27

Das Fest von Tola dauerte an.

Allerdings war die vierte Mahlzeit schon vorbei.

Es waren fast acht goreanische Ahn – oder etwa zehn Erdenstunden vergangen, seit ich mich von Misk, Mul Al-Ka und Mul Ba-Ta getrennt hatte.

Die Transportscheibe, die mich ursprünglich zu dem Saal gebracht hatte, in dem ich dann Misk vorfand, hatte mich auch an das Tor getragen, das in das Reich des Goldenen Käfers führte, und dort sollte sie auch bleiben – ein stummer Zeuge meines Eintretens und meiner bisher nicht erfolgten Rückkehr.

Weniger gefiel mir, daß ich das Übersetzungsgerät auf der Transportscheibe gelassen hatte, aber mir war nichts anderes übriggeblieben.

Wer nahm schon ein solches Gerät mit in die Tunnels des Goldenen Käfers? Und wenn es nicht bei der Scheibe gefunden –wurde, mochte das Überlegungen auslösen – nicht daß ich womöglich zurückgekehrt sei, sondern daß ich die Welt des Käfers gar nicht erst betreten, sondern nur so getan hatte.

Ich wusste nicht, welche Bedeutung die Aussage der beiden Muls am Portal für die Priesterkönige haben würde.

Nach Verlassen des Vivariums war ich noch nicht weit gewandert, als ich meine Orientierung wiedergewann. Wenige Meter weiter entdeckte ich eine Transportscheibe, die auf ihrem Gaskissen vor einem der Portale des Versorgungssaals wartete. Das Fahrzeug war natürlich unbemannt, denn im abgeschlossenen, wohlregulierten Leben des Nestes waren Diebstähle – außer gelegentlich, wenn es um Salzrationen ging – unbekannt.

Daher setzte ich wahrscheinlich eine Art Markstein, als ich auf die Scheibe sprang und die Beschleunigungsstreifen berührte.

Kurz darauf raste ich mit meinem, sagen wir, entliehenen Fahrzeug durch die Tunnels.

Ich hatte noch keinen Pasang zurückgelegt, als ich die Scheibe vor einem anderen Portal der Versorgungshalle stoppte.

Ich trat ein und kehrte wenige Sekunden später in der purpurnen Tunika eines Mul zurück. Der Verwalter hatte die Kosten auf meine Veranlassung Sarm zugeschrieben und sagte mir, ich müsse meine Tunika sofort mit den erforderlichen Geruchssymbolen hinsichtlich meiner Identität, meiner Tadel und so weiter versehen lassen.

Ich beruhigte ihn mit dem Hinweis, daß ich mir die Sache ernsthaft überlegen wolle, und entschwand, während er mir noch gratulierte, daß es mir gestattet werde, Mul zu werden, anstatt niederer Matok zu bleiben. »Du bist nun nicht nur im Nest, sondern gehörst auch dazu.«

Draußen warf ich meine rote Plastikkleidung in die nächste Abfallröhre. Von dort wurde sie mit Luftdruck zu den fernen Verbrenneranlagen befördert.

Wieder sprang ich auf die Transportscheibe und ließ mich zu Misks Unterkunft tragen.

Dort verbrachte ich einige Minuten damit, mich mit Mul-Fungus zu stärken und einen langen Schluck aus meinem Wasserbehälter zu nehmen.

Während der Mahlzeit überlegte ich mir mein weiteres Vorgehen. Ich musste Misk finden – und wenn ich zusammen mit ihm starb!

Meine Gedanken wanderten zu Vika in ihrem Plastikkasten, der dem meinen ähnelte, auch wenn er ihr Gefängnis war. Ich betastete den Schlüssel zu ihrer Zelle, der an der Lederschlaufe um meinen Hals hing.

Ich ertappte mich bei der Hoffnung, daß die Gefangenschaft das Mädchen nicht zu sehr bedrückte – doch dann schalt ich mich wegen der Schwäche und redete mir ein, daß alle Leiden, die sie jetzt durchstehen musste, mehr als verdient waren. Ich schob den Schlüssel wieder in meine Tunika und dachte an den durchsichtigen Kasten in der vierten Reihe des Vivariums. Ja, die Zeit würde der geschorenen Vika lang werden!

Ich fragte mich, was aus Mul Al-Ka und Mul Ba-Ta geworden war.

Da auch sie Sarm Widerstand geleistet hatten, mussten sie nun auch Geächtete sein. Ich hoffte, daß sie ein Versteck gefunden hatten, wo es genügend zu essen gab. Ich schätzte ihre Chancen nicht sehr hoch ein, aber alles war besser als der Gang in die Vernichtungskammern.

Ich dachte auch an den jungen männlichen Priesterkönig in dem geheimen Labor unter Misks Quartier. Am besten hätte ich wohl Misk geholfen, indem ich ihn seinem Schicksal überließ und mich bemühte, das junge Wesen zu schützen – doch ich hatte wenig Interesse an solchen Dingen. Ich wusste nicht, wo das weibliche Ei zu finden war, noch hätte ich mich darum kümmern können, wenn mir sein Versteck bekannt gewesen wäre. Daß außerdem die Rasse der Priesterkönige geschwächt war und sterben mochte, schien einen Menschen wie mich nichts anzugehen, ganz zu schweigen von meinem Hass auf diese Wesen und von meiner Meinung über ihre Eingriffe in das Leben der Menschen dieser Welt.


Hatten sie nicht eine Stadt vernichtet? Hatten sie die Menschen Ko-ro-bas nicht in alle Winde zerstreut? Hatten sie nicht Männer den Flammentod sterben lassen, hatten sie auf Akquisitionsreisen nicht Menschen gegen ihren Willen auf diese Welt gebracht?

Hatten sie anderen Menschen nicht ihre Kontrollnetze eingepflanzt und aus der Menschenrasse die Mutation der Gur-Träger gezüchtet? Sahen sie uns nicht als niedere Ordnung von Tieren an, die gerade gut genug war, ihnen zu dienen? Und was war mit den Muls und den Kammersklaven und all jenen Menschen, die für sie arbeiten mussten, wenn sie nicht sterben wollten? Nein, sagte ich mir – es kann für den Menschen nur gut sein, wenn die Priesterkönige sterben. Aber Misk war anders, und er war mein Freund. Zwischen uns bestand Nestvertrauen, und so war ich als Krieger und als Mann bereit, mein Leben für ihn zu geben.

Ich überprüfte mein Schwert und verließ Misks Abteil, trat auf die Transportscheibe und raste lautlos durch die Tunnels.

Ich schlug die Richtung ein, in der ich die Höhle der Mutter wusste.

Kaum hatte ich einige Ehn zurückgelegt, als ich eine Barrikade aus dicken Stahlstangen erreichte, die jene Tunnels des Nests, zu denen Muls Zugang hatten, von den Sperrgebieten trennten.

Hier wachte ein Priesterkönig, dessen Fühler fragend hin und her schwenkten, als ich meine Transportscheibe vier Meter vor ihm stoppte.

Sein Kopf steckte in einem Kranz aus grünen Blättern, und wie bei Sarm hing ein Band aus verfremdeten Metallwerkzeugen um seinen Hals.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich die Verwirrung des Priesterkönigs begriff.

Die Tunika, die ich anhatte, enthielt keinerlei Duftsignale, und einen Augenblick hatte er angenommen, daß meine Transportscheibe tatsächlich ohne Fahrer geflogen war.

Ich glaubte förmlich das Flackern der großen Scheibenaugen zu erkennen, als sich der Priesterkönig zu orientieren versuchte – etwa wie wir versucht hätten, einem winzigen Geräusch nachzulauschen.

Seine Reaktion erinnerte mich an die eines Menschen, der etwas in einem Zimmer gehört hat, ohne zugleich etwas zu sehen.

Schließlich richteten sich seine Fühler auf mich – aber ich bin sicher, er ärgerte sich, daß er die starken Signale nicht empfing, die er hätte erwarten können, wenn ich meine geruchspräparierte Tunika getragen hätte. Ohne diese Tunika unterschied ich mich für ihn wahrscheinlich nicht von anderen männlichen Muls des Nestes. Einem anderen Menschen wäre natürlich sofort mein wirres rotes Haar aufgefallen – doch wie ich gesagt habe, verfügen die Priesterkönige nur über ein wenig ausgeprägtes Sehvermögen und sind, wie ich vermute, zudem noch farbenblind.

Farben finden sich im Nest überhaupt nur in den Gegenden, in denen sich Muls aufhalten. Der einzige Priesterkönig, der mich sofort erkannt hätte, war vermutlich Misk, der mich nicht nur als Mul, sondern als Freund ansah.

»Du bist zweifellos der Edle Wächter der Kammer, in der ich Geruchssymbole auf meiner Tunika anbringen kann«, rief ich freundlich.

Der Priesterkönig schien erfreut zu sein, meine Stimme zu hören.

»Nein«, sagte er. »Ich bewache den Eingang zu den Tunnels der Mutter, und du darfst nicht passieren.«

Also, sagte ich mir, hier bist du richtig.

»Wo kann ich meine Tunika kennzeichnen lassen?« fragte ich.

»Flieg in der Richtung zurück, aus der du gekommen bist, und erkundige dich«, sagte der Priesterkönig.

»Ich danke dir, edler Priesterkönig!« rief ich, riß die Transportscheibe herum, als hätte sie eine Zentralachse, und raste davon. Über die Schulter bemerkte ich, daß der Priesterkönig mir nachzustarren« versuchte.

Hastig lenkte ich die Scheibe in einen Seitentunnel und begann nach einem Entlüftungsschacht zu suchen.

Zwei oder drei Ehn später fand ich ein geeignetes Gitter.

Ich lenkte die Scheibe noch einen halben Pasang weiter und stellte sie neben einem offenen Portal ab, hinter dem Muls damit beschäftigt waren, blubbernde Plastikmasse umzurühren.

Hastig kehrte ich zu Fuß zum Ventilatorenschacht zurück, löste eine Seite des Schutzgitters, zwängte mich hinein und wanderte nach wenigen Augenblicken wieder durch das ausgedehnte Entlüftungssystem des Nests.

Dabei versuchte ich die Richtung zur Kammer der Mutter einzuschlagen.

Von Zeit zu Zeit passierte ich Öffnungen im Schacht und starrte hinaus.

Einmal konnte ich erkennen, daß ich mich bereits hinter dem Stahlgitter befand, das von dem Priesterkönig bewacht wurde. Das Wesen stand starr vor dem geschlossenen Portal und ahnte nicht, daß ich es bereits umgangen hatte.

Das Fest von Tola schien lautlos abzulaufen, so daß ich mich nicht nach dem Lärm orientieren konnte, aber auch so hatte ich keine Mühe, den Ort der Feier ausfindig zu machen. Ich erreichte einen Schacht – einen Tunnel, durch den verbrauchte Luft aus dem System gepumpt wird –, in dem eine außerordentliche Vielfalt von Düften herrschte – Gerüche, die ich während meiner Zeit bei Misk als Symbole von Schönheit für die Priesterkönige kennengelernt hatte.

Ich folgte diesen Düften und sah mich bald über einer gewaltigen Höhle.

Sie war vielleicht nur dreißig Meter hoch, aber in Länge und Breite übertraf sie viele andere Räume des Nestes. Sie war gefüllt mit goldenen Priesterkönigen, grüngeschmückt und mit dem klirrenden Halsschmuck der Metallwerkzeuge versehen.

Es gab etwa tausend Priesterkönige im Nest, und ich hatte den Eindruck, als wären alle hier versammelt – außer jenen, die Wachdienste versehen mussten, etwa am Stahlgitter, im Überwachungsraum oder – ganz bestimmt – in der Energiestation.

Ein Großteil der Arbeiten, zum Teil auch qualifizierte Tätigkeiten, wurde bereits von besonders ausgebildeten Muls durchgeführt.

Die Priesterkönige umstanden in unzähligen konzentrischen Reihen nach Art eines alten Theaters eine Art Podest. Auf einer Seite waren vier Priesterkönige an den Knöpfen eines großen Duftmischers beschäftigt.

Hunderte von kleinen Kontakten befanden sich dort, und die Priesterkönige berührten diese mit großer Geschicklichkeit, wobei sie offenbar nach einem bestimmten Rhythmus vorgingen.

Ich bezweifelte nicht, daß diese Priesterkönige die besten Musiker des Nestes waren, hatte man sie doch ausgewählt, beim großen Fest von Tola zu spielen.

Die Fühler der tausend Priesterkönige schienen starr zu sein, so konzentriert folgten sie der Schönheit dieser Musik.

Ich beugte mich vor und erblickte auf einer hohen Plattform an diesem Ende des Raumes – die Mutter.

Im ersten Augenblick konnte ich nicht glauben, daß es so etwas gab.

Das Wesen gehörte zweifellos der Rasse der Priesterkönige an und hatte jetzt auch keine Flügel mehr – aber das Auffallendste an ihr war der Umfang des Unterleibs. Der Kopf war kaum größer als bei einem normalen Priesterkönig, ebenso der Brustkorb, doch der Unterleib wies Dimensionen auf, die ihn, wenn er mit Eiern gefüllt war, bestimmt zur Größe eines Autobusses anschwellen ließen. Nun lag dieser monströse Behälter natürlich leer und faltig auf der Plattform, zusammengesunken hinter dem Wesen, wie ein Sack aus bräunlich verziertem goldenem Leder.

Selbst mit leerem Unterleib vermochten die Beine das Gewicht nicht zu tragen, und die Mutter lag auf der Empore, ihre Beine waren untergefaltet.

Ihre Hautfarbe unterschied sich von der normaler Priesterkönige- sie war dunkler, bräunlicher, und hier und dort zeigten sich schwarze Flecke auf Brustkorb und Unterleib.

Ihre Antennen schienen unaufmerksam und ohne Spannung. Sie hatte sie über den Kopf zurückgelegt.

Ihre Augen wirkten glanzlos braun.

Ich fragte mich, ob sie wohl blind war.

Sie war das älteste Wesen im Nest, die Mutter.

Es war kaum vorstellbar, daß sie sich vor unzähligen Generationen als junges Wesen mit goldenen Flügeln in die blaue Luft dieses Planeten geschwungen hatte, schimmernd und kraftstrotzend, daß sie mit ihrem Männchen durch den schnellen Wind dieser wilden Welt geeilt war. Wie golden sie ausgesehen haben musste!

Es gab kein Männchen mehr, keinen Vater des Nests, und ich nahm an, daß das Männchen gestorben war oder den Hochzeitsflug nicht lange überlebt hatte. Ich fragte mich, ob er ihr wohl geholfen hatte, oder ob sie allein aus dem Himmel gefallen war, ihre Flügel abgerissen und sich unter den Bergen eingegraben hatte, um das einsame Werk der Mutter zu beginnen – die Gründung eines neuen Nestes.

Ich fragte mich, warum es keine weiteren Weibchen gegeben hatte.

Wenn Sarm sie umgebracht hatte, wie kam es dann, daß die Mutter nichts davon wusste und ihn nicht vernichtet hatte?

Oder war es ihr Wunsch, daß es keine anderen Weibchen gab?

Aber wenn das stimmte, weshalb hatte sie sich dann angeblich mit Misk zusammengetan, um für den Fortbestand der Priesterkönige zu sorgen?

Wieder schaute ich durch das Gitter. Es befand sich etwa neun Meter über dem Boden der Höhle und etwas links von der Plattform.

Ich vermutete, daß es auf der anderen Seite der Empore ein ähnliches Gitter gab, kannte ich doch die Vorliebe für Symmetrie, die die Priesterkönige bei ihren Bauten immer wieder an den Tag legten.

Während die Musiker ihre Geruchsrhythmen fortsetzten, trat langsam ein Priesterkönig nach dem anderen vor, wanderte zur Empore und näherte sich der Mutter.

Hier angekommen, beugte er sich kurz über einen großen goldenen Kessel, der wohl anderthalb Meter tief war und auf einem riesigen Dreifuß stand, und nahm ein wenig weiße Flüssigkeit, zweifellos Gur, in den Mund.

Er nahm nur einen kleinen Schluck, und der Kessel war noch immer fast voll, obwohl das Fest von Tola schon in vollem Gange schien. Der Priesterkönig näherte sich langsam der Mutter und neigte seinen Kopf zu ihr herab.

Mit großer Zärtlichkeit berührten seine Fühler sodann ihren Kopf. Sie streckte ihm den Kopf entgegen, und mit einer Vorsicht, die kaum vorstellbar war, übertrug er schließlich einen winzigen Tropfen der kostbaren Flüssigkeit von seinem Mund in den ihren.

Zuletzt wich er zurück und stellte sich wieder an seinen Platz, wo er so unbeweglich wie zuvor verharrte.

Er hatte der Mutter Gur gegeben.

Ich wusste es damals nicht – doch bei Gur handelt es sich um eine Flüssigkeit, die in der ersten Phase von großen, gezähmten, halbkugelförmigen Wesen ausgeschieden wird. Diese Tiere werden morgens auf die Weide geführt, wo sie sich von Simpflanzen ernähren, großen, rebenähnlichen Gewächsen mit riesigen gerollten Blättern, die unter viereckigen Lampen in den Weidehöhlen gedeihen. Nachts kehren die Wesen in ihre Stallzellen zurück, wo sie von Muls gemolken werden.

Das besondere Gur, das während des Fests von Tola zur Verwendung kommt, wird nach alter Sitte einige Wochen lang in den Mägen besonders ausgewählter Priesterkönige aufbewahrt, wo es reift und eine ganz bestimmte Zusammensetzung erreichen soll – und dieser Vorgang ist als Gurbewahrung bekannt.

Ich sah zu, wie die Prozession der Priesterkönige ihren Fortgang nahm und die Gurzeremonie immer wieder ablief.

In Anbetracht der Anzahl der Priesterkönige und der Zeit, die es jeden kostete, der Mutter Gur zu geben, schien die Zeremonie schon einige Stunden zu dauern. Tatsächlich wollte es mir denkbar erscheinen, daß die Feier vielleicht sogar den ganzen Tag in Anspruch nahm.

Ich war bereits vertraut mit der erstaunlichen Geduld der Priesterkönige, und so überraschte mich die Reglosigkeit in den Reihen der goldenen Wesen nicht, die die Plattform der Mutter säumten. Während ich die kaum merklichen Bewegungen der Fühler beobachtete, die der Duftmusik der Musiker folgten, spürte ich, daß es sich hier nicht um eine Demonstration der Geduld handelte, sondern daß dieses Fest für die Priesterkönige ein Augenblick der Freude war, eine Gelegenheit zum Versammeln, eine Demonstration des Nestzusammenhalts, das Hervorheben ihrer Anfänge und der langen, gemeinsam bewältigten Geschichte, ein Fest zur Erinnerung an sich selbst, an ihre Natur, an ihre Eigenschaft als Priesterkönige.

Ich überschaute die goldenen Reihen dieser Wesen, wachsam, reglos, die Köpfe mit grünen Blättern geschmückt, um den Hals die winzigen, primitiven silbrigen Werkzeuge, die an eine einfachere Zeit gemahnten – eine Zeit, da es noch keinen Beobachtungsraum, keine Energiestation und keinen Flammentod gab.

Ich vermochte mir das wahre geschichtliche Alter dieses Volkes nicht vorzustellen, und nur entfernt ahnte ich ihre Macht, ihre Gefühle, ihre Hoffnungen oder Träume – sofern diese abgeklärten Lebewesen überhaupt Träume hatten oder die vage, nicht zu unterdrückende Torheit von Hoffnungen.

Sarm hatte gesagt, das Nest sei ewig.

Aber auf der Plattform, der sich die goldenen Wesen zuwandten, lag die Mutter, vielleicht blind, fast gefühllos, das große schwache Wesen, das sie anbeteten, verwittert, bräunlich gealtert, der riesige verbrauchte Körper zusammengesunken und leer.

Ihr sterbt, Priesterkönige, sagte ich lautlos vor mich hin.

Ich bemühte mich, in den goldenen Reihen Sarm oder Misk auszumachen.

Ich hatte vielleicht eine Stunde zugeschaut, als ich Anzeichen dafür wahrnahm, daß die Zeremonie vielleicht vorüber war, denn es vergingen einige Minuten, ohne daß sich ein Priesterkönig der Mutter näherte.


Und dann entdeckte ich plötzlich Sarm und Misk zusammen.

Die Reihen der Priesterkönige teilten sich, so daß in der Mitte der Höhle ein Durchgang entstand. Die Priesterkönige wandten sich diesem Gang zu, durch den Sarm und Misk vortraten.

Ich vermutete, daß nun der Höhepunkt des Fests von Tola kam, die Gurzeremonie, ausgeführt durch die größten der Priesterkönige, die fünf Erstgeborenen – nur daß von dieser Gruppe nur noch zwei am Leben waren, der Erstgeborene und der Fünftgeborene, Sarm und Misk. Wie ich später erfuhr, traf diese Vermutung zu; dieser Augenblick des Fests ist als der Marsch der Fünf bekannt, bei dem die Erstgeborenen vor die Mutter treten und ihr in der umgekehrten Reihenfolge ihres Ranges Gur geben.

Misk trug natürlich keinen Blätterkranz und auch kein Halsband mit Werkzeugsymbolen.

Wenn Sarm darüber verstört war, Misk hier anzutreffen, den er tot wähnte, so ließ er es sich nicht anmerken.

Gemeinsam kamen sie zur Plattform. Schweigen herrschte im Raum – jedenfalls für menschliche Ohren. Die Düfte der Musik schwollen dagegen zu einem neuen Höhepunkt an. Feierlich näherten sich die beiden Priesterkönige der Mutter, und ich sah, wie Misk als erster einen Tropfen Gur aus dem großen goldenen Kessel nahm und sich zur Mutter beugte.

Als er ihren Kopf berührte, hob sie ihre Fühler und schien zu erzittern.

Das alte verwitterte Wesen hob den Kopf, und auf ihre ausgestreckte Zunge übertrug Misk, ihr Kind, zärtlich und vorsichtig einen schimmernden Gurtropfen.

Er trat zurück.

Jetzt näherte sich auch Sarm, der Erstgeborene, der Mutter. Auch er kostete von dem Gur in dem goldenen Kessel, trat neben die Mutter, legte seinen Fühler sanft auf ihren Kopf, und wieder hob das alte Geschöpf ihren Fühler – doch diesmal schien sie ihn wieder zurückzuziehen.


Sarm legte seinen Kiefer vor den Mund der Mutter, doch sie hob ihren Kopf nicht.

Sie wandte das Gesicht ab.

Die Duftmusik brach plötzlich ab, und die Priesterkönige schienen sich zu bewegen, als sei ein unwägbarer Windhauch über sie hingegangen und hätte einen Haufen Herbstblätter durcheinander gewirbelt. Ich hörte sogar das überraschte Klirren der winzigen Metallwerkzeuge.

Ich vermochte die Anzeichen der Verwirrung unter den Priesterkönigen gut zu erkennen – die verblüfft wedelnden Antennen, das Hin- und Herrücken der Tragbeine, die plötzliche Neigung von Kopf und Körper, das Vorrecken der Fühler in Richtung Plattform.

Noch einmal streckte Sarm den Kopf der Mutter entgegen, und ein zweitesmal wendete sie den Kopf zur Seite.

Sie hatte ihm Gur verweigert.

Misk stand reglos vor der Plattform.

Sarm stolperte zurück und blieb erstarrt stehen. Seine Fühler schienen sich willkürlich zu bewegen. Sein ganzer Körper, das lange, schlanke, goldene Gebilde, begann zu beben.

Er hatte die natürliche Anmut seiner Rasse völlig verloren, als er sich noch einmal der Mutter zu nähern versuchte. Seine Bewegungen waren stockend, unsicher, schwerfällig.

Diesmal drehte sie schon den Kopf zur Seite, als er sich noch gär nicht über sie gebeugt hatte.

Und wieder zog sich Sarm zurück.

Jetzt waren die Reihen der Priesterkönige wieder erstarrt. Alle konzentrierten sich auf Sarm.

Langsam wandte er sich an Misk.

Er zitterte nicht mehr, sondern hatte sich zu voller Höhe aufgerichtet. Er stand vor der Plattform der Mutter, starrte Misk an, erhob sich einige Zentimeter über den Gegner und rührte sich eine Zeitlang nicht – eine Starre, wie sie sogar bei einem Priesterkönig erschreckend wirkte.

Lange Zeit musterten sich die beiden Priesterkönige, bis sich Sarms Fühler schließlich über dem Kopf zurücklegten. Sofort machte es Misk ihm nach.

Fast sofort schnappten die klingengleichen Hornkanten an den Vorderbeinen vor.

Langsam begannen sich die beiden Priesterkönige zu umkreisen – ein Ritual, das älter zu sein schien als das Fest, das hier gefeiert wurde.

Mit einer Geschwindigkeit, die mir unvorstellbar erschien, stürzte sich Sarm auf Misk, und nach kurzem Ringen sah ich die beiden ineinander verkeilten Wesen hochaufgerichtet auf ihren Hinterbeinen langsam hin und her schwanken in dem Versuch, die goldenen Hornklingen zum Schlag zu bringen.

Ich kannte die ungewöhnliche Stärke der Priesterkönige und vermochte mir die Gewalten vorzustellen, die dort unten entfesselt waren.

In diesem Augenblick wich Sarm zurück und begann seinen Gegner erneut zu umkreisen. Misk folgte wachsam seiner Bewegung.

Ich hörte nun auch das laute Ein- und Ausatmen durch die Luftwege beider Wesen.

Plötzlich ging Sarm erneut zum Angriff über, schlug mit einer seiner Hornklingen zu und war schon wieder zurückgesprungen, als sich eine grünliche Wunde links neben einem der großen leuchtenden Facettenaugen Misks öffnete. Wieder sprang Sarm, und wie durch Zauberhand klaffte eine zweite Wunde an Misks riesigem goldenem Kopf, und schon wich Sarm mit unglaublicher Geschwindigkeit zurück, ehe Misk ihn berühren konnte, und begann seinen Gegner erneut zu umkreisen.

Zum drittenmal stieß Sarm vor, und diesmal erschien eine grünliche Wunde an Misks Brustkasten, dicht bei einem seiner Gehirne.

Ich fragte mich, wie lange es dauern mochte, bis ein Priesterkönig starb.

Misk wirkte seltsam schwerfällig, seine Reaktionen kamen langsam, er ließ den Kopf hängen, und seine Fühler zuckten ungeschützt hin und her.

Ich bemerkte, daß sich die grüne Ausscheidung seiner Wunden bereits verhärtete, um ein weiteres Ausfließen zu verhindern. Anscheinend hatte Misk trotz seiner Hilflosigkeit sehr wenig Körperflüssigkeit verloren. Ich überlegte, ob vielleicht der Schlag in der Nähe des Gehirns eine schlimme Wirkung auf ihn gehabt hätte.

Aufmerksam beobachtete Sarm Misks zuckende Fühler.

Dann schien plötzlich ein Bein Misks nachzugeben, und er stand seltsam schräg vor der Plattform.

In dem Durcheinander des Kampfes war mir wohl der Schlag entgangen, der das Bein getroffen hatte.

Ich fragte mich, ob Sarm jetzt einlenken würde.

Wieder sprang Sarm vor, eine Hornklinge zum Schlag erhoben, doch diesmal richtete sich Misk plötzlich auf seinem scheinbar verletzten Bein auf, ließ seine Fühler in Sekundenschnelle zurückpeitschen, und als Sarm zuschlug, fand er sein Vorderbein von den hakengleichen Vorsprüngen an Misks Vorderbeinen umschlungen.

Sarm schien zu erzittern und schlug mit dem anderen Vorderbein zu, doch auch hier griff Misk mit seiner anderen ›Hand‹ zu, und wieder schwankten die beiden Wesen in tödlichem Nahkampf hin und her. Misk, der seinen Gegner inzwischen etwas besser kannte und gegen seine Schnelligkeit nicht ankam, hatte sich entschlossen, aus der Nähe zu arbeiten.

Die beiden Priesterkönige verbissen sich ineinander, die gewaltigen Köpfe drehten sich hin und her.

Mit einer Kraft, die ich mir nicht vorzustellen wagte, schlössen sich plötzlich Misks Kiefer, und er drehte sich um. Plötzlich wurde Sarm vor ihm zu Boden gerissen, und noch im Herumwirbeln griffen Misks Kiefer erneut zu und umschlossen die dicke Röhre, an der das Band mit Tolas Silberwerkzeugen hing – die Röhre, die den Kopf vom Brustkasten trennte, am ehesten dem Hals vergleichbar. Unbarmherzig begann Misk zuzubeißen.

In diesem Augenblick verschwanden die Hornklingen in Sarms Vorderbeinen, und er faltete sie vor seinem Körper zusammen und gab jede Gegenwehr auf. Er hob sogar den Kopf, um den Hals seinem Gegner besser darzubieten.

Misk war erstarrt. Anscheinend wusste er nicht mehr, was er tun sollte.

Sarm war ihm ausgeliefert.

Obwohl der Übersetzer, der noch um Sarms Hals hing, nicht eingeschaltet war, brauchte ich keine Übersetzung für das verzweifelte Geruchssignal, das der Erstgeborene nun ausstieß. Es handelte sich um das erste Duftsymbol, das je an mich gerichtet worden war – nur daß es damals in Vikas Zimmer aus Misks Übersetzer geklungen hatte: »Ich bin Priesterkönig.«

Misk löste seinen tödlichen Griff und trat zurück.

Er konnte einen Priesterkönig nicht umbringen.

Misk wandte sich langsam ab und trat vor die Mutter. Wenn er etwas zu ihr sagte, merkte ich es jedenfalls nicht. Vielleicht sahen sie sich nur an.

Ich achtete auch mehr auf Sarm, der sich langsam wieder aufrichtete. Zu meinem Entsetzen nahm er das Übersetzergerät ab, schwang es an seiner Kette wie einen Morgenstern, stürzte sich von hinten auf Misk und traf sein Ziel.

Misks Beine gaben langsam unter ihm nach. Ob er tot oder nur betäubt war, wusste ich nicht.

Sarm hatte sich zu voller Größe aufgerichtet und sah die Mutter an. Er hängte sich den Übersetzer wieder um den Hals.

Ich spürte ein Signal von der Mutter. »Nein.«

Aber Sarm sah sich um und musterte die Reihen regloser Priesterkönige. Er ließ seine Hornklingen vorschnappen und näherte sich langsam seinem Opfer.

In diesem Augenblick trat ich das Gitter des Entlüftungsschachtes los, stieß den Kriegsschrei Ko-ro-bas aus und sprang auf die Plattform der Mutter. Eine Sekunde später hatte ich mich mit gezogenem Schwert zwischen Sarm und Misk gestellt.

»Halt ein, Priesterkönig!« brüllte ich.

Noch nie hatte ein Mensch diese Höhle betreten, und ich wusste nicht, ob ich nun einen heiligen Ort beschmutzt hatte. Aber das war mir gleichgültig. Mein Freund war in Gefahr!

Entsetzen breitete sich in der anwesenden Menge aus, und die Priesterkönige schwenkten wild ihre Antennen. Ihre goldenen Körper erbebten vor Wut, und Hunderte schalteten gleichzeitig ihre Übersetzungsgeräte ein, denn aus allen Richtungen drangen tonlos übersetzte Worte des Protestes auf mich ein.

»Er muß sterben«, »Tötet ihn«, »Tod dem Mul.« Gegen meinen Willen musste ich lachen, denn die gleichgültig klingenden Äußerungen der Übersetzungsgeräte standen so sehr im Gegensatz zur sichtlichen Erregung der Priesterkönige und dem bedrohlichen Inhalt ihrer Rufe.

Aber dann spürte ich plötzlich hinter mir ein Signal der Mutter, ein Ausdruck der Verneinung, wie ich ihn schon einmal wahrgenommen hatte, und durch die Übersetzungsgeräte schallte mir das Wort ›Nein‹ entgegen, das die Mutter ausgestoßen hatte.

In die Reihen der Priesterkönige kam neue Bewegung, ein verwirrtes Durcheinander, doch nach Sekunden waren sie reglos wie zuvor, Statuen aus goldenem Stein.

Nur aus Sarms Übersetzer klangen die Worte: »Er wird sterben.«

»Nein«, sagte die Mutter, deren Botschaft durch Sarms Übersetzer aufgefangen und verstärkt wurde.

»Ich bin der Erstgeborene«, sagte Sarm.

»Und ich die Mutter.«

»Ich tue, was ich will.« Und Sarm sah sich um.

Dann wandte er sich in meine Richtung. »Wer bist du?«

»Ich bin Tarl Cabot aus Ko-ro-ba«, sagte ich.

Sarms Hornklingen schnappten vor.

Ich hatte Sarm kämpfen sehen und wusste, daß er unglaublich schnell zustoßen konnte. Ich hoffte, daß ich seinen Angriff parieren konnte. Ich sagte mir, daß er es wahrscheinlich auf Hals und Kopf absehen würde, schon weil sie für ihn leichter zu erreichen waren und er mich bestimmt schnell beseitigen wollte. Wichtiger musste ihm das Schicksal Misks sein, der tot oder bewußtlos hinter mir lag.

»Wie kommt es«, fragte Sarm, »daß du hier zu erscheinen wagst?«

»Ich tue, was ich will«, sagte ich.

Sarm richtete sich auf. Seine Hornklingen funkelten. Die Fühler schlugen rückwärts über seinen Kopf.

»Mir scheint, daß einer von uns sterben muß«, sagte Sarm.

»Vielleicht«, sagte ich.

»Was ist mit dem goldenen Käfer?«

»Ich habe ihn umgebracht.«

Sarm trat einen Schritt zurück. »Das ist nicht gestattet«, sagte er. »Es ist ein Verbrechen, ein Wesen dieser Rasse zu töten!«

»Es ist tot. Komm, kämpfen wir.«

Sarm wandte sich an die anderen Priesterkönige. »Bringt mir ein Silberrohr.«

»Was, ein Silberrohr, um einen Mul zu töten?« fragte einer.

Ich sah, daß sich die Antennen mehrerer Wesen krümmten.

»Ich mache nur Spaß«, sagte Sarm, der sich nun wieder an mich wandte. Er schaltete seinen Übersetzer ein.

»Es ist ein großes Verbrechen, einen Priesterkönig zu bedrohen«, sagte er. »Wehre dich nicht, oder ich lasse tausend Muls in die Vernichtungskammern schicken.«

Ich überlegte einen Augenblick. »Wenn du tot bist«, antwortete ich, »wie willst du dann jemanden zur Vernichtung schicken?«

»Es ist ein großes Verbrechen, einen Priesterkönig umzubringen«, sagte Sarm.

»Und trotzdem wolltest du Misk töten.«

»Er ist ein Verräter am Nest.«

Ich sagte laut: »Nein, das stimmt nicht. Vielmehr ist Sarm der Verräter, denn dieses Nest wird sterben, und er hat es nicht gestattet, daß ein neues gegründet wurde.«

»Das Nest ist ewig«, sagte Sarm.

»Nein«, schaltete sich die Mutter ein, und ihre Worte tönten wieder in Sarms Übersetzer und fanden ein tausendfaches Echo in den Übersetzungsgeräten anderer Priesterkönige.

Plötzlich schoß Sarms Hornklinge vor. Ich hätte mich fast überraschen lassen, doch im Sekundenbruchteil vor dem Angriff hatte ich ein Stück Haut an Sarms Schulter zittern sehen.

Ich landete einen Gegenhieb.

Als die lebendige Klinge Sarms noch einen ganzen Meter von meinem Hals entfernt war, traf sie auf den gehärteten Stahl eines goreanischen Schwerts, das mir schon in manchem schweren Kampf wertvolle Hilfe geleistet hatte. So bei der Belagerung Ars und im Kampf gegen Pa-Kur, Görs geschicktestem Schwertkämpfer.

Ein Schwall grüner Körperflüssigkeit traf mich im Gesicht, und ich sprang zur Seite. Aus der gleichen Bewegung heraus schüttelte ich den Kopf und wischte mir mit der Faust über die Augen.

Sekunden später war ich wieder kampfbereit, konnte wieder sehen.

Doch Sarm war etwa fünfzehn Meter von mir entfernt und drehte sich langsam im Kreise. Er schien entsetzliche Schmerzen auszustehen. Ich spürte die intensiven, extremen Gerüche des Schmerzes, die nun die Höhle erfüllten, ohne von seinem Übersetzungsgerät aufgegriffen zu werden.

Ich kehrte an unseren Kampfplatz zurück. Dort lag die abgetrennte Hornklinge Sarms. Dieser hatte den Stumpf seines Vorderbeins unter die Schulter gesteckt. Schmerzzitternd wandte er sich in meine Richtung, aber er kam nicht näher.

Ich erblickte nun mehrere Priesterkönige, die sich hinter ihm versammelt hatten und langsam näher kamen.

Zum Äußersten entschlossen, hob ich meine Klinge.

Hinter mir spürte ich eine Bewegung. Misk hatte sich aufgerichtet. Er legte mir ein Vorderbein auf die Schulter und sah Sarm an, dessen Helfer erstarrten.

Misks Worte klangen aus Sarms Übersetzungsgerät. »Du hast dich gegen den Willen der Mutter gewandt«, sagte Misk. »Dein Gur ist abgelehnt! Geh!«

Sarm bebte. »Wir bringen Silberröhren«, sagte er.

»Geh!«

Aus den Übersetzungsgeräten in der Höhle tönten plötzlich die seltsamen Worte: »Ich erinnere mich an ihn ... habe ihn nie vergessen ...

im Himmel... Flügel wie Goldregen!«

Bewegung kam in die Reihen der Priesterkönige, die zur Plattform der Mutter drängten. Das alte Wesen, das erschlafft auf ihrem Lager ruhte, hob ihre Fühler und überschaute die Höhle. »Ja«, sagte sie, »er hatte Flügel wie Goldregen.«

»Die Mutter stirbt«, sagte Misk.

Diese Worte hallten aus den Übersetzungsgeräten, und immer wieder klangen sie auf, als die Priesterkönige sie ungläubig wiederholten.

»Das ist unmöglich«, sagte einer.

»Das Nest ist ewig«, bemerkte ein anderer.

Die schwachen Fühler zitterten. »Ich möchte mit dem Wesen sprechen, das mein Kind gerettet hat.«

Ich trat vor.

»Bist du ein Mul?« fragte sie.

»Nein«, sagte ich, »ich bin frei.«

»Gut.«

In diesem Augenblick drängten sich zwei Priesterkönige mit Injektionsspritzen durch die Menge und stiegen auf die Plattform.

Als sie Anstalten machten; ihr ein Mittel einzuspritzen, wie es bestimmt schon tausendmal zuvor geschehen war, schwenkte sie ihre Fühler und winkte die beiden zur Seite.

»Nein«, sagte sie.

Einer der Priesterkönige wollte ihr die Injektion dennoch verabreichen, doch Misks Vorderbein hinderte ihn daran.

Der andere Priesterkönig untersuchte ihre Fühler und die mattbraunen Augen.

Er winkte seinen Begleiter zur Seite. »Es geht sowieso nur noch um Ehn«, sagte er.

Hinter mir hörte ich einen der Priesterkönige immer wieder sagen: »Das Nest ist ewig.«

Misk legte ein Übersetzungsgerät neben die sterbende Mutter.

»Nur er«, sagte sie.

Misk schickte die Ärzte und die anderen Priesterkönige von der Plattform und stellte das Übersetzungsgerät auf kleinste Leistung. Ich fragte mich, wie lange sich die Duftsignale in der Luft halten würden und noch nachempfunden werden konnten, ehe ich mich zu dem kleinen Gerät hinabbeugte.

Nun konnte ich hören, was die Mutter mir sagte, ohne daß die anderen Anwesenden etwas mitbekamen.

»Ich habe schlecht gehandelt«, sagte sie zu meiner Verblüffung. »Ich wollte die einzige Mutter von Priesterkönigen sein, und ich hörte auf meinen Erstgeborenen. Jetzt sterbe ich, aber die Rasse der Priesterkönige darf nicht mit mir sterben.«

Ich vermochte die Worte kaum zu verstehen.

»Vor langer Zeit«, fuhr sie fort, »stahl Misk, mein Kind, das Ei eines Männchens, das er nun vor Sarm und anderen versteckte, die nicht wollen, daß es ein zweites Nest gibt.«

»Ich weiß«, sagte ich leise.

»Vor nicht langer Zeit, vielleicht vor vierhundert Jahren eurer Zeitrechnung, gestand Misk mir seine Tat ein und schilderte mir seine Gründe.« Die alten Fühler erzitterten, und die dünnen braunen Härchen hoben sich, wie von einem kühlen Wind bewegt, dem Hauch der Sterblichkeit. »Ich sagte nichts dazu, sondern bedachte seine Worte und das Problem – und in Gemeinschaft mit dem Zweitgeborenen, der seither den Wonnen des Goldenen Käfers erlegen ist, schaffte ich schließlich ein weibliches Ei beiseite, das außerhalb des Nests verborgen liegt.«

»Wo ist dieses Ei?« fragte ich.

Sie schien meine Frage nicht zu verstehen, und ich bekam Angst, als ihr alter Körper wild durchgeschüttelt wurde, eine Erscheinung, die mir auf das nahe Ende hinzudeuten schien.

Einer der Ärzte eilte herbei und machte ihr eine Injektion. Anschließend umfaßte er vorsichtig die Fühler der Mutter. Das Zittern ließ nach.

Er zog sich zurück und beobachtete uns reglos aus einiger Entfernung.

Wieder klang mein Übersetzungsgerät auf. »Das Ei wurde von zwei Menschen aus dem Nest geschafft«, sagte sie. »Von Menschen, die frei waren wie du – nicht von Muls. Sie haben das Ei versteckt.«

»Wo wurde es versteckt?«

»Die beiden Menschen kehrten in ihre Heimatstädte zurück, ohne etwas von ihrer Tat zu verraten, so wie man es ihnen befohlen hatte. Bei diesem Auftrag der Priesterkönige waren sie zusammen gewesen und hatten gemeinsam manche Gefahren und Entbehrungen erlitten. Sie waren fast wie Brüder.«

»Wo ist das Ei?« wiederholte ich.

»Aber ihre Städte begannen sich zu bekämpfen, und die beiden Männer töteten einander im Kampf, und mit ihnen starb das Geheimnis, soweit es in der Menschheit bekannt war.« Der große fleckige Kopf, der auf der Steinplattform lag, versuchte sich zu heben.

»Seltsam ist deine Art – halb Priesterkönig, halb Larl!«

Die Mutter schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Du bist Tarl Cabot aus Ko-ro-ba.«

»Ja«, sagte ich.

»Ich mag dich.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und schwieg.

Die Fühler des alten Wesens streckten sich in meine Richtung. »Gib mir Gur«, sagte die mechanische Stimme.

Verblüfft trat ich an den goldenen Kessel und schöpfte eine Handvoll Gur. Dann legte ich sanft die Hand zwischen die riesigen verwitterten Kiefer und berührte ihre Zunge mit der Flüssigkeit.

»Du willst wissen, wo das Ei ist«, sagte sie.

»Wenn du es mir sagen möchtest?«

»Geh zu den Wagenvölkern, Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte sie. »Geh zu den Wagenvölkern.«

»Aber wo ist es?«

Da begann der schwache Leib erneut zu beben, und ich trat zurück, als sich die Mutter zu meinem Erstaunen aufrappelte und sich hoch aufrichtete, die Antennen weit vorgestreckt, als versuchte sie etwas zu greifen, zu erspüren, doch in diesem plötzlichen Aufbegehren erschien sie mir wirklich wie die Mutter einer großen Rasse, ein schönes und starkes Wesen.

Und aus tausend Übersetzungsgeräten klangen ihre Worte: »Ich sehe ihn, ich sehe ihn, und seine Flügel sind wie Goldregen!«

Dann sank die Gestalt langsam wieder auf die Plattform, und der Körper zitterte nicht mehr, und die Fühler lagen schlaff auf dem Steinboden.

Misk näherte sich ihr und berührte sie vorsichtig.

Er wandte sich an die Priesterkönige.

»Die Mutter ist tot«, sagte er.

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