Es ist eine Erleichterung, wenn ich selber als einzelner unwichtig werde, weil das Ganze ein Geschehen ist, das über mich kommt, an dem ich aber keine Mitwirkung und daher persönlich keine Schuld habe. Dann lebe ich in der Anschauung des Ganzen, bin selber nur ohnmächtig erleidend oder ohnmächtig teilnehmend. Ich lebe nicht mehr aus mir selbst. Dafür einige Beispiele:

1. Die moralische Gesamtinterpretation der Geschichte läßt eine Gerechtigkeit im Ganzen erwarten: »alle Schuld rächt sich auf Erden«.

Ich weiß mich ausgeliefert einer Totalschuld, bei der mein eigenes Tun kaum noch eine Rolle spielt. Bin ich der Ver-lierende, so ist die metaphysische Ausweglosigkeit im Ganzen niederschlagend. Bin ich der Gewinnende, so habe ich zu meinem Erfolg auch noch das gute Gewissen des Besser-seins. Eine Tendenz, sich selber als einzelner nicht ernst zu nehmen, lähmt die sittlichen Antriebe. Der Stolz eines sich preisgebenden Schuldbekennens im einen Falle wird 99

ebenso wie der Stolz des moralischen Sieges im anderen Falle zum Ausweichen vor der eigentlich menschlichen Aufgabe, die im je einzelnen liegt.

Gegen diese Totalauffassung steht aber die Erfahrung.

Der Gang der Dinge ist gar nicht eindeutig. Die Sonne scheint über Gerechten und Ungerechten. Die Verteilung des Glückes und die Sittlichkeit der Handlungen scheinen keinen gegenseitigen Zusammenhang zu haben.

Es wäre aber ein entgegengesetztes falsches Totalurteil, umgekehrt zu sagen: es gibt keine Gerechtigkeit.

Wohl überkommt in manchen Situationen angesichts der Zustände und Handlungen eines Staates das untilgbare Gefühl: »das kann nicht gut enden«, »das muß sich rächen«. Aber sobald dies Gefühl über die begreifbaren Reaktionen der Menschen auf das Böse hinaus auf Gerechtigkeit vertraut, entsteht der Irrtum. Es ist keine Gewissheit. Das Gute und Wahre kommt nicht von selber. In den meisten Fällen bleibt die Wiedergutmachung aus. Verderben und Rache trifft Schuldige wie Unschuldige. Der reinste Wille, die rückhaltlose Wahrhaftigkeit, der größte Mut können, wenn die Situation es ver-wehrt, erfolglos bleiben. Und manchen Passiven fällt durch die Tat anderer die günstige Situation ohne Verdienst zu.

Das Bessermachen, die Sühne, die Schuld liegt zuletzt allein in der Persönlichkeit der einzelnen. Der Gedanke der Totalschuld und des Eingesponnenseins in einen Schuld-Sühne-Zusammenhang als Ganzem wird – trotz metaphysischer Wahrheit, die in ihm liegen mag – zur Verführung des Ausweichens für den einzelnen vor dem, was allein und ganz seine eigene Sache ist.

2. Die Totalanschauung, daß schließlich alles in der Welt ans Ende kommt, daß nichts unternommen wird, das nicht am Ende scheitert, daß in allem der Keim des Verderbens liegt, läßt den Mißerfolg mit jedem anderen Mißerfolg auf die eine gemeinsame Ebene des Scheiterns gleiten. So wird er seines Gewichts beraubt in einer Abstraktion.

3. Man gibt dem eigenen Unheil, das man als Folge der Schuld aller deutet, ein metaphysisches Gewicht durch die Auslegung zu einer neuen Einzigkeit: In der Katastrophe des Zeitalters ist Deutschland das stellvertretende Opfer.

Es leidet für alle. An ihm kommt die Schuld aller zum Ausbruch, und die Sühne für alle.

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Das ist durch Anwendung von Gedanken des Deutero-jesaias und des Christentums eine falsche Pathetik, die wiederum abzieht von der nüchternen Aufgabe, zu tun, was wirklich in der eigenen Kraft liegt, d. h. von der Aufgabe des Bessermachens im Faßlichen und von der inneren Verwandlung. Es ist das Entgleiten ins »Ästhetische«, das durch seine Unverbindlichkeit abzieht von der Verwirklichung aus dem Kern des Selbstseins des einzelnen. Es ist ein Mittel, sich auf neuem Wege ein falsches kollektives Selbstwert-gefühl zu verschaffen.

4. Eine Befreiung von der Schuld scheint es zu sein, wenn wir angesichts der ungeheuren Leiden, die über uns Deutsche gekommen sind, ausrufen: es ist abgebüßt.

Hier ist zu unterscheiden: Eine Strafe wird abgebüßt, eine politische Haftung wird durch Friedensvertrag begrenzt und damit zu einem Ende gebracht. In bezug auf diese beiden Punkte ist der Gedanke sinnvoll und richtig.

Aber moralische und metaphysische Schuld, die allein vom einzelnen in seiner Gemeinschaft als die seine begriffen wird, werden ihrem Wesen nach nicht abgebüßt. Sie hören nicht auf. Wer sie trägt, tritt in einen sein Leben währenden Prozeß ein.

Für uns Deutsche gilt hier die Alternative: Entweder wird das Übernehmen der Schuld, die die andere Welt nicht meint, die aber aus unserem Gewissen ständig wieder ausgesprochen wird, zu einem Grundzug unseres deutschen Selbstbewußtseins – und dann geht unsere Seele den Weg der Verwandlung; oder wir sinken ab in die Durchschnitt-lichkeit des gleichgültigen bloßen Lebens. Dann erwacht in unserer Mitte kein eigentliches Gottsuchen mehr; dann offenbart sich uns nicht mehr, was eigentlich Sein ist; dann hören wir nicht mehr den transzendenten Sinn unserer hohen Dichtung und Kunst und Musik und Philosophie; dann wird dies alles als Vergangenheit vielleicht zur Erinnerung anderer Völker, denen noch sprechend bliebe, was einst Deutsche hervorbrachten und was Deutsche waren, aber nicht mehr sind.

Ohne den Weg der Reinigung aus der Tiefe des Schuldbewußtseins ist keine Wahrheit für den Deutschen zu verwirklichen.

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§ 2. Der Weg der Reinigung Reinigung bedeutet im Handeln zunächst Wiedergutmachung.

Politisch heißt das, aus innerem Jasagen die Leistungen zu erfüllen, die in Rechtsform gebracht unter eigenen Ent-behrungen den von Hitlerdeutschland angegriffenen Völkern einen Teil des Zerstörten wiederherstellen.

Voraussetzung solchen Leistens ist außer der Rechtsform, die eine gerechte Verteilung der Last bringt, Leben, Arbeitsfähigkeit und Arbeitsmöglichkeit. Es ist unausweichlich, daß der politische Wiedergutmachungswille erlahmt, wenn politische Handlungen der Sieger diese Voraussetzungen zerstören. Denn dann wäre nicht Frieden mit dem Sinn der Wiedergutmachung, sondern fortgesetzter Krieg im Sinne einer weiteren Vernichtung.

Wiedergutmachung ist jedoch noch mehr. Wer von der Schuld, an der er Teil hat, innerlich ergriffen ist, will helfen jedem, dem Unrecht geschah durch die Willkür des recht-losen Regimes.

Es sind zwei verschiedene nicht zu verwechselnde Motivationen: Die Forderung zu helfen, wo Not ist, gleichgültig wodurch, einfach darum weil sie nahe ist und Hilfe verlangt – und zweitens die Forderung, den durch das Hitlerregime Deportierten, Beraubten, Geplünderten, Gequälten, den Emigrierten ein besonderes Recht zuzugestehen.

Beides ist voll berechtigt, aber in der Motivation liegt eine Verschiedenheit. Wo Schuld nicht gefühlt wird, geschieht sogleich eine Nivellierung aller Not auf gleiche Ebene. Eine Differenzierung der von Not Betroffenen ist notwendig, wo ich gut machen will, was ich mit verschuldet habe.

Dieser Weg der Reinigung durch Wiedergutmachen ist unausweichlich. Aber Reinigung ist viel mehr. Auch die Wiedergutmachung wird ernstlich nur gewollt, und sie erfüllt ihren ethischen Sinn nur als Folge unserer reinigenden Umschmelzung.

Klärung der Schuld ist zugleich Klärung unseres neuen Lebens und seiner Möglichkeiten. Aus ihr entspringt der Ernst und der Entschluß.

Wo das geschieht, da ist das Leben nicht mehr einfach da zu unbefangenem heiteren Genuß. Das Glück des Da-102

seins, wo es gewährt wird, in Zwischenaugenblicken, in Atempausen, mögen wir ergreifen, aber es erfüllt nicht das Dasein, sondern wird auf dem Hintergrunde der Schwer-mut hingenommen als liebenswürdiger Zauber. Das Leben ist wesentlich nur noch erlaubt im Verzehrtwerden durch eine Aufgabe.

Folge ist die Bescheidung. Im inneren Handeln vor der Transzendenz wird unsere menschliche Endlichkeit und Un-vollendbarkeit bewußt. Demut (humilitas) wird unser Wesen.

Dann können wir ohne Machtwillen im liebenden Kampfe die Erörterung des Wahren vollziehen und uns in ihm miteinander verbinden.

Dann können wir unaggressiv schweigen, – aus der Schlichtheit des Schweigens wird die Klarheit des Mitteil-baren hervorgehen.

Dann kommt es nur noch auf Wahrheit an und Tätigkeit.

Ohne List sind wir bereit, zu ertragen, was uns beschieden ist. Was auch geschieht, es bleibt, solange wir leben, die menschliche Aufgabe, die in der Welt unvollendbar ist.

Reinigung ist der Weg des Menschen als Menschen. Die Reinigung über die Entfaltung des Schuldgedankens ist darin nur ein Moment. Reinigung geschieht nicht zuerst durch äußere Handlungen, nicht durch ein äußerliches Ab-machen, nicht durch Magie. Reinigung ist vielmehr ein innerlicher Vorgang, der nie erledigt, sondern anhaltendes Selbstwerden ist. Reinigung ist Sache unserer Freiheit. Immer wieder steht ein jeder vor der Wegscheide in das Rein-werden oder in das Trübe.

Reinigung ist nicht dieselbe für alle. Jeder geht persönlich seinen Weg. Der ist von niemand anderem vorwegzu-nehmen und nicht zu zeigen. Die allgemeinen Gedanken können nur aufmerksam machen, vielleicht erwecken.

Fragen wir nun am Ende unserer Schulderörterungen, worin die Reinigung besteht, so ist über das Gesagte hinaus keine weitere konkrete Angabe zu machen. Wo etwas nicht als Zweck des verständigen Willens realisiert werden kann, sondern durch inneres Handeln als Verwandlung geschieht, da kann man nur die unbestimmten umgreifenden Wendungen wiederholen: Erhellung und Durchsichtigwerden im Aufschwung, – Liebe zum Menschen.

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Was die Schuld angeht, so ist ein Weg das Durchdenken der vorgetragenen Gedanken. Sie müssen nicht nur mit dem Verstände abstrakt gedacht, sondern anschaulich vollzogen werden; sie müssen vergegenwärtigt, angeeignet oder verworfen werden mit dem eigenen Wesen. Dieser Vollzug und was darausfolgt ist Reinigung. Diese ist nicht am Ende noch ein Neues, Hinzukommendes. –

Reinigung ist die Bedingung auch unserer politischen Freiheit. Denn erst aus dem Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne die die Freiheit nicht möglich ist.

Politische Freiheit beginnt damit, daß in der Mehrheit des Volkes der einzelne sich für die Politik seines Gemein-wesens mit haftbar fühlt, – daß er nicht nur begehrt und schilt, – daß er vielmehr von sich verlangt, Realität zu sehen und nicht zu handeln aus dem in der Politik falsch angebrachten Glauben an ein irdisches Paradies, das nur aus bösem Willen und Dummheit der anderen nicht verwirklicht wurde, – daß er vielmehr weiß: Politik sucht in der konkreten Welt den je gangbaren Weg, geführt von dem Ideal des Menschseins als Freiheit.

Kurz: Ohne Reinigung der Seele keine politische Freiheit. –

Wie weit wir mit der inneren Reinigung auf dem Grunde des Schuldbewußtseins gekommen sind, erfahren wir an unserem Verhalten zu Angriffen.

Ohne Schuldbewußtsein bleibt unsere Reaktion auf jeden Angriff der Gegenangriff. Wenn aber die innere Erschütterung uns ergriffen hat, dann streift der äußere Angriff nur noch oberflächlich über uns hin. Er mag noch schmerzen und kränken, aber er dringt nicht ins Innere der Seele.

Wo das Schuldbewußtsein angeeignet ist, da ertragen wir falsche und ungerechte Beschuldigungen mit Ruhe.

Denn Stolz und Trotz sind eingeschmolzen.

Wer wahrhaft Schuld fühlt, so daß sein Seinsbewußtsein in Verwandlung ist, auf den wirken Vorwürfe seitens anderer Menschen wie ein Kinderspiel, das in seiner Harm-losigkeit nicht mehr trifft, wo das wirkliche Schuldbewußtsein untilgbarer Stachel ist und das Selbstbewußtsein in eine neue Gestalt gezwungen hat. Hört man solche Vor-104

würfe, so fühlt man vielmehr mit Sorge, wie unbetroffen und ahnungslos der andere ist. Ist eine Atmosphäre des Vertrauens da, so erinnert man an die Schuldmöglichkeit in jedem Menschen. Aber man kann darüber nicht mehr zornig werden.

Ohne Durchheilung und Verwandlung unserer Seele würde sich die Empfindlichkeit in wehrloser Ohnmacht nur steigern. Das Gift psychologischer Umsetzungen würde uns innerlich verderben. Wir müssen bereit sein, uns Vorwürfe gefallen zu lassen, sie prüfen, nachdem wir sie gehört haben.

Wir müssen die Angriffe auf uns eher suchen als meiden, weil sie für uns eine Kontrolle des eigenen Denkens sind.

Unsere innere Haltung wird sich bewähren.

Die Reinigung macht uns frei. Der Gang der Dinge liegt in keines Menschen Hand beschlossen, wenn der Mensch auch unberechenbar weit kommen kann in der Führung seines Daseins. Weil die Ungewißheit bleibt und die Möglichkeit neuen und größeren Unheils, weil aus der Verwandlung im Schuldbewußtsein keineswegs eine Belohnung mit neuem Glück des Daseins die natürliche Folge ist, darum können wir nur durch die Reinigung frei werden zur Bereitschaft für das, was kommt.

Die reine Seele kann wahrhaftig in der Spannung leben, angesichts des völligen Untergangs unermüdlich in der Welt tätig zu sein für das Mögliche.

Wenn wir auf die Weltereignisse blicken, tun wir gut, an Jeremias zu denken. Als er nach der Zerstörung Jerusa-lems, nach dem Verlust von Staat und Land, nach seiner zwangsweisen Mitführung durch die letzten nach Ägypten auswandernden Juden dann noch erleben mußte, wie diese der Isis opferten in der Hoffnung, diese würde ihnen mehr helfen als Jahwe, da verzweifelte sein Jünger Baruch. Und Jeremias antwortete: »So spricht Jahwe: Fürwahr, was ich aufgebaut habe, reiße ich nieder, und was ich eingepflanzt habe, reiße ich aus, und da verlangst du für dich Großes?

Verlange nicht!« Was heißt das? Daß Gott ist, ist genug.

Wenn alles verschwindet, Gott ist, das ist der einzige feste Punkt.

Aber was vor dem Tode, im Äußersten wahr ist, das wird zur schlimmen Verführung, wenn der Mensch in Müdigkeit, Ungeduld, Verzweiflung sich vorzeitig hineinstürzt. Denn 105

wahr ist jene Haltung an der Grenze nur, wenn sie getragen ist von der unbeirrbaren Besonnenheit, jederzeit das noch Mögliche zu ergreifen, so lange das Leben währt. Demut und Maßhalten ist unser Teil.

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Die Schuldfrage

Vorwort

Inhaltsübersicht

Einleitung zu einer Vorlesung über die geistige Situation in Deutschland

§ 1. Miteinanderreden

§ 2. Die großen Verschiedenheiten zwischen uns

§ 3. Plan der folgenden Erörterungen

Die Schuldfrage

Einleitung

A. Schematik der Unterscheidungen

§ 1. Vier Schuldbegriffe

§ 2. Folgen der Schuld

§ 3. Gewalt · Recht · Gnade

§ 4. Wer urteilt und wer oder was wird beurteilt?

§ 5. Verteidigung

B. Die deutschen Fragen

I. Die Differenzierung deutscher Schuld

§ 1. Die Verbrechen

§ 2. Die politische Schuld

§ 3. Die moralische Schuld

§ 4. Die metaphysische Schuld

§ 5. Zusammenfassung

II. Möglichkeiten der Entschuldigung

§ 1. Der Terrorismus

§ 2. Schuld und historischer Zusammenhang

§ 3. Die Schuld der anderen

§ 4. Aller Schuld

III. Unsere Reinigung

§ 1. Ausweichen vor der Reinigung

§ 2. Der Weg der Reinigung

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