ERSTES KAPITEL Die Sahara-Expedition

Die Zeit verging. Am 12. September 1819 starb Blücher, von ganz Deutschland, am allermeisten aber von unseren Bekannten, tief und innig betrauert.

Kurze Zeit später beglückte Margot ihren Gatten mit einem Söhnchen, welcher zu Ehren Blüchers Gebhard genannt wurde. Er wuchs heran, ein vielversprechendes Ebenbild seines Vaters und seiner Mutter. Er war nur kurze Zeit dem Knabenalter entwachsen, so kam die Nachricht, daß die Baronin de Sainte-Marie gestorben sei und ihm, da sie keine anderen Verwandten besitze, den Meierhof Jeannette vermacht habe. Das war eine traurige und zugleich erfreuliche Überraschung.

Natürlich war es Hugos Wunsch, daß sein Sohn Offizier werde. Gebhard hatte nicht nur die Lust, sondern auch die nötige Begabung dazu, und so kam es, daß er sich unter den Militärschülern bald auszeichnete. Ein einziger war es, der mit ihm gleichen Schritt hielt, namens Kunz von Goldberg. Beide schlossen sich aneinander an und unterstützten sich in ihren Bestrebungen.

Die Jugend träumt gern von der Ferne. Auch die beiden jungen Freunde träumten diesen Traum. Er sollte ihnen erfüllt werden. Sie hatten ihr Examen bestanden und ihr Offizierspatent in der Tasche. Nach verhältnismäßig kurzem Dienst wurde Goldberg der Pariser Gesandtschaft attachiert. Er trat somit in das Leben hinaus, wo ihm leichter Gelegenheit geboten war, sich auszuzeichnen.

Vielleicht erinnert sich der Leser noch des Namens Kunz von Goldberg. Er war später General, und seinen Namen nebst seinem Bild fand nach Jahren die schöne Nanon in dem Innern des Löwenzahns, welchen Fritz Schneeberg, das Findelkind, an einer goldenen Kette an seinem Hals trug.

Wohl über ein Jahr hatte Kunz von Goldberg sich in Paris befunden, als sich auch für Gebhard von Königsau Gelegenheit fand, seiner Wanderlust und seinem Wissensdurst Genüge zu leisten.

Es wurde nämlich eine Expedition durch die Sahara nach Timbuktu ausgerüstet, und man sah sich dabei nach einem jungen, mutigen und zugleich auch in Beziehung auf Wissenschaften nicht ungebildeten Militär um, welcher geeignet sei, die Expedition zu begleiten. Die Wahl fiel auf Gebhard, und dieser willigte mit großer Freude ein, obgleich es seinen Eltern schwere Überwindung kostete, ihr einziges Kind so großen Gefahren entgegengehen zu lassen. Die Sahara war damals dem Wanderer noch weit gefährlicher als jetzt, da sie zu einem bedeutenden Teil erschlossen ist.

Es gab da vieles anzuschaffen, Karten, Instrumente und viele andere Dinge, welche in bester Qualität nur in Paris zu haben waren. Daher wurde diese Stadt zum Sammelpunkt der verschiedenen Mitglieder der Expedition bestimmt.

Gebhard reiste ab, nachdem er den zärtlichsten Abschied von den Seinen genommen hatte. In Paris angekommen, war es sein erstes, seinen Freund Kunz von Goldberg aufzusuchen, von welchem er mit Freude empfangen wurde. Er hatte noch keine Ahnung, zu welchem Zweck Gebhard nach Paris gekommen sei, da dieser ihm nicht geschrieben hatte, um ihn zu überraschen.

„Du in Paris?“ fragte Kunz. „Wohl eine Erholungsreise?“

„Als Umweg nach der Sahara.“

„Nach der Sahara?“ fragte Kunz erstaunt. „Du willst doch nicht sagen, daß du die Absicht hast, nach der Wüste zu gehen!“

„Nicht nur nach der Wüste, sondern quer durch dieselbe.“

„So bitte ich dich dringend, mir das Rätsel zu erklären!“

„Meine Erklärung ist ganz einfach die, daß ich das Glück habe, Mitglied einer Expedition zu sein, welche nach Timbuktu gehen soll.“

„Nach Timbuktu? Das klingt ja wie ein Märchen!“

„Es kommt mir selbst so vor.“

„Aber sage doch, wie kommst du dazu? Wer alles ist Mitglied dieser Expedition, und welche Zwecke soll dieselbe in Timbuktu verfolgen?“

Nachdem er den erbetenen Aufschluß bekommen hatte, umarmte er den Freund vor Freude und sagte:

„Ich gratuliere dir, lieber Gebhard. Du glaubst nicht, wie glücklich ich bin, zu hören, daß wenigstens dir unser Lieblingswunsch in Erfüllung geht. Du lernst die Sahara kennen.“

„Ich danke!“ antwortete Gebhard in scherzender Ironie. „Ich lerne die Sahara kennen; ich wate im tiefsten Sand, während du in den feinen Salons deine Studien machst. Du bereicherst dich mit Kenntnissen, während ich von der Sonne ausgebraten werde. Wenn ich dann später zurückkehre, bist du Major oder Oberst, ich aber – ein Mohr.“

„Meinetwegen!“ meinte Kunz lustig. „Ich wollte doch, ich könnte mit dir tauschen. Welche Aussicht auf Abenteuer eröffnet sich dir! Du wirst dich mit den wilden Berbern, Arabern und Tuaregs herumschlagen. Du wirst Hyänen, Schakale und Löwen töten – Löwen, sacré, Löwen, da fällt mir Hedwig ein.“

„Hedwig?“ fragte Gebhard. „Hyänen, Schakale, Löwen und Hedwig? Soll das eine Steigerung der Wildheit bedeuten?“

„Hm! Beinahe! Hedwig ist nicht sehr zahm.“

„Ah!“ lachte Gebhard. „So ist diese Hedwig wohl eine ungezähmte Tigerin, welche ihre Wohnung im zoologischen Garten hat?“

Kunz schüttelte geheimnisvoll den Kopf und antwortete:

„Nein. Hedwig ist ein wunderschönes, allerliebstes Kreatürchen, welches allerdings einen gewissen, höchst bezaubernden Grad von Unbezähmbarkeit besitzt, aber nicht in einem Tigerkäfig, sondern in einem der Paläste der Rue de Grenelle wohnt.“

„Ah! Also kein Raubtier, sondern genus homo?“

„Ja.“

„Jung und schön?“

„Schön zum Verrücktwerden.“

„Reich?“

„Bedeutende Erbschaft zu erwarten.“

„Wohl reicher Onkel?“

„Nein, sondern steinreiche Tante.“

„Alle Teufel! Nimm du die Hedwig, und laß mir die Tante!“

„Mit größtem Vergnügen! Besser für dich aber wäre es, wenn du nach der Schwester trachtetest. Da teilten wir die Erbschaft.“

„Sapperlot! Diese Hedwig hat eine Schwester. Auch nicht übel, besonders wegen der Erbschaft. Darf ich um eine möglichst genaue Beschreibung dieser Schwester bitten?“

„Dir stehe ich sehr gern zur Verfügung, einem andern aber nicht.“

„Welch eine Auszeichnung! Nimm meinen Dank! Also beginnen wir mit der Beschreibung: Alter?“

„Siebzehn.“

„Also ein Jahr jünger als Hedwig. Haar?“

„Mittelblond.“

„Schön, meine Lieblingsfarbe. Augen?“

„Hellgrau, mild leuchtend wie Sterne.“

„Komet oder Planetoid?“

„So sanft und mild, wie du nur willst.“

„Du zeichnest ganz mein Ideal! Gestalt?“

„Schlank, aber voll, trotz ihrer Jugend.“

„Stimme?“

„Wie ein silbernes Glöckchen.“

„Hm! Sehr nach Goldarbeiter klingend! Hat sie einen, so einen wie die Hedwig bereits hat?“

„Dich, mein Sohn!“

„Alle Teufel, wenn sie mich doch hätte! Da aber liegt der Hase im Pfeffer.“

„Wohl schwerlich! Ich denke vielmehr, sie hat dich, du aber nicht sie.“

„Magst recht haben! Also, ob sie so einen hat?“

„Noch nicht.“

„Höchst günstig! Der Name?“

„Ida.“

„Klingt nicht ganz unschön. Eltern?“

„Keine.“

„Ah! Also fertig zum Heiraten?“

„Leider nicht. Der alte Zerberus liegt vor der Tür.“

„Besteht dieser Zerberus, zu deutsch Höllenhund, etwa in der alten, reichen Tante, so machen wir es wie Herkules: wir besiegen diesen Hund.“

„Mit dem Knittel oder mit Liebenswürdigkeit; je nachdem.“

„Da hilft weder Waffe noch Gesellschaftskunst. Ich liebe unglücklich.“

Kunz seufzte komisch.

„Man sieht es dir an“, meinte Gebhard. „Das Unglück hängt um dich herum wie die Mönchskutte um den Bajazzo. Vielleicht bin ich glücklicher.“

„Will es dir von Herzen wünschen.“

„So tue deine Pflicht. Führe mich nach der Rue de Grenelle zu dem Zerberus.“

„Ich befürchte sehr, daß er bellt, heult und beißt!“

„Schrecklich! Aber ich fürchte mich dennoch nicht. Ich heiße Leberecht; mein Pate war ein gewisser Blücher, und mein Wahlspruch heißt: Vorwärts. Doch du sprichst von Bellen, Heulen und Beißen. In welche Unterabteilung des menschlichen Geschlechts gehört denn da die alte, reiche Tante?“

„Sie ist die Gräfin de Rallion.“

„Wie kamst du zu ihr?“

„Wurde ihr von unserem Sekretär vorgestellt.“

„Sie ist also nicht umgänglich?“

„Ausgezeichnete Deutschenhasserin. Sie liebt überhaupt keinen Menschen.“

„Aber du liebst ihre Nichte Hedwig.“

„Leider! Mit Hindernissen!“

„Welche sind das? Die Alte?“

„Erstens diese, zweitens die Hedwig selbst und drittens so ein verteufelter Cousin, der mir immer im Weg herumläuft, Graf Jules de Rallion.“

„Gib ihm einen Hieb, daß er aus dem Weg fliegt.“

„Bei nächster Gelegenheit ganz sicher.“

„Bevorzugt ihn denn der Drache?“

„Nicht im mindesten. Der Drache hat überhaupt nicht die geringste Lust, einen Menschen zu bevorzugen.“

„Hm! Scherz beiseite! Du machst mir wirklich Lust, die Familie kennenzulernen. Ich bitte dich, mich einzuführen.“

„Wie lange bleibst du hier?“

„Nicht viel länger als zwei Wochen.“

„Gut, so bist du mir nicht sehr gefährlich. Ich werde dich einführen.“

„Oho! Ich dir gefährlich? Wo denkst du hin.“

„Pah! Du bist größer, stärker, überhaupt hübscher als ich.“

„Aber ich bin dein Freund! Hedwig hat nichts zu befürchten. Übrigens bete ich ausgelassene Naturen, wie sie eine zu sein scheint, nicht sonderlich an.“

„Sie ist ausgelassen. Ida ist mild und sanft. Ich bin überzeugt, daß du ihr gut werden würdest, wenn du länger hierbleiben könntest.“

„Zwei Wochen genügen“, lachte Gebhard. „Ich kam, sah und ward besiegt. Aber sage einmal, hat denn die Tante nicht eine schwache Seite, irgendeine Eigenschaft, bei welcher sie zu fassen wäre?“

„Eigenheit? Donner und Wetter. Davon bin ich ganz abgekommen. Davon wollte ich ja sprechen, als ich vorhin sagte, daß mir Hedwig eingefallen sei. Freilich hat die Alte eine schwache Seite, und Hedwig ebenso.“

„Welche Schwäche wäre das?“

„Eine ganz und gar eigentümliche, wie man sie bei Damen wohl selten finden wird. Hast du von Gérard gehört?“

„Gérard? Welcher Gérard? Der General?“

„Nein, der Löwentöter.“

„Der berühmte Saharajäger? Natürlich! Was ist mit ihm?“

„Tante und Hedwig schwärmen für ihn.“

„Das ist sonderbar, aber nicht gerade unweiblich.“

„Mir aber desto unangenehmer, dach ich leider kein Löwenjäger bin.“

„Ah! Die Kleine will nur einen Löwenjäger heiraten. So spricht sie, vielleicht nur um dich zu ärgern, und in diesem Fall könntest du dir Glück wünschen! Denn ein Mädchen, welches es partout darauf anlegt, einen Herrn, der ihm nichts getan hat und es im Gegenteil auszeichnet, zu ärgern, ist sicherlich in ihn verliebt.“

„Meinst du wirklich?“

„Ich bin überzeugt davon.“

„Herrgott, hast du Erfahrungen.“

„Massenhaft!“ lachte Gebhard unter einer Miene komischen Stolzes.

„Das ist aber keine große Ehre für dich. Ich habe dich bisher stets für einen unverdorbenen Jüngling gehalten!“

„Das bin ich auch, lieber Kunz. Es hat sich nämlich noch keine die Mühe gegeben, mich zu verderben. Wie aber kommt es, daß die Damen so begeistert für diesen Löwenjäger sind?“

„Das hat zwei Gründe anstatt nur einen.“

„Laß sie hören! Der erste?“

„Die Tante liest außerordentlich viel, fast den ganzen Tag, Reisebeschreibungen. Hedwig liest sehr schön und muß ihr also vorlesen. Daher kommt es, daß beide eine besondere Vorliebe für Abenteuer haben und für diejenigen Personen, welche solche bestehen. Gérard ist jetzt in aller Munde. Was Wunder also, wenn auch diese beiden für ihn schwärmen!“

„Das ist ein Grund. Und der zweite?“

„Der liegt nur in der Tante. Sie hat nämlich Gérard gesehen. Sie hat ihn sogar einmal eingeladen und hat seinetwegen eine Soiree gegeben, was bei ihrem Geiz ein fürchterliches Opfer gewesen ist. Dabei aber hat sie eine ganz besondere Ähnlichkeit herausgefunden zwischen Gérard und – hm, ich weiß nicht, ob ich das sagen darf. Ich werde indiskret.“

„Pah! Wir sind Freunde!“

„Allerdings. Also sie hat gefunden, daß Gérard eine bedeutende Ähnlichkeit besitzt mit einem ihrer früheren Anbeter, den sie begünstigt haben muß.“

„So, so! Das hat sie dir noch nicht gesagt? Woher weißt du es also?“

„Mein Sohn, ich bin Diplomat!“

„Ich denke, einstweilen noch Lieutenant!“

„Aber dem diplomatischen Korps einstweilen beigezählt, also doch Diplomat.“

„Schön! Meine Hochachtung, lieber Papa.“

„Als Diplomat aber lernt man intrigieren, kombinieren, spionieren und manches heraustüfteln und schließen, was anderen verborgen bleibt.“

„Du bist, bei Zeus, ein Kerl, von dem die Welt einst reden wird. So hast du also den früheren, begünstigten Liebhaber der Alten auch herausgetüftelt?“

„Ja, mit unvergleichlichem Scharfsinn.“

„Auf welche Weise?“

„Ich war einst in ihrem Boudoir –“

„Donner! Nicht als früherer, sondern als gegenwärtiger Liebhaber?“

„Als keines von beiden, sondern einfach als Vorleser. Eine Mappe, welche sie mir zeigte, enthielt nur Bilder von Anverwandten. Ein einziges Aquarell war das Porträt eines Nichtverwandten. Sie betrachtete es mit einem so ganz besonderen Blick, so liebevoll, sie konnte es fast gar nicht aus der Hand bringen, und es war auch wirklich ein schöner Kopf.“

„Ah, da begann nun dein berühmtes Tüfteln.“

„Natürlich! Ich fragte sofort, wessen Bild das sei.“

„Neugierde, holder Jüngling.“

„Das ist wahr. Sie wurde aber befriedigt. Ich erfuhr, daß das Original der Bankier ihres seligen Mannes gewesen sei. Da aber mochte sie doch ahnen, daß sie sich verraten habe, denn sie setzte schnell hinzu, daß das Aquarell sich nur deshalb in der Mappe befinde, weil es von Meisterhand gefertigt sei.“

„Das war so halb und halb herausgebissen.“

„Aber doch nicht ganz. Ich wußte nun, woran ich war.“

„Schlaukopf. Den Namen des Bankiers hast du nicht erfahren?“

„Von der Alten nicht. Die hätte sich gehütet, ihn mir zu sagen. Ich wendete mich vielmehr an die Nichte, nämlich an Ida.“

„Ah, an die Sanfte, Freundliche, Zarte.“

„Ja, an die Unbefangene. Sie wußte den Namen und gab mir Auskunft. Es war ein Pariser Bankier, der sich einst sehr gut gestanden hatte, später aber durch die Verführung eines Barons de Reillac herunterkam, so daß er elend zugrunde ging.“

„Reillac?“ fragte Gebhard schnell. „Wie hieß der Bankier?“

„Richemonte.“

„Richemonte, mein Gott, wäre es vielleicht – ah!“

Kunz blickte den Freund betroffen an.

„Was ist mit dir?“ fragte er. „Dieser Name frappiert dich?“

„Ungeheuer sogar.“

„Weshalb?“

„Das ahnst, das begreifst du nicht? Denke an die Familie meiner Mutter.“

„Sapperlot! Ja, da fällt mir ein, daß deine Mutter eine Französin ist, eine geborene Richemonte.“

„Deren Vater Bankier war –“

„Der von jenem Reillac verführt und betrogen wurde –“

„So, daß er zugrunde ging und Frau und Tochter unglücklich machte.“

„Wahrhaftig! Verzeihung, lieber Gebhard, daß ich nicht daran dachte. Ich hatte nicht die mindeste Ahnung von dem Zusammenhang dieser Dinge.“

„Ich bin überzeugt davon, lieber Freund. Ich habe den Großvater nicht gekannt, also auch nicht lieb gehabt. Ob ich sein Andenken in Ehren zu halten habe, darüber bin ich mir noch jetzt im Zweifel. Also du meinst, daß er ein Anbeter dieser alten Gräfin de Rallion gewesen sei?“

„Jedenfalls, obgleich ich dich damit vielleicht kränke.“

„Nicht im mindesten. Meine Großmutter war seine zweite Frau. Vielleicht ist das vorher gewesen.“

„Übrigens mag die Gräfin früher ganz und gar nicht häßlich gewesen sein. Sie hat noch heute den Teufel im Leib, wenn auch in anderer Weise, als es in jüngeren Jahren der Fall zu sein pflegt. Ich glaube, daß sie das Temperament besessen hat, einen Mann zu verlocken.“

„Wie gut, daß du sie damals nicht gekannt hast.“

„Freilich! Jetzt lasse ich mich von der Nichte verlocken.“

„Von der unbezähmbaren! Ich gestehe dir offen, daß ich beginne, mich auf das Lebhafteste für diese Familie zu interessieren.“

„So muß ich dich wirklich einführen. Du hast es ja gewaltig notwendig.“

„Das versteht sich, da mir nur so kurze Zeit geboten ist. Zu welcher Tageszeit empfängt die Gräfin am liebsten Besuch?“

„Des Abends, obgleich ich auch des Tages hingehe, oft sogar zweimal.“

„Das ist bei einem Verliebten ganz und gar glaubhaft.“

„Spotte immer! Wenn du Hedwig siehst, so wirst du dich nicht wundern, daß man sie liebt. Ein Glück, daß die Gräfin nicht viele Besuche empfängt! Sonst wären die beiden Nichten längst vergriffen.“

„Trotz des Drachens?“

„Ja, trotz des Drachens.“

„Und nun möchtest du die eine Nichte vergreifen! Na, ich will dir gern wünschen, daß es dir gelingt.“

„Ich will dir gestehen, daß dies mein höchstes Verlangen ist. Ich liebe Hedwig so wahr und innig, daß ich es für eine Unmöglichkeit halte, von ihr lassen zu können, um einer anderen das gleiche Gefühl entgegenzubringen. Würde es dir heute abend passen?“

„Ich bin so halb und halb versagt; aber ich werde es doch ermöglichen. Wir treffen uns um acht Uhr hier bei dir.“

„Ich ersuche dich darum und werde die Gräfin noch im Laufe des Nachmittags besuchen, um dich anzumelden.“

„Wäre es nicht vielleicht geratener, dies zu unterlassen? Sie könnte es abschlagen, während sie mich annehmen muß, wenn du mich am Abend unangemeldet mitbringst.“

„Du kennst sie nicht. Nur ihr Wille gilt, gesellschaftliche Rücksichten sind ihr fremd. Bringe ich dich mit, ohne ihr vorher davon zu sagen, so muß ich gewärtig sein, daß sie uns beide nicht empfängt.“

„So tue, was du für das beste hältst. Aber ich ersuche dich, von meinen Familienverhältnissen noch nichts zu sagen. Ich selbst möchte es sein, der zuerst davon mit ihr spricht, um aus ihrem Verhalten meine Schlüsse zu ziehen.“

„Ob dein Großvater wirklich ihr Bekannter war?“

„Ja. Jetzt aber gehe ich. Da ich den Abend dir zu widmen beabsichtige, muß ich meinen anderweitigen Verpflichtungen bereits vorher nachkommen.“

Sie trennten sich. Es war Gebhard ganz eigentümlich zumute. Das Familienbild, welches der Freund vor ihm entrollt hatte, interessierte ihn auf das lebhafteste. Er hatte noch nicht geliebt. Er konnte jetzt, da er eine lange und gefährliche Reise antrat, auch nicht die Absicht haben, ein Verhältnis einzugehen. Aber doch war es ihm wie eine Ahnung, daß hier von Personen die Rede gewesen sei, denen er auf diese oder auf jene Weise später nahe stehen werde. Darum fand er sich des Abends zur angegebenen Zeit bei Kunz von Goldberg ein.

„Welch eine Pünktlichkeit!“ sagte dieser, welcher bereits in Gesellschaftstoilette seiner wartete. „Ida, die Sanfte, scheint Zugkraft zu besitzen.“

„Der Drache vielleicht ebenso“, lachte Gebhard. „Die allermeiste aber jedenfalls Hedwig, die Unbezähmbare, weil du bereits in Gala meiner wartest.“

Kunz errötete ein wenig.

„Soll ich dich etwa im Schlafrocke empfangen?“ fragte er.

„Warum nicht? Ich hätte es dir nicht übelgenommen. Aber da du bereitstehst, so scheint es, daß die Gräfin mich empfangen will?“

„Allerdings. Das hast du meiner ganz dringlichen Empfehlung zu danken.“

„So nimm den Dank, Bruderherz!“

„Ich spreche im Ernst. Sie ist nicht Freundin von zahlreichen Bekanntschaften. Als sie hörte, daß du ein Deutscher, runzelte sie die Stirn, und als sie gar hörte, daß du ein junger Lieutenant seist, da –“

„Da runzelte sie sogar das Kinn, die Ohren und die Nase!“ fiel Gebhard lachend ein.

„Fast war es so. Sie sagte, daß sie für dich nicht zu sprechen sei.“

„Wie kam es, daß sie diesen Entschluß doch noch änderte?“

„Ich sagte ihr, daß ich dir mein Wort gegeben hätte, sie werde dich empfangen. Ich muß doch nicht ganz übel bei ihr stehen, daß sie darauf Rücksicht nahm. Im anderen Fall wäre es ihr höchst gleichgültig gewesen, ob ich gezwungen sei, wortbrüchig zu sein oder nicht. Übrigens bedeutete sie mir, daß sie dich nur dieses eine Mal empfangen werde.“

„Alle Teufel, das ist sehr kategorisch.“

„Ich rate dir, den Angenehmen zu spielen.“

„Fällt mir gar nicht ein.“

„So tust du mir leid.“

„Ich gebe mich stets so, wie ich bin. Wer mich angenehm haben will, der mag mir angenehm entgegenkommen.“

„Mein lieber Freund, man merkt es, daß du nach der Wüste willst. Du handelst bereits ganz und gar nach den Regeln der Sahara.“

„Und du bist bereits ganz und gar ein Diplomat. Dein Hauptgrundsatz ist, dich möglichst angenehm aufzuspielen. Übrigens scheint es nicht, daß diese alte Tante so sehr für Reisen schwärmt, weil sie mich, den angehenden berühmten Afrikareisenden, nicht bei sich empfangen wollte. Ist das etwa Sympathie für die Sahara?“

„Vergib es ihr. Sie weiß kein Wort davon, da du mir verboten, von deinen Familienverhältnissen zu sprechen, so hielt ich es für angezeigt, auch über das andere zu schweigen.“

„Hm! Vielleicht hast du recht daran getan. Gehen wir, lieber Kunz?“

„Ja, komm, alter Wüstenräuber.“

Sie nahmen einen Wagen und erreichten in kurzer Zeit die Rue de Grenelle und die Wohnung der Gräfin. Es war ein großes, massiv gebautes Haus; dennoch stand kein Portier am Tor, und im hohen Flur brannte nur ein ärmlich zu nennendes Lämpchen. Ebenso waren Treppe und Korridor nur spärlich erleuchtet. Doch fanden sie oben wenigstens einen Diener, an den sie sich wendeten.

„Ist Madame, die Gräfin, zu sprechen?“ fragte Kunz.

„Ja, für Sie beide, Monsieur“, antwortete der Mann, „sie befindet sich bereits im Salon. Die gnädigen Demoiselles sind bei ihr.“

„Sonst niemand?“

„O doch!“ antwortete der Diener unter einem listigen Augenzwinkern.

Kunz griff in die Tasche, zog ein Frankenstück hervor und gab es ihm.

„Wer?“ fragte er.

Der Diener, dem bei dem Geiz der Gräfin nur selten selbst ein so geringfügiges Geschenk in die Hand fließen mochte, verbeugte sich tief und antwortete:

„Graf Rallion, der Neffe. Danke sehr, Monsieur!“

„Bereits lange hier?“

„Nein, vor fünf Minuten erst gekommen.“

„Melden Sie mich und Monsieur, den Lieutenant von Königsau.“

Der Domestike gehorchte dieser Weisung, und dann traten die beiden ein.

Der Salon war ein ziemlich großes Gemach mit Möbeln, welche früher sicher reich und kostbar gewesen waren, jetzt aber nur noch an eine glänzende Vergangenheit zu erinnern vermochten. Auf dem Tisch, welcher in der Mitte stand, brannten zwei Kerzen auf einem sechsarmigen Leuchter. Das gab ein sehr spärliches Licht, und darum hatten sich die anwesenden Personen ganz nahe um diesen Leuchter gruppiert. Sie erhoben sich, als die beiden Deutschen eintraten.

Der Blick Gebhards von Königsau fiel zunächst auf die Gräfin, die ihm am nächsten stand. Sie war eine nicht sehr hohe, aber wie es schien, sehr bewegliche Dame, im Anfang der sechziger Jahre, mit scharfem Gesicht und ebenso scharfen, dunkel glühenden Augen. Gebhard gab seinem Freund recht, sie mußte früher sehr hübsch, wohl gar schön gewesen sein und schien noch heute ein Etwas in Blick, Bewegung und Miene zu besitzen, was auf Sieg berechnet zu sein schien.

Ihr zur Rechten und zur Linken standen zwei Wesen, welche von der dunkel gekleideten Gräfin sich hell und sympathisch hervorhoben. Die Rechte war jedenfalls Hedwig, die Unbezähmbare. In graue Seide gekleidet, glich sie einer Sylphide, welche darauf wartet, von Zeus zur Venus umgewandelt zu werden, bewegungslos stand sie da. Blitzende Augen, neckische Grübchen in Wangen und Kinn, ein spöttisches Mündchen und das leise zurückgeworfene Köpfchen gaben ihr etwas Kampfbereites, welches allerdings verführen konnte.

Ganz anders dagegen die Schwester. Obgleich ein Jahr jünger, war Ida doch mehr entwickelt als Hedwig. Ihre wohl gerundeten Glieder waren in rosa Seide gehüllt. Das Köpfchen senkte sich unter der Fülle des Haares. Sanfte, seelenvolle Augen, von langen Wimpern halb und züchtig verhüllt, zart rosig angehauchte Wangen, ein feines Kinn und volle schön gebogene Lippen bildeten mit der elfenbeinernen Stirn und den lieblich geschweiften Brauen ein Ganzes, welches auf Gebhard den Eindruck machte, als müsse er sogleich nahetreten, um die Hand des holden Wesens mit den Worten zu ergreifen: „Wie schön und gut bist du. Wer dich nicht liebt, der ist ein böser Mensch!“

Die vierte Person war einige Schritte seitwärts getreten, um unter dem Schutz des Halbdunkels Beobachtungen anzustellen, ohne selbst scharf beobachtet werden zu können. Graf Rallion, der ‚Neffe‘, war jedenfalls bereits dem dreißigsten Jahre nahe. Lang und hager gebaut, war auch sein Kopf aus der Breite in die Höhe gedrückt. Das schmale, scharfe Gesicht glich dem Kopf eines Raubvogels. Die Augen waren stechend, die Brauen buschig und an der Nasenwurzel zusammenstoßend; die Lippen waren schmal, und das Kinn machte über dem langen, dünnen, aus einer hohen Krawatte hervorschießenden Hals, wie es schien, eine Bewegung nach seitwärts, als erheische es der aristokratische Stolz seines Besitzers, sich nicht berühren zu lassen. Das war Graf Jules Rallion.

Vielleicht erinnert sich der freundliche Leser, daß im Jahre 1870 ein Graf Jules Rallion nach Ortry zu dem alten Kapitän Richemonte kam, um seinen Sohn mit der schönen Marion zu verheiraten, welche Doktor Müller, der verkleidete deutsche Offizier liebte. Und ebenso wird wohl noch erinnerlich sein, daß die sterbende Seiltänzerin damals, als sie vom Seil gestürzt war, dem braven Diener Fritz Schneeberg die Worte in das Ohr flüsterte: „General – Kunz von Goldberg – Vater – rauben lassen Graf – Jules Rallion – Cousin Hedwig – Bajazzo – bezahlt.“ Es schürzt sich hier eben der Knoten, von welchem die Fäden nach verschiedenen Richtungen auseinandergehen, um in dem angegebenen Jahr in Ortry zusammenzulaufen.

So spinnt das Leben seine wunderbaren Gewebe, und der schwache Mensch steht staunend vor der Weisheit des Schicksals, dessen tief und scharf berechnendes Walten eine jede irdische Tat mit untrüglicher Genauigkeit abzuwägen und mit wunderbarer Gerechtigkeit zu belohnen oder zu bestrafen weiß.

Die beiden Offiziere, welche hier allerdings in Zivil gekleidet gingen, verbeugten sich vor den Anwesenden, und Kunz von Goldberg sagte:

„Meine Damen und mein Herr, ich stütze mich auf die mir heute gewordene Erlaubnis, Ihnen meinen Freund, den Lieutenant Gebhard von Königsau, vorzustellen!“

Die Gräfin trat einen Schritt näher, betrachtete den Genannten mit kalten und scharfen Augen und antwortete:

„Ich heiße Sie willkommen, Lieutenant von Goldberg. Herr Lieutenant von Königsau, Sie sehen hier zwei Komtessen von Rallion, meine Nichten, und da den Grafen Jules de Rallion, meinen Neffen.“

Sie hatte also nur Kunz willkommen geheißen, nicht aber auch Gebhard. Dieser tat, als ob er diese Unhöflichkeit gar nicht bemerkt habe, verbeugte sich und antwortete im höflichsten Ton:

„Ergebensten Dank, gnädige Frau! Ich kam erst heute in Paris an; dieser erste Tag mußte meinem Freund gewidmet sein, und da er Ihnen den Abend zu widmen hatte, so sah ich mich leider gezwungen, mich ihm anzuschließen, wenn ich nicht auf seine Gesellschaft verzichten wollte.“

Das war natürlich mit anderen Worten gesagt: Ich komme nicht um Euretwillen, sondern meines Freundes wegen, Gebhard hatte also der Unhöflichkeit der Gräfin eine zweite entgegengesetzt, die aber in ein besseres Gewand gekleidet war als die ihrige.

Die Gräfin warf einen erstaunten Blick auf den jungen Menschen, welcher dieses wagte. Die Lider Idas hoben sich einen kurzen Augenblick empor, um einen warnenden Blick passieren zu lassen. Hedwig legte das Köpfchen sofort noch etwas weiter nach hinten und schnipste leise mir den rosigen Fingerchen; Graf Rallion ließ ein halblautes, indigniertes Hüsteln hören, und selbst Kunz von Goldberg konnte nicht umhin, dem Freund einen warnenden Blick zuzuwerfen.

„Setzen Sie sich!“ sagte die Gräfin kurz und scharf. Und als dies geschehen war, fuhr sie, zu Kunz gewendet fort: „Also, Monsieur, Ihr Freund wollte heute abend Ihnen gehören?“

„Allerdings“, antwortete der Gefragte gewandt; „aber nicht so ausschließlich, wie es die Herrschaften nach seinen Worten meinen könnten.“

„So mag es gelten“, erwiderte sie in einem ironischen Ton. „Vielleicht ist er des Französischen nicht so mächtig, als notwendig ist, sich präziser Ausdrücke zu bedienen.“

Der Graf nahm augenblicklich diese Gelegenheit wahr, seinem Ärger Luft zu machen, indem er meinte:

„Die Deutschen sprechen nie ein gutes Französisch. Und was haben sie für unbequeme Namen. Der Vorname des Lieutenants ist Gepar; wie sinnlos! Wie schwer auszusprechen.“

„Sie irren, Graf“, entgegnete Königsau. „Nicht Gepar, sondern Gebhard ist mein Name. Und wenn unsere deutschen Worte Ihnen so schwer fallen, so beweist dies nur, daß Sie des Deutschen nicht so mächtig sind, wie wir des Französischen. Ich muß nämlich auch die Frau Gräfin dahin berichtigen, daß ich des Französischen so vollständig Herr bin wie ein geborener Franzose, und daß ich auch in dieser Sprache gerade nur sage, was und wieviel ich will.“

Da war es gerade, als sei ein Stück der Decke eingefallen. Die Rallions blickten einander mit großen Augen an. Kunz stieß den kühnen Sprecher mit dem Fuß, und nur Ida ließ keinen Unwillen bemerken. Sie wußte, daß der Deutsche zuerst von ihrer Tante beleidigt worden sei und bewunderte den Mut und die Kaltblütigkeit, mit welchen er diesen gesellschaftlichen Fehler zurechtwies.

„Pah!“ schnarrte der Graf zornig. „Gebhard ist doch ein schlechter Name. Blücher hieß so.“

„Mich hat man so genannt, weil der Feldmarschall von Blücher der Freund meines Vaters und mein Pate war“, antwortete Königsau.

„Wie, Monsieur, Blücher war Ihr Pate?“ fragte der Graf.

„Ja, Monsieur.“

„Dann werde ich Ihnen raten, hier diesen Umstand zu verschweigen oder gar keine Pariser Gesellschaft zu besuchen, weil Blücher ein Ungeheuer war; er hat das schöne Frankreich unendlich unglücklich gemacht.“

„So meinen Sie wohl, daß Napoleon ein Engel war, der das häßliche Deutschland unendlich glücklich gemacht hat? Ehe Sie mir einen Rat geben, lernen Sie erst, Nationen und weltgeschichtliche Personen gerecht beurteilen. Ich bin hier mit ausgesuchter Unhöflichkeit empfangen worden, Herr Graf und Madame. So etwas könnte bei den Deutschen, welche Sie Barbaren nennen, niemals vorkommen. Meine Mutter ist eine geborene Pariserin: ich bin also Ihrer Nation, welche ich achte, nicht fremd und weiß ihre Fehler und Vorzüge genau zu beurteilen. Man hat mich bisher überall, wo ich eingeführt wurde, willkommen geheißen, nur hier bei Ihnen nicht, wo man sich im Gegenteil sogleich im ersten Augenblick über meinen Namen und mein Französisch, welches doch dem Ihrigen vollständig ebenbürtig ist, mokierte. Ich reise von hier nach der Sahara und bin überzeugt, daß der wilde Tuba oder Tuareg, in dessen Zelt ich trete, mir sein ‚Habakek îa Sihdi, sei willkommen, o Herr‘, zurufen wird. Wünschen Sie, daß ich diesen räuberischen Nomaden erzählen soll, daß in Paris, der großen Metropole der Zivilisation, diese schöne Sitte noch nicht herrsche, oder daß selbst hochgräfliche Personen Frankreichs es darauf anfangen, von einem bildungslosen Kamelhirten an Höflichkeit übertroffen zu werden?“

Er schwieg. Lautlose Stille herrschte. Da niemand antwortete, erhob er sich von seinem Stuhl und fuhr fort:

„Sie wurden mir von meinem Freunde als Aristokraten feinster Distinktion geschildert, und ich kam zu Ihnen, innig erfreut von dem Bewußtsein, bei der ersten Familie, welche mir Zutritt gestattet, den Beweis zu finden, daß in den Franzosen sich wirklich der Begriff des untadelhaften Kavaliers kristallisiert. Herr von Goldberg ist trotz seiner Jugend ein tüchtiger Menschenkenner. Sagen Sie mir, ob er sich heute zum ersten Mal geirrt hat.“

Noch immer schienen alle ganz starr zu sein vor Staunen, vor Schreck oder Zorn; aber da erklang eine volle, reine Altstimme: „Wie, Herr Lieutenant, Ihre Mama ist eine geborene Pariserin?“

„Ja, mein Fräulein“, antwortete Gebhard.

„Und Sie gehen von hier wirklich nach der Sahara?“

„Durch die Sahara hindurch bis nach Timbuktu und vielleicht noch weiter.“

„Dann muß Ihre Mama sehr mutig sein, wenn sie ihren Sohn solchen Gefahren entgegengehen läßt. Ich wollte, ich könnte ihr sagen, daß ich ihr Gottvertrauen bewundere.“

Ida war die Sprecherin. Mit jener Schlauheit, welche selbst dem reinsten, unverdorbensten Weib eigen ist, hatte sie aus Gebhards Rede jene beiden Punkte herausgegriffen, welche geeignet waren, das Interesse der zornigen Tante zu wecken. Ihre Stimme war wie ein versöhnender Engelsruf durch den Salon gedrungen.

Gebhard trat auf sie zu, reichte ihr die Hand und sagte:

„Mademoiselle, ich danke Ihnen innig! Sie sprechen mit freundlicher Sympathie von meiner heißgeliebten Mutter, obgleich Sie dieselbe nicht kennen. Ich nahm ihr Bild mit aus der Heimat fort, um die teuren Züge auch im Sonnenbrand der Wüste bei mir zu haben. Sie sollen meine Mutter wenigstens im Bild kennenlernen, und wenn ich einst nach Hause zurückkehre, so werde ich ihr erzählen von der hochherzigen Landsmännin, die mir das erste freundliche Wort gönnte, weil ich eine edle, gute, mutige Mutter habe.“

Er nestelte ein Medaillon von seiner Uhrkette los, öffnete es und reichte es ihr hin. Sie trat mit demselben näher an das Licht heran, um es zu betrachten.

„Oh, mein Herr“, sagte sie, „welch schöner, herrlicher Kopf; was für prächtige, seelenvolle Augen. Ja, Ihre Mutter muß ein großes, edles Weib sein. Liebe Tante, magst du dir nicht einmal diesen Kopf betrachten?“

Sie reichte das Medaillon der Gräfin hin, und diese, noch im Zweifel, ob sie zornig losbrechen oder diesen Fremden lieber mit einem stillen, aber gebieterischen, unwiderstehlichen Wink der Hand zur Tür hinausweisen solle, hatte das kleine Elfenbeinbild in den Fingern, sie wußte nicht, wie. Unwillkürlich senkte sich ihr Blick nieder auf dasselbe. Im nächsten Momente stand auch sie nahe am Leuchter, um das Porträt besser und schärfer betrachten zu können. Dann blickte sie rasch zu Gebhard hinüber und fragte:

„Das ist wirklich das Porträt Ihrer Mutter?“

Ihre Stimme klang noch immer hart und zurückweisend.

„Ja, Madame“, antwortete er.

„Sie behaupten, daß dieselbe aus Paris stammt, wie lautet der Familienname Ihrer Mutter?“

„Richemonte.“

„Richemonte? Ah, ich habe eine Familie dieses Namens gekannt. Es war eine Tochter da, welche ich öfters gesehen habe. Sie würde jetzt ungefähr dieselben Züge besitzen, welche ich hier sehe. Was war der Vater Ihrer Mutter?“

„Ursprünglich Bankier, Madame.“

Ihr Auge verlor seine bisherige Schärfe, und unter einer raschen Bewegung ihrer Hände und mit sichtlichem Interesse fragte sie weiter:

„Wie war sein voller Name?“

„Jean Pierre Richemonte; eigentlich de Richemonte. Ein Vorfahre hatte das ‚Von‘ aus irgendeinem Grund abgelegt.“

Das Gesicht der Gräfin begann sich zu beleben. Ihre Züge wurden sichtlich milder, und ihr Auge ruhte mit einer Art von Wärme auf der Gestalt Gebhards, als sie fortfuhr:

„Mon dieu! Ich glaube, das ist der Mann, dessen Familie ich gekannt habe. Können Sie mir sagen, wo er wohnte?“

„Er hat sein Büro in der Rue de Vaugirard gehabt. Später, nach seinem Tod zog Mama nach der Rue d'ange, wo mein Vater, welcher damals preußischer Offizier war, sie kennenlernte.“

„Sie hat ihn geliebt?“ fragte sie mit wieder steigender Härte. Kunz von Goldberg hatte sie ja als ‚Deutschenhasserin‘ bezeichnet.

„Ja, gnädige Frau. Sie liebt ihn sogar noch“, antwortete Gebhard lächelnd.

„War und ist das recht von ihr, als Französin?“

„Jedenfalls, Madame. Schon Christus will, daß alle Menschen, welcher Nationalität sie auch sein mögen, sich lieben sollen. Und der gute Gott hat uns ja ein Herz gegeben, dessen Sprache so mächtig wirkt, daß vor ihr die Stimme des Parteihasses, der Rache, des Vorurteils verstummen muß. Dieses Herz hat wohl in jeder menschlichen Brust einmal gesprochen. Wohl dem, welchem es erlaubt war, diesen süßen und beglückenden Einflüsterungen Folge zu leisten.“

Idas Augen ruhten mit zustimmendem Wohlgefallen auf ihm. Es lag eine Art von Bewunderung der beredten Art und Weise in ihrem Blick, in welcher er seine Sache zu führen verstand.

Auch auf ihre Tante schienen seine Worte nicht ohne Eindruck zu bleiben. Ihre vorher mißfällig zusammengekniffenen Augen erweiterten sich wieder. Ihr Blick richtete sich empor, ins Weite. Er schien in der Ferne zu ruhen, in welcher sich ihm Erinnerungsbilder der Liebe boten, von welcher der junge Mann soeben gesprochen hatte.

„Sie mögen recht haben“, sagte sie langsam und zögernd. „Ich will nicht richten, zumal ich keineswegs annehmen darf, dazu berufen zu sein. Aber noch weiß ich nicht, ob Ihre Familie wirklich diejenige ist, an welche ich denke. Hatte Ihre Mutter Geschwister?“

„Einen Bruder.“

„Wie war sein Name?“

„Albin.“

„A la bonne heure! Was war er? Auch Kaufmann oder Bankier?“

„Nein, Madame. Er war Offizier, Kapitän bei der alten Kaisergarde.“

„Das stimmt; das stimmt! Lebt er noch?“

„Vielleicht. Niemand weiß es.“

„Niemand weiß es? Sie müssen doch über die Schicksale eines so nahen Verwandten irgendwelche Nachrichten haben!“

„Dies ist hier nicht der Fall, gnädige Frau.“

„Sie haben keinen Umgang mit ihm gepflogen?“

„Sie haben ihn gemieden. Und wenn er selbst eine vorübergehende Annäherung herbeiführte, so ist die Folge stets ein Unglück für sie gewesen.“

Sie nickte langsam mit dem Kopf.

„Ja“, sagte sie; „er war ein Schurke, ein böser Mensch, welcher mitgeholfen hat, seinen Vater in das Unglück zu stürzen. Wissen Sie davon?“

„Es ist mir allerdings einiges bekannt.“

„Kennen Sie auch seinen Verbündeten, mit welchem er daran arbeitete, die Eltern und die Schwester in das Elend zu führen?“

„Sie meinen den Baron de Reillac? Der ist tot.“

„Ah! So besitzt die Erde eine gefährliche Kreatur, ein Raubtier weniger. Er hat einen schlimmen Tod verdient. Woran ist er gestorben?“

„Er ist ermordet worden.“

„Wann?“

„Schon längst, nämlich am Tag oder einige Tage vor der Schlacht bei Ligny.“

„Wer war der Mörder?“

„Sein Freund, Kapitän Richemonte.“

„Sein eigener Freund, Kumpan und Verbündeter? Welch eine Fügung! Sie werden mir davon erzählen müssen, auch von den Ihrigen! Zuvor aber“ – und dabei nahm ihre Stimme wieder den harten, klanglosen Ausdruck an – „zuvor aber muß ich Ihnen sagen, daß die Art und Weise, in welcher Sie sich bei mir eingeführt haben, keineswegs eine angenehme und empfehlende ist.“

Der Blick der Gräfin ruhte forschend und auffordernd auf Königsau, als ob sie eine Entschuldigung erwarte. Er aber verbeugte sich unter einem höflichen Lächeln und antwortete, indem er leise mit der Achsel zuckte:

„Madame, der Deutsche kennt ein oft angewendetes Sprichwort, welches auch hier am Platz sein dürfte. Es lautet: Wie es in den Wald schallt, so schallt es wieder heraus.“

„Dieses Sprichwort klingt nicht gut. Es beweist, daß der Deutsche der Mann der Vergeltung, der Rache, der Revanche, ist, welche er doch dem Franzosen so gern und geflissentlich vorzuwerfen pflegt.“

„Oh, er will damit doch nur einen gewöhnlichen Erfahrungssatz ausdrücken, welchen auch Sie anerkennen werden. Der Deutsche scheint mir mehr passiv, als aktiv zu sein. Er schreitet nur dann zur Vergeltung, wenn er mit Gewalt dazu getrieben wird.“

„Wer hat Sie vorhin mit Gewalt dazu getrieben?“

„Die Antwort liegt in Ihrer eigenen Frage, gnädige Frau Gräfin. Indem Sie zugeben, daß ich mich zu einer Art von Abwehr treiben ließ, gestehen Sie ein, daß vorher ein Angriff stattgefunden hat.“

„Dieser Angriff war kein direkter.“

„Aber dennoch ein sehr fühlbarer und energischer.“

„Oh, nur ein kleiner, gesellschaftlicher Unterlassungsfehler, wie er sehr leicht einmal vorkommen kann. Und besonders, da er von einer Dame begangen wurde, so wäre es höflich gewesen, denselben mit Stillschweigen zu übergehen.“

Ihr Blick ruhte streng und herausfordernd auf ihm. Er hatte große Lust, das Wortgefecht weiterzuführen, aber er sah das Auge Idas mit stummer und doch beredter Bitte auf sich gerichtet; darum nahm er einen heiteren und leichteren Ton an und antwortete:

„Sie haben recht, gnädige Frau. Eine Dame hat unter allen Umständen diejenigen Aufmerksamkeiten zu erwarten, welche ihr von den gesellschaftlichen Gesetzen zugesprochen worden. Habe ich gegen diese Regeln gesündigt, so würde ich recht glücklich sein, von Ihnen Absolution zu empfangen.“

Die Falten von ihrer Stirn verschwanden. Er bat sie um Verzeihung, sie hatte also, wenigstens scheinbar, einen Sieg über ihn errungen. Das erlaubte ihr, nun Freundlichkeit und Milde walten zu lassen. Sie antwortete:

„Ich will keineswegs grausam sein, Herr von Königsau. Ich verzeihe Ihnen also und heiße Sie nachträglich willkommen.“

Sie reichte ihm die Hand entgegen, welche er ergriff und hochachtungsvoll küßte. Über Hedwigs hübsches Gesichtchen glitt ein Zug, welcher ganz deutlich sagte: „Er hat aber doch gesiegt, dieser Deutsche.“ Idas Augen strahlten dem letzteren warm entgegen; aber aus dem Halbdunkel, in welches sich der Graf zurückgezogen hatte, erklang es scharf und wie zurechtweisend:

„Liebe Tante, du vergißt, daß du dich nicht allein hier befindest.“

Sie wendete sich ihm mit einem Ausdruck des Erstaunens zu und fragte:

„Was willst du damit sagen?“

„Daß mehrere Personen vorhanden sind, welche beleidigt wurden, und daß du also nicht eigenmächtig verzeihen darfst.“

„Ah“, meinte sie, „ich ahnte nicht, daß du annimmst, auch angegriffen worden zu sein. Fühlst du dich beleidigt, so ist das einfach deine Sache. Jedenfalls aber nehme ich für mich das Recht in Anspruch, für meine Person verzeihen zu können. Das andere aber geht mich nichts an.“

„Ich will nicht bestreiten, daß du das Recht hast, für dich persönlich zu verzeihen; aber ich habe auch die Überzeugung, daß du in deiner Eigenschaft als Tante einen Angriff auf deinen Neffen nicht so gleichgültig übersehen darfst, wie es in deiner Absicht zu liegen scheint.“

„Ja, wenn dieser Neffe ein Kind wäre, welches dieses Schutzes bedarf. Ihr Herren aber seid stets so passioniert, euch Männer zu nennen, daß ich mir in dieser Angelegenheit wohl erlauben darf, dich dir selbst zu überlassen.“

„Das heißt, du nennst diesen Mann wirklich willkommen?“

„Jawohl; du hast es gehört.“

Da trat er aus dem Halbdunkel hervor auf sie zu.

„So muß ich allerdings annehmen“, sagte er, „daß ich dir weniger willkommen, vielleicht sogar unwillkommen bin.“

Er hatte die Augen finster zusammengekniffen, und die Stellung, welche er einnahm, war eine herausfordernde, ja, fast drohende zu nennen.

Sie dagegen behielt ihre vollständige Ruhe bei. Ihm einen nur verwunderten Blick zuwerfend, sagte sie:

„Mein Neffe ist mir jederzeit willkommen gewesen, und auch noch jetzt kenne ich keinen Grund zu einer Änderung meiner Ansicht hierin. Wen ich aber außer ihm bei mir empfangen will, darüber steht mir sicher das alleinige Urteil zu. Mein Haus ist mein Eigentum, und ich kenne keinen Menschen, welchem ich erlauben werde, die für mich daraus hervorgehenden Rechte mir streitig zu machen.“

Er zog unter einem beinahe höhnischen Lächeln die Schultern nach vorn, machte eine ironische Verbeugung und sagte:

„Ich lasse dir natürlich dieses Recht; es kann mir gar nicht einfallen, es dir zu schmälern, da ich nicht die Erlaubnis dazu habe. Aber ich bitte, zu den Stunden, in welchen du mir unsympathische Personen empfängst, auf das Glück deiner Nähe verzichten zu dürfen.“

Da legte sie den Kopf in den Nacken, geradeso, wie es die hübsche Hedwig in ihrer Gewohnheit hatte, warf ihm einen ernsten, dominierenden Blick entgegen und antwortete:

„Ich habe nichts dagegen, daß du selbst in den Stunden, in denen du dich wohl bei mir fühlen würdest, auf mich verzichtest. Ich verliere nichts dabei.“

„Fällt mir nicht ein“, entgegnete er. „Eines Fremden, eines Eindringlings wegen gebe ich dich ebensowenig auf, als ich auf eine Person oder Sache verzichten würde, welche mir lieb und angenehm ist. Ich habe keineswegs die Absicht, dich zu beleidigen, sondern ich will dich nur warnen, Bekanntschaften anzuknüpfen, welche dir Enttäuschung bringen können. Ich hoffe, Cousinchen Ida ist ganz gleicher Meinung mit mir?“

Diese letztere Frage war an die Genannte direkt gerichtet. Sie sah sich darum zu einer Antwort gezwungen.

„Ich wohne bei der Tante und habe mich nach ihr zu richten“, sagte sie. „Auch kann ich nicht sagen, daß Herr von Königsau mich beleidigt hat.“

Der Graf hatte diese Antwort vielleicht nicht erwartet. Er verschmähte eine Gegenbemerkung und wendete sich an die andere Schwester:

„Und du, liebe Hedwig?“

Diese zuckte leichthin die Achsel, zog ein schnippisches Mäulchen und sagte:

„Cousin, du mußt gestehen, daß du außerordentlich unartig bist. Schwestern sollen stets einerlei Meinung haben; ich stimme Ida vollständig bei.“

Da bleichte der Zorn seine Wangen. Er trat zurück und sagte: „So stehe ich also allein! Aber es wird die Zeit kommen, in welcher ihr einsehen lernt, wer euch wirklich nahe steht und auf wessen Meinung ihr hättet Gewicht legen sollen. Ich verabschiede mich für heute abend von euch.“

Und sich mit einer raschen Umdrehung zu Kunz von Goldberg wendend, fuhr er mit erhobener Stimme fort:

„Mein Herr, Sie haben seit der ersten Stunde, da wir uns hier trafen, merken müssen, daß mir Ihre Besuche höchst unangenehm waren. Sie haben dieselben trotzdem fortgesetzt. Ich finde das höchst sonderbar.“

„Pah!“ antwortete Kunz. „Ich glaubte, Sie würden seit der ersten Stunde, da wir uns hier trafen, gemerkt haben, daß meine Besuche nicht Ihnen galten. Daß Sie dies selbst jetzt noch nicht einsehen, finde ich noch sonderbarer.“

„Diable! Wollen Sie etwa höhnen?“

„Nein. Ich will Ihnen damit nur sagen, da ich nicht Sie, sondern Ihre Tante, die Frau Gräfin, besuche, so kann es mir sehr egal sein, ob Ihnen meine Anwesenheit angenehm ist oder nicht. Und hinzufügen will ich noch, daß mir überhaupt auch alles andere, was Sie denken und meinen, vollständig gleichgültig ist. Sie müssen längst erkannt haben, daß Sie für mich gar nicht existieren.“

„Nun, so werde ich hoffentlich wenigstens für Ihren Freund existieren.“

Er wendet sich zu Gebhard, welcher unterdessen wieder Platz genommen hatte und bisher ein scheinbar teilnahmsloser Hörer gewesen war, und fragte:

„Sie sind Offizier, Herr von Königsau?“

„Ja, wie Sie gehört haben“, antwortete dieser kurz und gelassen.

„Ich zweifle daran.“

„Das kann mir gleichgültig sein.“

Der Graf trat ihm einen Schritt näher. Er sagte in einem Ton, dem man die beabsichtigte Provokation anhören mußte: „Sie sind in Wirklichkeit nicht Offizier.“

Gebhard wendete sich zur Seite und verzichtete darauf, eine Antwort zu geben. Der Graf trat ihm noch näher und meinte:

„Ich sehe, daß Sie nicht antworten. Nun, wenn ich sage, daß Sie in Wirklichkeit nicht Offizier sind, so meine ich damit, daß ich Sie für einen Lügner erkläre, wenn Sie behaupten, Offizier zu sein.“

In Gebhards Augen blitzte es auf. Aber er verstand es, sich zu beherrschen, und seine Stimme klang hell und ruhig, als er entgegnete:

„Sie erlauben mir, Ihnen meine Antwort morgen zu geben.“

„Ich brauche Ihre Antwort nicht. Wer sich da eindrängt, wo er unangenehm ist, der ist kein Offizier und Kavalier. Sie haben die Frau Gräfin beleidigt; Sie haben sich mit ausgesuchter Grobheit betragen und besitzen die Stirn, hier Ihren Platz festzuhalten: Sie sind nicht Offizier.“

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Ihnen meine Antwort morgen geben werde.“

„Und ich habe Ihnen darauf bemerkt, daß ich darauf verzichte, eine Antwort von Ihnen zu empfangen.“

Jetzt verließ auch Gebhard seinen Stuhl. Er erhob sich und stand ganz nahe vor dem Grafen.

„Wissen Sie wohl“, sagte er, „was ich meinte, als ich Ihnen zweimal erklärte, daß Sie meine Antwort morgen empfangen werden?“

„Ich habe wirklich keine Ahnung davon“, erklärte der Graf.

„Ah! Sind Sie Offizier?“

„Nein.“

„Aber Edelmann?“

„Allerdings. Ich bin, wie Sie gehört haben, Graf Jules de Rallion.“

„Und dennoch wissen Sie nicht, was ich gemeint habe?“

„Ganz und gar nicht!“

„Nun, ich habe bisher geglaubt, daß auch die Edelleute Frankreichs sich auf die Art und Weise gewisser Antworten verstehen, welche nicht mit dem Mund gegeben werden; ich scheine mich aber doch geirrt zu haben.“

Da forcierte der Graf ein erstauntes Gesicht. Er wich, wie infolge einer plötzlichen Verwunderung, zurück und fragte:

„Sie meinen doch nicht etwa ein Duell?“

„Ah, Sie scheinen auch das nicht zu wissen, daß man in Gegenwart von Damen nicht über gewisse Dinge zu sprechen pflegt.“

„Was mich angeht, können diese Damen hören. Sie wollen sich mit mir schlagen, mein Herr?“

„Sie werden das anderweit erfahren.“

„Nun, ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich mich auf keinen Fall mit Ihnen schlagen werde.“

„Warum?“

Der Graf warf sich in eine Attitüde, welche Furcht erwecken sollte, nahm eine Stellung an, als ob er sich auslegen wollte, und antwortete:

„Weil ich Sie schonen müßte. Ich bin lange Jahre Fechtmeister gewesen und würde Sie in Grund und Boden hauen!“

Gebhard konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Er entgegnete mit einem beredten Blick auf Kunz:

„Sie würden mich nicht im mindesten zu schonen brauchen. Mein Kamerad, Herr von Goldberg, hier, wird mir gern bezeugen, daß ich als ein Schläger bekannt bin, der keinen anderen zu fürchten braucht.“

Der Graf bezwang sich, ein enttäuschtes Gesicht zu verbergen.

„Mon dieu!“ meinte er leichthin. „So würde ich Sie in Grund und Boden schießen!“

„Auch das verfängt nicht, mein Herr. Ich schieße die Schwalbe aus der Luft. Und um Ihnen zu beweisen, daß ich wirklich Offizier bin, der im Krieg seinen Mann nicht verfehlen darf, würde ich Ihnen meine erste Kugel durch den Kopf jagen.“

Der Graf war sichtlich entmutigt. Er wußte nicht, was er sagen sollte, und meinte endlich:

„Daß wird Ihnen nicht gelingen; ich versichere es Ihnen.“

„Warum nicht, Monsieur?“

„Weil ich mich überhaupt niemals mit Ihnen schlagen werde.“

„Ich darf jedenfalls nach dem Grunde dieses höchst sonderbaren Entschlusses fragen?“

„Ich schieße mich mit keinem Menschen, der nicht satisfaktionsfähig ist.“

„Warum meinen Sie, ich sei ein solcher Mensch?“

„Weil Sie durch Ihr heutiges Verhalten bewiesen haben, daß Sie kein Ehrenmann sind.“

„Ah, eine neue Beleidigung. Nun, da Sie diese heikle Sache vor das Forum der Damen förmlich gezwungen haben, so will ich Ihnen auch in Gegenwart derselben meine Entscheidung sagen; ich werde nämlich –“

„Ich bin neugierig, dieselbe zu hören, da ich mir nicht erklären kann, wie gerade Sie dazu kommen, eine Entscheidung zu fällen“, unterbrach ihn der Graf.

„Ich bin der Beleidigte und habe also auf Satisfaktion zu dringen, wäre es auch nur, um Ihnen die Überzeugung beizubringen, daß ich wirklich ein Offizier bin. Herr von Goldberg wird die Güte haben, mir zu sekundieren. Morgen früh punkt neun Uhr ist er bei Ihnen, um zu hören, welchen Herrn Sie zum Beistand wählen, und wie Sie mit diesem sich vereinbaren. Sollten Sie meine Forderung nicht annehmen, so erkläre ich Sie für den größten Feigling Frankreichs und werde das auch öffentlich bekanntgeben.“

„Sie wollen mich fürchten machen; das aber soll Ihnen doch nicht gelingen“, antwortete der Graf. „Ich weiß ganz genau, wie Leute Ihres Schlages zu behandeln sind, und werde Ihnen das beweisen. Gute Nacht, die Damen.“

Er drehte sich scharf auf dem Absatz um und ging.

Wie bei solchen unangenehmen Szenen gewöhnlich, trat zunächst eine Pause ein, welche allerdings nicht lange währte, denn die Gräfin begann unter völliger Ignorierung des zuletzt Vorgefallenen:

„Herr von Königsau, Sie versprachen mir, uns von dem Tod dieses Baron de Reillac zu erzählen.“

„Ich bin gern bereit, mein Wort zu halten“, antwortete Gebhard. „Nur weiß ich nicht, ob die Ermordung eines Menschen ein Damenthema ist.“

Da ergriff ihm gegenüber Hedwig zum ersten Mal das Wort:

„Erzählen Sie immerhin, Herr Lieutenant“, sagte sie, indem sie sich behaglich in ihrem Sessel zurechtrückte. „Ein Mord ist allerdings fürchterlich; aber wenn Sie wüßten, wie gern ich grusele, so würden Sie mich keinen Augenblick warten lassen.“

„Nun, mein Fräulein“, antwortete er lächelnd, „so muß ich es allerdings versuchen. Und ich hoffe, daß Ihnen der Genuß des Gruselns nicht verlorengeht.“

Er erzählte. Die Damen hörten mit gespannter Erwartung zu, ihn nur zuweilen durch einen teilnahmsvollen Ausruf unterbrechend. Das Erlebnis, von welchem er berichtete, stand in so innigem Zusammenhange mit seinen Familienverhältnissen, daß dann später Frage auf Frage ausgesprochen wurde, die er zu beantworten hatte.

So entspann sich eine außerordentlich animierte Unterhaltung. Er war ein guter Sprecher und ein sehr angenehmer Gesellschafter, überhaupt ein hübscher, kenntnisreicher und gewandter junger Mann. Die Damen lauschten seiner Unterhaltung. Sie hörten aus jedem seiner Worte, daß er trotz seiner für seine Jugend höchst bedeutenden Kenntnisse nicht die mindeste Einbildung besaß, sondern sich selbst aus dem Zusammenleben mit den Angehörigen des Offizierskorps seine ursprüngliche Einfachheit und Bescheidenheit gerettet hatte.

Das zog sie zu ihm hin. Die sonst so muntere Hedwig war schweigsam und hörte lieber auf ihn, als daß sie sich zum vordringlichen Sprechen entschloß. Ida sprach fast kein Wort, aber ihr Auge verriet desto mehr, und immer und immer wieder begegnete ihr Blick dem seinigen, so daß sie hundertmal gezwungen war, die schönen, geheimnisvollen Wimpern niederzuschlagen.

So kam es, daß die Kosten der Unterhaltung fast nur von den beiden Offizieren und der Gräfin getragen wurden.

Die letztere hatte ihr vorheriges Wesen vollständig abgelegt. Sie war mitteilsam und gesprächig geworden, und besonderen Dank verdiente sie sich bei Gebhard dadurch, daß sie mit keiner Silbe ihres Neffen gedachte, der zu einer so außerordentlich peinlichen Szene Veranlassung gegeben hatte. Sie lud die beiden jungen Männer ein, am Souper teilzunehmen, was natürlich mit großem Dank angenommen wurde.

Am meisten schienen sich die beiden Nichten zu freuen. Es war außerordentlich selten, daß die Tante einem Herrn die Ehre gönnte, mit ihnen zu speisen, und so kam es, daß sie durch die Einladung der Gräfin in die beste Laune versetzt wurden, welche wieder ihren guten Einfluß auf die anderen äußerte.

Kurz vor der Tafel entfernte sich die Gräfin auf kurze Zeit, und diesen günstigen Augenblick benutzte Kunz von Goldberg, um Hedwig zu folgen, welche an das Piano getreten war und sich mit den daraufliegenden Noten zu beschäftigen begann. In den letzteren blätternd und scheinbar sich über dieselben unterhaltend, führten sie ein halblautes Gespräch, von welchem die beiden anderen nichts verstehen konnten oder vielmehr nichts verstehen gekonnt hätten, selbst wenn ihre Absicht gewesen wäre, einige der Worte zu erlauschen.

„Sagen Sie einmal, Herr von Goldberg“, begann Hedwig; „war es Ihrem Freund mit der Forderung wirklich ernst?“

„Ganz gewiß, Mademoiselle“, antwortete er.

„Das Duell wird also stattfinden?“

„Ich bin davon überzeugt.“

„Wie uninteressant!“

„Uninteressant?“ fragte er. „Und Sie gruseln doch so gern. Ist bei Ihnen vielleicht nur die Erzählung eines Mordes interessant?“

Sie blickte ihn ein wenig verächtlich von der Seite an und sagte:

„Was ihr Deutschen doch für Menschenkenner seid!“

„Nicht wahr?“ lachte er, ohne zu tun, als ob er den Blick bemerkt habe.

„Ja. Sagten Sie nicht erst vorgestern, daß es Ihnen ein außerordentliches Interesse gewähre, mich zu studieren? Und daß Sie sich schmeicheln, mich ganz und genau zu kennen? Und doch glauben Sie, daß nur ein Mord mich interessieren könne?“

„Muß ich es nicht glauben, da Sie ein Duell uninteressant nennen?“

Sie zog die schönen, vollen Schultern empor, so daß das rosige Fleisch derselben aus dem Ausschnitt des Kleids hervortrat, um sich nur langsam wieder unter dem weichen Stoff zu verbergen, und antwortete:

„Es kommt auf die Veranlassung an.“

„Wieso, Mademoiselle?“ fragte er.

„Ein Duell nur deshalb, weil einer nicht glaubt, daß der andere Offizier ist – wie kindisch.“

„Oder, wollen Sie sagen, ein Duell, weil der eine dem anderen gewaltsam provoziert.“

„Das ist barbarisch, aber doch nicht interessant.“

„Wann würde denn ein Duell für Sie interessant sein?“

„Hm! In vielen Fällen“, antwortete sie, indem sie ein höchst nachdenkliches Gesichtchen zog, welches ihr ganz allerliebst stand.

„Darf ich vielleicht einen von diesen vielen Fällen erfahren?“

„Neugieriger! Aber es ist wahr, Sie sind in Beziehung auf das Duell so ganz und gar unwissend, daß ich es schon unternehmen muß, Ihnen Unterricht zu geben.“

Sie zog die Brauen empor und bemühte sich, die strenge, gelehrte Miene eines pedantischen Lehrers anzunehmen. Das sah so allerliebst aus, daß Kunz sie gleich hätte umarmen mögen. Er sagte:

„Ich brenne vor Wißbegierde. Belehren Sie mich, Mademoiselle.“

„Nun, es kommt vor allen Dingen auf den Gegenstand an, wegen dessen man sich schlägt. Ist dieser interessant, so ist es auch das Duell. Nun, mein Herr von Goldberg, nennen Sie mir einmal einen Gegenstand, welcher interessanter ist als eine rohe oder kindische Provokation.“

Er nickte ihr mit einem ahnenden Lächeln zu und antwortete:

„Darf ich es da nicht am besten gleich wagen, den interessanten Gegenstand zu nennen?“

„Ja. Aber ich bitte mir aus, nicht im besonderen, sondern nur im allgemeinen zu sprechen.“

„Ah, meine schöne Hedwig, Sie haben mich im Verdacht, daß ich sofort eine gewisse Person nennen würde?“

„Ja, ich habe Sie da sogar in einem sehr dringenden Verdacht.“

„Warum?“ fragte er leise flüsternd, indem er sich ganz nahe zu ihr hinüberbog.

Sie versetzte ihm einen leisen, scherzenden Schlag mit dem Fächer und antwortete:

„Diese Deutschen sind allesamt rechte, echte Bären, und Sie insbesondere sind –“

Sie stockte.

„Was? Was bin ich?“ fragte er.

Sie blickte ihn wie furchtsam von der Seite an und antwortete rasch:

„So ein ganz gewaltiger Doppelbär.“

Er fuhr in scherzhaftem Schreck zurück und sagte:

„Mademoiselle, Sie kommen ganz von unserem Thema ab.“

„O nein, mein Herr, wir sind dabei.“

„Das sehe ich nicht ein. Oder meinen Sie vielleicht, daß nur ein Duell zwischen Doppelbären interessant ist?“

„O nein. Ich möchte mich da gern eines deutschen Wortes bedienen. Wie übersetzen Sie das schöne französische Wort lourdaud in das Deutsche?“

„Dieses Wort würde das schöne deutsche Wort Tolpatsch ergeben.“

„Schön. Und wie würde das Eigenschaftswort davon lauten?“

„Tolpatschig.“

„Nun, so will ich Ihnen sagen, daß ein Duell zwischen Doppelbären höchst tolpatschig aussehen, also ganz und gar nicht interessant sein würde. Wir sprachen aber gar nicht von Bären, am allerwenigsten von Doppelbären.“

„Wovon sonst, meine schöne Tadlerin?“

„Nur Sie allein sind so ein langweiliger Mensch, welcher niemals bei einem Thema standhalten kann. Sooft ich mich mit Ihnen unterhalte, habe ich mir die größte Mühe zu geben, Sie bei der Sache festzuhalten.“

Sie sprach das so ernsthaft aus, daß er lachen mußte.

„Gut“, meinte er. „Halten wir jetzt also stand.“

„Ja, ich fordere Sie allen Ernstes dazu auf. Der bekannte Bär kam nur deshalb zum Vorscheine, weil Sie mich fragten, weshalb ich Ihnen die Nennung einer ganz besonderen Person zutraue.“

„Ah, jetzt endlich besinne ich mich. Ich habe Sie wirklich zu bitten, nachsichtig mit meinem allzu altersschwachen Gedächtnis zu sein –“

„Altersschwach wohl nicht, aber sehr ungeübt“, fiel sie ihm in die Rede.

„Mag sein. Also ich sollte keine Person nennen, sondern nur ganz im allgemeinen sprechen?“

„Ja. Sie sollen mir einen Gegenstand nennen, welcher interessant ist.“

„Nun, ist der Ausdruck Dame ein allgemeiner?“

„Aus alter Rücksicht für Sie will ich das einmal zugeben.“

„Und ist eine Dame interessant?“

Sie blickte ihn erstaunt an und antwortete unter Kopfschütteln:

„Natürlich. Was kann interessanter sein als eine Dame? Etwa ein Herr?“

„Natürlich niemals!“

„Nun also! Wie weiter?“

„Sie schließen: Da eine Dame interessant ist, wird ein Duell auch interessant sein, wenn es wegen einer Dame vorgenommen wird.“

„Ja, das ist meine Meinung.“

„Ich möchte diesen Schluß einer kleinen Beschränkung unterwerfen?“

„Welcher?“

„Es gibt auch uninteressante Damen –“

„Ah, das ist mir völlig neu.“

„Ja. Ein Duell wegen einer solchen würde also nicht interessant sein.“

„Sie sind abermals ein Bär! Nennen Sie mir eine einzige uninteressante Dame, dann will ich glauben, daß es solche gibt.“

„Nun, würden Sie sich für eine Schlägerei wegen eines Apfelweibes interessieren?“

„Fi donc! Nein!“

„Wegen Ihrer Näherin?“

„Vielleicht.“

„Wegen Ihrer Zofe?“

„Schon mehr?“

„Wegen Ihrer Tante?“

„Sehr!“

„Wegen Ihrer selbst?“

„Oh, ganz gewaltig!“

„Ah“, lachte er; „damit sagen Sie nun selbst, was zu sagen Sie mir vorher so streng verboten haben.“

„Was?“

„Daß Sie die interessanteste Dame sind.“

Wieder gab sie ihm einen Schlag mit dem Fächer, diesmal aber einen derberen.

„Viel Ehre!“ meinte sie. „Apfelhändlerin, Näherin, Zofe, Tante, das ist die Gesellschaft, in welche Sie mich bringen. Sie sind zum dritten Mal ein Bär! Aber lassen Sie uns nicht scherzen. Sagen Sie mir lieber, ob Ihr Freund wirklich ein so guter Fechter und Schütze ist, wie er sagt.“

„Er ist der beste, den ich kenne.“

„So ist mein Cousin verloren, weil er nicht mit den Waffen umzugehen versteht.“

„Ich denke, er will meinen Freund in Grund und Boden schlagen“, meinte Kunz von Goldberg.

„Fällt ihm gar nicht ein.“

„Oder in Grund und Boden schießen.“

„Er lügt.“

„Ah, er sagte doch, daß er längere Zeit Fechtmeister gewesen sei.“

„Das war Aufschneiderei. Er tat es vor Angst. Er hat eine angeborene Aversion gegen alles, was Waffe heißt; daher ist er nicht Militär geworden.“

„Mein Freund wird dennoch auf Satisfaktion beharren.“

„Aber wenn der Graf nicht einwilligt, weil er nicht versteht, mit den Waffen umzugehen?“

„Dann darf er es auch nicht unternehmen, einen Ehrenmann in so schmachvoller Weise zu beleidigen. Übrigens ist es nicht gesagt, daß der Sieg nur dem gehört, welcher Herr seiner Waffe ist.“

„Ein anderer kann auch treffen?“

„Sehr gut sogar, wie es bereits vorgekommen ist.“

„Mein Gott, das wäre sehr schlimm, wenn Herr von Königsau verwundet würde“, meinte sie ängstlich.

Die Sorge, welcher sie jetzt Worte gab, war keine geheuchelte, sondern eine wirkliche; das sah man ihr an. Kunz bemerkte dies. Über seine Stirn zog sich ein kleines, dunkles Fältchen, und er fragte:

„Würde Ihnen dies so unangenehm sein?“

„Sehr, allerdings sehr.“

„Ah, so beneide ich ihn.“

Sie verstand ihn sofort.

„Warum beneiden Sie ihn, mein Herr?“

„Weil Sie für ihn fürchten. Wer weiß, ob Sie die geringste Sorge hätten, wenn ich vor einem Zweikampf stände.“

„Sorge?“ lachte sie. „Sorge? Ihretwegen, Monsieur? Oh, nicht die mindeste!“

Das Fältchen auf seiner Stirn wurde tiefer, ohne daß sie darauf zu achten schien. Er schwieg einen Augenblick, ehe er sich mit stockender Stimme erkundigte:

„Ist das wahr, mein Fräulein? Ganz gewiß? Wirklich gewiß?“

„Wirklich und ganz gewiß.“

„Leben Sie wohl.“

Er wollte sich rasch abwenden, doch gelang ihm dies nicht, denn noch rascher hatte sie ihn beim Ärmel erfaßt, so daß er bleiben mußte, wenn er die beiden anderen nicht aufmerksam machen wollte.

„Wohin, Herr von Goldberg?“ fragte sie.

„Von Ihnen fort“, antwortete er kurz.

„Warum?“

Er schwieg. Ihre Augen blickten noch immer neckisch auf ihn, als sie fragte:

„Wohl weil ich keine Sorge um Sie haben würde?“

Er antwortete auch jetzt nicht.

„Ja, Sie sind ein Bär, ein rechter, großer Bär! Sagen Sie mir doch einmal, was mich verpflichten soll, mich gerade um Sie zu sorgen.“

Er hob das Auge, in welchem ein eigentümliches Licht schimmerte, langsam zu ihr empor und antwortete:

„Sie haben recht, Komtesse! Was geht Sie der deutsche Tolpatsch an! Er bangt seit langer, langer Zeit nach einem freundlichen Wort, nach einem warmen Blick von ihnen. Mag er sich sehnen, mag er hoffen und harren; käme er einmal in Gefahr, Sie hätten nicht die geringste Sorge um ihn.“

Er hatte das in tiefer Erbitterung gesprochen, dennoch antwortete sie:

„Ja, das ist wirklich wahr.“

„Wie? Das wiederholen Sie?“

„Gewiß.“

„So lassen Sie mich doch auch gehen.“

„Aber warum doch nur?“ fragte sie, indem sie ihn abermals festhielt.

Da legte er seine Hand auf die ihrige und bat in tiefem Ernst:

„Hedwig, bitte, treiben Sie nicht ein frivoles Spiel mit mir. Sagen Sie mir einmal aufrichtig: Hassen Sie mich?“

„Hassen? O nein“, flüsterte sie.

„Aber gleichgültig bin ich Ihnen?“

„Auch das nicht. Ein Freund des Hauses kann doch nie gleichgültig sein.“

„Ich habe also für Sie nur das Interesse, welches ein solcher zu beanspruchen hat? Mehr nicht?“

Sie senkte das Köpfchen tief in ein aufgeschlagenes Notenbuch, antwortete aber nicht. Da ergriff er auch ihre andere Hand und flehte:

„Hedwig, bitte, nicht dieses tödliche Schweigen. Geben Sie eine Antwort.“

Da flüsterte sie:

„Ich soll noch größere Teilnahme für Sie hegen?“

„Oh, wie unendlich glücklich würde mich das machen.“

„Ah, womit hätten Sie sich denn diese Teilnahme verdient, mein Herr?“

Da ließ er ihre Hände los und seufzte:

„So können Sie fragen? Ja, ich will Ihnen antworten. Ich habe eine so große Teilnahme allerdings nicht verdient. Man kann alles Große tun, und doch wäre ein solcher Lohn noch zu hoch. Aber daß es Ihnen so gleichgültig sein würde, wenn ich in Todesgefahr käme, das tut weh.“

„Wer hat denn das gesagt?“ fragte sie rasch.

„Sagten Sie nicht, daß Sie sich ganz und gar nicht um mich sorgen würden?“

„Allerdings.“

„Nun, ist das nicht der größte Grad von Gleichgültigkeit?“

„Ganz und gar nicht.“

„So begreife ich Sie nicht.“

„Sie sind abermals und abermals ein Bär. Das begreifen Sie nicht? Wenn der Bär geht, um mit dem Wolf oder Fuchs zu kämpfen, wer wird da Sorge um ihn haben? Er muß und wird auf alle Fälle siegen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Nie und nie werden Sie den Scherz lassen können“, klagte er. Da erweiterten sich ihre Augen; ihr Blick war groß und voll auf ihn gerichtet, und in tieferem Ton als gewöhnlich antwortete sie:

„Oh, mein Herr, ich kann auch ernsthaft sein.“

„Darf ich das glauben?“

Sie nickte ihm freundlich zu und sagte:

„Glauben Sie es. Ich kann sehr, sehr ernst sein, nämlich dann, wenn es wirklich gilt.“

„Wenn das so ist, so erfüllen Sie mir eine einzige Bitte.“

„Welche?“

„Seien Sie auch jetzt einmal ernst, Mademoiselle Hedwig.“

„Ist denn das so sehr notwendig?“

„Ja; ich versichere es Ihnen.“

„Nun gut, so will ich Ihnen diese Bitte erfüllen.“

„Warum sagten Sie vorhin, daß Sie um mich keine Sorge haben würden?“

Jetzt war sie es, welche ihr Händchen auf seinen Arm legte.

„Ich will ernst sein, sehr ernst“, sagte sie, „und dennoch muß ich Sie abermals einen Bären nennen. Überlegen Sie sich doch meine Worte! Sind Sie denn nicht ein klein wenig Logiker?“

Er schüttelte langsam und zweifelnd den Kopf, indem er antwortete:

„Ich wollte, ich könnte Sie verstehen und begreifen.“

„So bin ich wahrhaftig gezwungen, mich Ihnen verständlich zu machen. Wissen Sie, um wen man Sorge hat?“

„Nun?“

„Um Kinder –“

„Ah.“

„Ja, um Kinder, um unsichere und unzuverlässige Personen. Ich weiß nicht, ob ich recht habe und ob ich mich richtig ausgedrückt; aber um Personen, denen man ein volles Vertrauen schenkt, die man achtet oder hochachtet, kann man sich nicht sorgen.“

„Aber das Weib eines Kriegers, der im Feld ist?“

„Ist das Sorge, was sie fühlt? Ist es nicht vielmehr Angst?“

„Mag sein. Also Sie sorgen sich nicht um jemand, den Sie achten und dem Sie vertrauen?“

„Das habe ich gesagt.“

„Auch nicht um jemand, den Sie lieben?“

Da zog sie ihre Hand wieder von seinem Arm und antwortete:

„Sie fragen zu viel, Monsieur.“

Er haschte ihr Händchen wieder, hielt es fest und fuhr fort:

„So sagen Sie wenigstens, ob Sie bereits jemand kennen, um den Sie sich nicht sorgen, weil Sie ihn lieben.“

Da glitt ihr gewöhnliches schalkhaftes Lächeln wieder über ihr Gesicht.

„Ja“, antwortete sie in versicherndem Ton.

Er schien fast zu erschrecken und fragte leise und stockend:

„Wer ist das, wer? Darf ich das erfahren?“

„Ja, mein Herr; es ist ja kein Geheimnis.“

„Nun, wer ist es?“

„Ida, meine Schwester.“

„Donnerw –“; fast hätte er diesen Fluch ausgestoßen. Er hielt aber die zweite Hälfte desselben glücklich zurück und fuhr fort:

„Mein Gott, Komtesse, wollen Sie mich denn wirklich in Verzweiflung bringen? Ich versichere Ihnen, daß ich Ihre Schwester nicht gemeint habe.“

Da endlich schien sie ihn zu verstehen; sie machte ein sehr ernsthaftes Gesicht und sagte:

„Ah, jetzt erst weiß ich, woran Sie dachten!“

Ihre Miene gab ihm Veranlassung, neue Hoffnung zu schöpfen, darum sagte er, zu ihr hinübergeneigt:

„Gott sei Dank. Also, gibt es eine solche Person?“

„Ja, Herr Lieutenant“, antwortete sie leise und ihm freundlich zunickend.

„Wer ist es?“

„Meine Tante, die Gräfin.“

Das war ihm zu toll. Er öffnete bereits den Mund, um irgendein derbes Wort zu sagen, besann sich aber noch und hielt zurück. Doch drehte er sich um, um sich von ihr zu entfernen. Sie wollte ihn abermals festhalten, dies gelang ihr aber nicht, und so tat sie, was in diesem Fall am geratensten war. Sie folgte ihm, um an seiner Seite zu den beiden anderen zurückzukehren. Doch während der wenigen langsamen Schritte, die sie bis dahin taten, sagte sie:

„Sie zürnen mir?“

„Ja“, antwortete er kurz.

„Habe ich das verdient? Womit?“

„Ich glaubte, einen Stern in Ihnen zu finden. Sie aber sind der reine Irrwisch.“

Nur der Ärger hatte vermocht, ihm dieses letztere Wort zu entreißen.

„Mein Herr, Sie sind nun wieder und wieder ein Bär“, antwortete sie. „Vielleicht ist ein Irrwisch gerade für einen Bären ein Stern. Übrigens muß ich Ihnen sagen, daß auch ich höchst zornig auf Sie bin.“

„Ah! Warum?“

„Sagen Sie, wollen Sie heiraten?“

Er war ganz verblüfft über diese Frage. Diese hatte er keinesfalls erwartet. Es fiel ihm in der Schnelligkeit keine andere Antwort ein, als:

„Natürlich werde ich einmal heiraten.“

„Aber wann?“

„Zum Teufel“, dachte er bei sich im Inneren; „wozu diese nüchternen Fragen!“ Laut jedoch antwortete er ebenso nüchtern:

„Sobald mein Beruf und die Verhältnisse es erlauben, Mademoiselle.“

„So haben Sie also mit Ihrem Beruf und mit den Verhältnissen zu rechnen?“

„Leider!“

„O weh. Ich beklage ein jedes Herz, welches zu rechnen hat!“

„Beklagen Sie auch das meinige?“

„Vielleicht mehr als jedes andere.“

„Mehr? Wohl weil es umsonst rechnet und fühlt?“

„Nein, sondern weil ich wünsche, daß es fühlen dürfe, ohne zu rechnen.“

„Ja, die Damen hassen gewöhnlich das Rechnen.“

„Ich nicht. Ich halte es für ein angenehmes Turnen des Geistes.“

„Da möchte ich Sie bitten, mir beizustehen.“

„Im Rechnen?“

„Ja.“

„Gut. Hier meine Hand. Wir wollen miteinander berechnen. Die Ansprüche Ihres Berufs und die Gunst oder Ungunst der Verhältnisse.“

„Bis wie lange?“

„Bis wir ein gutes Fazit erreichen.“

„Und dieses Fazit heißt?“

„Schon wieder ein Bär! Man darf nicht mit den Pranken dreinschlagen.“

„Verzeihung. Aber ehe wir das Fazit erlangen, könnte das Irrlicht verlöschen.“

„Oder doch zeigen, daß es kein Irrlicht, sondern ein Stern sei.“

„Aber nicht für mich!“

„Für wen sonst?“

„Für einen anderen.“

Sie waren während der wenigen Schritte, welche sie zu tun hatten, einige Male halten geblieben. Auch jetzt blieb Hedwig stehen und sagte:

„Warum glauben Sie das?“

„Weil es so die Natur des Irrlichtes ist.“

„Aber es ist ja ein Stern, und Sie wissen, daß ein jeder Stern treu und unverdrossen um einen anderen kreist. Haben Sie denn nie Vertrauen?“

„Mein Gott, wer kann Vertrauen haben, wenn man nie ein Wort hört, welches so ernst ist, daß man darauf bauen könnte.“

Da trat sie ganz nahe zu ihm heran, ergriff seine Hand und sagte:

„Ist Hedwig ein Wort?“

„Ja, ein Name.“

„Bauen Sie auf dieses Wort. Ein besseres, festeres und sicheres kann ich Ihnen nicht sagen.“

Dann trat sie von ihm hinweg und begab sich nach dem Fenster, an welchem Ida mit Gebhard gestanden hatte, und zwar so vertieft in ihre Unterhaltung, daß sie auf Hedwig und Kunz gar keine Aufmerksamkeit gerichtet hatte.

Als Hedwig nach der Entfernung der Gräfin sich vom Stuhl erhoben hatte, um an das Piano zu treten, hatte sich Ida dem Fenster genähert, wie um irgend etwas in einem dort stehenden Stickkörbchen zu suchen. Da Gebhard sich nun allein am Tisch befunden hatte, war er ihr langsam gefolgt. Sie hörte das Nahen seines leisen Schritts und wendete sich langsam zu ihm um.

„Herr Lieutenant“, sagte sie, „glauben Sie, daß es mir erst in diesem Augenblick einfällt, daß ich beinahe einen Raub an Ihnen begangen hätte?“

Er wußte, was sie meinte. Als die Gräfin das Bild seiner Mutter betrachtet gehabt, hatte sie dasselbe an Ida zurückgegeben. Das schöne Mädchen hatte es spielend in der Hand behalten; spielend hatte sie es im Laufe der Unterhaltungen an ihre eigene Uhrkette genestelt und später nicht wieder daran gedacht. Erst jetzt war es ihr wieder eingefallen.

„Ja, einen Raub, einen großen Raub haben Sie an mir begangen“, antwortete er, indem er neben sie in die Fensternische trat, in welcher sie stand.

Sie wurden beide von den Gardinen so verdeckt, daß sie von der Schwester und Goldberg gar nicht gesehen werden konnten.

Bei dieser Antwort errötete Ida.

„Ich habe es vergessen“, meinte sie verlegen, „hätte Tante nicht während des Soupers Ihre Gegenwart gewünscht, so wären Sie gegangen, und ich hätte das Kleinod zurückbehalten – ganz ohne Absicht.“

„Ich wäre wiedergekommen und hätte es von Ihnen zurückerhalten“, antwortete er. „Aber Fräulein, ich meinte einen anderen Raub.“

„Einen anderen? Ich habe keine Ahnung –!“

Sie hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen. War es infolge einer leisen Ahnung, trotzdem sie das Gegenteil behauptete?

„Sie ahnen es nicht, Komtesse? Ahnungslosigkeit ist in vielen Fällen ein sehr beneidenswerter Zustand, und so will ich Ihnen denselben nicht stören.“

„O nein, Monsieur“, entgegnete sie schnell, „habe ich ein Unrecht an Ihnen begangen, so bitte ich Sie um Verzeihung und um Mitteilung desselben.“

„Unrecht?“ sagte er. „O nein, tausendmal nein! Bitte, Mademoiselle, geben Sie mir einmal Ihr Händchen.“

Sie reichte ihm vertrauensvoll ihre Rechte dar. Er ergriff dieselbe und sagte:

„So! Diese Hand muß ich Ihnen drücken voll inniger Dankbarkeit, daß Sie mir in einem Augenblick zu Hilfe kamen, da ich schon alles verloren gab.“

Sie ließ ihm ihre Hand und antwortete:

„Sie haben einen vollständigen Sieg errungen, Herr von Königsau.“

„Oh, nur durch Ihr rechtzeitiges Einschreiten!“

„Ich tat nur, was mir mein Herz gebot. Tante hatte ein großes Unrecht gegen Sie begangen. Wie freut es mich, daß sie ihre Meinung so schnell geändert hat! Sie haßt leider die Deutschen und – die Offiziere, oder vielmehr den Stand der letzteren.“

„Warum, mein Fräulein?“

„Sie ist leidenschaftlich Französin.“

„Und da meinen Sie, müsse sie die Deutschen hassen?“

„Nicht meine Meinung ist es, sondern die ihrige, mein Herr.“

„Sie würden also keinen hassen aus dem einzigen Grund, daß er ein Deutscher ist?“

„Nein, nie! Sie haben mir vielmehr ganz aus der Seele gesprochen, als Sie jenes schöne Gebot des Erlösers erwähnten und die Stimme des Herzens, welche –“

Sie stockte. Dachte sie, zuviel gesagt oder überhaupt ein Gebiet berührt zu haben, welches zu betreten sie keine Berechtigung hatte? Er hielt ihre Hand noch immer in der seinigen. Sie machte nicht die leiseste Anstrengung, sie ihm zu entziehen. Es war beiden, als ob es so sein müsse und nicht anders sein könne. Ein süßer Schauer durchrieselte ihren Körper, als sie jetzt von ihm einen leisen Fingerdruck fühlte und dann die Worte hörte:

„Die Stimme des Herzens, welche –? O bitte, fahren Sie fort.“

„Nein, nein, ich weiß es nicht“, flüsterte sie verlegen.

„Ich glaube es Ihnen“, antwortete er zart. „Auch ich wußte es nicht, bin aber so glücklich, es erfahren zu haben.“

Es war ihm, als ob er ein ganz, ganz wenig bemerkbares Zucken ihrer Hand empfinde. War das infolge seiner Worte? Er konnte dies nicht erfahren, denn sie brachte ein anderes Thema, indem sie fragte:

„Sie erzählten von jener bösen Hiebwunde, welche Ihr Papa empfangen hat. Leidet er jetzt noch daran?“

„Sie verursacht ihm zuweilen Schmerzen.“

„Wie leid, wie sehr leid mir das tut. Ihr Vater muß ein außerordentlich angelegter Charakter sein.“

„Ich bin allerdings überzeugt, daß er schnell Karriere gemacht hätte, wenn jene Verwundung nicht dazwischen gekommen wäre.“

„Das ist lebhaft zu bedauern. Glauben Sie, daß ich Ihre Eltern persönlich kenne?“

„Wie? In Wirklichkeit persönlich?“ fragte er, im höchsten Grad überrascht.

Sein Staunen erheiterte sie, und ein leises Lächeln glitt über ihre schönen, sanften Züge.

„Ich bitte es nicht so ganz wirklich zu nehmen“, sagte sie. „Sie sind ein sehr guter Erzähler. Sie schildern so lebhaft und anschaulich, daß man die Personen, von denen Sie sprachen, gewissermaßen vor sich sieht und so liebgewinnt. Das ist es, was ich sagen wollte, und so habe ich es gemeint.“

„Sie haben meine Eltern lieb?“

„Ja, wer könnte das Bild Ihrer Mama sehen, ohne ihr die wärmste, vollste Sympathie zuzuwenden? Und derjenige, dem sie sich für das Leben anvertraut hat, muß ihrer würdig sein.“

Wie wohl taten diese Worte dem Lieutenant! Sie liebte seinen Vater und seine Mutter. War er nicht berechtigt, folgendermaßen weiter zu schließen: Sie liebt meinen Vater, weil er der Mutter würdig ist; nach den Gesetzen der Natur und Erfahrung, werde ich der Eltern nicht unwert sein, folglich kann auch mir die Liebe zu eigen werden. Sie fuhr fort:

„Ihr Vater ist ein sehr mutiger, sogar verwegener Mann gewesen. Ich bin überzeugt, daß Sie sein Ebenbild sind.“

„Woher vermuten Sie das?“ fragte er.

„Es ist keine Vermutung, sondern Überzeugung. Wer in die Sahara geht, der hat ein mutiges Herz. Und daß Sie ein solches besitzen, haben Sie ja auch heute wiederholt und zur Genüge bewiesen. Werden Sie mir glauben, daß ich für Sie gezittert habe?“

„Dieses Duells wegen?“

„O nein, Herr Lieutenant, sondern der Tante wegen.“

„Ist sie so schlimm?“ fragte er in einem scherzhaften Ton.

„Schlimm nicht, aber sehr eigen. Fast befürchtete ich, daß sie dem Diener Befehl geben werde, Sie fortzuführen. Sie hat das bereits öfters getan. Wegen des Duells aber befürchte ich nicht das geringste.“

„Das ist ein Beweis, daß auch Sie ein mutiges Herz besitzen.“

„O nein; ich bin im Gegenteil ein ganz und gar zaghaftes Wesen.“

„Aber, Mademoiselle, ein Duell ist eine sehr ernsthafte Sache!“

„Ich weiß das, mein Herr.“

„Man kann verwundet werden, man kann sogar fallen.“

„Wie sehr haben Sie recht! Deshalb habe ich es auch nie begreifen und verstehen können, daß gewisse Gesellschaftsklassen gezwungen sein sollen, ihre Differenzen auf eine so rohe, meist auch ungerechte Weise beizulegen, während andere Kreise die Wohltat einer geordneten Gesetzgebung genießen.“

„Es mag sein, daß die Angehörigen der ersten Klasse vielfach von Gebrauch, Herkommen und Vorurteil fortgerissen werden. Aber ich bitte Sie, mir zu sagen, wie anders ich Ihrem Cousin hätte antworten dürfen?“

„Sie mußten ihn allerdings fordern, um nicht als Feigling zu gelten. Das ist, wie ich gehört habe, in Offizierskreisen die Gepflogenheit.“

„Es war sogar das wenigste, was ich tun konnte.“

„Noch mehr also?“

„Ja. Wäre er mir an einem anderen Ort und nicht in Ihrer Gegenwart in dieser Weise entgegengetreten, so hätte ich ihn an Ort und Stelle, und zwar augenblicklich persönlich gezüchtigt.“

„Mon dieu!“ rief sie erschrocken. „Wie gut, daß das nicht stattgefunden hat.“

„Ich begreife die Rücksicht, mit welcher die Frau Gräfin diese unangenehme Angelegenheit mit Schweigen übergangen hat; aber aufrichtig muß ich Ihnen gestehen, daß ich diese Ruhe deshalb bewundere, weil es sich dabei doch um einen so nahen Verwandten handelt.“

„Daran ist nichts zu bewundern“, lächelte sie. „Ich hörte, daß Sie ein so guter Schütze und Fechter sind?“

„Oh, das war nur Redensart, die ich in Anwendung brachte, weil Ihr Cousin behauptete, mich in Grund und Boden hauen oder schießen zu wollen.“

„Und doch weiß ich, daß Sie die Wahrheit gesagt haben. Aber all Ihre Kunst und Geschicklichkeit wird hier vergeblich sein.“

„Ah, Sie meinen, daß mein Gegner mir überlegen sei?“

„Ganz und gar nicht. Ich meine vielmehr, daß das Duell gar nicht stattfinden wird.“

„Ich habe eine andere Überzeugung.“

„Ich spreche aus Erfahrung.“

„So hat der Graf schon einmal oder mehrere Male sich geschlagen?“

„Oh, nicht ein einziges Mal. Er schlägt sich ja überhaupt nie.“

„Aber, ich denke, daß Sie aus Erfahrung sprechen?“

„Allerdings. Er war schon öfters gefordert, hat aber nicht angenommen.“

„Ah, wissen Sie, daß dies ehrlos ist?“

Sie schwieg ein Weilchen und antwortete dann:

„Sie haben recht. Er ist ein großer Feigling. Tante verachtet ihn, und wir –“

„Und Sie –?“ fragte er, als sie fortzufahren zögerte.

„Wir können ihn weder lieben noch anbeten.“

„Ich werde ihn veranlassen, ehrenvoll zu handeln.“

„Wieso?“

„Indem ich ihn zwinge, sich mit mir zu schlagen?“

„Das wird Ihnen auf keinen Fall gelingen.“

„Dann werde ich Sie, Mademoiselle, wohl niemals wiedersehen dürfen.“

„Niemals? Warum?“ fragte sie rasch.

„Weil ich etwas tun werde, was mir Ihren Zorn zuziehen wird.“

„Dürfen Sie mir dies mitteilen?“

„Ja, ich will, ich muß es Ihnen sagen. Vielleicht besitzen Sie soviel Einfluß auf Ihren Cousin, das drohende Unheil von ihm abzuwenden.“

„Ah, Sie machen mich wirklich fürchten.“

Er mußte leise lächeln, als er ihr mit der Frage antwortete:

„So lieben Sie also das Gruseln nicht so wie Komtesse Hedwig?“

„O nein, nein; ich fürchte es. Aber welches Urteil droht dem Grafen?“

„Wenn er meine Forderung zurückweist, werde ich ihn öffentlich demütigen.“

„Muß das denn geschehen?“

„Ja. Wenn ich mich ohne dieses abweisen lasse, würde der Vorwurf der Feigheit auf mich fallen.“

Sie schüttelte mißbilligend das schöne Köpfchen.

„Ich mache Ihnen keine Vorwürfe“, sagte sie; „aber ich beklage Sie und alle Ihre Standesgenossen, welche von derartigen Anschauungen und Herkömmlichkeiten abhängig sind. Doch sehe ich ein, daß Sie den Vorwurf der Feigheit auf keinen Fall auf sich laden dürfen. Darf ich wissen, auf welche Weise Sie in diesem Fall die Demütigung des Grafen vornehmen würden?“

„Das weiß ich selbst noch nicht; es wird dies durch die gegebenen Umstände bestimmt werden.“

„Wird es durch Schrift oder Wort geschehen, oder gar durch die Tat?“

„Auch das ist möglich, vielleicht noch eher möglich, als das andere.“

Sie schwieg und blickte sinnend zum Fenster hinaus. Noch immer hielt er ihre Hand in der seinigen. Da drehte sie sich rasch herum, gab ihm auch die Linke und sagte, indem sie den Kopf näher zu ihm neigte:

„Werden Sie mir eine Bitte, eine recht eigentümliche Bitte erfüllen und mir sie auch nicht anders deuten, als sie gemeint wird?“

Es war ein höchst unangenehmes Gefühl, welches ihn überschlich.

„Ich glaube, diese Bitte erraten zu können“, sagte er. „Aber leider wird es mir unmöglich sein, sie zu erfüllen.“

„Nein, Sie erraten sie nicht, und bei nur einigem guten Willen wird es Ihnen gar nicht schwer werden, mir diese Liebe zu erweisen.“

Liebe – dieses Wort hatte sie ausgesprochen. Es wurde ihm so warm, so weit, so eigentümlich und unbeschreiblich im Herzen.

„Sie wollen für Ihren Cousin um Schonung bitten?“ fragte er zagend.

„Nein, o nein! Wie könnte ich dieses tun! Wie könnte ich einen Wunsch aussprechen, mit dessen Erfüllung Ihre Ehre beleidigt würde.“

„So sprechen Sie, Mademoiselle.“

„Ja, ich will wagen, zu sprechen. Bitte, handeln Sie in dieser Angelegenheit so, daß das Bild, welches Sie Ihrer Mama von sich zurückgelassen haben, nicht getrübt werde! Das ist meine Bitte. Und nun sagen Sie mir, ob Sie mir zürnen oder ob Sie mir verzeihen können.“

„Jetzt verstehe ich Sie vollkommen“, antwortete er, und aus seinem halblauten Ton klang es wie Glück und Jubel heraus. „Ich Ihnen zürnen? O nein und tausendmal nein. Ich werde zwar so handeln, wie ich auf alle Fälle gehandelt hätte; aber ich habe von Ihnen ein Geschenk empfangen, so kostbar, so wertvoll, daß ich es gegen Schätze und Reichtümer nicht vertauschen würde.“

„Ein Geschenk?“ fragte sie ahnungslos.

„Ja, ein großes, kostbares Geschenk, welches Sie mir freiwillig darbringen, ohne es zu wissen. Mademoiselle, Sie haben mit Ihrer Bitte aufrichtig zu mir gesprochen; darf ich ebenso aufrichtig gegen Sie sein?“

„Ja, Monsieur, sprechen Sie!“

Sie nickte ihm dabei so freundlich und aufmunternd zu, daß er Mut faßte.

„Sie haben das Bild meiner Mutter gesehen“, begann er. „Sie ist ein Engel an Schönheit gewesen, aber auch ein Engel an Reinheit und Herzensgüte.“

„Ich bin davon überzeugt, Herr von Königsau.“

„Mein Vater war ein tüchtiger Offizier, offen, bescheiden, dabei kenntnisvoll schneidig und sogar verwegen. Als diese beiden sich zum ersten Mal sahen, fühlten sie sofort, daß sie sich für das Leben angehörten. Glauben Sie, daß die Liebe so stark, so mächtig und – so schnell sein kann?“

Sie senkte errötend das Köpfchen und antwortete sehr leise:

„Fast glaube ich es.“

„Werden Sie auch glauben, daß mein Vater dann beim ersten Beisammensein der Mutter von seiner Liebe gesprochen hat?“

„Sie sagen es, und da muß es ja wahr sein.“

„Werden Sie das nicht für eine Verwegenheit von ihm erklären?“

„Ich habe keinen Maßstab für solche Vorkommnisse, Herr Lieutenant; aber ich denke, wer eine wirkliche und wahre Liebe, die keine Täuschung enthält, im Herzen trägt, der muß auch die Erlaubnis haben, von ihr sprechen zu dürfen.“

„Sie meinen doch die Erlaubnis, zur Geliebten sprechen zu dürfen?“

„Ja. Es ist besser, er erfährt gleich in der ersten Stunde, daß seine Liebe erhört werden kann oder eine vergebliche sei, da ihm in dem letzteren Fall wohl noch die Möglichkeit bleibt, sie zu bekämpfen.“

„Da ist aber vorausgesetzt, daß die geliebte Person auch gleich in der ersten Stunde einen Eindruck empfangen hat, der es ihr möglich macht, über ein so großes Glück oder ein so schweres Weh zu entscheiden.“

„Ist dies nicht stets der Fall, Monsieur?“ fragte sie.

Diese Frage brachte einen solchen Sturm von Gefühlen in ihm hervor, daß er eine volle Minute schweigend verharrte, ehe er antwortete:

„Ich glaube, es ist dies meist der Fall. Und nun will ich Ihnen sagen, daß auch ich die Stimme des Herzens gehört habe, von welcher Sie vorhin sprechen wollten, aber nicht weiter sprachen. Es ist so schnell und unerwartet gekommen; es hat mich überfallen so hell und blendend, wie ein mächtiger, gewaltiger Lichtstrahl, der in die finstere Tiefe dringt, und dann regen sich Millionen und aber Millionen unbekannte Triebe, um hinauszustreben und hinauszuwachsen in das Reich des Lichtes und der Wonne.“

Er hatte langsam und mit Innigkeit gesprochen. Noch immer hielt er ihre Hände gefaßt, die sie ihm noch nicht entzogen hatte. Sie schwieg; aber es war ihm, als ob er diese weichen, warmen Händchen leise, leise beben fühlte.

„Und Sie fragen nicht“, fuhr er fort, „wer diese Sonne ist, deren Strahl so mächtig, so schöpferisch in mein Herz gedrungen ist?“

„Wie dürfte ich fragen?“ sagte sie nach einer Pause.

„Sie dürfen! Ja, Sie sind es, welche es am ersten und am meisten darf. Soll ich es Ihnen sagen, Mademoiselle Ida?“

Sie wendete das Köpfchen langsam zur Seite.

„Bitte, bitte! Darf ich?“ wiederholte er mit dringlichster Innigkeit.

„Sprechen Sie“, hauchte sie, so daß er es kaum hören konnte.

„Es gibt eine Sage, daß Gott immer zwei Seelen zur Erde sende, welche zueinander gehören. Sie nehmen Wohnung in menschlichen Körpern, welche näher oder entfernter voneinander wohnen; aber wenn sich diese beiden Menschenkinder begegnen, so erkennen sich die Seelen und bleiben von nun an beieinander für das ganze Erdenleben.“

„Welch eine schöne Sage!“ flüsterte sie.

„Sie fiel mir ein, als ich heute bei Ihnen Zutritt nahm. Ich sah da zwei Augen auf mich gerichtet, zwei Augen von wunderbarer Tiefe und Milde, so rein und innig, wie ich noch keine je gesehen hatte. Aus diesen Augen blickte es mir entgegen wie ein treuer Gruß aus einer anderen Welt; ich fühlte, daß ich hier meine Seele gefunden habe, welche mir ihr Willkommen entgegenstrahlte. Habe ich mich geirrt, Mademoiselle?“

Sie war von einer tiefen Bewegung ergriffen. Ihr Busen wogte, und ihr Atem wurde hörbar. Sie hatte seine Worte bereitwillig angehört, sie entzog ihm ihre Hände nicht, aber sie wagte nicht, eine Antwort zu geben.

„Soll ich vergebens fragen?“ fuhr er fort. „O bitte, bitte, sagen Sie mir, ob ich mich geirrt habe oder nicht.“

Er neigte das Ohr zu ihr nieder, um ihre Antwort besser zu vernehmen. Er lauschte längere Zeit vergeblich; da aber klang es endlich, kaum hörbar:

„Kann denn ich das wissen?“

„Ja, Sie allein können es wissen, Sie und keine andere, denn Sie sind es ja, aus deren Augen mir dieser Gruß entgegenflutete. Sie sind es, zu der mich meine Seele zieht. Sie sind es, die mir vorkommt wie eine fleischgewordene Verheißung unendlicher Seligkeit. Ihr Blick ist es gewesen, welcher mir in das Herz gedrungen ist wie ein übermächtiger Sonnenstrahl, und nun ist jeder Puls meines Herzens, jeder Zug meines Atems und jede Faser meines Innern eine Frage an Sie, ob es so wahr ist, daß Sie mein Licht, mein Sonnenstrahl und meine Seele sind.“

„O Gott“, flüsterte sie; „kann ich denn antworten? Darf ich antworten? Was soll ich Ihnen sagen?“

„Nur das, was Sie selbst fühlen, nichts anderes.“

„Und doch kann ich nicht sprechen“, hauchte sie in holder Verwirrung. „Das kommt so schnell, so ungeahnt. Das ist so unbesiegbar, so gewaltig, und macht mich doch so bang und bringt mir Angst und Furcht.“

Er sah zwei große Tropfen in ihren Augen stehen. Die echte, wahre Liebe ist unüberwindlich. Er zweifelte nicht an seinem Glück; aber er begriff die gewaltige Aufregung, welche seine Worte in dieser reinen, bisher so ruhigen Mädchenseele hervorbringen mußten. Nicht Leid und Weh, sondern dieser Sturm des Herzens war es, welcher die Tränen emporgetrieben hatte, daß sie nun als Perlen an den Wimpern glänzten, beredte Zeugen einer Gemütstiefe, welche noch andere Schätze bergen mußte, als nur diese Perlen. Es wurde ihm so wunderbar zumute. Es wäre ihm unmöglich gewesen, die Aufregung der Geliebten zu benutzen, um sich einen Beweis der Zärtlichkeit zu erlauben. Die Nähe einer reinen, unbefleckten Seele wirkt heiligend. Er hielt nur immer noch ihre Hände in den seinigen und sagte bittend und in beruhigendem Ton:

„Sie können sprechen, Ida! Haben Sie nicht Angst und Furcht! Es ist mir, als stehe meine Mutter neben uns und höre ein jedes meiner Worte. Ich spreche aus der tiefsten Tiefe meines Herzens zu Ihnen, aber ich habe die Kraft, die Pforte dieses Herzens augenblicklich zu schließen, wenn Sie meine Worte nicht hören wollen. Ich würde unendlich traurig von Ihnen scheiden; aber ich würde das Bewußtsein mitnehmen, zwar aufrichtig gewesen zu sein, Sie aber nicht gekränkt zu haben. Nur diese lieben, lieben Händchen will ich halten; nur in Ihre Augen will ich blicken, und Ihre Stimme will ich hören. Können Sie mich lieben, so bin ich selig und unendlich beglückt; aber ich werde nichts, nichts weiter von Ihnen verlangen und erbitten, als nur dies eine Wort, welches zwischen uns entscheidet. Ich werde meinem Beruf folgen und in die Fremde gehen; ich werde das Andenken an Sie und meine gute Mutter mitnehmen als das Doppelgestirn, zu dem ich voller Dank und Ehrfurcht emporblicke, und dann, wenn ich zurückkehre und Sie die Überzeugung gewonnen haben, daß ich Ihrer würdig bin, dann erst werde ich mir eine süße Gabe von Ihnen erbitten, eine Gabe, welche mir bisher nur von der Mutter wurde – einen Kuß, den ersten Kuß der Liebe.“

Da plötzlich entzog sie ihm die Hände. Schon glaubte er, sie beleidigt zu haben; aber er sah den eigentümlich seligen Blick, mit welchem sie ihre Augen groß und voll auf sein Antlitz richtete.

„Dann, nach so langer Zeit erbitten Sie den Kuß?“ fragte sie.

„Ja“, antwortete er.

„Und jetzt genügt Ihnen das Wort, daß ich die Ihrige bin?“

„Genügen? Ida, welch ein Wort! Die Überzeugung, daß Sie mir gehören wollen, wiegt ja alle Schätze der Erde auf.“

Das vorhin so ängstliche Mädchen war plötzlich ganz anders geworden. Die Liebe ist allmächtig. Ein süßer, unwiderstehlicher Drang trieb Ida, die Arme um den Hals des Geliebten zu legen. Sie schlang sie um seinen Nacken, legte das Köpfchen an seine Brust und flüsterte:

„Hier hast du diese Schätze, und hier hast du auch den Kuß, nicht nach Jahren, sondern bereits heute!“

Und ehe er es sich versah, fühlte er ihren warmen Mund auf seinen Lippen.

Er legte voller Wonne die beiden Arme um sie, erwiderte den Kuß und fragte:

„Ist es wahr, du Holde, du Reine, du liebst mich wirklich?“



„Oh, wie sehr, wie innig!“ hauchte sie.

„Und kennst mich doch erst seit Stunden?“

„Sagtest du nicht selbst, daß die Liebe so mächtig, so unwiderstehlich – so schnell sei?“

„Ja, das sagte ich, denn ich hatte es an mir selbst erfahren. Und dir ist es ebenso ergangen?“

„Ganz so wie dir, Geliebter. Die Sage von den beiden Seelen ist wahr.“

„Sie ist wahr. Die Seelen haben sich gefunden, und nun sollen sie nicht mehr zwei, sondern eine Seele sein.“

So standen sie innig aneinandergeschmiegt am Fenster beisammen, bis Kunz von Goldberg und Hedwig herbeitraten. Wie anders war Ida als Hedwig, und doch waren beide Schwestern. Und doch fühlte auch Goldberg sich beglückt. Die letzten Worte der schönen ‚Unbezähmbaren‘ hatten ihm Hoffnung gemacht, daß sein Herzenswunsch sich doch noch erfüllen werde.

„Ah, Vorstudien!“ sagte er munter.

„Wieso?“ fragte Gebhard, indem er sich zwang, auf seinem Gesicht nichts von dem Glück, welches ihn beseligte, merken zu lassen.

„Du stehst mit deiner Dame am Fenster und zählst die Sterne. Das soll in der Wüste noch viel leichter und interessanter sein. Ist nicht der Sirius dort dreimal so groß, als hier bei uns der Mond?“

„Das glaube ich kaum; aber in meinem ersten Brief, den du erhältst, werde ich dir darüber eine ganz genaue Auskunft erteilen.“

„Ich hoffe es. Jetzt hätten wir auch keine Zeit zu so himmlischen Betrachtungen, denn da kommt die gnädige Frau zurück.“

Die Gräfin trat wieder ein, und gleich darauf wurde gemeldet, daß angerichtet sei. Nun während der Tafel erst brachte die Dame des Hauses das Gespräch auf ihr Lieblingsthema, auf das Reisen und die Erforschung fremder Kontinente und Länder. Sie war auf diesem Gebiet außerordentlich belesen und hatte sich geographische Kenntnisse angeeignet, welche man nicht bei einer Dame zu finden gewöhnt ist.

Gebhard konnte ihr treulichst sekundieren, was sie in ein wahres Entzücken versetzte. Und als er nun gar sich innig vertraut mit den Erlebnissen von Gérard, dem Löwenjäger, zeigte, da hatte er ihre vollständige Zuneigung sich erobert.

„Sonst sind die Deutschen große geographische Ignoranten“, meinte sie. „Wie kommt es, daß Sie eine so rühmliche Ausnahme machen?“

Gebhard hütete sich, zu verraten, daß er ihrer Behauptung nicht beipflichte, sondern vollständig anderer Meinung sei. Er antwortete:

„Ich interessierte mich schon als Knabe für dieses Fach und habe mir wirkliche Mühe gegeben, mir einige Kenntnisse anzueignen.“

„Einige? Sie sind sogar sehr gut bewandert, und ich glaube, daß selbst ich nicht viel vor Ihnen voraus habe. Ihre Sprachkenntnisse besitze ich nicht. Sagen Sie, ob Sie auch Arabisch verstehen. Sie brauchen doch dasselbe bei Ihrer Reise durch die Wüste.“

„Ich hatte mich bislang noch nicht mit dieser Sprache beschäftigt; aber nachdem ich meine gegenwärtige Bestimmung erhalten, habe ich schleunigst ihr Studium begonnen. Wir werden übrigens gute Dolmetscher haben.“

„Besuchen Sie mich täglich. Ich werde Professor Grénaux einladen: Er ist Lehrer der arabischen Sprache und wird Ihnen nützlich sein können.“

Das war außerordentlich viel. Kunz von Goldberg sprach sich ganz verwundert darüber aus, als sie auf dem Heimweg begriffen waren.

„Glückskind!“ sagte er. „Wer hätte das gedacht?“

„Ich selbst nicht“, antwortete Gebhard.

„Ich kann dir aufrichtig sagen, daß ich dich erst für etwas verrückt hielt.“

„Als ich der Gräfin meine Meinung sagte?“

„Ja. Das war mehr als verwegen.“

„Hat aber gewaltig imponiert“, lachte Königsau vor sich hin.

„Und dann dieser Graf Rallion. Ich glaube, daß er sich nicht wieder bei der Tante sehen läßt, sobald wir bei ihr sind.“

„Ich hoffe, daß du mir morgen zu Diensten sein wirst.“

„Gewiß. Ich werde zur angegebenen Zeit bei ihm vorsprechen und dir das Resultat mitteilen. Wie gefällt dir die Gräfin?“

„Sehr gut.“

„Ah, weil du Hans im Glück bei ihr gewesen bist. Sieh zu, daß du es auch ferner bleibst. Und was sagst du zu den Nichten?“

„Hm. Junge Mädchen.“

„Was?“ fragte Goldberg erstaunt. „Junge Mädchen? Weiter nichts?“

„Was weiter?“

„Hübsch.“

„So la la!“

„Geistreich.“

„Aber unbezähmbar.“

„Große Erbschaft zu erwarten.“

„Haben sie aber noch nicht.“

„Erlaube mir, dich nicht zu begreifen.“

„Ist dir sehr gern gestattet.“

„Erst branntest du vor Begierde, die Familie kennenzulernen, und nun ich dich eingeführt habe, bist du die personifizierte Gleichgültigkeit.“

„Hm, ich bin befriedigt!“ antwortete Gebhard zweideutig.

„So so! Wirst du wieder hingehen?“

„Das versteht sich. Die Gräfin interessiert mich außerordentlich.“

„Aber die Nichten weniger. Mensch, du hast wirklich Fischblut in den Adern. Sage mir übrigens, welchem von den beiden Mädchen du den Vorzug geben würdest!“

„Ida. Du ziehst natürlich die Unbezähmbare vor.“

„Allerdings.“

„Ihr wart heute verteufelt musikalisch.“

„Bitte, nicht zu sticheln. Wir studierten einfach Partituren und Noten.“

„Gab es da vielleicht die Partitur einer gewissen Oper, die Zähmung der Widerspenstigen genannt?“

„Du, ist das nicht vielmehr ein Lustspiel?“

„Mir gleich, wenn dir nur die Zähmung gut gelungen ist.“

„Vielleicht.“

„Ah, wirklich?“

„Ja. Weißt du, lieber Freund, ich glaube, daß ich Hedwig bisher doch falsch behandelt habe. Sie ist munter, übersprudelnd, voller Schnacken und Schnurren; ich aber bin stets furchtbar elegisch gewesen.“

„Das ist ein Fehler.“

„Der aber von nun an vermieden werden soll.“

„Wünsche guten Erfolg.“

Die beiden Freunde trennte sich voneinander, jeder erfüllt von der Gewißheit, daß er von der Geliebten träumen werde.

Aber der Traumgott ist ein neckischer, schadenfroher Kerl, es beliebte ihm heute, diesen Wunsch weder Goldberg noch Königsau zu erfüllen.

Am nächsten Abend begaben beide sich wieder zur Gräfin, bei welcher sie versprochenermaßen den Professor fanden. Beide nahmen Königsau so in Beschlag, daß es ihm unmöglich war, mit Ida ein vertrauliches Wort zu sprechen. Erst als nach der Tafel Hedwig als gewandte Pianistin sich an das Instrument setzte, um eine längere Komposition vorzutragen, nahm er neben der Geliebten Platz und flüsterte mit ihr, während beide sich jedoch den Anschein gaben, als ob sie dem Vortrag mit der größten Aufmerksamkeit folgten.

Die erste Frage Idas galt ihrem Cousin, dem Grafen.

„War dein Freund bei ihm?“ erkundigte sie sich.

„Ja. Das ist geschehen.“

„Abgewiesen, nicht wahr?“

„Nein; aber er hat ihn gar nicht getroffen.“

„Ah, er hat sich euch durch einen Spaziergang entzogen?“

„Nein, sondern sogar durch eine Reise.“

„Das ist ebenso vorsichtig wie feig. Wohin ist er?“

„Nach Genf und dann weiter.“

„Was beabsichtigst du nun gegen ihn zu unternehmen?“

„Jetzt gar nichts. Es wurde gesagt, daß er erst nach Monaten wiederkehren werde; dann bin ich längst nicht mehr hier. Ich werde mit dieser Angelegenheit also warten müssen, bis auch ich von meiner Reise zurückkehre.“

„Und dann?“

„Dann sollst du meine Ratgeberin sein, meine Seele.“

„Wirklich? Wirst du auf mich hören?“

„Gewiß, denn ich bin überzeugt, daß du nichts wünschen wirst, was die Rücksicht auf meine Ehre dir abschlagen müßte. Wir besitzen seit gestern nur ein Leben und ein Wollen, also hast du in dieser Angelegenheit ebenso zu entscheiden wie ich.“

Sie drückte ihm voll innigster Dankbarkeit die Hand.

So fand er sich täglich bei der Gräfin ein, oft des Tages zweimal, und obgleich er sich nicht direkte Mühe gab, ihr Wohlwollen zu festigen, schien dasselbe doch von Tag zu Tag zu wachsen. Solange er sich in Paris befand, schrieb er täglich an die Eltern und erhielt auch täglich eine Antwort. Diese Briefe überließ er der Gräfin zur Durchsicht, wodurch sie immer weitere Einsicht in die Verhältnisse seiner Familie erhielt und ein immer größeres Interesse an den Seinigen gewann. – – –

So nahte der Tag seiner Abreise immer mehr heran. Endlich war der Aufbruch für übermorgen bestimmt. Er saß des Abends wieder bei der Gräfin, mit ihr über Jagd- und Reiseabenteuer sprechend, während Kunz mit den beiden jungen Damen das Auditorium bildeten. Da unterbrach sich die Gräfin plötzlich im Redefluß, indem sie fragte:

„Ah, was ich vorhin vergaß. Ist kein Brief von Ihren guten Eltern angekommen?“

„Ja, Madame; der letzte, den ich in Paris zu erwarten habe.“

„Ist er diskreter Natur?“

„Nein, gar nicht. Darf ich Ihnen denselben zur Verfügung stellen?“

„Ich bitte darum.“

Er gab ihr das Schreiben. Sie setzte die Brille auf, zog die Astrallampe näher und begann zu lesen. Unterdessen unterhielten sich die jungen Leute halblaut miteinander, wobei jedoch Gebhard die Gräfin scharf, aber verstohlen beobachtete.

Da plötzlich, bei einer Stelle, blickte sie über das Papier scharf zu ihm herüber. Sie fixierte ihn eine ganze Weile, ohne daß er tat, als ob er es bemerkte. Ihr Gesicht hatte dabei nach langer Zeit wieder einmal den alten, harten Ausdruck angenommen. Dann sah sie wieder in den Brief zurück, um ihn bis zum Ende zu lesen.

Als sie fertig war, gab sie ihm denselben zurück, ohne aber, wie früher gewöhnlich, eine ganze Reihe von Bemerkungen daran zu knüpfen. Aber nach der Tafel machte sie ihm die Mitteilung, daß heute einige geographische Werke angekommen seien. Wenn er Einsicht in dieselben nehmen wolle, möge er ihr in ihr Zimmer folgen.

Diese Auszeichnung war ihm noch nicht zuteil geworden. Er folgte ihr. Durch mehrere Räume, und auch die Bibliothek, welche er kennengelernt hatte, hindurchschreitend, führte sie ihn in ihr Boudoir. Er kannte dasselbe aus der Beschreibung, welche ihm Kunz davon gegeben hatte. Dort bot sie ihm einen Sessel an, während sie selbst nicht Platz nahm, sondern im Raum hin und her schritt, wie es ihre Angewohnheit war, wenn sie von irgendeinem Gedanken oder einer Angelegenheit mehr als gewöhnlich in Beschlag genommen wurde.

„Junger Mann, Sie erwarten, geographische Werke zu sehen“, begann sie; „aber ich gestehe Ihnen, daß ich keine bekommen habe.“

Er hatte das geahnt, machte aber doch ein einigermaßen verwundertes Gesicht, als ob er sich die Ursache ihres Verhaltens gar nicht denken könne.

„Es war dies nur ein Behelf, mit Ihnen unter vier Augen sprechen zu können. Es betrifft einen wichtigen Gegenstand. Werden Sie aufrichtig mit sich reden lassen?“

„Ich hoffe, gnädige Frau, daß Sie mich kennen –“

„Schon gut. Sie selbst aber sind keineswegs aufrichtig mit mir gewesen.“

Er tat, als ob er sie nicht recht verstehe; darum fuhr sie fort:

„Darf ich mir den Brief Ihrer Mama nochmals erbitten?“

„Gern. Hier ist er.“

Sie nahm ihn, faltete ihn auseinander und sagte:

„Ich werde Ihnen einige Zeilen, welche ich hier fand, vorlesen, obgleich Sie dieselben bereits ebensogut und noch besser kennen als ich. Hören Sie.“

Sie las:

„Was nun die hochwichtige Mitteilung betrifft, welche Du uns in Deinem letzten Schreiben machst, so ist mein Mutterherz voller Freude, daß Du gerade in Paris, meiner Vaterstadt, ein Wesen gefunden hast, welches Deiner so sehr wert zu sein scheint und Dich mit seiner Liebe beglücken will. Unserer Zustimmung bedarfst Du nicht. Wir kennen Dich und wissen, daß Deine Wahl eine gute sein wird. Nimm daher unseren Segen und sei mit dem lieben Kind, nachdem es Dein Weib geworden ist, ebenso glücklich, wie Deine Eltern es durch einander wurden.“

Obgleich der Brief weiterging, las die Gräfin nur bis hierher. Sie gab ihm das Papier zurück, schritt einige Male nachdenklich hin und her, und begann dann mit einem sehr ernsten Ton:

„Geben Sie zu, nicht aufrichtig mit mir gewesen zu sein?“

„Ah, Madame, Sie meinen, weil ich Ihnen nicht dieselbe Mitteilung gemacht habe, welche ich hier meinen Eltern machte?“

„Ja. Ich habe zwar kein direktes Recht, eine solche Aufrichtigkeit zu verlangen; aber es hätte mich doch sehr gefreut, sie zu finden.“

„So habe ich Sie allerdings sehr um Verzeihung zu bitten.“

„Ich verzeihe Ihnen. Aber seien Sie jetzt aufrichtig. Ich glaubte, daß Sie Ihre Heimat verlassen haben, ohne Ihr Herz dort zurückzulassen?“

„So war es auch, wenigstens in dem Sinn, welchen Sie meinen.“

„Jetzt aber lieben Sie eine Pariserin?“

„Ja.“

„Ich will nicht weiter in Sie dringen, als unbedingt nötig ist. Ist es ein Mädchen aus anständiger Familie und Ihnen ebenbürtig?“

„Vollständig.“

„Sie erwidert Ihre Liebe?“

„Herzlich.“

„Es ist also keine Vernunftheirat, welche Sie beabsichtigen.“

„Nein, sondern eine Herzensverbindung.“

„Ich beneide Sie.“

Sie blieb stehen und blickte zum Fenster hinaus, welches sie geöffnet hatte. Der Schein des Lichtes erhellte ihr Profil, und Gebhard meinte, dasselbe noch nie so weich gesehen zu haben. Welche Gedanken mochten jetzt durch ihre Seele gehen!

Da trat sie zurück, öffnete ein Pult und zog eine Mappe hervor. Aus derselben nahm sie ein Aquarellporträt und gab es ihm.

„Sehen Sie diesen Mann. Kennen Sie ihn?“

Gebhard ahnte, wer es sei, doch antwortete er wahrheitsgemäß:

„Ich habe ihn nie gesehen.“

„Das weiß ich, und dennoch steht er Ihnen nahe, viel näher, als Sie es denken.“

Sie blieb vor ihm stehen, kreuzte die Arme über der Brust, wie es willenskräftige Frauen gern zu tun pflegen, und fuhr fort:

„Auch ich war einmal jung; auch ich liebte – diesen da. Mein Vater war Baron, der seinige jedoch ein einfacher Bürgersmann, dessen Vorfahren auf ihr ‚von‘ verzichtet hatten. Man trennte uns. Es war ein Herzeleid. Ich wurde Gräfin Rallion, und er nahm sich auch ein Weib. Wir sahen uns nicht, aber wir vergaßen uns auch nicht. Er war Bankier und wurde der finanzielle Rat meines Mannes. Nun sahen wir uns öfter. Die alte Liebe erwachte, aber wir mußten uns fremd bleiben. Eins nur habe ich gerettet außer der Erinnerung – dieses Porträt. Es ist mir mehr wert, als manches Juwel, welches ich besitze. Er starb. Auch mein Mann starb, und ich wurde Witwe. Ich war reich gewesen, aber nicht glücklich; ich blieb reich, aber auch unglücklich. Da begegnete mir ein Nachkomme dieses Mannes, und sofort erwachte das alte Gemüt und das alte Herz, welches ich tot und verknöchert wähnte. Raten Sie, wer der Nachkomme ist.“

Gebhard sah sich gezwungen, eine kleine Unwahrheit zu sagen.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete er.

„Sie sind es, Sie selbst.“

„Ich?“ fragte er im Ton des höchsten Erstaunens.

„Ja, Sie! Sie sehen hier das Porträt von Ihrem Großvater, dem Bankier Richemonte, dem Vater Ihrer Mutter.“

„Ah! Das wäre er? Das wäre er?“ rief er aus.

Er hatte es vorher geahnt und das Bild doch nur oberflächlich betrachtet, da seine Hauptaufmerksamkeit auf die Gräfin gerichtet war. Jetzt aber trat er mit dem Bild näher zum Licht.

„Ja, betrachten Sie ihn“, sagte sie. „Er war ein schöner Mann und ist elend zugrundegegangen, wie Sie ja wissen. Ich lernte Sie kennen; ich prüfte Sie und war mit Ihnen zufrieden. Wir hatten die gleichen Liebhabereien und Sympathien. Sie waren es wert, und so beschloß ich, Ihr Glück zu machen.“

„Mein Glück?“ fragte er, ziemlich betreten.

„Ja. Oder meinen Sie, daß ich nichts hätte für Sie tun können?“

„Gnädige Frau, Sie haben bereits genug an mir getan.“

„Ich hatte noch mehr vor, viel mehr und Besseres. Sie haben es mir aber unmöglich gemacht.“

„Wieso, Madame?“

„Durch – ja, durch Ihre so unerwartete Liebe.“

„Durch meine Liebe, gnädige Frau?“

„Ja. Ich will aufrichtig sein. Ich wollte Sie verheiraten.“

Das hatte er nicht erwartet; er war so überrascht, daß ihm wirklich der Mund für einige Augenblicke offenstand.

„Sie staunen?“ fragte sie. „Es ist dennoch wahr. Sie wissen, daß ich eine Sympathie für weitgereiste Leute hege. Sie gehen nach der Wüste; Sie besitzen Mut und Kenntnisse; Sie werden ein berühmter Mann werden. Das ist es, was mich im stillen entzückte. Wenn Sie als Kapitän wiederkehren, wollte ich Ihnen das Kostbarste geben, was ich besitze.“

„Was, Madame?“ fragte er, noch immer wie auf Wolken schreitend.

„Ich sagte bereits, das Kostbarste, was ich habe, nämlich meine Nichte.“

„Sie haben deren zwei.“

„Ich meine Ida, meine stille, gute Ida, welche ich zärtlich liebe, ohne daß ich es mir so anmerken ließ.“

Er hätte am liebsten grad hinausgejubelt. Aber die Situation war eine so glückliche und interessante, daß er sich beherrschte.

„Ida?“ fragte er. „Komtesse Ida, sagen Sie? Wären Sie dieser Dame denn auch sicher gewesen?“

„Ich bin überzeugt davon.“

„Wußte Mademoiselle Ida von Ihrem Plan?“

„Kein Wort. Ich hoffte, Ihre Herzen sollten sich gegenseitig finden.“

„Leider kann dies nicht mehr stattfinden“, sagte er im Ton des innigsten Bedauerns.

„Ja, Sie haben Ihr Herz verschenkt.“

„Ida das ihrige auch.“

Sie machte eine Bewegung des Erschreckens.

„Wie? Was sagen Sie? Ida – Ida liebt – und wen?“

„Einen Offizier, einen Deutschen.“

„Mon dieu! Sie meinen doch nicht etwa Herrn von Goldberg?“

„Madame, Sie wissen, daß Goldberg mein Freund ist. Ich werde niemals das Geheimnis eines Freundes verraten.“

„Ah, er ist's, er ist's! Er ist ja noch da! Er ist ja noch anwesend. Kommen Sie, Herr von Königsau, kommen Sie rasch! Ich werde – – –“

Sie wollte forteilen. Es hatte sich ihrer ein außerordentlicher Zorn bemächtigt. Gebhard ergriff sie bei der Hand.

„Bitte, Madame! Warten Sie noch. Ich muß Ihnen sagen, daß – – –“

„Nichts will ich hören, nichts, gar nichts! Kommen Sie schnell!“

Sie riß sich los und eilte fort. Er folgte ihr, innerlich die folgende Szene bereits ausmalend.

Die beiden Schwestern saßen mit Goldberg am Tisch, als die Gräfin die Tür aufriß und hereingestürmt kam. Bei ihrem Anblick erhoben sich alle drei. Sie erkannten sofort, daß sie sich im Zustand zorniger Aufregung befand.

„Herr von Goldberg, ich habe mit Ihnen zu sprechen!“ rief sie.

„Ich stehe zur Verfügung, gnädige Frau“, antwortete er.

„Das erwarte ich. Ich verlange von Ihnen, daß Sie mir die volle Wahrheit sagen.“

„Gewiß.“

Er hatte nicht die mindeste Ahnung, worüber er überhaupt die reine Wahrheit sagen solle. Sie stellte sich mit zornig funkelnden Augen vor ihn hin und fuhr fort:

„Sie sind ein Verführer!“

Er war wie aus den Wolken gefallen und fragte:

„Ein Verführer? Ich? Madame, ich bitte Sie.“

„Ja, ein Verführer sind Sie. Ich habe die Beweise in den Händen.“

„Welche Beweise?“

„Sie leugnen noch? Wollen Sie leugnen, daß Sie lieben?“

Er fuhr ganz erstaunt zurück.

„Ich, lieben? Ich, gnädige Frau?“

„Ja, Sie. Sie lieben.“

„Wen denn, gnädige Frau?“

„Meine Nichte!“

Der also Interpellierte wußte in dem ersten Augenblick nicht, wie er dieser Anklage zu begegnen habe; er blickte verwundert auf die Dame, die wie eine Richterin vor ihm stand.

Goldberg ging ein Licht auf. Die Gräfin war mit Gebhard allein gewesen. Sie hatten miteinander gesprochen, und jetzt kam sie zurück, von Zorn erfüllt.

„Ah, du hast es verraten?“ fragte er den Freund.

„Verraten hat es niemand“, antwortete die Gräfin; „aber erraten hat es jemand, Ihr Freund ist verschwiegen; er hat mir Ihren Namen nicht genannt; ich aber habe es dennoch erfahren. Wollen Sie noch leugnen?“

Er glaubte sich wirklich verraten; er sah ein, daß kein Leugnen helfen könne; darum antwortete er:

„Madame, die Stimme des Herzens ist oft übermächtig; es ist ganz –“

„Schweigen Sie von der Stimme des Herzens! Sprechen Sie lieber von der Stimme der Vernunft und der Pflicht. Es wäre Ihre Pflicht gewesen, zuvor mit mir zu sprechen. Von einem Ehrenmann mußte ich das erwarten.“

„Ich war ja der Einwilligung von Mademoiselle noch gar nicht sicher!“

„Aber jetzt sind Sie sicher?“

„Leider auch noch nicht ganz.“

„Wie, noch nicht ganz?“

„Ich sage die Wahrheit!“

„Ich werde mich überzeugen!“

Sie trat auf Ida zu und forderte diese im strengsten Ton auf:

„Wenn er noch leugnet, so hoffe ich wenigstens von dir, daß du die Wahrheit sagst. Ich habe das an dir verdient. Liebst du ihn?“

Ida war bereits über das von großem Zorn zeugende Hereintreten der Tante höchst erschrocken gewesen. Die jetzige strenge Frage brachte sie um alle weitere Fassung. Sie unterschied in diesem Augenblick nicht, wer mit dem ‚Er‘ gemeint sei, und antwortete voller Angst:

„Liebe Tante, Verzeihung!“

„Ich will wissen, ob du ihn liebst!“ wiederholte die Gräfin.

„Ja, beste Tante!“

„Und er dich? Ihr habt miteinander darüber gesprochen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Am Schluß voriger Woche.“

„Er hat dir also seine Liebe in aller Form gestanden?“

„Ja.“

Die Gräfin wollte soeben ihrem Zorn einen erneuten Ausdruck geben, als sie hinter sich ein lautes Schluchzen hörte. Sie drehte sich um und sah, daß es von Hedwig kam, welche bleich wie eine Leiche dastand und das Taschentuch an die Augen hielt.

„Was ist mit dir?“ fragte sie. „Warum weinst du?“

„Oh, der Schreckliche!“ schluchzte die Gefragte.

„Wer?“

„Dieser Lügner!“

„Ich frage, wer?“

„Lieutenant von Goldberg!“

„Warum nennst du ihn einen Lügner?“

„Weil er auch zu mir von Liebe gesprochen hat.“

„Ah! Wirklich?“ rief die Gräfin, jetzt beinahe außer sich vor Zorn.

„Ja.“

„Und du? Was hast du geantwortet?“

„Ich – ich – ich –!“

„Heraus damit! Ich will die Wahrheit hören, die volle Wahrheit!“

Goldberg hatte ganz perplex dagestanden. Jetzt endlich gelang es ihm, sich zu fassen und zu Wort zu kommen. Er trat rasch heran und sagte:

„Gnädige Frau, das muß ein Irrtum sein!“

„Ein Irrtum? Schweigen Sie! Hedwig wird mich nicht belügen.“

„Nein, sie lügt allerdings nicht; sie hat die Wahrheit gestanden.“

„Nun, was sprachen Sie da von einem Irrtum?“

„Ich meine Mademoiselle Ida.“

„Diese? Nun, die lieben Sie ja auch!“

„Keineswegs! Ich begreife gar nicht, wie –!“

„Schweigen Sie!“ unterbrach sie ihn. „Ida hat mir ganz sicher die Wahrheit gesagt. Sie hat mich noch nie belogen!“

„Und doch ist sie dieses Mal der Wahrheit nicht treu geblieben.“

„Ja, Tante“, stimmte Ida höchst verlegen bei. „Ich habe mich geirrt!“

Da schlug die Gräfin die Hände zusammen und rief:

„Geirrt hast du dich? Herr von Goldberg hat dir nicht gesagt, daß er dich liebt? Das hast du ja vorhin gestanden.“

„Ah, ich dachte – mein Gott, ich – dachte –“

Weiter konnte sie nicht vor Angst. Die Gräfin aber drang in sie:

„Was dachtest du? Ich will die volle Wahrheit hören!“

„Ich dachte, du meintest – einen anderen“, stieß sie endlich hervor.

Frau von Rallion wußte in diesem Augenblick vor Schreck gar nicht, was sie denken und sagen solle. Erst nach einer Weile rief sie:

„Einen anderen? Einen anderen, der dich liebt?“

„Ja, liebe Tante.“

„Und den du wieder liebst?“

„Ja, beste Tante.“

„Und der zu dir von Liebe gesprochen hat?“

„So ist es!“

„Ah, ist es möglich, daß so etwas hinter meinem Rücken vorgeht! Bester Herr von Königsau, entschuldigen Sie! Sie sehen, daß es sich hier um sehr zarte und diskrete Angelegenheiten handelt. Sie gestatten wohl, Sie morgen vormittag zu empfangen.“

Gebhard machte eine verbindliche Verbeugung und antwortete:

„Gewiß, gnädige Frau. Also wünschen Sie, daß ich mich zurückziehe?“

„Ich muß Sie leider darum ersuchen!“

„Wenn Sie es wünschen, muß ich gehorchen, obgleich ich glaube, daß gerade meine Gegenwart hier am notwendigsten ist.“

„Die Ihrige? Wieso?“

„Weil ich imstande bin, Ihnen die nötige Aufklärung zu geben.“

„Worüber?“

„Über die gegenwärtige Situation. Ich bin nämlich dieser andere.“

„Welcher andere?“

„Von welchem Mademoiselle Ida sprach.“

„Was? Der sie liebt und sie ihn wieder?“

„Gott sei Dank, ja!“

Er trat bei diesen Worten zu Ida heran, legte die Hand um ihre Taille, strich ihr mit der anderen Hand beruhigend über das reiche Haar und sagte:

„Sei nicht ängstlich, meine Seele! Unsere liebe, gute Tante wird dir das Mißverständnis gern verzeihen.“

Jetzt hätte man das Gesicht der Gräfin studieren müssen. Erstaunen, Ärger, Freude und Zorn stritten sich auf demselben um die Herrschaft. Das Erstaunen behielt zunächst die Oberhand.

„Ihr beide also liebt euch?“ fragte sie.

„Ja, und dort die beiden auch“, antwortete Königsau, indem er auf Hedwig und Goldberg deutete.

„Mit diesen beiden werde ich nachher sprechen. Jetzt habe ich es mit Ihnen zu tun. Sie sagten doch, daß Sie eine andere lieben.“

„O nein, Madame. Ich habe keinen Namen genannt.“

„Dann sagten Sie, daß Herr von Goldberg Ida liebe!“

„Auch das nicht. Sie selbst haben ja vorhin erst bestätigt, daß ich ihn gar nicht genannt habe.“

„Mein Gott, da werde ich an mir selbst ganz irre. Was haben Sie denn überhaupt gesagt?“

„Daß ich von ganzem Herzen ein reizendes, prächtiges Mädchen liebe. Und sodann habe ich gesagt, daß Ida auch liebt, und zwar einen deutschen Offizier.“

„Aber, warum haben Sie mir denn nicht sofort gesagt, daß Ihre Geliebte und Ida identisch sind?“

„Darf ich Ihnen die volle Wahrheit mitteilen, gnädige Frau?“

„Ich bitte sehr energisch darum!“

„Ich bemerkte die Zuneigung, welche mein Freund Goldberg für Mademoiselle Hedwig hegte und sah, daß dieselbe erwidert wurde –“

„Sie haben das wirklich bemerkt? Ich nicht!“

„Ich wußte das. Ebenso sah ich, daß sie sich liebten, ohne zur Klarheit, zu einem Resultate zu kommen. Das war unrecht, das tötet die Liebe. Hier war ein Gewaltstreich nötig, und ich habe es gewagt, ihn auszuführen. Jetzt hat Herr von Goldberg gestanden, daß er Fräulein Hedwig liebt, und diese hat das Geheimnis ihres Herzchens verraten. Mein Zweck ist erfüllt. Ich bitte um gnädige Strafe!“

Die anderen standen da und blickten einander an.

„Garstiger!“ rief endlich Hedwig, die sich noch darüber ärgerte, daß sie über Goldbergs vermeintliche Untreue geweint hatte.

„Intrigant!“ flüsterte Ida ihm zu, obgleich es ihr gar nicht wohl zumute war. Sie kannte ja den Inhalt des Gesprächs nicht, welches er mit der Gräfin geführt hatte.

Die Gräfin wußte wirklich nicht, ob sie zürnen oder über die vorgekommenen Verwechslungen lachen solle. Sie fühlte sich ganz glücklich, daß ihr ursprünglicher Plan doch noch geraten sei, und war doch böse darüber, daß auch Goldberg eine Nichte für sich in Anspruch nahm.

In dieser Pause hinein erscholl Goldbergs an Gebhard gerichtete Frage:

„Geheimniskrämer. Warum hast du mir das verschwiegen?“

„Unglückliche Liebe klagt, glückliche aber schweigt“, antwortete Königsau.

„Seit wann seid ihr denn einig?“

„Gleich seit dem ersten Tage.“

„Unsinn!“

„Wirklich. Nicht wahr, Ida?“

Sie nickte mit dem Köpfchen. Da fragte auch die Gräfin:

„Wirklich seit dem allerersten Tag?“

„Ja, gnädige Frau“, antwortete Gebhard.

„Mein Gott, wie habt ihr das denn eigentlich angefangen?“

„Das wird Ihnen Ida unter vier Augen erzählen müssen. Wir waren eben füreinander bestimmt.“

„Und sagtet euch das hinter meinem Rücken!“

Sie wollte beginnen wieder zornig zu werden; aber er drohte ihr scherzend mit dem Zeigefinger und sagte:

„Die Vorherbestimmung war auch hinter unserem Rücken geschehen!“

Da endlich brach sie in ein herzliches Lachen aus.

„Diese Jugend ist doch unverbesserlich. Niemand lernt sie durchschauen. Und glaubt man, einmal einen Aufrichtigen gefunden zu haben, so entpuppt er sich ganz unversehens als ein Intrigant comme il faut. Na, ich werde euch eure Strafe noch diktieren.“

Da ergriff Gebhard ihre Hand und zog sie an seine Lippen.

„Verzeihung, beste Gräfin!“ bat er. „Ich hatte Ida gesagt, daß ich sie über mein Leben lieb habe, aber ich hatte auch hinzugefügt, daß ich von dieser Liebe erst nach meiner Rückkehr von der Reise sprechen werde. Darum schwiegen wir. Ich wollte mir erst Ihre Achtung verdienen. Habe ich daran unrecht getan, so hoffe ich dennoch Gnade zu finden.“

Da trat in ihre Augen ein feuchter Glanz, wie ihn selbst die Nichten noch nicht in denselben bemerkt hatten, und mit bewegter Stimme antwortete sie:

„Ich verzeihe euch beiden. Es mag bei dem, was ihr besprochen habt, bleiben. Eure Liebe mag sich bewähren. Tut sie das, so soll sie ihren Lohn finden. Nun aber zu den beiden anderen. Also, Herr von Goldberg, Sie behaupten, meine Nichte Hedwig zu lieben?“

„Von ganzem, ganzem Herzen!“ antwortete er.

„Und du, Hedwig?“

Bei dieser trat sofort das ursprüngliche neckische Wesen hervor.

„Ich? Oh, ich mag ganz und gar nichts von ihm wissen“, antwortete sie schmollend.

„Warum nicht?“

„Er hat mich einen Irrwisch genannt.“

„Der bist du auch!“ bestätigte die Tante.

„Sie aber hat mir versprochen“, fügte Goldberg hinzu, „daß aus diesem Irrlichte ein Stern werden solle, auf dessen sicheren, treuen Glanz ich mich verlassen könne.“

„Ist das wahr, Hedwig?“

Die Gefragte neigte das Köpfchen verlegen zur Seite, antwortete aber doch:

„Ja, liebe Tante, das habe ich ihm versprochen.“

„Und Sie glauben an dieses Versprechen, Herr von Goldberg?“

„Wie an Gottes Wort, gnädige Frau“, beteuerte der Gefragte.

„So sagen Sie mir zunächst, was Sie meiner Nichte zu bieten haben?“

„Für jetzt ein Herz voll innigster Liebe und den festen Willen, mir eine Zukunft zu gründen, welcher ihrer würdig ist.“

„Suchen Sie dieses Ziel zu erreichen; dann wird auch Ihre Liebe nicht vergeblich sein. Wie schade, daß Sie kein Geograph sind!“

„Ich kann in meiner gegenwärtigen Stellung ebenso Gutes wirken.“

„Aber Sie könnten Herrn von Königsau begleiten. Ihr Name wäre dann mit einem Mal berühmt. Das werden Sie doch einsehen!“

„Madame mögen recht haben, doch muß ich mit den Aussichten, welche sich mir bieten, fürlieb nehmen. Ich habe alle Hoffnung, Ihnen beweisen zu können, daß nun, da das Irrlicht verlischt auf meinen Beruf mir Sterne aufgehen, deren Leitung ich mich anvertrauen kann.“ – – –

Nach diesen Ereignissen waren volle zwei Jahre vergangen, da kamen drüben im Süden von Algerien drei Reiter das Wadi (Tal) Guelb herabgeritten. Anstatt auf Pferden, saßen sie auf hochbeinigen Dromedaren, schienen aber sehr gut beritten zu sein, denn ihre Tiere gehörten zu jener grauhaarigen Rasse welche Bischarinkamele genannt werden.

Zwei davon waren Europäer, Herr und Diener allem Anschein nach. Der dritte war ein Beduine, welcher ihnen als Führer diente. Er sprach mit ihnen jenes Gemisch von Arabisch, Französisch und Italienisch, welches an der Nordküste Afrikas gebräuchlich ist.

Es war noch am Morgen; aber die Sonne lag doch bereits brennend auf dem Sand und den Felsen der Wüste. Darum war es kein Wunder, wenn der Europäer sich nach einem Ort umsah, an welchem ein wenig Schatten zu finden sei, um in demselben während der heißen Mittagszeit eine Kühlung zu finden.

„Gibt es in der Nähe keinen Ruheort?“ fragte er den Führer.

„Nein, Herr. Erst am Ziel, am Ende des Wadi, finden wir Felsen und Mimosen, welche uns Schatten bieten.“

„Wie weit ist es bis dahin?“

„Zur Zeit des Mittags sind wir dort.“

„Und dort soll der Löwe sein?“

„Ja, dort ist der Herr des Erdbebens, welcher fast sämtliche Rinder des Stammes gefressen hat.“

„So laß die Tiere ausgreifen, daß wir den Ort baldigst erreichen.“

Der Führer zog eine einfache Holzpfeife hervor, um auf derselben, die nur drei Töne hatte, eine monotone Melodie zu pfeifen. Bei diesen Klängen spitzten die Kamele die Ohren und verdoppelten ihre Schritte.

So ging es ohne Aufenthalt immer nach Osten.

Die Sonne stieg höher und höher, und endlich, als sie den Zenit erreicht hatte, war auch das Versprechen des Führers erfüllt. Das Tal trat enger zusammen, zu seinen beiden Seiten stiegen hohe Felsen empor, und stachelige Mimosen bildeten kleine Wälder, in welchem es allerdings nicht ungefährlich war, Zuflucht vor dem Sonnenbrand zu suchen.

„Allah sei Dank!“ rief da der Führer. „Seht Ihr die Zelte?“

„Wo?“

„Da links im Tal. Dorthin haben sich die Söhne der Wüste vor dem Löwen zurückgezogen. Reiten wir hin.“

„Werden wir willkommen sein?“

„Ja. Wir werden Salz, Brot und Datteln bekommen, denn diese Beduinen sind keine Tuaregs, denen nicht zu trauen ist.“

An der einen Seite des Wadi standen fünf einsame Zelte, vor denen einige Kamele und Pferde angebunden waren. Eine kleine Anzahl Schafe weideten in der Nähe.

Als sich die Fremdlinge näherten, wurden die Zelte geöffnet, und die männlichen Bewohner traten hervor. Sie brachten Salz und Brot zum Zeichen des Willkommens und teilten auch ihre wenigen Datteln mit ihnen.

Der Bey el urdi (Herr des Lagers) winkte den Führer abseits und fragte:

„Wer sind die Fremdlinge, welche du uns gebracht hast?“

„Es sind zwei Franken“, lautete die Antwort.

„Ich liebe die Franken nicht. Wann reiten sie wieder ab?“

„Wenn sie den Herrn des Erdbebens geschossen haben.“

„Den Löwen? Allah 'l Allah! Sie wollen den Löwen schießen?“

„Ja. Wir hörten, daß er in der Nähe sei.“

„Er hat sein Lager oben im Nebental, welches du von hier erblickst. Aber sie sind ja nur zu zweien!“

„Und dennoch wollen sie den Löwen schießen.“

„Allah hat ihnen den Verstand genommen. Wir sind zu sechzig ausgeritten, um ihn zu töten; er aber hat vier Männer von uns getötet und viele verwundet, ohne daß wir ihn bestrafen konnten.“

„Hast du noch nicht gehört, daß oft ein einziger Franke ausgeht, um den Löwen zu schießen?“

„Allah ist groß. Die Franken sind böse Geister, die sich nicht zu fürchten brauchen.“

Als der Führer zu seinem Gebieter zurückgekehrt war, teilte er ihm mit, was er erfahren hatte. Der Herr blickte nach dem Seitental hinüber und schätzte die Entfernung mit dem Blick ab.

„Wir bleiben hier, um beim Morgengrauen unser Heil zu versuchen. Endlich, endlich einmal ein Löwe. Ich hoffe, daß ich Wort halten kann!“

Beide hatten ein echt militärisches Aussehen und sprachen jetzt reines Französisch miteinander. Der Diener antwortete:

„Auch ich wünsche, daß wir einmal so ein Tier zu Gesicht bekommen. Es ist doch ein eigener Wunsch von einer Braut, das Fell und die Reißzähne eines Löwen zu besitzen. Dies beides zu holen, ist gefährlich.“

„Fürchtest du dich?“

„Nein. Ein Löwe ist doch nur eine etwas größere Katze!“

„Hm. Eine etwas sehr große Katze sogar. Es geht mir gerade wie dir, ich habe auch noch keinen wirklich wilden Löwen gesehen. Vielleicht wäre es gut, wenn wir während des Mittags die Gegend einmal rekognoszierten.“

„Das Seitenteil, wo das Vieh stecken soll?“

„Ja. Natürlich zu Fuß. Wir hätten nur eine halbe Stunde bis hinüber.“

„Ich stehe zu Befehl, Herr Hauptmann.“

Einige Zeit später brachen sie auf, geradeso, als ob sie einen Gang auf Hasen oder Hühner unternehmen wollten. Die Beduinen sahen ihrem Beginnen mit Kopfschütteln zu; es war ihnen ein wahnsinniges Wagstück.

Die beiden wanderten über die Breite des Haupttals hinüber und schritten dann das weit engere Nebental empor. Es war mit Mimosen und Terebinthen bestanden und mit wirrem Fels und Geröll angefüllt. In diesem Tal sollte, wie sie bereits gestern erfahren hatten, ein männlicher Löwe sein Lager haben. Sie hofften, seine Fährte zu finden und so den Ort zu entdecken, wo sie ihn morgen bei Tagesgrauen aufsuchen wollten.

Es ist wahr, daß der Löwe sich nur selten zur Mittagszeit zeigt. Indessen, durch irgendeinen Umstand aus seiner Ruhe aufgescheucht, kann er doch einmal zum Vorschein kommen, und dann ist es gefährlich, ihm zu begegnen. Er rächt sich für die ärgerliche Störung.

Indem sie so zwischen Busch und Felsen emporstiegen, blieb der Diener plötzlich stehen und faßte den Herrn am Arm.

„Um Gottes willen, was ist das?“ fragte er, empor nach der Talwand deutend.

Der Hauptmann folgte mit dem Blick der angedeuteten Richtung und zuckte zusammen, ob vor Überraschung oder Schreck, das war schwer zu unterscheiden.

„Tausend Donner! Ein Löwe!“ flüsterte er. „Ja, das ist ein echter, richtiger Löwe und nicht so einer, wie man in der Menagerie findet. Was tun wir? Wagen wir es?“

Seitwärts vor ihnen, und zwar etwas über ihnen, kam ein riesiges Tier talabwärts geschritten, langsam und majestätisch im Bewußtsein seiner Riesenkraft. Noch zwei Minuten, so mußte der Löwe die beiden sehen. Der Diener war ein waghalsiger Patron. Er antwortete:

„Der Kerl ist gerade noch einmal so groß, als ich mir ihn vorgestellt habe; aber geschossen wird er. Wer weiß, ob wir ihn morgen so vor die Büchse bekommen. Wohin schießt man ihn?“

„In das Herz. Nur im Notfall zielt man in das Auge.“

„Gut. Ducken wir uns hier hinter die Büsche nieder. Da sieht er uns nicht. Jeder hat zwei Kugeln, das gibt vier und wird genügen.“

Gesagt, getan! Sie knieten hinter den Büschen nieder und legten die Gewehre an. Das Tier befand sich jetzt wohl dreißig Schritt vor ihnen und zwanzig Fuß höher als sie.

„Schieß du zuerst“, befahl der Hauptmann. „Ich bleibe zur Sicherheit in Reserve.“

Er tat recht daran, wie sich sofort zeigte. Der Diener zielte und drückte ab. Der Schuß krachte, allein der Löwe blieb unversehrt. Die zweite Kugel traf ihn in den Leib, ohne ihn tödlich zu verletzen.

Jetzt aber hatte er auch die Stelle bemerkt, von welcher aus er angegriffen worden war. Er stieß ein tiefes, fürchterliches Brüllen aus und kam herbeigesprungen. Dazu genügten ihm fünf Sprünge.

„Um Gottes willen, wir sind verloren!“ schrie der Diener und warf sich zu Boden. Vorher so verwegen, war es jetzt mit seinem Mut vorüber.

Der Hauptmann blieb unbeweglich knien. Als der Löwe im Sprung sich in der Luft befand, drückte er zum ersten Mal ab, und gleich darauf folgte auch die zweite Kugel. Das gewaltige Tier machte mitten im Sprung eine Wendung seitwärts und stürzte zur Erde nieder. Ein kurzes, dumpfes Brüllen und Röcheln, ein krampfhaftes Schlagen und Zucken der Pranken; dann war es tot.

„Gott sei Dank. Das waren zwei Meisterschüsse!“ meinte der Diener. „Ich glaubte bereits, mein Ende sei gekommen.“

Der Hauptmann sagte gar nichts. Er trat an das Tier heran und betrachtete es. Dann strich er sich den Angstschweiß von der Stirn und meinte:

„Zum ersten und zum letzten Mal! Es waren nur drei Sekunden; aber ich bin während ihrer Dauer fünfmal gestorben. Was werden die Araber sagen! Jetzt das Fell herunter und die Reißzähne heraus.“

Besonders die letztere Arbeit war eine außerordentlich schwierige. Sie nahm einige Stunden in Anspruch. Eben waren die beiden fertig und schickten sich an, aufzubrechen, als sie Pferdegetrappel vernahmen. Sie lauschten und sahen bald, daß sich zwei Reiter näherten, welche das Tal herunterkamen. Die Löwenjäger konnten nicht gesehen werden, da sie ebenso wie der Kadaver des erlegten Tiers hinter dem Busch versteckt lagen.

Die Reiter kamen rasch näher und hielten gerade vor dem Busch an. Der Ältere von ihnen trug einen langen, grauen Bart. Beide schienen Beduinen zu sein; aber der Graubärtige sagte im reinsten Französisch zu seinem Gefährten, welcher noch ziemlich jung zu sein schien:

„Dort geht das Wadi zu Ende. Wir müssen vorsichtig sein. Reite vor und kundschafte aus, ob es dort Leben gibt.“

Der Jüngere gehorchte. Als er nach kurzer Zeit zurückkehrte, meldete er:

„Fünf Zelte im Wadi Guelb.“

„Viele Leute dabei?“

„Nein.“

„Wir dürfen uns dennoch nicht sehen lassen. Wenn der Handstreich gelingt, wird er großes Aufsehen erregen, und man wird sich nach jedem einzelnen Passanten erkundigen, um die Täter zu entdecken.“

„Wo hat dieser Deutsche sein letztes Nachtlager gehalten?“

„Wir werden gegen Abend im Osten des Brunnens Saadis auf ihn stoßen. So meldeten gestern die Kundschafter. Wir beide entfernen uns so schnell wie möglich mit unserem Anteil. Die Beni Hassan aber wird man als Täter festnehmen und bestrafen.“

„Wie reiten wir jetzt?“

„Schnell zurück und dann einen Bogen nach Osten hinüber. Wir müssen wirklich eilen, sonst entkommt uns dieser Königsau mit seinen ganzen Schätzen doch vielleicht noch.“

Sie wendeten ihre Tiere und eilten zurück. Es war niemand anderer als Kapitän Richemonte und sein Verwandter.

Die beiden Lauscher blickten einander erschrocken an.

„Was war das, Herr Hauptmann?“ fragte der Diener. „Überfallen wollen diese Kerls jemand, wenn ich recht gehört habe?“

Der Gefragte war aufgesprungen und hatte sein Gewehr ergriffen.

„Herrgott“, sagte er, „mein Freund Königsau soll überfallen und ausgeraubt werden. Dieser gefährliche Löwe hat uns doch noch Glück gebracht. Auf, auf! In vollstem Lauf nach den Zelten zurück! Wir müssen diesen Menschen zuvorkommen.“

Der Diener hatte gar keine Zeit zu weiteren Erkundigungen und Fragen. Sie rafften das Fell des Löwen empor und eilten trotz der glühenden Hitze im hastigen Lauf das Tal hinab und den Zelten zu.

Als sie dort ankamen, wollten die Araber gar nicht glauben, daß sie einen Löwen erlegt hätten, und als sie es dennoch glauben mußten, sollte ein großes Freudengeschrei erhoben werden; aber der Hauptmann machte dem ein rasches Ende, indem er sich an seinen Führer wendete.

„Kennst du den Brunnen Saadis?“ fragte er.

„Ja, Herr“, lautete die Antwort.

„Wie weit ist es bis dorthin?“

„Es ist der fünfte Teil einer Tagesreise.“

„Wir müssen sofort aufbrechen.“

„Herr, das halten meine Tiere nicht aus.“

„Ich zahle dir, was du verlangst.“

„Ist es notwendig?“

„Ja. Es hängen vielleicht Menschenleben von unserer Eile ab.“

„Gibst du sechzig Münzen, welche ihr Franken nennt?“

„Ja, du sollst sechzig Francs erhalten.“

„So werde ich sogleich satteln.“

Eine Viertelstunde später flogen sie auf ihren tüchtigen Kamelen weiter. Die Tiere hatten sich nicht einmal ausgeruht; aber es hätte sie doch kein frisches Pferd einzuholen vermocht.

Wüste und immer wieder nur Wüste war zu sehen, bis endlich kurz vor Einbruch des Abends sich am Horizont einige Palmen zeigten.

„Was ist das?“ fragte der Hauptmann.

„Es ist der Brunnen Saadis, zu dem du willst“, berichtete der Führer.

Der Brunnen Saadis ist keine hervorragende Tränkstelle. Höchstens zwei Dutzend Palmen wachsen um eine Quelle herum, welche langsam aus dem Sand steigt, um ebenso schnell wieder in demselben zu verschwinden.

Als die drei Reiter sich näherten, bemerkten sie, daß die Quelle bereits besetzt war. Es waren wohl an die zwanzig Reit- und Lastkamele zu sehen, bei denen sich aber nur fünf Männer befanden. Diese erhoben sich beim Anblick der sich Nähernden.

Der Hauptmann sprang vom Kamel und betrachtete sich die Leute einen nach dem anderen. Ehe er aber noch den Richtigen erkannt hatte, rief dieser schon, und zwar in deutscher Sprache:

„Kunz! Goldberg! Ist das eine Menschenmöglichkeit?“

Der Genannte betrachtete sich den Sprecher und antwortete:

„Gebhard! Königsau! Mohr! Neger! Mumie! Welcher Teufel soll denn dich wieder erkennen? Du bist ja schwärzer als der Teufel!“

„Welch eine Überraschung! Welch ein Wunder. Wie kommst denn du in die Sahara?“

„Davon später. Zunächst kam ich, dich zu retten.“

„Zu retten? Wovor?“

„Vor einem Überfall.“

„Alle Teufel. Wer will mich überfallen?“

„Zwei Franzosen mit Hilfe der Beni Hassan.“

„Wer sind die Franzosen?“

„Ich kenne sie nicht.“

„Und wo soll der Überfall stattfinden?“

„Im Osten von hier, heute vor Anbruch der Nacht.“

„Ah, welch ein Glück, daß ich zurückgeblieben bin.“

„Ja, persönlich bist du zwar gerettet; aber deine Sachen?“

„Befinden sich auf diesen Tieren. Ah, ich wußte, daß die Kunde von meiner Ladung wie ein Feuer vor mir herlaufen werde. Ich ließ daher stets die Kaffilah voranziehen und folgte selbst eine halbe Tagesreise später. Diesem Umstand habe ich also auch heute meine Rettung zu verdanken.“

„Aber die Kaffilah ist verloren?“

„Jedenfalls. Ich werde sofort einen Boten auf einem Eilkamel nachsenden, um sie zu warnen, falls noch Zeit dazu ist.“

„Und wenn es zu spät ist?“

„So kann ich nichts ändern. Dreißig Krieger der Ibn Batta haben mich begleitet. Sind sie niedergemacht worden, so haben sie doch nur den Lohn für ihre früheren Taten erhalten. Diese Kerls sind alle Mörder und Räuber. Diese dreißig sollten meine Beschützer sein und wurden dafür bezahlt, dennoch aber haben sie mich Tag und Nacht bestohlen, so daß ich nur froh sein kann, sie losgeworden zu sein. Aber nun sage, um Gottes willen, wie du nach der Sahara kommst?“

„Als Löwenjäger. Siehst du dort das Fell?“

„Ah, du hast einen erlegt?“

„Ja. Bist du auch so glücklich gewesen?“

„Öfters, mein Freund. Aber fast kann ich mir denken, weshalb du den Löwenjäger spielst.“

„Nun, weshalb?“

„Deine Hedwig und die liebe Schwiegermama wollen, daß auch du berühmt werden sollst, und so hast du deinen Urlaub zu einem Pirschgang auf Löwen verwendet. Nicht?“

„Genau erraten! Ich soll wenigstens ein Löwenfell und zwei Löwenzähne und sodann sichere Nachricht von dir bringen.“

„Du wirst mich selbst bringen. Was macht Ida?“

„Sie sehnt sich zu Tode nach dir, während meine ‚Unbezähmbare‘ mich unter die Löwen jagt. Bin übrigens Hauptmann geworden!“

„Und ich Mohr, wie ich es dir prophezeit habe. Gratuliere bestens.“

„Danke!“

Den Gegenstand ihrer höchst belebten Unterhaltung bildete natürlich das halbe Wunder, sich am fernen Wüstenbrunnen zu treffen, der eine als der Retter des anderen. Dann mußte der Hauptmann von Goldberg, der spätere General, von der fernen Heimat berichten, und endlich erzählte Königsau von seinen abenteuerlichen Erlebnissen auf der wunderbaren Reise nach Timbuktu.

So wurde es Nacht. Die Sterne stiegen höher und höher. Fast um Mitternacht kehrte der ausgesendete Bote zurück.

„Hast du sie eingeholt?“ fragte Königsau.

„Ja“, antwortete er einsilbig.

„Und sie gewarnt?“

„Sie hörten mich nicht. Sie waren tot!“

Diese Botschaft erregte zunächst Schreck, dann aber auch Freude über die ebenso glückliche wie wunderbare Rettung der Hauptperson und der Hauptschätze der Karawane. Dreißig Ibn-Batta-Krieger und zahlreiche Handelsleute, welche sich der Karawane angeschlossen gehabt hatten, waren getötet und ausgeraubt worden. Es war ein Fall, der, so nahe an der Grenze der Zivilisation passiert, jedenfalls eine exemplarische Bestrafung zu erwarten hatte.

„Was aber wirst du nun tun?“ fragte Goldberg den Freund.

„Ich verändere meine Route“, antwortete dieser. „Ich gehe grad nach Norden. Es bleibt mir nichts anderes übrig.“

„Und ich gehe mit dir. Die Stämme, an denen wir vorüberkommen, sind den Europäern freundlich gesinnt. Wann brechen wir auf?“

„Sofort. Ich warte nicht bis zum Morgen.“

„Warum nicht?“

„Die Räuber, welche die Karawane überfallen haben, werden bemerkt haben, daß ich zurückgeblieben bin, und mir einen Besuch abstatten. Sicher ist sicher. Ich habe diese Kerls kennengelernt.“

Es wurde gepackt, und dann setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Eine Zeitlang von dem Glanz der Sterne bestrahlt, verschwand er jedoch bald im Dunkel des nördlichen Horizonts.

Königsau war um keine Viertelstunde zu früh aufgebrochen. Denn gerade diese Zeit später kamen die Tuaregs, welche die Karawane überfallen hatten, nach dem Brunnen, um nach ihm zu suchen. Sie mußten zu ihrem Ärger mit leeren Händen abziehen.

Kurze Zeit später bewegte sich ein langer, langer Zug französischer Chasseurs d'Afrique von den Bergen herab, welche das Gebiet der feindlichen Beni Hassan im Norden begrenzen. An der Spitze dieses Zuges ritten zu beiden Seiten des Kommandeurs die beiden Verräter Richemonte und sein Cousin. Beide gaben dem Offizier den Rat, die Beni Hassan mit einem Schlag zu vernichten.

„Glaubt ihr, daß man uns Widerstand leisten wird?“ fragte er sie.

„Wenig oder gar nicht. Diese Kerls sind viel zu feig. Sie haben nur Mut zu nächtlichen Räubereien und Überfällen.“

„Und sie sind wirklich die Täter gewesen?“

„Sicher! Man wird die Effekten der Ermordeten noch bei ihnen finden.“

„Wie viele sind gefallen?“

„Dreißig Krieger der Ibn Batta, ein Führer, fünfzehn Treiber, der Oberste der Kamelbesitzer und der deutsche Offizier mit mehreren Leuten.“

Er wußte am besten, daß dies letztere eine Lüge sei. Er selbst hatte einige der erbeuteten Kamele nebst ihren Lasten bis in die Nähe der Beni Hassan getrieben und sie dort stehen lassen. Er war überzeugt, daß man sich ihrer bemächtigt hatte. Das gab Beweis genug, daß die Beni Hassan die Räuber gewesen seien.

Es wurde so eingerichtet, daß die Truppen das Lager mitten in der Nacht erreichten. Es wurde umzingelt, und als die unschuldigen Araber des Morgens aus ihren Zelten traten, sahen sie sich von allen Seiten von einer von Waffen starrenden Mauer umgeben.

Der Scheik Menalek sandte sofort einen Boten zu dem Anführer. Dieser letztere ließ auf Anraten Richemontes zunächst die Dschema, die Versammlung der Ältesten des Stammes, zu sich kommen, um sich ihrer zu versichern. Man versteht darunter nicht etwa ausnahmslos die an Jahren Ältesten. Es sind auch junge Männer mit dabei, gewöhnlich Verwandte des Scheiks. So kam es, daß sich auch Saadi, der Schwiegersohn des Scheiks Menalek, dabei befand. Diese wurden in Fesseln gelegt und dann einem Verhör unterworfen.

„Ihr habt eine Karawane der Ibn Batta überfallen“, war die wiederholte Behauptung, welche man ihnen entgegenschleuderte.

„Nein, wir sind unschuldig“, war ihre stehende, bestimmte Antwort.

„Man wird suchen und finden!“ drohte endlich der Kommandeur.

„Ja, man wird allerdings finden“, antwortete Menalek. „Wir fanden des Morgens vier beladene Kamele neben unseren Zelten und haben sie zu uns genommen. Und dann fanden wir auf unserem Gebiet die Leichen der Beraubten. Wir begruben sie nach den Regeln des heiligen Koran, nahmen ihnen aber vorher weg, was ihnen nichts mehr nützen konnte. Das alles werdet ihr finden.“

Das wurde natürlich nur für Ausflucht gehalten. Man holte mehr und mehr Männer aus dem Lager, bis endlich die ganze männliche Bevölkerung in Banden lag. Jetzt wurde das Urteil gefällt. Es lautete kurz und bestimmt auf Tod durch die Kugel.

Die Kunde davon rief ein geradezu unbeschreibliches Jammergeschrei unter den Weibern und Kindern des Lagers hervor. Sie wollten bitten und flehen, sie wollten sich den unmenschlichen Richtern weinend zu Füßen werfen, aber das Lager war mit Posten umstellt worden, so daß niemand es verlassen konnte.

Bereits zu Mittag, als die Sonne am höchsten stand, sollte die Vollstreckung des Todesurteiles beginnen. Um diese Zeit schritt der Cousin Richemontes durch die Postenkette in das Lager. Überall tönten ihm Jammergeschrei und Wehklagen entgegen; er hörte nicht darauf. In das Zelt des Scheiks trat er ein. Das Weib desselben und Liama lagen weinend am Boden. Sie sprangen empor, als sie ihn erblickten.

„Salam aaleïkum“, grüßte er.

„Wie, du bringst den Gruß des Friedens“, rief das arme Weib, „und draußen harrt der Tod unserer Männer und Söhne!“

„Es wird keiner entgehen; nur euch allein bringe ich Frieden. Ist Liama bereits das Weib Saadis geworden?“

„Ja“, antwortete ihre Mutter.

Liama war als Frau noch schöner denn als Mädchen. Vor Jammer hatte sie die gewohnte Sorgfalt für ihr Äußeres außer acht gelassen; ihr Gewand hatte sich verschoben, so daß das Auge des fast unsinnig verliebten Schurken genug Punkte fand, an denen sich seine Glut verdoppeln konnte.

„Der Scheik muß sterben und auch Saadi!“ sagte er.

„O Allah, gibt es keine Rettung für sie?“ rief Liama.

„Keine.“

Da näherte sie sich ihm und sagte, indem sie die Hände faltete:

„Du bist ein Freund der Franken. Unsere Männer sind unschuldig. Du vermagst viel. Vielleicht könntest du sie retten.“

„Es ist mir nur erlaubt, zwei zu retten.“

„Wen, wen?“ fragten die beiden Frauen schnell.

„Ich darf sie mir auswählen.“

„Oh, so rette den Scheik, meinen Mann!“ rief die Mutter.

„Und rette Saadi, welcher schuldlos ist!“ rief die Tochter.

„Welchen Dank erhalte ich?“ fragte er.

„Fordere alles, was du begehrst!“ sagte die Mutter.

„Nun wohl! Ich habe Liama zum Weib begehrt, und man hat sie mir verwehrt. Wenn sie einwilligt, mein Weib zu werden und mit mir zu ziehen, so sollen der Scheik und Saadi gerettet werden.“

Liama erbleichte. Ihre Mutter dagegen erschrak nicht so sehr. Einen anderen Schwiegersohn zu haben, das war nicht so schlimm als der Tod ihres Mannes.

„Wirst du Wort halten?“ fragte sie.

„Ja“, antwortete er.

„Schwöre es mir!“

„Ich schwöre es beim Barte des Propheten!“

Liama aber rang die Hände und rief:

„Er mag schwören, ich gehe doch nicht mit ihm!“

„Willst du die Mörderin deines Vaters sein?“ klagte ihre Mutter.

„Ich kann nicht! Ich liebe ihn nicht. Ich gehöre zu Saadi!“

„Nein; er gibt dich frei, um dich zu retten“, antwortete er.

„Beweise es!“ rief die Mutter.

„Auch der Scheik befiehlt euch, zu tun, was ich verlange, damit er sein Leben nicht verliere.“

„Beweise es!“

„Hier!“ sagte er.

Er zog aus der Tasche ein Stück beschriebenes Pergament hervor, welches in französischer Sprache und arabischer Schrift beschrieben war.

„Hier ist das Dokument, welches unser Kommandant und der Scheik und Saadi unterschrieben haben. Kennt ihr das Siegel des Scheiks?“

„Ja“, antworteten beide.

„So seht her und lest diese Schrift!“

Die Mutter konnte nicht lesen; aber Liama buchstabierte den Befehl ihres Vaters und ihres Mannes zusammen. Beide geboten ihr, augenblicklich mit dem Überbringer dieses Schreibens zu gehen, um Mann und Vater zu retten und so ein Allah wohlgefälliges Werk zu tun.

„Kennt ihr auch die Hamaïls des Scheiks und Saadis?“ fragte er weiter.

„Ja“, antwortete sie.

Unter Hamaïl versteht man ein Exemplar des in Mekka geschriebenen Koran, welches sich die Pilger dort kaufen und dann während der ganzen Lebenszeit am Hals tragen. Nur in der alleräußersten Not gibt der Moslem dieses Hamaïl von sich.

„Hier sind sie beide!“

Bei diesen Worten reichte er ihnen die zwei Koranexemplare hin, die sie sofort erkannten. Das war mehr als genug Beweis für sie.

„Ich glaube dir!“ sagte die Mutter.

Sie ahnte nicht, daß das Schreiben gefälscht war, und daß der unmenschliche Schurke den beiden Gefangenen Siegel und Hamaïl mit Gewalt entrissen hatte. Liama hatte sich schluchzend auf den Boden geworfen.

„O Allah, o Allah!“ rief sie. „Sie gebieten es mir; aber ich kann dennoch nicht! O Allah, Allah, was soll ich tun!“

„Gehorchst du nicht, so müssen sie sterben“, antwortete der Franzose kalt.

„Meine Tochter, gedenke deiner Pflicht!“ mahnte die Mutter ängstlich.



„Ja“, meinte der verkappte Franzose. „Ich werde vor das Zelt treten, um euch eine kleine Weile zur ruhigen Überlegung allein zu lassen. Beredet euch, und tut dann, was ihr beschlossen habt. Aber zögert nicht lange, die Zeit ist kostbar.“

Er trat hinaus. Im ganzen Zeltdorf ertönte lautes Wehklagen, und doch hörte er noch deutlich das verzweifelte Jammern im Inneren des Zelts. Harte Worte der Mutter ließen sich dazwischen vernehmen.

Da plötzlich krachte draußen vor dem Lager eine Gewehrsalve. Ein einziger, aber vielstimmiger, schriller Angstschrei ertönte durch das Lager. Er trat in das Zelt, dessen Tür das Weib des Scheiks soeben aufreißen wollte. Liama stand totenbleich inmitten des Raums.

„Wer hat geschossen? Was hat man getan?“ fragte die Mutter.

„Man hat die ersten fünf Mann soeben erschossen“, antwortete er.

„O Allah! Ist der Scheik dabei?“

„Noch nicht; aber in zwei Minuten werden wieder fünf Mann fallen, und der Scheik und Saadi werden dabei sein.“

„Liama geht mit!“ rief die Mutter in höchster Angst.

„Ist es wahr?“ fragte er die schöne, junge Frau.

„Ach ja“, hauchte sie, mehr tot als lebendig.

„So ziehe dich zur Reise an. Ich werde unterdessen das Zeichen geben, daß man die beiden verschonen soll!“

Einige Zeit später öffnete sich der Kordon, welchen die Chasseurs bildeten. Man ließ zwei Pferde und ein Kamel passieren. Auf den ersteren saßen Richemonte und sein Kumpan, und das letztere trug eine Atuscha, in welcher ein wunderbar schönes Weib unter heißen Tränen vor Leid und Weh zu sterben meinte. Es war Liama, die spätere Bewohnerin des schwarzen Turms in der Nähe vom Schloß Ortry.

Auch von den beiden Löwenzähnen, welche Kunz von Goldberg dem ‚Herrn des Erdbebens‘ ausgebrochen hatte, ist der Leser dem einen bereits begegnet. Fritz, der Diener des verkleideten Doktor Müller, trug ihn an seinem Hals. –

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