werde sterben, nachdem ich genug gelitten! Ich beklage mich nicht! Gott ist gerecht! Das ist die Sühne, welche er auferlegt; um diese aber voll zu machen, Johann, mußt Du alle Beschimpfungen vergessen und erst Dein Werk wieder aufnehmen. Du hast nicht das Recht, dasselbe zu verlassen. Deine Pflicht, mein Johann, ist es, Dich Deinem Vaterlande zu weihen, bis auch Du einen ehrenvollen Untergang findest«.

Mit diesen Worten hatte sich Bridgets Seele der irdischen Hülle entrungen.

Johann schloß die Todte in seine Arme und drückte sanft die Augen zu, welche so viel geweint hatten.

Zwölftes Capitel Die letzten Tage

Die Lage der Patrioten auf der Insel Navy war allmählich eine sehr kritische geworden und konnte so offenbar nicht lange andauern. Die Entscheidung war nur noch eine Frage von Tagen - vielleicht nur von Stunden.

Wenn der Oberst Mac Nab auch noch immer zögerte, den Uebergang über den Niagara zu unternehmen, so machte er doch das Lager der Aufständischen mehr und mehr unhaltbar. Am Ufer bei Chippewa hatten die Königlichen eine Batterie aufgefahren, und die Blaumützen sahen sich außer Stande, dieser zu antworten, da sie nur über eine einzige Kanone verfügten. Einige Hundert Gewehre - die einzige Waffe, von der sie in der Entfernung Gebrauch machen konnten, um einen Landungsversuch abzuschlagen - blieben natürlich wirkungslos gegen die Artillerie der königlichen Truppen.

Die Amerikaner interessirten sich zwar ohne Zweifel für den Erfolg des franco-canadischen Aufstandes, desto beklagenswerther war es aber, daß die Regierung der Vereinigten Staaten aus politischer Rücksichtnahme von Beginn des Kampfes an die strengste Neutralität beachten zu müssen glaubte. Diese allein hätte die Geschütze liefern können, an denen es den Reformern fehlte; damit wären jedoch die Einsprüche Englands hervorgerufen worden, und das gerade zu einer Zeit, wo der geringste Zwischenfall einen Bruch herbeizuführen drohte, wie das wenige Monate später wirklich eintraf. Die Vertheidigungsmittel der Insel Navy waren also sehr beschränkte. Sogar an Munition und Proviant konnte leicht Mangel eintreten, obwohl sie in dieser Beziehung von Schlosser, Buffalo und Niagara-Falls aus versorgt wurde, soweit es die Hilfsquellen des Landes zuließen. Deshalb fuhren denn große und kleine Boote ununterbrochen auf dem rechten Stromarme hin und her, und der Oberst Mac Nab hatte in Folge dessen oberhalb und unterhalb Chippewas einige Geschütze aufstellen lassen, um diese stromauf- und stromabwärts der Insel von der Seite her zu bestreichen.

Wie erwähnt, unterhielt eines dieser Boote, der kleine Dampfer »Caroline«, eine schnelle Verbindung zwischen dem Lager und dem Ufer von Schlosser. Dieser war immer stark besetzt mit Neugierigen, welche sich drängten, den Vertheidigern der Insel Navy einen Besuch abzustatten.

Unter solchen Umständen bedurfte es für die Anführer dieser Handvoll Männer einer ganz außergewöhnlichen Energie, um den Kampf nicht aufzugeben. Leider verringerte sich überdies die Zahl der Combattanten von Tag zu Tag, und Viele, die den Muth verloren hatten, ließen sich nach Schlosser übersetzen, um nicht wieder zurückzukehren.

Seit jenem traurigen Auftritte, der mit dem Fortgange Johanns geendet und dem er selbst beigewohnt, hatte Herr de Vaudreuil das Haus noch nicht wieder verlassen. Er vermochte sich kaum aufrecht zu erhalten und seine Tochter verließ ihn keinen Augenblick. Beiden erschien es, als wären sie sozusagen durch die Schmach, welche Bridget und deren Sohn widerfahren war, selbst mit befleckt worden. Niemand hatte mehr als sie gelitten von den Beleidigungen, mit denen die verblendete Menge damals die unglückliche Familie überhäufte, welche noch von der Schande eines Namens verfolgt wurde, den sie längst abgelegt hatte. Und doch, wenn sie an das Verbrechen des Simon Morgaz dachten, an die heldenmüthigen Opfer, welche die traurige That des Verräthers aufs Schaffot geführt hatte, beugten sich Beide vor der Schwere eines Geschicks, welches kein Gerechtigkeitsgefühl ganz aufzuwiegen im Stande war.

Hier, wo sich tagtäglich die Freunde des Herrn de Vaudreuil zusammenfanden, unterließ übrigens Jeder selbst die geringste Anspielung auf das, was unlängst vorgegangen war. Vincent Hodge hielt sich mit einer seines Charakters völlig würdigen Discretion sehr zurück, da er strengstens Alles zu vermeiden suchte, was gleich einem Tadel der von Clary geoffenbarten Empfindungen hätte erscheinen können. Hatte sie denn nicht ein Recht dazu gehabt, dieses junge muthige Mädchen, gegen häßliche Vorurtheile aufzutreten, welche die Verantwortlichkeit für Schuldige auf noch völlig Unschuldige ausdehnen, welche eine Vererbung der Schande, wie der geistigen oder leiblichen Aehnlichkeit, von den Vätern auf die Kinder anzunehmen geneigt scheinen?

Wenn Johann, der jetzt ganz allein in der Welt dastand, an diese seine entsetzliche Lage dachte, empörte sich dagegen sein ganzes Sein und Wesen. Daß Joann für sein Vaterland gestorben, daß Bridget der auf ihr lastenden Schmach erlegen war, alles das bildete noch kein Gegengewicht für die Vergangenheit?. Nein, nein!. Und wenn er dann ausrief: »Das ist ungerecht!« so schien die Stimme seines Gewissens zu antworten: »Es ist doch vielleicht nur gerecht!«

Dann erblickte Johann wieder Clary, wie sie sich den Drohungen jener sinnlosen Rotte, die ihn verfolgte, ungescheut aussetzte. Sie, ja, sie hatte den Muth gehabt, einen Morgaz zu vertheidigen! Sie hatte sich sogar erboten, ihr Leben an das seinige zu knüpfen. Er mußte dieses Opfer jedoch abschlagen, damals und für immer. Und dann irrte er am Ufer des Niagara umher, wie jener Nathaniel Bumpo der Mohikaner, der sich lieber von dessen Cataracten hätte verschlingen lassen, als sich von Mabel Denham zu trennen.

Während des ganzen 18. December weilte Johann neben der Leiche seiner Mutter und beneidete diese fast um die friedliche Ruhe, die ihr endlich zu Theil geworden war; sein innigster Wunsch wäre es gewesen, sich bald wieder mit der Geliebten zu vereinen. Da erinnerte er sich jedoch ihrer letzten Worte, und daß er nicht das Recht hatte, anders den Tod zu suchen, als in den Reihen der Patrioten. Das war seine Pflicht. er wollte sie erfüllen.

Als die Nacht gekommen, eine dunkle Nacht, kaum erhellt durch den »Blink« der Schneefläche - eine Art weißliche Widerspieglung, welche man in polaren Gegenden am Himmel wahrnimmt - verließ Johann das Haus, in dem die sterblichen Ueberreste Bridgets lagen. Wenige Schritte davon und unter dem Schutze rauchfrostgeschmückter Bäume, hob er mit seinem großen canadischen Messer ein Grab aus. Hier am Rande des Waldes, über dem undurchdringliche Finsterniß lagerte, konnte ihn Niemand sehen und er wollte auch nicht gesehen werden. Niemand würde wissen, wo Bridget ihre letzte Ruhestätte gefunden - kein Kreuz würde ihr Grab bezeichnen. Wenn Joann in dem unbekannten Winkel des Fort Frontenac der Auferstehung entgegenschlummerte, so deckte seine Mutter wenigstens die Erde Amerikas, die geliebte Erde ihrer Heimat. Johann selbst hoffte im nächsten Kampfe den Tod zu finden, und seine Leiche mußte dann, mit so vielen anderen Dahingerissenen, in den Stromschnellen des Niagara verschwinden.

Dann würde nichts - nicht einmal eine Erinnerung - mehr übrig sein von dem, was einst die Familie Morgaz gewesen war.

Als das Grab tief genug erschien, daß für die darin ruhende Todte nichts von den Klauen der Raubthiere zu fürchten war, kehrte Johann nach der Hütte zurück, nahm den Körper Bridgets in die Arme, trug ihn unter die Bäume, drückte einen letzten Abschiedskuß auf die Stirn der geliebten Todten und legte sie, in seinen Mantel aus vaterländischem Stoffe eingehüllt, nieder. Dann bedeckte er sie mit Erde, kniete nieder und betete, bis er mit den Worten schloß:

»Ruhe in Frieden, Du arme, arme Mutter!«

Der Schnee, welcher eben herabzuwirbeln begann, hatte bald die Stelle verhüllt, unter der Diejenige ruhte, welche nicht mehr war, welche nie hätte sein sollen!

Dann aber, wenn die Soldaten Mac Nab's eine Landung auf der Insel Navy versuchen würden, wollte Johann wieder in die vordersten Reihen der Kämpfenden eilen, um einen rühmlichen Tod zu finden.

Schon am nächstfolgenden Tage, dem 19. December, in den ersten Morgenstunden erkannte man, daß der Oberst Mac Nab zu einem unmittelbaren Angriff überzugehen beabsichtigte. Große flache Boote lagen in Reihen längs des Ufers unterhalb des Lagers von Chippewa. Aus Mangel an Artillerie waren die Blaumützen außer Stande, jene Boote zu zerstören, ehe sie sich in Bewegung gesetzt, noch sie aufzuhalten, wenn sie über den Strom daherkamen. Ihr Heil lag nur darin, sich einer gewaltsamen Landung zu erwehren, indem sie sich an dem bedrohten Punkte sammelten, und doch vermochten wenige Hundert Mann sich kaum jener Ueberzahl von Angreifern zu erwehren, wenn diese gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Insel aus Land gingen. Hatten die Königlichen aber einmal Fuß gefaßt, so mußte ein Sturm auf das Lager unmittelbar folgen, und die Vertheidiger desselben, welche immerhin zu zahlreich waren, um in den Booten von Schlosser auf einmal Platz zu finden, mußten niedergemetzelt werden, ehe sie sich auf amerikanischen Boden flüchten konnten.

Diese bedrohlichen Aussichten beunruhigten vor Allem Herrn de Vaudreuil und dessen Freunde. Sie begriffen zu gut die Gefahren einer solchen Lage. Um denselben zu entgehen, hätten sie freilich sich nur nach Schlosser zurückzuziehen brauchen, so lange der Wasserweg dahin noch frei war. Doch Keiner derselben wollte von der Stelle weichen, ehe er nicht bis zum letzten Blutstropfen gekämpft hatte.

Vielleicht hielten sie sich auch für stark genug, um ernsthaften Widerstand zu leisten, und stellten sie sich die Schwierigkeiten einer Landung größer vor, als diese thatsächlich waren.

Jedenfalls gab sich indeß Einer von ihnen darüber keiner Täuschung hin. Dieser Eine war Meister Nick, der sich so gänzlich wider Willen in diesen Kampf verwickelt sah. Seine Stellung an der Spitze der Mahoganni-Krieger erlaubte ihm aber nicht, seinen Befürchtungen Ausdruck zu geben.

Was Lionel anging, so erhob diesen sein Patriotismus über jeden Zweifel.

Der junge Schreiber kam übrigens mit dem Erstaunen über das unerwartete Wiedererscheinen seines Helden gar nicht hinweg. - Johann ohne Namen war der Sohn eines Simon Morgaz!. Der Abbe Joann der Sohn eines Verräthers!

»Nun wohl, wiederholte er sich dann, sind deshalb Beide weniger gute Patrioten? Und hatte Fräulein Clary nicht ganz Recht, für Johann und seine Mutter einzutreten? O, die wackere junge Dame!. Das war edel von ihr!. Das war einer Vaudreuil würdig!«

So war der Gedankengang Lionels, der mit seinem Enthusiasmus nicht feilschte und nimmer glauben konnte, daß Johann die Insel Navy verlassen habe, um diese nicht wieder zu betreten. Nein, nein! Johann ohne Namen würde wiedererscheinen, und wäre es nur, um bei der Vertheidigung der nationalen Sache zu sterben!

Dann kam der junge Schreiber auch bald zu folgender, ganz gerechtfertigter Anschauung:

»Warum sollten die Kinder eines Simon Morgaz nicht die besten Menschen sein können, da ja der letzte Abkömmling einer kriegerischen Rasse ebenfalls nicht das Geringste von seinen Vorfahren geerbt hatte, da der Stamm der Sagamores -sogar in einen Notar auslief!«

Was Lionel von Johann ohne Namen glaubte, das glaubten ebenso Thomas Harcher und seine Söhne, die ihn ja schon lange in seinem Thun und Treiben beobachten konnten. Hatte denn Johann, indem er hundertmal sein Leben in die Schanze schlug, das Verbrechen Simon Morgaz' noch immer nicht wett gemacht? Wahrlich, wären sie bei jenem häßlichen Auftritte anwesend gewesen, sie hätten sich nicht beherrschen können, hätten sich auf die tobende Menge gestürzt und jene abscheulichen Schmähungen mit dem Blute der Verblendeten abgewaschen. Und hätten sie gewußt, wohin Johann sich zurückgezogen hatte, so gingen sie bestimmt dahin ihn zu suchen, ihn zu den Blaumützen zurückzuführen und an deren Spitze zu stellen.

Zur Ehre der Menschheit müssen wir übrigens erkennen, daß sich seit der Vertreibung Johanns und Bridgets eine völlige Umwandlung der Gemüther vollzogen hatte. Die Gefühle Lionels und der Familie Harcher wurden jetzt von der Mehrzahl der Patrioten getheilt.

Gegen elf Uhr Vormittags begann nun das Vorspiel des Angriffs. Die ersten Vollkugeln der Batterie von Chippewa sausten über das Lager hinweg und einige Bomben trugen Tod und Verderben über die Insel. Es wäre unmöglich gewesen, sich gegen diese Geschosse zu schützen, da das Terrain ziemlich flach, nur von einzelnen Baumgruppen unterbrochen und durch ziemlich dünne Hecken abgetheilt war, während den Vertheidigern nur einige Schulterwehren, welche nach der Seite des Stromes zu mit beraster Erde bedeckt waren, zu Gebote standen. Der Oberst Mac Nab suchte offenbar erst den

Uferabhang zu säubern, ehe er den Uebergang über den Niagara unternahm - eine Operation, welche trotz der beschränkten Anzahl der Vertheidiger immerhin ihre Schwierigkeiten hatte.

Die meisten Kämpfer umringten jetzt das Haus des Herrn de Vaudreuil, das wegen seiner Lage am rechten Ufer, gegenüber von Schlosser, dem Feuer der Geschütze weniger ausgesetzt war.

Beim ersten Kanonendonner hatte Herr de Vaudreuil Befehl gegeben, daß alle Personen, welche nicht Combattanten waren, sich auf amerikanisches Gebiet begeben sollten. Die Frauen und Kinder, welche bisher hier geduldet worden waren, mußten sich also einschiffen, nachdem sie ihren Gatten, ihren Vätern und Brüdern Lebewohl gesagt, und wurden nach dem anderen Ufer übergeführt. Auch das war nicht ohne Gefahr, denn die stromauf- und stromabwärts von Chippewa aufgestellten Geschütze bedrohten die Boote von beiden Seiten. Einige Kugeln schlugen sogar auf amerikanischen Boden ein - was natürlich die berechtigtsten Reclamationen seitens der Bundesregierung hervorrief.

Herr de Vaudreuil hatte auch von seiner Tochter verlangt, daß diese nach Schlosser entfliehen sollte, um daselbst den Ausgang des Kampfes abzuwarten. Clary weigerte sich aber ihn zu verlassen.

»Mein Vater, erklärte sie, ich muß in Deiner Nähe weilen und werde also dableiben. Das ist meine heilige Pflicht.

- Und wenn ich den Königlichen in die Hände falle?.

- O, so werden sie mir nicht verwehren, Dein Gefängniß zu theilen.

- Und wenn ich getödtet werde, Clary?«.

Das junge Mädchen antwortete nicht; Herrn de Vaudreuil gelang es jedoch nicht, ihren Widerstand zu beugen. Ja, sie stand an seiner Seite, als er in den Reihen der vor dem Hause versammelten Patrioten Platz nahm.

Die Kanonen krachten jetzt mit erschreckender Gewalt; das Lager mußte bald nicht mehr zu halten sein. Immerhin war ein eigentlicher Landungsversuch noch nicht gemacht worden, sonst hätten das die hinter den schwachen Uferverschanzungen stehenden Blaumützen sicherlich gemeldet

Vor dem Hause befanden sich jetzt Vincent Hodge, Clerc und Farran, Thomas, Pierre, Michel und Jacques Harcher. Hier standen auch Meister Nick und Lionel mit den Mahoganni-Kriegern, welch' letztere ihre gewohnte Ruhe selbst in diesem gefährlichen Augenblicke bewahrten.

Da nahm Herr de Vaudreuil das Wort.

»Kampfgenossen, sagte er, wir stehen vor der Aufgabe, das letzte Bollwerk unserer Unabhängigkeit zu vertheidigen. Wenn Mac Nab uns besiegt, so ist der Aufstand niedergeschlagen, und wer weiß, wann einmal neue Anführer und neue Kämpfer die Waffen einst wieder erheben können. Werfen wir die Angreifer zurück, gelingt es, uns hier zu halten, so wird auch aus Canada von überall her Hilfe herbeieilen. Unsere Parteigänger werden neue Hoffnung schöpfen, und dann machen wir aus dieser Insel eine uneinnehmbare Festung, in der die nationale Sache stets einen sicheren Stützpunkt findet. -Seid Ihr bereit, sie zu vertheidigen?

- Bis zum Tode! antwortete Vincent Hodge.

- Bis zum Tode!« wiederholten dessen Genossen.

Da schlugen einige Vollkugeln etwa zwanzig Schritte davon in die Erde ein, ricochettirten eine Strecke hin und wirbelten eine mächtige Schneewolke auf.

Keiner der Blaumützen machte die geringste Bewegung. Sie erwarteten die Befehle ihres Führers.

Herr de Vaudreuil fuhr also fort:

»Es ist nun Zeit, uns nach dem Ufer zu begeben. Die Artillerie von Chippewa muß bald schweigen, denn die Königlichen werden den Uebergang zu erzwingen suchen. Zerstreut Euch also längs des Uferabhanges, sucht Schutz hinter den Felsen und wartet, bis die Boote in Schußweite herankommen. Die Söldner Mac Nab's dürfen nicht aus Land kommen.

- Sie werden keinen Fuß darauf setzen, sagte William Clerc, und wenn es ihnen doch gelänge, treiben wir sie in den Niagara zurück!

- Auf unsere Posten, Freunde! rief Vincent Hodge.

- Ich werde mit Euch gehen, erklärte Herr de Vaudreuil, so lange mich die Kräfte nicht verlassen.

- Bleibe hier zurück, Vaudreuil, bat Farran. Wir werden immer in Verbindung mit Dir sein.

- Nein, Freund, erwiderte Herr de Vaudreuil, ich werde da sein, wo ich sein muß!. Kommt!.

- Ja, vorwärts, Patrioten!. Die Boote sind schon vom canadischen Ufer abgestoßen!«

Alle drehten sich bei diesen mit lautschallender Stimme gesprochenen Worten um.

Johann stand vor ihnen. In der verwichenen Nacht hatte ein Boot ihn wieder nach der Insel geschafft, Niemand aber ihn erkannt. Nachdem er sich auf der Seite nach Chippewa zu verborgen gehalten, hatte er die Vorbereitungen des Oberst Mac Nab beobachtet, ohne sich um die Geschosse zu bekümmern, welche den Uferabhang zerrissen. Als er dann bemerkte, daß die Angreifer sich zum gewaltsamen Uebergang anschickten, war er gekommen - offenen Gesichts gekommen, seine Stelle unter den früheren Waffengefährten einzunehmen.

»Ich wußte es doch!« rief Lionel.

Clary de Vaudreuil war an den jungen Patrioten herangetreten, gleichzeitig mit Thomas Harcher und dessen Söhnen, die sich um ihn drängten.

Herr de Vaudreuil bot Johann die Hand.

Johann nahm dieselbe nicht.

»Ihr Vertheidiger der Insel Navy, sagte er, meine Mutter ist todt, ist der Schmach erlegen, die Ihr der Armen angethan habt. Jetzt ist von der Familie, welche ein unseliges Geschick der Verachtung preisgegeben, Niemand mehr übrig als ich! Unterwerft Euch der Schande, einen Morgaz an Eurer Seite kämpfen und für die Freiheit der französischen Canadier sterben zu sehen!«

Begeisterte Beifallsrufe erschallten nach diesen Worten, alle Hände streckten sich Johann entgegen - doch auch jetzt verhinderte er es, daß sie die seinigen berührten.

»Leb' wohl, Clary de Vaudreuil! sagte er.

- Leb' wohl, Johann! antwortete das junge Mädchen.

- Ja, und. zum letzten Male!«

Dann stürmte er, Herrn de Vaudreuil, seinen Gefährten und allen denen voraus, die wie er den Tod suchen wollten, nach dem linken Ufer der Insel.

Dreizehntes Capitel Die Nacht des 20. December

Eben schlug es die dritte Nachmittagsstunde am Glockenthurm der kleinen Kirche von Schlosser. Ein grauer eisiger Nebel verhüllte das feuchte Thal des Niagara und dazu herrschte eine scharfe Kälte. Der Himmel war mit unbeweglichen Wolken bedeckt, welche die geringste Erhöhung der Temperatur bei eintretendem östlichen Winde hätte zu Schnee verdichten müssen.

Der Donner der Kanonen von Chippewa zerriß die Luft. Zwischen dem Krachen derselben vernahm man deutlich das entfernte Rauschen der Wasserfälle.

Eine Viertelstunde, nachdem sie das Haus des Herrn de Vaudreuil verlassen, waren die Patrioten, indem sie zwischen den Baumgruppen und längs der Hecken und Einhegungen hinschlichen, am linken Ufer des Stromes angelangt.

Mehrere Kämpfer fehlten bereits; die einen hatten, von Kanonenkugeln verletzt, zurückkehren müssen, andere lagen auf dem Schnee, um sich nie wieder zu erheben. So waren etwa zwanzig von den zweihundert Streitern abzuziehen.

Die in Chippewa aufgefahrenen Geschütze hatten auf der Oberfläche der Insel schon recht schwere Verheerungen angerichtet. Die berasten Erdwälle, welche den Blaumützen die Möglichkeit bieten sollten, einigermaßen gedeckt zu feuern, waren fast vollständig zerstört, und es blieb nun nichts weiter übrig, als am Fuße des Uferabhanges zwischen den von dem Strome halb überspülten Felsen Stellung zu nehmen. Von hier aus wollte Johann mit seinen Waffengefährten versuchen, die Landung zu verhindern, bis die Munition zu Ende ging.

Die Bewegung auf der Insel war inzwischen auch von Chippewa aus gesehen worden. Der Oberst Mac Nab, der früher seine Nachrichten durch die Signale Rip's erhielt und jetzt aus dem Berichte des Spions entnahm, der sich in seinem Lager eingefunden hatte, ließ das Feuer verdoppeln und vorzüglich auf die befestigten Punkte richten. Rings um Johann wurden wohl dreißig seiner Gefährten von Felstrümmern getroffen, welche der Anprall der Eisenkugeln weithin verstreute.

Johann bewegte sich am Ufer hin und her und beobachtete, trotz der Geschosse, die zu seinen Füßen einschlugen oder über ihm die Luft zerrissen, alle Manöver des Feindes.

Eben lösten sich die großen Flachboote, welche mit Rudern ausgestattet waren, eines nach dem anderen von dem canadischen Ufer los.

Um die ins Auge genommene Landungsstelle zu säubern, donnerten noch einige Salven über die Boote hinweg und deren Kugeln bohrten sich in den Boden der Insel ein oder sprangen, ganz flach auffallend, weit über diesen dahin.

Johann wurde nicht einmal gestreift.

»Patrioten, rief er, jetzt seid bereit!«

Alle warteten, bis die Boote in Schußweite waren, um erst dann das Feuer ihrerseits zu eröffnen.

Die Angreifer, welche sich platt niedergeworfen hatten, um den Gewehrkugeln weniger Ziel zu bieten, mochten gegen drei- bis vierhundert zählen und bestanden aus regulären Truppen und Kronfreiwilligen.

Wenige Minuten später, als die Boote sich auf der Mitte des Stromes befanden, waren sie der Insel bereits so nahe, daß die Artillerie von Chippewa ihr Feuer einstellen mußte.

Da knatterten die ersten Flintenschüsse hinter den Felsen hervor. Die Besatzung der Boote antwortete fast augenblicklich, doch da diese dem Feuer vom Uferabhang her weit offener ausgesetzt war, arbeiteten die Ruder nun mit verdoppelter Kraft.

Kurze Zeit genügte, um aus Land zu stoßen, und jetzt galt es denn, auf der einen Seite wie auf der anderen, sich auf ein Handgemenge einzulassen.

Johann befehligte inmitten eines Kugelhagels, der gleich Kartätschen rings um ihn niederprasselte.

»Suchen Sie Deckung! rief ihm Vincent Hodge zu.

- Ich? »antwortete er.

Und mit lauter Stimme rief er den Angreifern, welche das Ufer zu erklimmen begannen, zu:

»Ich bin Johann ohne Namen!«

Dieser Name erregte wirklich die größte Verblüffung, denn die Königlichen mußten doch glauben, daß Johann ohne Namen schon im Fort Frontenac den Kugeln erlegen sei.

Dann rief Johann, auf die ersten Boote losstürzend:

»Vorwärts, Blaumützen!. Drauf auf die Rothröcke!«

Der Kampf wurde bald äußerst hitzig und die ersten Boote mußten wirklich noch einmal abstoßen. Einige Verletzte fielen in die Strömung, welche sie nach den Wasserfällen zu wegschwemmte. Die Patrioten verließen ihre Deckung unter den Felsstücken und schlugen sich mit einer so ungestümen Wuth, daß der Vortheil anfangs auf ihrer Seite war. Schon sah es aus, als ob alle Boote zurückweichen müßten. Da kamen diesen aber schon noch weitere zu Hilfe und mehreren hundert Mann gelang es, die Insel selbst zu betreten. Der Uebergang auf dieselbe wurde mit Gewalt erzwungen und die Zahl siegte über den Muth.

Gegenüber diesem ihnen weit überlegenen Feinde sahen sich die Vertheidiger gezwungen, das Vorland am Ufer aufzugeben; und wenn sie nicht zurückwichen, ohne dem Feinde schweren Schaden zugefügt zu haben, so erlitten sie doch auch die grausamsten Verluste.

So wurden Thomas Harcher, Pierre und Michel, die von den Kugeln gefallen waren, durch die wildwüthenden Freiwilligen, welche keinen Pardon gaben, getödtet. William Clerc und Andre Farran fielen, Beide verwundet, in Gefangenschaft, nachdem sie einen Kreis von Blut um sich gezogen hatten. Ohne das Dazwischentreten eines Officiers wären sie demselben Loose wie der Farmer und seine Söhne verfallen gewesen. Der Oberst Mac Nab hatte aber ausdrücklich befohlen, die Anführer so viel wie möglich zu verschonen, da die Regierung sie vor die Kriegsgerichte in Quebec und Montreal zu stellen beabsichtigte. Nur aus diesem Grunde entgingen Clerc und Farran jetzt dem Tode.

Es erwies sich übrigens völlig unmöglich, der Ueberzahl zu widerstehen. Die Blaumützen, welche sich wie verzweifelt geschlagen, und mit ihnen die Mahogannis, die sich mit dem kaltblütigen Muthe vertheidigt hatten, der die Indianer ihrer Rasse auszeichnet, mußten, von Hecke zu Hecke verfolgt, über die Insel zurückweichen; so wurden sie bis an deren Rand getrieben und von rückwärts her noch in Menge getödtet. Es war ein richtiges Wunder zu nennen, daß Lionel nicht zwanzigmal den Tod fand und daß selbst Meister Nick dem Blutbade entrann. Von den Huronen freilich sollten sehr viele nicht wieder nach ihrem Wigwam in Walhatta zurückkehren.

Als er wieder in die Nähe des Hauses des Herrn de Vaudreuil kam, wollte Meister Nick Clary bestimmen, eines der Boote zu besteigen, um sie nach Schlosser hinüber zu bringen.

»So lange mein Vater noch auf der Insel ist, erwiderte sie, verlasse ich diese auch nicht!«

Ja, ihr Vater, und wohl auch Johann, obgleich sie wußte, daß dieser nur hierher gekommen war, um zu sterben.

Gegen fünf Uhr Nachmittags überzeugte sich Herr de Vaudreuil, daß ein, fernerer Widerstand gegen mehrere hundert Angreifer, welche schon den größten Theil der Insel eingenommen hatten, der reine Wahnsinn wäre. Wollten die Ueb erleb enden sich noch retten, so konnte das nur dadurch geschehen, daß sie das rechte Ufer des Niagara zu erreichen suchten. Es blieb freilich fraglich, ob auch Herr de Vaudreuil sich noch auf den Füßen halten und Kraft genug haben würde, das Haus, wo seine Tochter ihn erwartete, zu erreichen und sich mit dieser einzuschiffen.

Vincent Hodge bemühte sich, ihn mit sich fortzuziehen. In demselben Augenblicke wurde Herr de Vaudreuil von einer Kugel mitten in die Brust getroffen und konnte nur noch die Worte murmeln:

»Meine Tochter!. Hodge!. Meine Tochter!«

Johann, der herbeigeeilt war, hörte das.

»Retten Sie Clary!« rief er Vincent Hodge zu.

Bei diesem Ausruf stürzten sich wohl ein Dutzend Freiwilliger auf ihn. Sie hatten den Helden wiedererkannt. Welches Glück für sie, wenn sie sich des berühmten Johann ohne Namen bemächtigen und ihn lebendig in das Lager von Chippewa befördern konnten!

Mit einer letzten Anstrengung streckte Johann zwei Freiwillige, die ihn schon packen wollten, nieder und verschwand inmitten einer Gewehrsalve, von der ihn keine Kugel traf.

Der schwerverwundete Vincent Hodge dagegen wurde neben der Leiche des Herrn des Vaudreuil zum Gefangenen gemacht.

Wohin wendete sich aber Johann ohne Namen? Kam ihm vielleicht der Gedanke, jetzt noch weiter zu leben, nachdem die besten Patrioten getödtet oder in die Hände der Königlichen gefallen waren?

O nein - doch das letzte Wort des Herrn de Vaudreuil war ja der Name seiner Tochter gewesen.

Da Vincent Hodge diese jetzt nicht mehr retten konnte, wollte er das thun, wollte sie zwingen, zu entfliehen, sie nach dem amerikanischen Ufer begleiten, und dann gedachte er zu seinen noch kämpfenden Gefährten zurückzukehren.

Allein vor dem Hause stehend, horchte Clary auf das Getöse des Kampfes - auf die Aufschreie der Wuth, auf die Klagen des Schmerzes, welche sich mit dem Knattern der Gewehre mischten.

Dieses Getöse kam gleichzeitig mit dem Aufleuchten des Flintenfeuers immer näher an sie heran. Schon hatten sich gegen fünfzig, meist verwundete Patrioten in die Boote geworfen und steuerten nach dem Dorfe Schlosser hinüber.

An der Insel befand sich nichts mehr als der kleine Dampfer »Caroline«, schon überfüllt von Flüchtlingen, der eben den südlichen Arm des Niagara überschreiten sollte.

Plötzlich erschien Johann überdeckt mit Blut - mit dem Blute der Königlichen - aber heil und gesund, nachdem er vergeblich den Tod gesucht und diesen zwanzigmal ausgetheilt hatte.

Clary lief auf ihn zu.

»Mein Vater? fragte sie.

- Ist todt!«

Johann antwortete ihr so ohne Umschweife, damit Clary sich nicht weigern wollte, die Insel zu verlassen.

Johann fing das junge Mädchen, welches umzusinken drohte, in dem Augenblick in seinen Armen auf, wo die Freiwilligen schon das Haus umzingeln wollten, um ihm den Rückzug abzuschneiden. Mit der theuren Last dahin springend, eilte er auf die »Caroline« zu und legte das junge Mädchen auf dem Deck derselben nieder; dann richtete er sich wieder auf.

»Gott befohlen, Clary!« sagte er.

Schon betrat er wieder den Landgang des Fahrzeuges, um aufs Ufer zu springen.

Bevor sein Fuß aber die Erde berührte, wurde Johann, von zwei Kugeln getroffen, auf das Hintertheil des Schiffes hingestreckt, während die »Caroline« unter vollem Dampfe davonfuhr.

Beim Aufblitzen der Gewehrschüsse war Johann von ihn verfolgenden Freiwilligen erkannt worden, welche unaufhörlich schrien:

»Eine Kugel für Johann ohne Namen!. Hurrah, getödtet!«

Bei diesen Ausrufen fand Clary die Besinnung wieder und erhob sich vom Verdeck.

»Todt!. stammelte sie, während sie sich zu ihm hinschleppte.

Einige Minuten später lag die »Caroline« schon am Quai von Schlosser fest. Hier konnten die Flüchtlinge, welche sich an Bord derselben befanden, sich in Sicherheit glauben, da sie jetzt unter dem Schutze der Bundesbehörden standen.

Einige begaben sich denn auch aus Land; da der einzige Gasthof des Dorfes aber sehr schnell überfüllt war und bis zu den Gasthäusern des Niagara-Falls ein Weg von mindestens drei Meilen längs des rechten Stromufers zurückzulegen war, zogen es die Meisten vor, in den Cabinen des kleinen Dampfbootes zu bleiben.

Es war jetzt um acht Uhr Abends.

Auf dem Verdeck ausgestreckt, ruhte Johann noch immer. Clary kniete neben ihm, stützte seinen Kopf und sprach auf ihn. Er gab keine Antwort; vielleicht hörte er sie gar nicht.

Clary blickte um sich. Wo sollte sie Hilfe suchen inmitten dieser Verwirrung, in dem von Flüchtigen vollgestopften Dorfe mit den zahlreichen Verwundeten, denen Aerzte und Arzneimittel fehlten?

Da sah Clary ihr ganzes Leben an ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Ihr Vater gefallen für die nationale Sache!. Der, den sie liebte, sterbend in ihren Armen, nachdem er bis zur letzten Stunde heldenmüthig gekämpft! Jetzt stand sie allein in der Welt, ohne Vaterland, eine leichte Beute der Verzweiflung.

Nachdem sie Johann mit einer Sonnenzeltleinwand bedeckt, um ihn gegen die beißende Kälte zu schützen, untersuchte Clary, die sich über den Verwundeten neigte, ob sein Herz nicht noch leise schlüge, ob nicht ein Laut über seine Lippen kommen werde.

In der Ferne, an der anderen Seite des Flusses, krachten noch die letzten Flintenschüsse, deren Aufblitzen zuweilen die Baumgruppen der Insel Navy durchleuchtete.

Endlich schwieg Alles und das Thal des Niagara bettete sich in düstere Todtenstille.

Unwillkürlich stammelte das junge Mädchen den Namen ihres Vaters und auch den Johanns, da sie sich sagte - und das schnitt sie ins Herz - der junge Patriot könne vielleicht mit dem Gedanken sterben, auch noch über das Grab hinaus von dem Fluche der Menschen verfolgt zu sein. Dann betete sie für den Einen wie für den Anderen.

Plötzlich erbebte Johann; sein Herz klopfte etwas lebhafter. Clary rief ihn an.

Johann antwortete nicht.

Zwei Stunden gingen so dahin; Alles ruhte an Bord der »Caroline«.

Kein Laut aus den Cabinen - kein Geräusch auf dem Verdeck. Nur Clary wachte hier allein, gleich einer barmherzigen Schwester am Lager eines Sterbenden.

Die Nacht war sehr dunkel. Schwerfällig wälzten sich die Wolken über dem Strome hin. Lange Nebelschleier hingen an den Skeletten der Bäume, deren von Rauhfrost bedeckte Zweige längs des Ufers hinausstarrten.

Kein Mensch vermochte da vier Boote wahrzunehmen, welche, die Spitze der Insel stromaufwärts umfahrend, geräuschlos an dem Ufer von Schlosser dahinglitten.

Diese Boote waren besetzt von ungefähr fünfzig Kronfreiwilligen unter dem Befehl des Lieutenant Drew, von der königlichen Miliz. Auf Anordnung des Oberst Mac Nab stand jener Officier unter Mißachtung allen Völkerrechts im Begriff, eine Missethat auszuführen, welche an roher Grausamkeit in amerikanischen Gewässern nicht ihres Gleichen hatte.

Unter seinen Leuten befand sich ein gewisser Mac Leod, der in der nächsten Folgezeit sehr ernste internationale Verwickelungen heraufbeschwören sollte.

Die vier durch Ruder ganz geräuschlos fortgeführten Boote glitten über den rechten Arm des Niagara, legten sich dicht neben die Bordwand der »Caroline« und begannen da ein schreckliches Gemetzel.

Die verwundeten oder schlafenden Passagiere konnten sich nicht wehren; sie stießen verzweifelte Schreie aus. Vergeblich. Nichts hätte die Wuth jener elenden Schurken zu dämpfen vermocht, unter denen Mac Leod, die Pistole in der einen, die Axt in der anderen Hand, wie ein Cannibale seine Opfer abschlachtete.

Johann hatte das Bewußtsein noch nicht wieder erlangt. Voller Entsetzen beeilte sich Clary das Zeltdach so weiter auszubreiten, daß es sie Beide verhüllte.

Inzwischen hatten doch einige Passagiere flüchten können, sei es, daß sie auf die Landungsbrücke von Schlosser oder gleich über Bord sprangen, um schwimmend das Ufer zu erreichen, wo Mac Leod und seine Würger sie zu verfolgen nicht wagen durften. Uebrigens war jetzt auch im Dorfe Lärmen entstanden, und die Bewohner desselben liefen herbei, um Hilfe zu bringen.

Das Gemetzel hatte nur wenige Minuten angedauert und viele Opfer desselben wären gewiß verschont geblieben, wenn nicht Mac Leod, jenes Scheusal in Menschengestalt, an der Spitze der Mörder stand.

Dieser hatte in seinem Boote nämlich eine Menge leicht brennbaren Materials mitgebracht und das ließ der Elende auf das Deck der »Caroline« schaffen. Binnen wenigen Secunden standen nun Rumpf und Takelwerk in Flammen.

Gleichzeitig waren die Haltetaue durchschnitten worden und das kräftig vom Lande abgestoßene Fahrzeug schwankte hinaus in die Strömung.

Die Lage wurde entsetzlich.

Drei Meilen weiter unten stürzte der Niagara seine Wasserfluthen in den Abgrund der berühmten Fälle.

Auch jetzt sprangen noch fünf oder sechs Unglückliche, sinnlos vor Verzweiflung, in den rauschenden Strom, doch nur Wenigen gelang es, nach schwerstem Kampfe mit treibenden Eisschollen, das rettende Land zu erreichen.

Inzwischen schoß die »Caroline« gleich einem verderbenbringenden Brander zwischen den Ufern dahin. Die Feuersbrunst verbreitete sich schon nach dem Hinterdeck. Ihrer Sinne kaum mächtig, stand Clary allein noch aufrecht und rief.

Johann hörte sie endlich; er öffnete die Augen, richtete sich ein wenig auf und sah sie fragend an.

Beim Schein der lodernden Flammen sah man das Bild des Ufers rasch vorüberziehen.

Johann erkannte das junge Mädchen an seiner Seite.

»Clary!« murmelte er kaum hörbar.

Hätte er die Kräfte noch besessen, er würde sie in die Arme genommen, sich mit ihr in den Strom gestürzt und versucht haben, sie zu retten. Jetzt konnte er sich aber selbst nicht mehr erhalten und fiel auf das Verdeck zurück. Das dumpfe Rauschen der Wasserfälle war in der Entfernung von kaum einer halben Meile deutlich hörbar.

Das war der Tod für sie und für ihn, wie für die anderen Opfer, welche die »Caroline« den Niagara hinunter trug.

»Johann, sagte da Clary, wir sterben, doch wir sterben vereint!. Johann, ich liebe Dich. Ich wäre so stolz gewesen, Deinen Namen zu tragen!. Gott hat es nicht gewollt!.«

Johann hatte noch die Kraft, Clarys Hand zu drücken. Dann stammelten seine Lippen noch die letzten Worte seiner Mutter:

»Sühne!. Sühne!«

Das Fahrzeug schoß jetzt mit rasender Schnelligkeit dahin und flog fast um Goat-Island (die Ziegeninsel), welche den amerikanischen von dem canadischen Falle scheidet, und endlich - in der Mitte des Hufeisens, wo der Fall sich einen grünlich schillernden Abgrund ausgehöhlt hat - neigte sich die »Caroline« über diesen und verschwand im Wogenschaume des »Donnerers der Wasser«.

Vierzehntes Capitel Die letzten Zuckungen des Aufstandes

Die von den Engländern unter Verletzung des Völker- wie des Menschenrechtes begangene greuliche Schandthat fand in der Alten wie in der Neuen Welt einen ungeheuren Widerhall. Von den Behörden in Niagara-Falls wurde eine Untersuchung darüber eingeleitet. Mac Leod war von Einzelnen derjenigen, welchen es gelungen war, der Abschlachtung und dem Feuertode zu entgehen, erkannt worden; übrigens zögerte dieser Verruchte gar nicht, sich offen zu rühmen, daß er es gewesen sei, der »die Geschichte gegen die verdammten Yankees so prächtig durchgeführt habe«.

Und doch lief die traurige Angelegenheit nur auf eine an England gerichtete Indemnitätsforderung hinaus, als Mac Leod im November 1840 in den Straßen von New-York verhaftet worden war.

Fox, der Vertreter Englands, verlangte dessen Auslieferung; die Bundesregierung verweigerte dieselbe. In der Pairskammer wie im Hause der Gemeinen wurde das Ministerium angegangen, Mac Leod in Freiheit setzen zu lassen, da dieser nur gemäß den Befehlen der Königin gehandelt habe. Der Congreß antwortete auf dieses Verlangen mit einer Erklärung, welche die Rechte des Staates New-York einfach bestätigte. Diese Erklärung wurde als wirklicher casus belli aufgefaßt und das Vereinigte Königreich traf diesbezügliche Maßregeln.

Seinerseits bewilligte das Bundesparlament, indem es den Mordbrenner unter Anklage des überlegten Mordes vor die Assisen verwies, die nöthigen Geldmittel, und ohne Zweifel wäre der Krieg entbrannt, hätte nicht Mac Leod einen, übrigens kaum annehmbaren Alibi-Beweis beigebracht, der den Engländern wie den Amerikanern Gelegenheit bot, die schmachvolle Affaire zu vertuschen, worauf man den Schurken straflos laufen ließ.

So wurden die Opfer jenes entsetzlichen Ueberfalles der »Caroline« gerächt.

Nach der Niederlage der Aufständischen auf der Insel Navy erhielt Lord Gosford die Mittheilung, daß die Reformer auf eine weitere Empörung gegen die englische Regierungsgewalt verzichteten. Uebrigens waren deren hervorragendste Anführer theils versprengt, theils in den Gefängnissen von Montreal und Quebec eingekerkert, und Johann ohne Namen existirte nicht mehr.

Nichtsdestoweniger kam es im Jahre 1838 noch zu vereinzelten Erhebungen an verschiedenen Punkten der canadischen Provinzen.

Im Monat März geschah der erste derartige Versuch, hervorgerufen durch Robert Nelson, den Bruder des Mannes, der bei St. Denis befehligte, aber schon bei diesem ersten Auftreten einen Mißerfolg zu verzeichnen hatte.

In Napierville loderte eine zweite Emeute auf, in welcher zweitausend Patrioten im Kampfe gegen nur sechshundert Mann reguläre Truppen Sir John Colborne's - ohne fünfhundert Indianer und vierhundert Freiwillige mitzuzählen -im Gefecht von Odelltown in die Flucht geschlagen wurden.

Im Monat November ereignete sich der dritte Fall von Insurrection. Die Reformisten aus den Grafschaften Chambly, Vercheres, Laprairie, Acadien, Terrebonne und Deux-Montagnes, unter Anführung Briere's, der Lorimier, der Rochon u.a. theilten sich in zwei Haufen von je hundert Mann. Der eine derselben stürmte einen Edelsitz, der von Freiwilligen vergeblich vertheidigt wurde; der andere bemächtigte sich eines Dampfbootes am Quai des Fleckens Beauharnais. Ferner unternahmen in Chateauquai Cardinal, Duquet, Lepailleur und Ducharme, welche die Wilden von Caughnawaga zur Ablieferung ihrer Waffen zwingen wollten, eine Art Streifzug, welcher gänzlich scheiterte. Endlich organisirten Robert in Terrebonne, die beiden Sanguinet in Sainte-Anne, ferner Bouc, Gravelles, Roussin, Marie, Granger, Latour und Guillaume Prevost nebst seinen Söhnen die letzten Aufstandsversuche, welche das Ende der insurrectionellen Periode der Jahre 1837 und 1838 bezeichneten.

Jetzt schlug die Stunde der Wiedervergeltung. Die hauptstädtische Regierung ging dabei mit einer so unerbittlichen Rücksichtslosigkeit vor, daß diese schon mehr an Grausamkeit grenzte.

Am 4. November hatte Sir John Colborne unter Vollmacht der obersten Regierungsbehörden das Standrecht verkündigt und die Habeas corpus-Acte vorläufig aufgehoben. Nach Errichtung eines Kriegsgerichtes fällte dieses seine Urtheile mit einer wahrhaft empörenden Parteilichkeit und Leichtfertigkeit. Auf das Schaffot schickte dasselbe unter Andern Cardinal, Duquet, Robert, Hamelin, die beiden Sanguinet, Descogne, Narbonne, Nicolas, Lorimier, Hindelang und Daunais, deren Namen in der Martyreologie der franco-canadischen Geschichte niemals erlöschen werden.

Diesen Namen haben wir noch die einiger Personen hinzuzufügen, welche in dieser unserer Erzählung hervortraten, wie der Advocat Sebastian Gramont, Vincent Hodge, der ebenso starb wie sein Vater, mit demselben Muthe und für dieselbe Sache.

Da William Clerc auf amerikanischem Boden seinen Wunden erlegen war, überlebte Andre Farran, der sich nach den Vereinigten Staaten geflüchtet hatte, seine Kampfgenossen ganz allein.

Hierzu kommt nun die Liste der Verbannten. Sie umfaßte etwa fünfzig der hervorragendsten Patrioten, und es sollten gar viele Jahre vergehen, ehe diese in ihr Vaterland zurückkehren konnten.

Was den Abgeordneten Papineau angeht, den Politiker, dessen Persönlichkeit diesen ganzen Zeitraum der Erhebung nationaler Ansprüche beherrschte, so gelang es ihm zu entkommen. Ein langes Leben gestattete ihm, Canada noch im Besitz seiner Selbstregierung, wenn auch nicht seiner völligen Selbständigkeit zu sehen.

Papineau starb erst unlängst an der äußersten Grenze eines mit Recht geehrten Alters.

Wir haben nun noch nachzutragen, was aus Catherine Harcher geworden war. Von ihren fünf Söhnen, welche ihren Vater nach St. Charles und nach der Insel Navy begleitet hatten, waren nur zwei nach mehrjähriger Verbannung nach der Farm von Chipogan heimgekehrt, und haben diese seitdem nicht wieder verlassen.

Was die Mahogannis angeht, welche an der Entwickelung des Aufstandes theilgenommen hatten, so wollte die Regierung sich ihrer nicht erinnern, so wenig wie des vortrefflichen Mannes, der wider Willen in Sachen verwickelt worden war, die »ihn ja gar nichts angingen«.

Meister Nick kehrte denn - übrigens recht überdrüssig einer hohen Stellung, die er nicht erstrebt - nach Montreal zurück, wo er das frühere Leben wieder anfing. Und wenn Lionel wieder als zweiter Schreiber an seinem Pulte in der Expedition am Markte Bon-Secours unter der Fuchtel eines Sagamore Platz nahm, so geschah das doch mit einem Herzen voll der Erinnerung an das, wofür er wirklich gern sein Leben geopfert hätte.

Beide bewahrten für immer das Andenken an die Familie Vaudreuil, ebenso wie an den durch seinen Tod wieder zu Ehren gekommenen Johann ohne Namen, den sagenhaften Helden Canadas.

Wenn diese Aufstände aber auch gescheitert waren, so hatten sie doch keimfähigen Samen in die Erde gesenkt. Mit dem Fortschritte, den die Zeit gebiert, mußte dieser Same aufgehen. Nicht umsonst vergießen Vaterlandsfreunde ihr Herzblut, um angestammte Rechte wieder zu erlangen. Möge das von keinem Lande vergessen werden, dem die Pflicht obliegt, seine Unabhängigkeit wieder zu fordern!

Die nacheinander an die Spitze der Colonie gestellten Gouverneure, Sidenham, Bagot, Metcalfe, Elgin und Monck, traten nach und nach einige Theile der früheren Vorrechte der Krone ab. Dann stellte die Verfassung von 1867 die canadische Conföderation auf unerschütterliche Grundlagen. Das war zu derselben Zeit, wo die Frage, welche Stadt die Hauptstadt der Dominion sein sollte, zu Gunsten Quebecs in Fluß kam, später aber zu Gunsten Ottawas entschieden wurde.

Heute ist die Erschlaffung des Verbindungsbandes mit der Metropole fast eine vollständige.

Canada bildet im eigentlichen Sinne eine freie Macht unter dem Namen der Dominion of Canada, wo die angelsächsischen und die franco-canadischen Elemente sich in vollkommener Gleichstellung berühren. Von den jetzigen fünf Millionen Einwohnern gehört noch der dritte Theil der französischen Rasse an.

Jedes Jahr vereinigt eine wahrhaft rührende Ceremonie die Patrioten von Montreal am Fuße der Säule, welche dem Andenken der politischen Opfer von 1837 und 1838 an der Schneeküste errichtet wurde. Hier wurde am Einweihungstage von Euclide Roy, dem Präsidenten des Instituts, eine erschütternde Rede gehalten, und deren letzte Worte fassen die Lehre zusammen, welche aus unserer Schilderung hervorgeht: »Den Opfermuth ehren, heißt Helden gebären!«

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