22

Ich rief: »Hurtha! Nein!« Aber es war bereits zu spät. Der Mann hatte einen Hieb mit dem Axtgriff in den Nacken abbekommen. Doch obwohl er bewußtlos war, fiel er nicht einfach zu Boden, da sich am Ende des zum Zentralzylinder führenden Samtseils so viele Menschen drängten und um einen Platz kämpften.

»Hier ist das Band«, verkündete Hurtha fröhlich und hielt es außerhalb der Reichweite vieler zugreifender Hände. »Binde dich damit am Seil fest.«

»Der Mann hat möglicherweise seit gestern in der Schlange gewartet«, gab ich zu bedenken.

»Schon möglich«, meinte Hurtha und hielt mir das Band hin. Ich nahm es, wickelte es mir um Schulter und Taille und band es an dem Samtseil fest. Ein kräftig ausgeführter Ellbogenstoß Hurthas entmutigte einen Burschen, nach dem Band zu greifen. Ich weiß nicht, wovon er getroffen zu sein glaubte. Zwei andere Männer wichen zurück. Ich winkte ihnen zu. »Weitergehen!« befahl ein Taurentianer. Wir rückten auf.

»Alle Bänder sind weg!« stöhnte ein Mann.

»Weg!« schluchzte eine Frau.

Ein Mann trat von der Seite auf mich zu. »Bist du Bürger von Ar?« fragte er hochmütig.

»Warum?« fragte ich mißtrauisch.

»Am Tag der Großzügigkeit und der Bittsteller ist es allein Bürgern von Ar erlaubt, vor den Regenten zu treten«, erklärte er. »Der Feiertag ist nur für die Bürger gedacht. Glaubst du, wir wollen, das Schurken aus einem Umkreis von Tausenden von Pasang herbeiströmen und uns die Plätze stehlen?«

»Wohl kaum«, entgegnete ich.

»Ich glaube nicht, daß du aus Ar kommst!« sagte er. »Gib mir dein Band!«

»Ich möchte es aber behalten.«

»Wache!« rief er. »Wache!« Er verstummte blitzartig, als er im Nacken gepackt und hochgestemmt wurde.

»Weiß du, wie die Alar eine Zunge herausschneiden?« fragte Hurtha.

»Nein!« stieß der Bürger ächzend hervor.

»Das macht man mit einer Axt – von hinten durch den Nacken.«

»Das wußte ich nicht«, flüsterte er, während er in der Luft baumelte.

»Und zwar mit einer solchen Axt«, erklärte Hurtha und hielt dem Mann die breite Klinge vors Gesicht. »Hast du verstanden?«

»Das habe ich, das habe ich!«

»Du wolltest mit einem Wächter sprechen?« fragte der Alar. »Da hinten steht einer.«

»Warum sollte ich das tun?« krächzte der Mann.

»Ich weiß es nicht«, sagte Hurtha.

»Ich auch nicht!«

Hurtha ließ den Mann zu Boden fallen; der eilte davon.

»Das könnte zum Problem werden«, meinte ich zu Hurtha. »Ich bin kein Bürger Ars.«

»Woher sollen sie das wissen?« fragte er. »Mußt du den Heimstein in deiner Gürteltasche mit dir herumtragen?«

»Es könnte schwierig werden.«

»Du kannst immer noch nach den genauen Regeln fragen, nachdem du dem Regenten begegnet bist.«

»Das stimmt«, mußte ich ihm zugestehen.

»Was sollen sie dir schon antun?«

»Da gäbe es einiges.«

»Selbst in siedendes Öl können sie dich nur einmal werfen«, tröstete mich Hurtha.

»Auch wieder wahr«, erwiderte ich. Doch ein unbehagliches Gefühl blieb.

»Die einzige Schmach, die du ernsthaft fürchten mußt, ist der Verlust deiner Ehre!«

»Vermutlich hast du recht«, sagte ich. »Trotzdem würde ich es gern vermeiden, in siedendem Öl gekocht zu werden.«

»Das verstehe ich«, sagte Hurtha. »Es wäre außerordentlich schmerzhaft.«

»Hör auf zu drängeln!« ermahnte ich den Mann hinter mir.

»Du könntest singen«, schlug Hurtha vor.

»Was?«

»Das hat den Legenden der Alar zufolge Häuptling Hendix getan, als seine Feinde ihn gefangennahmen und in Öl warfen. Er hat sie angebrüllt, sie ausgelacht und sie dabei die ganze Zeit über beleidigt. Und während er dann kochte, hat er fröhliche Lieder der Alar gesungen. Auf diese Weise hat er seinen Feinden seine Verachtung gezeigt.«

»Vermutlich hat er gegen Ende den Ton nicht mehr richtig gehalten«, meinte ich.

»Das kann schon sein«, erwiderte Hurtha. »Ich war nicht dabei.«

»Ich grüße dich«, sagte ein Mann und trat auf mich zu. Es war der Bürger, den ich auf dem Teibarmarkt kennengelernt hatte.

»Hast du eine Unterkunft gefunden?« erkundigte er sich.

»Ja, vielen Dank«, sagte ich. »Im Insula von Achiates.«

»Ein großartiger Mensch, wenn er auch etwas von einem habgierigen Schurken hat.«

»Entschuldige, Bürger«, bat ich.

»Ja?«

»Komm doch bitte näher heran.«

Er tat mir den Gefallen. »Ja, und?«

»Stimmt es, daß heute nur Bürger der Stadt vor den Regenten treten dürfen?«

»Da brauchst du keine Angst zu haben«, erwiderte er. »Auch wenn du aus Torcodino gekommen bist, stammst du doch offensichtlich aus Ar.«

»Und wenn nicht?«

»Kommst du denn nicht aus Ar?« fragte er, neugierig geworden.

Ich dachte rasend schnell nach, auf der Suche nach der richtigen Antwort.

»Nun, jetzt, da ich darüber nachdenke, muß ich sagen, daß dein Akzent nicht sonderlich überzeugend klingt. Vielleicht bist du der Stadt lange Zeit ferngeblieben.« Die Bewohner Ars haben gewöhnlich einen weichen, flüssigen Akzent. Ich halte ihn für einen der schönsten Akzente von ganz Gor.

»Was ist, sollte ich zufällig doch nicht aus Ar stammen?« fragte ich und blickte mich um. Der nächste Wächter stand nicht weit entfernt. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, sich des Bandes zu entledigen und in der nächsten Seitenstraße zu verschwinden, nach Möglichkeit ohne Kampf.

»Deine Frage ist sicher rein akademisch, oder?« fragte der Mann.

Ich griff nach dem Band.

»Nein«, lachte er und streckte die Hand aus. »Bleib stehen. Ich weiß, daß du kein Bürger bist, das konnte ich deutlich an deiner Sprache hören. Ich wollte dich nur aufziehen.« Vermutlich hätte er seinen Humor weitaus weniger witzig gefunden, hätte er gesehen, daß Hurtha mit seiner Axt hinter ihm stand. Der Alar senkte die Waffe. »Heute können alle zum Regenten, ob sie in Ar wohnen oder nicht. Sie müssen nur einen Platz am Seil bekommen. Das gehört alles zur Bedeutung des Tages; er soll die Großzügigkeit Ars zum Ausdruck bringen.«

»Eben hat mir ein Kerl gesagt, daß nur Bürger Zugang zum Seil hätten.«

Der Bürger lächelte. »Nein, das stimmt nicht. Er wollte nur deinen Platz einnehmen.«

»Ist das wahr?« fragte ich meinen Hintermann.

»Das will ich doch hoffen«, erwiderte er. »Ich komme aus Venna.«

»Es stimmt«, sagte der Mann hinter ihm.

»Weitergehen!« befahl der Taurentianer. Sein Blick fiel auf Hurtha. »Du da! Verschwinde vom Seil.«

Diejenigen, die leer ausgegangen waren, mußten sich zurückziehen. Plötzlich drängelte sich hinter mir ein Mann ans Seil. Er besaß ein Band.

»Woher kommst du denn?« fragte der Mann aus Venna. »Die Bänder waren doch alle weg.«

»Ein paar Stück bleiben immer bis zuletzt übrig«, erwiderte der Neuankömmling.

»Und wie sieht es am Seilende aus?«

»Blutig. Aber die Wächter sorgen schon für Ruhe.«

Ich fragte: »Wie bist du an das Band gekommen?« Ich hatte meines von Hurtha bekommen, und der hatte es sozusagen als Spende von einem Mann erhalten, der zur Zeit nicht dazu in der Lage war, es zu benutzen. Ich fragte mich, ob der Regent wußte, welches Getümmel die Ausgabe der Bänder auslöste. Sicher, alle jene, die früh genug dagewesen waren, hatten sie sich vermutlich auf anständige Weise verschafft. Es war unser dritter Tag in Ar, und Hurtha hatte wie immer nicht aufstehen wollen. Gestern hatten wir viel Zeit damit verbracht, uns die Stadt anzusehen. Wo Boabissia steckte, wußte ich nicht. Sie war irgendwo in der Stadt unterwegs.

»Die Wächter haben ein paar Stück zurückbehalten«, erklärte der Mann. »Ich habe einen Silbertarsk bezahlt.«

»Ich verstehe.«

»Weitergehen!« befahl ein Taurentianer.

»Heil, Gnieus Lelius!« rief ein Mann aus. Der Thron auf dem Podest war in Sicht gekommen. Der Regent trug nicht den Purpurmantel des Ubars, sondern einen braunen Umhang von der Art, wie sie Verwaltungsbeamte, Staatsmänner und Diener des Volkes oft trugen. Ich fragte mich, ob er von dem Geschäft mit den Bändern wußte. Vermutlich gab es auch Bürger, die sie weiterverkauften, nachdem sie sie bei der öffentlichen Ausgabe erhalten hatten.

»Weitergehen!« befahl ein Taurentianer.

Ich griff nach Dietrich von Tarnburgs Briefen. Meine Hand war schweißfeucht.

Der Bittsteller, der gerade an der Reihe war, erhielt zehn Goldstücke. Das war eine beträchtliche Summe. Aus der Menge ertönten begeisterte Rufe. »Heil, Gnieus Lelius! Heil!« Soweit ich mitbekommen hatten, bekamen die meisten Audienzbesucher jedoch höchstens ein freundliches Wort vom Regenten oder die mit gebührendem Ernst vorgetragene Versicherung, daß man ihr Gesuch sorgfältig prüfen werde. Um der Gerechtigkeit willen muß jedoch erwähnt werden, daß einige vom Regenten eine Handvoll Kupfermünzen erhielten. Er griff lächelnd in die bis zum Überquellen gefüllte Münzkrüge und ließ das Geld in die ausgestreckten Hände der dankbaren Empfänger regnen. Er war von Taurentianern und einigen Schriftgelehrten umgeben. Notizen und Namen wurden niedergeschrieben. Zweifellos eine Aufstellung der Gesuche und Beschwerden, die vorgebracht wurden. Es waren recht wenige Leibwächter vertreten. Ein deutliches Zeichen für die Beliebtheit des Regenten.

»Ja, Bürger?« fragte der Regent. Ich sah auf. Er war ein stattlicher Mann, hochgewachsen und hager. Er vermittelte einen gerechten, freundlichen Eindruck. Allem Anschein nach war er ein gewissenhafter, hingebungsvoller Diener des Volkes, vielleicht sogar ein bedeutender Staatsmann. Einst war er Angehöriger des Hohen Rates von Ar gewesen. Jetzt war er zum Regenten aufgestiegen.

»Bürger?« fragte er. Seine Stimme klang nicht scharf, sondern freundlich. Er war nicht ungeduldig. Ich nahm an, für einen normalen Bürger, der sich plötzlich in der Gegenwart eines so großen Mannes wiederfand, war es nicht ungewöhnlich, daß es ihm die Sprache verschlug.

Ich griff in mein Gewand und zog die Briefe hervor.

»Er reicht ein Gesuch ein«, sagte einer der Schreiber. »Gib sie mir.«

Ich zog die Briefe zurück. »Diese Papiere sind für dich, Exzellenz. Ich werde sie nur dir aushändigen. Ich bin kein Bürger. Ich komme von weither.«

Ich drehte die Briefe um. Das Siegel des Silbertarns wurde sichtbar. Ein paar der Schriftgelehrten reagierten. Sie hatten das Siegel erkannt. Ich drehte die Briefe wieder um. Ein weiterer Schriftgelehrter kam auf mich zu. Er machte einen entschlossenen, gefährlichen Eindruck. Mir kam der Verdacht, daß einige der Schriftgelehrten verkleidete Wächter waren.

»Ich danke dir«, sagte der Regent freundlich. Er nahm die Briefe, wobei er darauf achtete, daß das Siegel nicht zu sehen war.

»Wer bist du?« fragte er. »Und wo wohnst du?« Seine Stimme klang genauso wie bei den anderen Bittstellern, doch ich war davon überzeugt, daß auch er die Siegel bemerkt hatte.

»Ich bin Tarl aus Port Kar, und ich wohne in Ludmillas Freudenhausgasse im Insula von Achiates.« Sofort traten Federn in Aktion.

»Schreib auf, daß wir Gesuche von Tarl aus Port Kar, der im Haus von Achiates wohnt, bekommen haben, die wir sorgfältig überprüfen werden.« Das war also erledigt.

»Ich bin dankbar, daß du sorgfältig über den Inhalt dieser Gesuche nachdenken willst. Ich versichere dir, daß ich diese Angelegenheit sehr ernst nehme, und ich kann mich dafür, was meines Wissens nach Inhalt der Gesuche ist, mit Nachdruck verbürgen.«

»Ich verstehe«, sagte er.

Ich verbeugte mich vor ihm. »Exzellenz.« Er neigte den Kopf und erwiderte meinen Gruß. Ich entfernte das Band. Mein Auftrag war erfüllt. Ich hatte die Briefe überbracht. Dietrich von Tarnburg und Ar war damit gedient. Mehr konnte ich nicht tun.

Der Regent winkte mich näher zu sich heran. »Danke«, sagte er leise. »Ich habe lange auf diese Botschaft gewartet.«

»Es war nicht der Rede wert.«

»Warte!« bat er.

Ich drehte mich noch einmal um. Er ließ Kupfertarsk in meine aufgehaltenen Hände regnen.

»Vielen Dank, Exzellenz«, sagte ich dankbar, als wäre ich nur ein weiterer Bittsteller.

»Heil, Gnieus Lelius! Heil, Gnieus Lelius!« feierte die Menge die Großzügigkeit des Regenten.

Ich drehte mich um und ging davon.

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