Seit den letzterzählten Ereignissen war eine Reihe von Jahren vergangen. Noch lebte Hugo von Königsau, der einstige Liebling des alten Feldmarschalls ‚Vorwärts‘, in stiller Zurückgezogenheit auf seinen beiden nebeneinanderliegenden Gütern. Er genoß an der Seite seiner treuen Margot ein Glück, wie es nur wenigen Irdischen beschieden ist.
Ein einziges Mal wurde dasselbe getrübt, als Margots Mutter, Frau Richemonte, starb. Wäre außerdem eine Trübung desselben möglich gewesen, so hätte das nur dadurch geschehen können, daß er sich noch immer mit jener leeren, dunklen Stelle beschäftigte, welche infolge des empfangenen Hiebes in seinem Gedächtnis zurückgeblieben war.
Fast so alt geworden wie der treue Kutscher Florian Rupprechtsberger, der ihm aus Jeanette nach Preußen gefolgt war, saß er mit diesem stundenlang beisammen, um über diesen unaufgeklärten Punkt zu verhandeln; aber vergebens, denn es war und blieb ihm unmöglich, sich auf den Ort zu besinnen, an welchem er die Kriegskasse vergraben hatte. Wenn dann Margot dazu kam, so ahnte sie stets, welches der Gegenstand des Gesprächs gewesen war. Sie legte ihm den Arm um den Nacken und meinte dann gewöhnlich in bittendem Ton:
„Ich vermute, daß du wieder über diese böse Kriegskasse nachgedacht hast. Ist es nicht so, lieber Hugo?“
„Leider, ja!“ pflegte er dann entweder trübe oder ärgerlich zu antworten.
„Laß das doch endlich auf sich beruhen! Wie oft habe ich dich schon darum gebeten, und doch willst du mir nicht diesen einzigen Gefallen tun!“
„Ich möchte wohl gern, das darfst du mir glauben; aber wenn der Gedanke kommt, so habe ich doch nicht die Macht, ihn von mir zu weisen.“
„Es ist aber überflüssig und vergeblich. Selbst wenn du dich auf den Ort besinnen könntest, dürftest du den Schatz ja doch nicht haben.“
„Warum nicht, meine Liebe?“
„Weil die Kriegskasse eine französische ist. Ihre Aneignung würde ja ein Diebstahl sein. Anders wäre es allerdings, wenn sie deutsches, oder überhaupt Eigentum der Verbündeten gewesen wäre.“
„Ich kann dir nicht unrecht geben. Aber wenn wieder einmal ein Krieg zwischen den Deutschen und Franzosen ausbrechen würde, wenn wir diese Gegend okkupierten, dann hätten wir das Recht, uns der Beute, welche uns damals entgangen ist, zu bemächtigen.“
„Hoffen wir nicht, daß sich jene Zeit des Blutvergießens wiederhole.“
„Ich stimme dir bei. Aber auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen würde es vorteilhaft für mich sein, wenn ich mich auf den Ort besinnen könnte. Ich könnte eine bedeutende Gratifikation von Frankreich erlangen, wenn ich anzugeben vermöchte, wo eine solche Summe zu finden ist.“
„Laß das gut sein, lieber Hugo! Wir sind ja nicht in so bedrängter Lage, einer Gratifikation zu bedürfen.“
Auf diese Bemerkung pflegte der alte Rittmeister nicht zu antworten; er tat, als sei er beruhigt, aber im stillen sann und grübelte er weiter.
Margot hatte sehr recht, wenn sie sagte, daß sie sich nicht in einer bedrängten Lage befänden. Ihre beiden Güter brachten ihnen ein, was sie brauchten. Übrigens hatten sie ja den großen Meierhof Jeannette von der verstorbenen Baronin de Sainte-Marie geerbt. Diesen Besitz hatten sie im Laufe der Jahre sehr verbessert und dann einem tüchtigen Pächter übergeben. Er stand jetzt viel höher im Wert als vorher, obgleich sie dort, da der Hof ja in Frankreich lag, sich nur äußerst selten sehen ließen.
Ihr Sohn Gebhard war glücklich aus Afrika zurückgekehrt. Er hatte die Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlicht und sich dadurch einen ehrenvollen Ruf erworben. Das veranlaßte ihn, auf diesem Feld weiterzuarbeiten. Er nahm zunächst Urlaub, um sich an weiteren Expeditionen zu beteiligen, welche ihm neue Ehren einbrachten. Darum kam er endlich um seinen Abschied ein. Da nicht die mindeste Aussicht auf einen Krieg war, so konnte er dies, ohne sich eine Blöße zu geben oder einen unwürdigen Verdacht auf sich zu laden. Er erhielt ihn sofort, da man gar wohl wußte, daß er dem Allgemeinen durch seine jetzige Tätigkeit weit mehr Nutzen bringe, als wenn man ihn auf eine enge Garnison beschränke. Und so war er von da an im Dienst der Wissenschaft oft lange Zeit von seinem Vaterland abwesend.
Ida de Rallion war seine Frau geworden. Sie liebten sich von ganzem Herzen und fanden in ihrer Ehe ganz dasselbe Glück, welches Gebhards Eltern in ihrer Vereinigung gefunden hatten. Freilich sah Ida es nicht gern, daß Gebhard so oft und so lange von der Heimat entfernt war; aber sie freute sich seines Ruhmes und fühlte doppelte Seligkeit, wenn er einmal zu ihr zurückkehrte. Während er in fernen Zonen weilte, fand sie Trost bei den geliebten Schwiegereltern, und als sie nun gar die Wonne hatte, erst einen Sohn und später auch eine Tochter zu haben, pflegte ihr die Zeit des Wartens nicht mehr so lang zu werden wie früher.
Ihr Sohn war Richard genannt worden. Vater und Mutter hingen in vereinter Liebe an ihm und dem kleinen Schwesterchen, und doch schien es beinahe, als ob ihre Zärtlichkeit von derjenigen der Großeltern fast noch überboten werde. Natürlich hatte der Knabe die Bestimmung, einst Offizier zu werden, und seine Erziehung erhielt eine streng nach diesem Ziel visierte Richtung. Bei der reichen Begabung, durch welche er sich auszeichnete, brachten die Bemühungen seiner Großeltern, Eltern und Lehrer überreichliche Früchte, und es ließ sich hoffen und erwarten, daß er einst dem Stand, für welchem man ihn bestimmt hatte, alle Ehre machen werde. –
Während so die Familie Königsau sich eines reinen und beinahe ungetrübten Glückes erfreute, zog sich im Südwesten von ihnen eine schwere Wetterwolke gegen sie zusammen.
Napoleon der Dritte war erst Präsident und dann Kaiser von Frankreich geworden. Dieses Ereignis kam zweien sehr gelegen, welche bisher vergeblich auf eine erfolgversprechende Gelegenheit gewartet hatten, ihre Pläne in Ausführung zu bringen: Kapitän Richemonte und sein Verwandter und Adoptivsohn, welcher sich in Afrika Ben Ali genannt hatte. Sobald der Neffe des Onkels Kaiser geworden war, ließ sich annehmen, daß für alle diejenigen, welche an den Traditionen des ersten Kaiserreiches festgehalten hatten und Anhänger Napoleons des Ersten gewesen waren, nun endlich die längst ersehnte Zeit gekommen sei, sich geltend zu machen. Und sie hatten recht. Der Neffe, welcher keineswegs den gewaltigen Geist des großen Korsen hatte, suchte doch ein Nachahmer desselben zu sein. Er schmeichelte sich, in dessen Fußstapfen treten zu können, und war doch nichts als ein Nachäffer der äußeren Eigentümlichkeiten und Gepflogenheiten des großen Korsen.
Aber der Stand der Dinge in Europa war ihm günstig. Das Flittergold seiner Krone schien echtes Metall zu sein, und die Glasflimmer, mit denen er sich schmückte, warfen einen Glanz, daß man sie für echte Diamanten hielt. Hatte der Onkel durch die Gewalt seines Genies sich zum Schiedsrichter der halben Welt gemacht, so gelang es dem Neffen, durch verschlagene Taschenspielerstückchen die Völker und sogenannte Diplomaten zu täuschen. Man staunte, man war verblüfft; man bewunderte ihn sodann, und das war es ja, was er beabsichtigte; denn vom Angestaunt- und Bewundertwerden bis zur wirklichen Herrschaft ist ja nur ein kleiner Schritt, und diesen zu tun versäumte er nicht.
Hatte Napoleon es verstanden, das Genie zu sich emporzuziehen, selbst wenn er es in der niedersten Klasse des Volkes gesucht hatte, so äffte ihm auch hier der Neffe nach, indem er nicht versäumte, sich Kreaturen zu schaffen, welche er für geeignet hielt, dem falschen Glanz seines Throns noch einen kleinen Strahl hinzuzufügen. Welchen Wert diese Männer hatten, zeigte sich erst, als der Thron zusammenbrach. Und vielleicht gab es nur zwei Männer, welche diesen Wert oder vielmehr Unwert erkannt hatten und richtig zu beurteilen verstanden – Bismarck und Moltke, unter deren Fausthieben der ganze Kartenbau des Kaiserreichs später zusammenfiel.
Seit einiger Zeit gehörte zu jenen Günstlingen des Kaisers und der Kaiserin ein Mann, der uns bereits begegnet ist, nämlich Graf Jules Rallion, welcher zu wenig Ehre besessen hatte, auf die Forderung Gebhards von Königsau mit der Waffe in der Hand zu antworten.
Er war damals feig entflohen, hatte sich aber nach Gebhards Entfernung sofort wieder eingefunden, um seine Bewerbung um seine Cousine Ida fortzusetzen. Er war aber mit Verachtung zurück- und zurechtgewiesen worden und hatte mit Grimm sehen müssen, daß der Deutsche seine schöne Verwandte als Frau in sein Vaterland führte.
Seit jener Zeit haßte er Königsau noch mehr als früher, und dieser Haß erstreckte sich auch auf Kunz von Goldberg, welcher es verstanden hatte, die zweite Cousine und ebenso auch die alte, strenge Tante zu gewinnen. Wie gern hätte er sich an diesen beiden Deutschen gerächt! Aber leider fand sich keine Gelegenheit dazu. Und eine solche herbeizuführen, dazu war er weder mutig, noch erfinderisch genug.
Obgleich ihm diese beiden Eigenschaften entgingen, gelang es ihm dennoch, sich bei Hofe einzubürgern. Eine Grafenkrone gibt Relief genug, um die Blicke von Schwächen abzuziehen, welche nicht geeignet waren, den Träger dieser Krone zu Ehren zu bringen. Infolge seines untertänigen Wesens und anderer negativen Eigenschaften, welche aber von einem glanzsüchtigen Fürsten lieber bemerkt werden als positive Vorzüge, wußte er sich besonders in die Gunst der Kaiserin einzuschmeicheln, und bald war es allgemein bekannt, daß die Stimme des Grafen Rallion das beste Mittel sei, sich das Kaiserpaar geneigt zu machen.
Kapitän Richemonte hörte davon. Schlau und rücksichtslos, wie er war, fand er bald Gelegenheit, sich dem Grafen auf eine verbindende Weise nützlich zu machen. Er erhielt Zutritt in dessen Gemächer, und seiner diabolischen Natur wurde es nicht schwer, bald einen gewissen Einfluß auf den schwachen Günstling zu gewinnen.
Nun erzählte er ihm von dem Baron de Sainte-Marie, welcher als Marabut gestorben sei und einen Sohn hinterlassen habe, der im Besitz der nötigen Papiere sei, sich als den rechtmäßigen Besitzer des Meierhofs Jeannette auszuweisen.
Der Graf nahm diese Erzählung mit Verwunderung entgegen. Als aber Richemonte berichtete, daß Bonaparte eine Nacht auf jener Besitzung zugebracht und dabei sein Herz verloren habe, fragte er schnell:
„An wen, lieber Kapitän?“
„An meine Schwester.“
„Wie? Sie haben eine Schwester?“
„Ja, gnädiger Herr.“
„Eine Schwester, welche von Bonaparte geliebt wurde? Und Sie haben mir dieselbe noch nicht vorgestellt? Das muß ich sehr übel vermerken, Kapitän. Eine Dame, welche die Zuneigung des großen Kaisers besessen hat, würde persona grata am hiesigen Hofe sein. Sie haben da eine Unterlassungssünde begangen, welche ich Ihnen fast gar nicht verzeihen darf.“
„Ich hätte das, was Sie eine Unterlassungssünde nennen, sicherlich nicht begangen, Verehrtester, wenn es mir überhaupt möglich gewesen wäre, die Schwester Ihnen vorzustellen. Sie lebt nicht in Frankreich, sondern in Deutschland.“
Rallion blickte den Kapitän erstaunt an.
„In Deutschland?“ fragte er. „Wie kommt es, daß sie es sich bei den Feinden ihres kaiserlichen Geliebten gefallen läßt?“
„Sie würde sich die Anwendung des zärtlichen Wortes, welches Sie soeben zu ihr in Beziehung brachten, wohl verbitten. Sie ist der Zuneigung des Kaisers nicht wert gewesen; sie hat sich ablehnend verhalten und ihm einen deutschen Lieutenant vorgezogen, dessen Frau sie geworden ist.“
„Ah, sie ist in Deutschland verheiratet! Welch ein Unsinn! Welch eine Dummheit! Welch ein Verrat an dem Land, in welchem sie geboren wurde!“ rief der Graf. „Aber ich habe freilich auch andere Mädchen gekannt, von denen diese ungeleckten deutschen Barbaren uns vorgezogen wurden. Man sollte diese Art von Frauenzimmer mehr als mit bloßer Verachtung strafen. Ich sage dies, obgleich diejenige, von welcher soeben die Rede war, Ihre Schwester ist. Dem Patriotismus dürfen Sie das nicht übelnehmen!“
„Daran denke ich nicht im entferntesten! Diese Abtrünnigkeit der Schwester ist es ja gewesen, welche veranlaßt hat, daß ich mich von der letzteren vollständig losgesagt habe.“
„Ah! Sie verkehren gar nicht mit ihr?“
„Nein. Ich denke aber, jetzt wenigstens aus der Ferne und durch den Advokaten mit meinem Herrn Schwager in Verhandlung zu treten; denn diese verhaßte Familie ist es ja, welche sich unrechtmäßigerweise in den Besitz jenes Meierhofs Jeannette gesetzt hat, dessen rechtmäßiger Eigentümer eigentlich der Baron de Sainte-Marie ist, von welchem ich Ihnen erzählte.“
Der Graf machte eine Bewegung der Überraschung und sagte:
„Ah, wirklich? Ist es so? Das wäre ein Umstand, welcher hier sehr in Betracht zu ziehen sein dürfte. Wie heißt jener Schwager?“
„Königsau.“
Der Graf trat unter allen Zeichen der höchsten Überraschung einen Schritt zurück und rief:
„Königsau? Wäre das möglich?“
„Ist Ihnen der Name bekannt?“ fragte der Kapitän, jetzt ebenso überrascht wie vorher der Graf.
„Oh, mehr als bekannt!“ antwortete dieser. „Wie ist der Vorname jenes Königsau?“
„Hugo.“
Der Graf sann einen Augenblick nach und meinte dann:
„Ich lernte einst bei meiner Tante einen Lieutenant von Königsau kennen, welcher erzählte, daß sein Vater viel mit diesem alten Barbaren, dem Marschall Blücher, verkehrt habe.“
„So hat er Hugo von Königsau gemeint und ist sein Sohn gewesen.“
„Er nannte sich Gebhard.“
„Das stimmt. Ich bin zwar jetzt nicht in Deutschland gewesen, aber ich habe Erkundigungen über die Familie eingezogen. Hugo von Königsau hat einen Sohn, welcher Gebhard heißt.“
„Und jetzt besinne ich mich, bei meiner Tante gehört zu haben, daß Königsau, der Vater, eine gewisse Margot Richemonte geheiratet habe.“
„Das eben war meine Schwester. Sein Sohn, jener Gebhard, hat eine Dame Ihres Namens, welche Französin ist, eine gewisse Ida de Rallion, zur Frau genommen.“
Das Gesicht des Grafen verfinsterte sich. Es war darin der Ausdruck eines tiefen, unversöhnlichen Hasses zu erkennen.
„Diese Ida de Rallion war meine Cousine“, sagte er.
Der Kapitän warf einen forschenden Blick auf den Grafen. Seinem Scharfsinne fiel es nicht schwer, das Richtige zu erraten. Ein solcher Haß konnte nur in einem verlorenen Erbteil oder in verschmähter Liebe, vielleicht auch in beidem zugleich, begründet sein.
„Ich hoffe nicht, daß Sie diese Cousine, welche ich eine Abtrünnige nennen muß, vermißt haben?“ fragte er schlau.
Der Graf ballte die Faust und antwortete:
„Wir waren so viel wie versprochen miteinander“, sagte er. „Aber wenn Ihre Schwester einen deutschen Lieutenant dem Kaiser vorgezogen hat, so darf ich mich nicht wundern, wenn es meiner Cousine eingefallen ist, mich gegen einen solchen Menschen zurückzusetzen. Oh, wie hasse ich diese Deutschen! Und wie hasse ich erst alles, was Königsau heißt und mit dieser Sippe in Verbindung steht!“
Der Kapitän nickte mit dem Kopf. Er ließ jenes Fletschen der Zähne sehen, welches bei ihm in Augenblicken des Ärgers, des Grimmes zu bemerken war. Doch dabei spielte ein Zug um seinen Mund, welcher einen aufmerksamen Beobachter, als der Graf war, leicht hätte erraten lassen, daß ihm der Zorn desselben ganz willkommen sei.
„Mein Haß begegnet sich mit dem Ihrigen“, sagte er, Rallion mit verstecktem Blick beobachtend. „Ich gäbe viel darum, wenn ich ein Mittel wüßte, die ganze Brut zu verderben!“
Der Graf ging sofort in die Falle, indem er eifrig zustimmte:
„Das ist ja auch mein Wunsch! Leider reicht mein Einfluß nicht weit genug. Man darf eine Faust in der Tasche machen, weiter nichts.“
„Und doch hätten wir gerade jetzt die beste Gelegenheit, diesen Königsaus einen prächtigen Streich zu spielen“, meinte er nachdenklich.
„Wieso?“
„Indem wir sie zwingen, Jeanette herauszugeben.“
„Ah, wirklich! Das ist ja wahr! Aber dann müßte Ihr Schützling vorher als Baron de Sainte-Marie anerkannt sein!“
„Dem steht nichts im Wege. Wir haben ja die klarsten Beweise in den Händen.“
„Darf ich dieselben sehen?“
„Wenn Sie erlauben, werde ich sie Ihnen vorlegen und Ihnen dabei auch den vorstellen, welchen Sie meinen Schützling nennen.“
„Ich bitte Sie darum! Es wird mir nicht schwer werden, den Kaiser für ihn zu interessieren. Ja, ich hoffe sogar, daß dieser mit ihm und Ihnen zu sprechen verlangen wird. Er wird sofort auch für Sie Teilnahme empfinden, wenn ich ihm erzähle, daß Ihre Schwester schön und interessant genug war, die Augen Bonapartes auf sich zu ziehen. Um dies zu können, muß ich aber besser unterrichtet sein, als dies jetzt der Fall ist. Wollen Sie mir nicht erzählen, auf welche Weise Ihre Schwester dem Kaiser begegnete?“
Richemonte folgte dieser Aufforderung. Seinem Bericht lag jener Überfall im Wald und der Aufenthalt Napoleons auf dem Meierhof Jeanette zugrunde. Dies war aber auch das einzig Wahre daran. Er fügte Ausschmückungen und Episoden hinzu, welche nur zu dem Zweck erfunden waren, ihn selbst in einem günstigen Licht, die Königsaus aber in einem desto gehässigeren erscheinen zu lassen. Als er geendet hatte, meinte der Graf:
„So also ist es gewesen! Interessant, höchst interessant! Ich will Ihnen gestehen, lieber Kapitän, daß Sie mir gleich im Augenblick unserer ersten Begegnung eine warme Sympathie eingeflößt haben. Jetzt verstehen wir einander noch besser, und ich denke, daß eine Gelegenheit kommen wird, den Gefühlen, welche wir beiderseits hegen, einen Ausdruck zu geben, der dieser deutschen Familie nicht angenehm sein wird. Ich bin nicht der Mann, der eines Menschen Verderben will, aber einem Königsau werde ich niemals verzeihen können, daß er diesen Namen trägt. Reichen wir uns die Hand zu dem Übereinkommen, uns gegenseitig zu unterstützen, wenn es gilt, denen, welche uns auf eine solche Weise beleidigten, zu zeigen, daß ein Franzose sich wenigstens von einem Deutschen nie ungeahndet beleidigen läßt!“
Nichts konnte dem Kapitän willkommener sein, als diese Aufforderung. Er schlug sofort in die dargebotene Hand des Grafen und sagte:
„Ich bin von ganzem Herzen bereit, auf ein solches Bündnis einzugehen. Es liegt in der menschlichen Natur, ja, es ist sogar die heiligste Pflicht eines jeden, der sich einen Mann nennt, keine Beleidigung ungerächt zu lassen. Wir erfüllen also nur diese Pflicht, indem wir die Absicht, welche Sie andeuteten, zur Wirklichkeit werden lassen.“
„Sie haben recht. Ich bin heute zur Kaiserin befohlen und werde nicht versäumen, die Angelegenheit des Barons de Sainte-Marie zum Vortrag zu bringen. Daß Baron de Sainte-Marie der Mörder seiner Frau gewesen ist, darf der Sohn nicht entgelten. Und daß dieser letztere zugleich der Sohn eines Mädchens ist, welches nicht zum Adel gehörte, kann auch kein Hindernis sein, die Rechte, welche sein Vater beanspruchen durfte, auf ihn übergehen zu lassen. Bringen Sie ihn umgehend zu mir, und dann werde ich Ihnen morgen am Vormittag mitteilen, welche Hoffnungen wir hegen dürfen!“
Diese für den nächsten Morgen angekündigte Unterhaltung fand statt, und es stellte sich heraus, daß Richemonte allerdings große Hoffnungen hegen durfte, seinen Plan in Erfüllung gehen zu sehen. Der Kaiser hatte verlangt, ihn in einer Privataudienz zu empfangen, bei welcher auch die Kaiserin zugegen sein sollte. Diese letztere, die einstige Dame des im höchsten Grad schlüpfrigen spanischen Hofs, goutierte gewisse Dinge, welche sonst nicht vor das Ohr einer Dame zu gehören pflegen. Sie war begierig, etwas über die letzte Liebe Napoleons zu erfahren, und interessierte sich daher schon im voraus lebhaft für den Mann, welcher ihr diesen Genuß bereiten sollte.
Die Audienz fand statt. Richemonte verstand es, diese Gelegenheit zu benutzen. Er stellte seine damaligen Erlebnisse und Taten in ein möglichst vorteilhaftes Licht, gab sich sozusagen als Märtyrer, und als er entlassen wurde, ging er mit der Gewißheit von dannen, daß er, der einst aus der Armee Gestoßene, rehabilitiert werde. Und was den angeblichen Sohn des in Afrika verstorbenen Barons de Sainte-Marie betrifft, so hatte Napoleon der Dritte sich alle auf ihn bezüglichen Legitimationen und Dokumente vorlegen lassen, sich nach Durchsicht derselben befriedigt erklärt und das Versprechen gegeben, diese Angelegenheit sofort in die besten Hände niederzulegen.
Um diese Zeit befand Gebhard von Königsau sich in der Heimat, und so war es die vollzählige Familie, welche von der amtlichen Mitteilung getroffen wurde, daß ein Sohn des einst verschwundenen Sainte-Marie erschienen sei und die Rückgabe des ihm rechtmäßigerweise zukommenden Erbes verlange.
Es wurde sofort der Rat eines tüchtigen Juristen eingeholt; er bestand in einem Achselzucken. Die Achseln anderer Sachverständigen wurden ebenso gezuckt. Darauf ging die Nachricht ein, daß die betreffende Person sich vollständig als der Sohn des Barons ausgewiesen habe und selbst vom Kaiser als derselbe anerkannt worden sei. Sollte man einen langwierigen Aktenkampf beginnen, dessen Ende gar nicht abzusehen war? Nein! Königsau, Vater und Sohn, entschlossen sich, den Meierhof abzutreten, und in Wahrheit mußten sie noch froh sein, daß ihnen nicht auch noch zugemutet wurde, für die Zeit, während welcher derselbe in ihrem Besitz gewesen war, Entschädigung zu zahlen.
Es war das kein geringer Verlust, welcher sie traf, aber sie verschmerzten ihn doch bei dem Gedanken, daß sie durch ihn noch lange nicht verarmt seien. Besaßen sie doch ihre zwei Güter, welche ihnen niemand nehmen konnte.
Niemand? Wie leicht ist oft etwas möglich, was unmöglich scheint! Der erste Blitz, welchen die im Südwesten aufgegangene Gewitterwolke entsendete, hatte getroffen, wenn auch nicht zerstörend gewirkt. War aber dadurch die elektrische Spannung ausgeglichen worden?
Der falsche Baron de Sainte-Marie hatte den Besitz der Meierei angetreten, aber nicht selbständig, sondern unter der heimlichen Bevormundung des alten Kapitäns. Dieser hatte ein doppeltes Spiel erreicht. Er war, wenn auch nicht der nominelle, aber doch der tatsächliche Gebieter von Jeanette geworden und hatte sich zugleich an seinem Todfeind gerächt.
Der Baron spielte in jeder Beziehung eine jämmerliche Rolle, freilich ohne sich derselben zu schämen. Ein einziges Mal hatte er es gewagt, dem Kapitän Widerstand leisten zu wollen, war aber auf das Energischste zurückgewiesen worden. Der Kapitän hatte ihm erklärt, daß er hier auf dem Meierhof nichts zu sagen habe.
„Aber wer ist der Herr?“ hatte der Baron gefragt. „Du oder ich?“
„Ich!“ hatte die feste und bestimmte Antwort gelautet.
„So? Ah! Und wer ist der Baron?“
„Du bist es; aber durch einen Mord. Du hast den Sohn des Einsiedlers erschossen und dich an seine Stelle gesetzt. Ich will dir ein für alle Mal sagen, daß du mich nicht beherrschen kannst. Hüte dich, mich zu reizen! Der Versuch würde dich deine Baronie kosten.“
„Willst du etwa damit sagen, daß du mich als Mörder anzeigen willst?“
„Ja, nichts anderes.“
„Du hast mir dabei geholfen!“
„Beweise es!“
„So beweise, daß ich der Mörder war, ohne daß du dabei gezwungen sein wirst, deine Mittäterschaft einzugestehen!“
„Rede nicht kindisch! Ich werde es dir natürlich nicht sagen, wie ich es anfangen würde, dich unschädlich zu machen, du weißt ganz genau, daß du mir nicht gewachsen bist, und das ist genug. Sei froh, daß du, der einstige Spion, Baron de Sainte-Marie genannt wirst und ein behagliches, ruhiges und sorgenfreies Leben führen kannst, und sei ferner froh, daß ich dir deinen glühendsten Wunsch erfüllt habe, das schönste Weib der Erde zu besitzen!“
„Du meinst Liama?“
„Wen sonst?“
„Die ist ja nicht mein Weib!“
„Das ist nicht meine Sache, sondern die deinige. Bist du so dumm, sie nicht faktisch als Frau zu besitzen, so ist das deine eigene Schuld.“
„Ich bin ja nicht mit ihr getraut. Sie ist Mohammedanerin geblieben.“
„Das braucht kein Mensch zu wissen.“
„Und sie läßt sich von mir nicht berühren.“
„So handelst du eben geradezu lächerlich. Du bist in sie verliebt noch weiter als bis zu den Ohren, du girrst um sie wie ein Täuberich um sein Täubchen, sie befindet sich vollständig in deiner Gewalt, und doch wagst du es nicht, sie anzurühren. Das verstehe, wer es verstehen kann; ich aber vermag nicht, es zu begreifen.“
Und doch war es sehr leicht zu begreifen. Einer reinen, keuschen Weiblichkeit gegenüber fühlt ein mutloser Bösewicht sich ohne Macht. Das konnte der Kapitän, welcher doch ein Menschenkenner war, sich leicht sagen.
Diese beiden Menschen hatten Liama aus ihrer Heimat durch einen gräßlichen Betrug hinweggelockt. Sie hatte ihnen vertraut und war ihnen in der Überzeugung gefolgt, dadurch ihren Vater und den geliebten Mann zu retten. Später hatte sie Gelegenheit gehabt, ihr Tun und Treiben zu beobachten, und war mißtrauisch geworden. Es war ihr der Zweifel gekommen, ob das ihr gegebene Versprechen erfüllt worden sei. Sie hatte nach Beweisen verlangt, daß ihr Mann und ihr Vater am Leben geblieben seien, diese Beweise waren ihr nicht geliefert worden. Hatte sie die beiden bereits früher gehaßt, so haßte sie dieselben jetzt noch viel mehr. Es kam ihr der Gedanke an Flucht; aber wie sollte sie diese bewerkstelligen? Sie verstand kein Wort Französisch, sie wurde in Jeanette fast wie eine Gefangene gehalten und bemerkte, daß sie keinen einzigen Augenblick ohne Aufsicht gelassen wurde. Der Kapitän war von allem Anfang an gegen die wahnwitzige Liebe seines Verwandten gewesen, er hatte dennoch Gründe gehabt, derselben zu willfahren, aber er sah gar wohl ein, in welcher Gefahr er Liama gegenüber sich stetig befand, und so war es kein Wunder, daß er ihr feindlich gesinnt blieb und sie fest im Auge behielt.
Dennoch aber hätte das arme, betrogene Weib seinen Entschluß, zu fliehen, ausgeführt, wenn nicht ein Ereignis eingetreten wäre, welches sie zwang, noch auszuhalten. Sie wurde nämlich Mutter und gab einem Mädchen das Leben, in dessen liebem Gesicht sie die Züge ihres Saadi wiederzusehen glaubte. Dieser ihr von dem Kadi angetraute Mann war der Vater des lieblichen Kindes. All ihre Liebe, welche sie dem ersteren nicht mehr zu widmen vermochte, konzentrierte sich auf das letztere. Sie vergaß ihr Elend und lebte nur in dem Wesen, welchem sie das Leben gegeben hatte.
Diese Liebe war es auch, welche ihr die Kraft und Ausdauer verlieh, sich den Ansprüchen und Liebkosungen des Barons zu widersetzen. Er besuchte sie täglich wiederholt in den Räumen, welche ihr ausschließlich angewiesen waren und welche sie nicht verlassen durfte. Er knüpfte an die Erhörung seiner Wünsche die Erlaubnis zu einer freieren Bewegung; aber mit dem Scharfsinn des Naturkinds erkannte sie seine Schwäche und erriet, daß er dem Kapitän gegenüber vollständig machtlos war, in dessen Händen auch sie sich befand.
Je länger und fester sie widersprach, desto mehr steigerte sich die Gier des Barons. Es gab Augenblicke, in denen er sich fast sinnlos gebärdete. Dazu kamen Bilder aus der Vergangenheit, welche ihn des Nachts beängstigten. Finstere, drohende Schatten bewegten sich in seinen Träumen, Schüsse knallten, blutige Tropfen umspritzten ihn, und wenn er dann erwachte, war es ihm, als ob er mit wirklichen Gestalten zu kämpfen gehabt hätte; er stöhnte und wimmerte leise vor sich hin, und es gab nur einen, der ihn zum Schweigen brachte – der alte Kapitän, welcher erst zu Drohungen, dann aber zu Tätlichkeiten griff, um die Geister zu bannen, die sich des Barons bemächtigt hatten.
Diese Anfälle traten je länger, desto öfter ein. Es kam vor, daß der Baron selbst durch die angegebenen Mittel nicht zur Ruhe und zum Schweigen gebracht werden konnte. In diesem Zustand der Angst, Furcht und Verzweiflung verlangte er nach Liama, und der alte Richemonte war klug genug, sich diesem Wunsch nicht zu widersetzen. Liama, die Betrogene, wurde die Trösterin des Betrügers. Ihr bloßer Anblick genügte, ihn zu beruhigen und ihm den Gebrauch seiner Sinne zurückzugeben.
Dies rettete ihr vielleicht das Leben. Der Kapitän kannte ihren glühenden Wunsch nach Befreiung aus ihren Fesseln. Ihr Entkommen aber wäre sein Verderben gewesen, und da ihre immerwährende unausgesetzte Bewachung keine leichte war, so ließ sich bei seiner Rücksichts- und Gewissenlosigkeit wohl vermuten, daß er zu dem Entschluß kommen könne, sich durch eine Gewalttat seine Sicherheit wiederzugeben. Aber ebenso gefährlich war ihm der Wahnwitz des Barons, und da die Ausbrüche desselben nur durch Liama gemildert und beruhigt werden konnten, so war es notwendig, sie leben zu lassen.
Das Kind der Baronin, von welchem der Baron wohl wußte, daß es nicht das seinige sei, wurde schweigend von ihm anerkannt und auf den Namen Marion getauft. Sein junges Leben bildete die Kette, durch welche die unglückliche Mutter in ihrer Gefangenschaft festgehalten wurde. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, ohne dasselbe zu fliehen; das erkannte der Kapitän, und daher bewachte er die kleine Marion noch sorgfältiger als ihre Mutter, und bedeutete der letzteren übrigens noch, daß der geringste Ungehorsam gegen ihn dem Mädchen das Leben kosten werde. Das war mehr als genug, jeden Fluchtgedanken von Liama fernzuhalten.
Was die Bevölkerung der Umgegend betrifft, so war derselben wohl bekannt geworden, daß der Baron verheiratet sei, das Weitere ging ja keinem Menschen etwas an. Zwar gelang es zuweilen einem Auge, die schöne, geheimnisvolle Frau zu erblicken, aber warum dieselbe sich in so außerordentlicher Verborgenheit halte, das versuchte man gar nicht zu ergründen. Vornehme Herrschaften haben ja ihre Schrullen.
Selbst wenn Graf Rallion nach Jeannette kam, wurde Liama nicht zur Gesellschaft gezogen. Ein kleiner Umstand hätte ja leicht alles verraten können. Daß der Graf einmal energisch nach der Baronin verlangen könne, stand gar nicht zu erwarten. Er erkundigte sich in höflicher, aber gleichgültiger Weise nach ihr, wenn er kam; er ließ sich ihr empfehlen, wenn er wieder abreiste, das war alles, was er tat.
Dieses Verhalten war zwar seltsam, aber dennoch leicht zu erklären.
Die beiden, er und der Kapitän, hatten sich nach und nach immer besser kennengelernt. Jeder erblickte ein höchst brauchbares Werkzeug in dem anderen. War der Graf feig und gewissenlos, so war der Kapitän frech und rücksichtslos. Der erstere hielt es am liebsten mit der weniger gefährlichen Hinterlist, während der letztere vor keiner Gefahr, vor keiner Tat zurückbebte, wenn es galt, seinen Zweck zu erreichen. So ergänzten sich beide, sobald ihre Zwecke dieselben waren, und dieser Fall kam nicht sehr selten vor.
Wenn sie beieinander saßen, kam die Rede stets auf die Familie Königsau. Beide fühlten sich sehr befriedigt darüber, daß es ihnen gelungen war, ihr den Meierhof Jeanette zu entreißen; aber noch weit größere Freude hätten sie empfunden, wenn ihnen die Mittel gegeben wären, diese verhaßte Familie ganz und vollständig zu verderben.
So befanden sie sich einst bei einer abermaligen Anwesenheit des Grafen in dem Zimmer des Kapitäns und unterhielten sich über dieses Thema. Sie suchten mit wahrhaft diabolischem Scharfsinn nach einem Weg, auf welchem es möglich sei, eine vollständige Rache auszuüben, aber all ihr Sinnen und Forschen führte zu keinem befriedigenden Resultat. Darum gingen sie mißmutig auseinander, um sich schlafen zu legen.
Der Kapitän hatte die Gewohnheit, stets, bevor er sich zur Ruhe begab, seine geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Er hatte heute von einem Getreidehändler eine größere Summe Geld geschickt bekommen, welche von ihm noch nicht gebucht und nachgezählt worden war. Darum schloß er den Laden, setzte sich an den Schreibtisch und zog das Geld hervor.
Die leichte Arbeit war bald getan, und eben hatte er das Geld in Beutel gegeben, wieder verschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt, als es ihm war, als ob er draußen auf dem Gang leise Schritte vernehme.
Er lauschte. Ja, wirklich! Da draußen schlich sich jemand näher und hielt vor seiner Tür an. Wer war das? Was wollte man? Kam ein Diener, um ihm noch etwas Notwendiges mitzuteilen? Das war sehr unwahrscheinlich. Er hatte Geld gezählt; der Gedanke an einen Dieb lag ihm daher nahe. Rasch entschlossen, wie er war, löschte er sein Licht aus, nahm das Terzerol, welches stets geladen neben seinem Bett hing, und legte sich in das Bett. Er deckte sich so zu, daß nur sein Kopf zu sehen war, so, daß man nicht bemerken konnte, daß er noch angekleidet sei.
Das Terzerol schußbereit haltend, wartete er still und bewegungslos der Dinge, die da kommen sollten.
Er brauchte nicht lange zu warten. Er bemerkte, daß fast unhörbar von außen ein Schlüssel angesteckt wurde. Er hatte den seinigen von innen abgezogen und dann den Nachtriegel vorgeschoben. Nach seiner Ansicht war es also unmöglich, in das Zimmer zu gelangen, da der Nachtriegel ja nicht mittels eines Schlüssels zurückgeschoben werden konnte. Aber er täuschte sich. Zu seinem Erstaunen hörte er, daß der Riegel leise, ganz leise sich bewegte, und ein kühler Luftzug, welcher hereindrang, verriet ihm trotz der Dunkelheit, daß die Tür geöffnet worden sei.
Er lauschte in atemloser Spannung. Eine ganze Weile lang war nicht der Hauch eines Geräusches zu vernehmen. Es stand fest, daß derjenige, welcher geöffnet hatte, unter der Tür stand, um zu hören, ob der Kapitän fest schlafe. Dieser ließ daher jetzt ruhige, gleichmäßige Atemzüge ertönen.
Diese Manipulation war von Erfolg. Fast unhörbare Schritte nahten sich langsam. Abermals wurde gelauscht, und dann erhellte ein plötzlicher Lichtstrahl das ganze Zimmer.
Der Kapitän hielt das eine Auge fest geschlossen; das aber, welches mehr im Schatten war, öffnete er ein ganz klein wenig und gewahrte so einen Mann, welcher ungefähr drei Fuß vor seinem Bett stand und den Schein einer rasch geöffneten Blendlaterne auf das letztere fallen ließ. Eine Waffe war nicht zu sehen. Er hatte eine Maske vor das Gesicht gebunden und beobachtete den Kapitän, ob derselbe wirklich fest im Schlaf liege.
Richemonte setzte sein ruhiges Atmen fort, war aber bereit, bei der geringsten gefährlich erscheinenden Bewegung des Eingedrungenen die Hand mit dem Terzerol unter der Bettdecke hervorzustrecken.
Der Maskierte schien befriedigt zu sein. Er wendete sich ab und trat völlig unhörbar zum Schreibtisch. Dabei fiel der Schein der Laterne auf die Tür, und der Kapitän bemerkte, daß dieselbe zugeklinkt worden sei. Der Dieb schien in seinem Handwerk außerordentlich gewandt und erfahren zu sein.
Er griff in eine Tasche und zog einen Schlüssel hervor. Es zeigte sich, daß derselbe ganz genau in das Schloß jenes Faches passe, in welchem das Geld lag. Der Mann öffnete, zog den Kasten auf und steckte das Geld zu sich, und zwar mit einer Sicherheit, als ob er von den Verhältnissen auf das genaueste unterrichtet sei. Dann schloß er das Fach wieder zu, steckte den Schlüssel ein und schickte sich an, sich ebenso leise zu entfernen, wie er gekommen war.
Ihm dies zu gestatten, lag aber ganz und gar nicht in der Absicht des Kapitäns. Dieser war schlau genug, einzusehen, daß er sich vor allen Dingen der brennenden Laterne bemächtigen müsse, wenn es ihm gelingen solle, den Dieb zu fangen und einen jedenfalls gefährlichen Kampf im Finsteren zu vermeiden. Er fuhr daher in dem Augenblick, in welchem der Mann sich vom Schreibtisch abwandte, aus dem Bett empor und mit einem raschen Sprung an dem Dieb vorüber, welchem er dabei die Laterne entriß. Sich zwischen ihn und die Tür stellend, ließ er den Schein des Lichts auf ihn fallen und hielt ihm zugleich das Terzerol entgegen.
„Halt!“ gebot er ihm in nicht zu lautem, aber doch befehlendem Ton.
Der Mann war so überrascht und erschrocken, daß er einige Augenblicke lang wie erstarrt stehenblieb. Dann aber drehte er sich, da ihm die Flucht durch die Tür unmöglich schien, nach dem Fenster um.
„Abermals halt!“ gebot der Kapitän. „Auch dort lasse ich dich nicht durch, mein Bursche!“
Da zog der Mensch ein langes Messer aus der Tasche und machte Miene, sich den Ausgang mit demselben zu erzwingen.
„Steck das Messer ein, Kerl, sonst schieße ich!“
Dieser Befehl war in einem so nachdrücklichen Ton gegeben worden, daß der Dieb die Hand mit dem Messer sinken ließ.
„Weg das Messer, sage ich, sonst schieße ich!“ wiederholte Richemonte. „Eins – zwei – dr –“
Er kam nicht dazu, ‚drei‘ zu sagen. Der Dieb mochte immerhin ein verwegener Kerl sein, aber er mußte doch einsehen, daß eine Kugel schneller ist als eine Messerklinge. Er steckte also das Messer langsam wieder zu sich.
„Leg das Geld wieder hin auf dem Schreibtisch!“
Der Dieb schien zögern zu wollen, als aber Richemonte ihm mit dem erhobenen Terzerol drohend einen Schritt nähertrat, wandte er sich nach dem Tisch, zog die Beutel, in denen sich das Geld befand, hervor und legte sie an den angegebenen Ort.
„Nun die Maske ab!“ befahl der Kapitän.
„Das tue ich nicht!“
Das waren die ersten Worte, welche er hören ließ. Bei dem Ton dieser Stimme zuckte der Kapitän zusammen.
„Alle Teufel! Höre ich recht?“ fragte er. „Du willst dein Gesicht also nicht sehen lassen, mein Bursche?“
„Nein!“
„So weiß ich gar wohl, warum.“
Der Mann schwieg; darum fuhr Richemonte fort:
„Du schämst dich, dein Gesicht zu enthüllen, weil es jedenfalls schmachtvoller ist, seinen Herrn zu bestehlen als einen Fremden. Habe ich recht, Henry?“
Er erhielt keine Antwort.
„Nun“, meinte der Kapitän, „wenn du weder sprechen noch dich demaskieren willst, so ist das um so schlimmer für dich. Ich werde Leute herbeirufen, während ich im anderen Fall vielleicht geneigt sein dürfte, diese Angelegenheit unter vier Augen mit dir in Ordnung zu bringen.“
Er war sonst ganz und gar nicht der Mann, eine solche Milde walten zu lassen; aber es war ihm im gegenwärtigen Augenblick ein Gedanke gekommen, welcher mehr wert war als die Genugtuung, einen Dieb bestraft zu sehen.
„Ist das wahr?“ fragte jetzt der Mann.
„Ja.“
„So versprechen Sie es mir mit Ihrem Ehrenwort!“
„Unsinn! Einem Spitzbuben gibt man kein Ehrenwort. Das merke dir! Ich habe ja noch gar nicht gesagt, daß mit dem Ordnen unter vier Augen eine Straflosigkeit gemeint sei; aber es ist dennoch möglich, daß dieser Fall eintritt, wenn du mir nämlich unbedingt gehorchst. Versprechen aber werde ich nichts.“
„Nun, ich bin ja doch in Ihrer Hand. Diese verdammte Pistole hatte ich in meinem Programm nicht einkalkuliert. Ich muß mich also auf Gnade oder Ungnade ergeben.“
„Gut. Also fort mit der Maske!“
Jetzt gehorchte der Mann. Er nahm die Maske ab, und nun kam ein Gesicht zum Vorschein, welches einem vielleicht noch nicht ganz dreißig Jahre alten Mann gehörte. Dieses hätte keineswegs den Verdacht erregt, einem Spitzbuben anzugehören. Die Züge waren regelmäßig und beinahe hübsch zu nennen. Freilich weiß man ja, daß gerade solche Gesichter am meisten trügen.
„Henry!“ sagte der Kapitän. „Also habe ich mich doch nicht getäuscht, als ich glaubte dich an der Stimme zu erkennen. Mein eigener Diener bricht bei mir ein!“
Es mochte in dem Ton oder in dem Gesicht des Alten etwas für den Dieb Beruhigendes liegen, denn die Züge des letzteren nahmen einen frivolen Ausdruck an, indem er antwortete:
„Aber er wird dabei erwischt!“
„Ja, Mensch! Das Erwischen ist schlimmer als das Einbrechen. Ich wenigstens rechne dir das erstere viel mehr an als das letztere. Du hast dich da ganz schauderhaft blamiert.“
„Oh, Herr Kapitän, ich werde es nicht wieder tun!“
„Was? Das Einbrechen oder das Erwischenlassen?“
„Das weiß ich nicht genau.“
Der Alte bemühte sich, ein grimmiges Gesicht zu ziehen, und doch vermochte er nicht, ein befriedigtes Zucken zu verbergen. Das grimmige Zähnefletschen, welches man jetzt hätte erwarten sollen, war ganz und gar nicht zu bemerken.
„Bist du toll!“ meinte er. „Ist das die Stimme eines Spitzbuben, welcher bei der Tat ertappt worden ist?“
„Nein“, lachte der Mann, „es sind vielmehr die Worte eines ehrlichen Menschen, welcher offen sagt, was er denkt.“
„Du weißt also wirklich noch nicht genau, ob du nach der Lehre, welche du gegenwärtig empfängst, das Einbrechen lassen wirst?“
„Nein, ich weiß es nicht.“
„Donnerwetter! Kerl! Mensch! Was soll ich da von dir denken? Hast du nicht bereits in der Schule gelernt, daß nur die wahre Reue Rücksicht und Begnadigung verdient?“
„Ja; aber ich glaube nicht daran.“
„Henry, du bist wirklich ein ganz und gar schlechter Kerl.“
„Das ist vielleicht recht gut für mich. Ich habe sehr oft gesehen und erfahren, daß es den schlechtesten Menschen am besten geht, während die Guten elend und unglücklich sind.“
„Das ist aber nicht der regelrechte Verlauf der Dinge, und eine Ausnahme darf man sich doch nicht zur Richtschnur dienen lassen!“
„O doch! Die Ausnahme, welche ich mir zum Vorbild genommen habe, werden Sie jedenfalls gelten lassen!“
„Ah! Welche wäre das?“
„Sie selbst!“
„Ich? Tausend Donner! Mensch, werde, um Gottes willen, nicht frech! Das könnte dir bei mir sehr üble Früchte bringen.“
Der Dieb ließ sich keineswegs irre machen. War er im Augenblick des Ertapptwerdens erschrocken gewesen, so schien er sich jetzt vollständig beruhigt zu fühlen. Er zeigte ein sicheres Lächeln und antwortete achselzuckend:
„Wollen Sie mir wirklich Angst einflößen, Herr Kapitän?“
„Glaubst du etwa, daß ich scherze?“
„Ja, gerade das glaube ich!“
„Das wäre toll! Ich sage dir, daß ich ganz und gar nicht mehr geneigt bin, Nachsicht walten zu lassen.“
Der Mann verneigte sich tief und fast ironisch und antwortete:
„Herr Kapitän, Sie werden diesen Gedanken dennoch festhalten. Ich kenne ein Mittel, Sie dazu zu bewegen.“
„Wirklich? So bin ich neugierig, ob du es wagen wirst, es in Anwendung zu bringen.“
Der Dieb warf den Kopf leicht und sorglos zur Seite und meinte:
„Es ist ganz und gar kein Wagnis dabei. Ich schlage vor, Herr Kapitän, unsere gegenwärtige Lage in Ruhe zu besprechen.“
Die Augen des Alten wurden vor Erstaunen größer und weiter. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte:
„Fast scheint es, als ob du glaubest, mir hier mein Verhalten vorschreiben zu können, Schurke!“
„Pah! Vielleicht können Sie mich gerade darum am besten gebrauchen, weil ich ein Schurke bin. Sie entsinnen sich doch, daß ich zuerst bei dem Grafen Rallion in Kondition stand?“
„Wozu diese Frage? Die Empfehlung des Grafen war es ja, welche mich bewog, dich in meine Dienste zu nehmen.“
Der Diener zuckte lächelnd die Achseln und sagte dann:
„Glauben Sie nicht etwa, daß Sie dem Grafen für diese Empfehlung Dank schuldig sind. Er war im Gegenteil sehr froh, mich loszuwerden.“
Dem Alten wäre vor Erstaunen über eine solche Frechheit beinahe das Terzerol entfallen. Er machte ein Gesicht, wie ein Mensch, welcher absolut nicht weiß, was er denken soll, und rief:
„Kerl, ich werde an deinem Verstand irre!“
„Ich nicht, Herr Kapitän. Der Graf benutzte mich zu allerlei Dingen, zu welchen sich nicht jeder andere eignet. Ich gewann dadurch Einsicht in Verhältnisse, in welche man nicht gern fremde Augen blicken läßt, und der Graf mochte bemerken, daß meine Hochachtung vor ihm desto tiefer sank, je mehr er mich in jene Verhältnisse eindringen ließ. Er sah sich genötigt, mich mit guter Miene zu entlassen, und da Sie um dieselbe Zeit ihm sagten, daß Sie in der Lage seien, sich einen zuverlässigen und verschwiegenen Diener zu suchen, so wurde ich Ihnen von ihm sehr warm empfohlen. Dadurch wurde er mich auf gute Art los, ohne gewisse Rachegedanken in mir zu erregen.“
„Wenn das wirklich die Wahrheit ist, so schulde ich ihm allerdings sehr wenig Dank.“
„Es ist wahr. Ich trat bei Ihnen ein und machte ganz dieselbe Erfahrung wie bei dem Grafen.“
„Welche Erfahrung meinst du, Spitzbube?“
„Ich wurde zu außerordentlichen Diensten verwendet, ohne auch außerordentlich belohnt zu werden.“
„Mensch, ich erwürge dich!“ rief der Alte vor Zorn.
„Oh, was das betrifft, so soll das Erwürgen eine der angenehmsten Todesarten sein! Ich hatte da zum Beispiel bei Ihnen den Wächter der Baronin und der kleinen Marion zu machen. Das erforderte eine Tag und Nacht angestrengte Aufmerksamkeit; aber eine Gratifikation wollte sich ärgerlicherweise nicht einstellen –“
„Mensch, du hast die beste Anlage zum Galgenvogel!“
„Mag sein. Ich habe immer Unglück gehabt. Mein Ziel war, so viel zu verdienen, daß ich einmal sorgenfrei von meinem Einkommen leben könne; aber es rückte in immer weitere Ferne, bis ich auf den Gedanken kam, dem Glück ein wenig nachzuhelfen. Ich sah heute, welche Summe Sie empfingen. Einen Schlüssel zu Ihrem Schreibtisch hatte ich schon längst bereit –“
„Ah! So ist es!“ dehnte der Kapitän. „Wer hat den Schlüssel angefertigt?“
„Ich selbst. Sie müssen nämlich wissen, daß ich ursprünglich Kunstschlosser bin. Ich wußte, daß Sie stets den Nachtriegel vorzuschieben pflegen; daher machte ich mich während Ihrer Abwesenheit an Ihr Türschloß, um demselben eine solche Einrichtung zu geben, daß beim Aufschließen von draußen auch der Riegel mit zurückgeschoben werde.“
„So hattest du auch einen Schlüssel zur Tür?“
„Natürlich! Heute nun wollte ich mir die erwartete Gratifikation von Ihnen holen. Es war alles so schön vorbereitet; daß es mißlingen konnte, vermag ich nicht zu begreifen, und ich möchte Sie ersuchen, mir zu sagen, in welcher Weise Ihr Verdacht, daß Ihr Geld in Gefahr stehe, abgeholt zu werden, entstanden ist.“
Das war eine mehr als ungewöhnliche Unterredung zwischen Herrn und Diener. Der Kapitän, welcher doch selbst ein Bösewicht war, konnte nicht begreifen, wie der Diener es wagen könne, mit solcher Frechheit und Unverschämtheit zu sprechen. Er glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, und fragte daher:
„Schuft! Habe ich recht gehört? Du verlangst von mir noch gar die Mitteilung, was meinen Verdacht erregt habe?“
„Ich habe sie nicht verlangt, sondern nur darum gebeten.“
„Der Teufel wird dir antworten, aber nicht ich! Ich hatte mit dir erst anderes vor. Nun ich aber sehe, welch ein galgenreifer Patron du bist, werde ich mich hüten, Milde walten zu lassen.“
„Oh, Sie werden sicherlich nichts unternehmen, was Ihnen Schaden bringen könnte. Dazu sind Sie zu klug.“
„Welchen Schaden könnte es mir bringen, wenn man dich einige Jahre hinter Schloß und Riegel steckt?“
„Den Schaden, daß ich Schloß und Riegel von meinem Mund nehmen würde.“
Die Augen des Alten flammten grimmig auf. Es war, als ob er den Diener mit seinem Blick versengen und verbrennen wolle.
„Tod und Teufel!“ rief er. „Willst du mir etwa drohen?“
„Ja!“ antwortete Henry, indem er seine Gestalt hoch und zuversichtlich aufrichtete. „Halten Sie das für unmöglich? Ich gebe zu, daß der Einbruch, welchen ich unternahm, etwas unvorsichtig ausgeführt wurde, ich bin in solchen Sachen niemals leichtsinnig gewesen, hier aber sagte ich mir, daß ich selbst im Falle, daß ich von Ihnen erwischt werde, nichts zu fürchten habe. Und daß ich einen Augenblick erstarrt schien, war nicht eine Folge der Angst oder Furcht, sondern immer nur der momentanen Überraschung.“
Dem Kapitän war es, als ob er diesen Menschen sofort zermalmen müsse. Er setzte die Hähne seines Terzerols in Ruhe, warf die Waffe auf den Tisch und ballte die Fäuste, als ob er bereit sei, zum Angriff vorzugehen. Henry aber zeigte nicht die mindeste Besorgnis; er trat vielmehr einen Schritt näher und sagte im Ton größter Kaltblütigkeit und Seelenruhe:
„Ich will nicht hoffen, daß Sie sich mit mir messen wollen. Ich bin nicht unerfahren im Handgemenge, da ich Soldat gewesen bin.“
„Was? Soldat warst du?“ knirschte der Alte. „Macht man auch Diebe zu Soldaten?“
„Jawohl. Diebe, Räuber und Mörder. Man macht sie nicht bloß zu Soldaten, sondern sogar zu Offizieren. Es ist möglich, daß es der größte Spitzbube bis zum Kapitän und Ehrenlegionär, vielleicht noch höher bringen kann.“
Jetzt endlich zeigte sich jenes gefährliche Zähnefletschen, welches dem Alten in Augenblicken des höchsten Zorns eigen war.
„Wie meinst du das, oder wen meinst du?“ fragte er.
„Wen? Hm. Das ist vielleicht nicht ganz gleichgültig. Ich will nur erwähnen, daß ich die angedeutete Erfahrung in Afrika, in Algerien gemacht habe.“
Der Schnurrbart des Alten sank augenblicklich herab, und das Fletschen der Zähne war verschwunden.
„Wie? Was?“ fragte er. „In Afrika, in Algerien warst du? Hast du dort gestanden? Als was?“
„Nur als Chasseur d'Afrique“, lachte der Diener.
Da entfärbte sich der Kapitän. Sein Gesicht war leichenblaß geworden. Er begann zu ahnen, daß Henry ihn selbst gemeint habe, als er sagte, daß der größte Spitzbube es bis zum Kapitän und Ehrenlegionär bringen könne.
„Mensch, warum hast du mir das nicht früher gesagt?“
Der Diener zuckte die Achsel und antwortete:
„Weil ich nicht glaubte, daß es Sie interessieren würde.“
„Wie lange warst du dort?“
„Lange genug, um ein wenig Arabisch verstehen zu lernen.“
Der Alte fuhr zurück. Erst bei diesen Worten Henrys begann er das Richtige zu ahnen.
„Ah!“ fragte er in tief grollendem Ton. „Du verstehst Arabisch?“
„So ziemlich.“
„Du hast die Baronin bewachen sollen, und sie hat Arabisch mit dir gesprochen?“
„Nein, kein Wort.“
„Mit wem sonst?“
„Mit der kleinen Komtesse Marion.“
„Lüg nicht.“
„Warum sollte ich lügen? Ich ersehe keinen Grund dazu!“
„Wie könnte sie mit dem Kind sprechen, welches ja kaum zu lallen versteht!“
„Hm! Haben Sie noch keine Mutter beobachtet? Haben Sie noch nie gesehen oder gehört, daß eine Mutter bereits mit ihrem Neugeborenen spricht, um ihm süße Namen zu geben und ihm allerlei mitzuteilen, wie's eben nur ein Mutterherz versteht?“
„Unsinn. Kinderei!“
„Nein, kein Unsinn. Das Mutterherz quillt über von Glück und Liebe; es will sich mitteilen, und daher spricht die Mutter mit dem Kind, obgleich sie weiß, daß dasselbe kein Wort versteht. Aber wenn die Augen des Kindes offen und lächelnd auf die Mutter gerichtet sind, so versenkt sich die letztere in die süße Täuschung, von dem kleinen Liebling verstanden worden zu sein.“
„Nichts als Schwätzerei!“
„Wohl nicht. Was da gesprochen wird, ist nicht immer unsinniges Zeug. Und wenn eine Frau, welcher es an Umgang und Gesellschaft keineswegs mangelt, mit ihrem Kind redet, was wird dann eine andere, welche wie die Frau Baronin gefangen gehalten wird, erst recht tun? Mit ihrem Kind reden. Und was wird sie mit ihm sprechen? Was wird sie ihm erzählen?“
Das Auge des einstigen Chasseur d'Afrique und jetzigen Einbrechers war scharf triumphierend auf den Alten gerichtet.
„Nun, was?“ fragte dieser stockend.
„Sie wird ihm erzählen, warum sie so arm, so elend ist. Sie wird ihm erzählen von der Wüste, von den hingemordeten Stämmen der Beni Hassan, von Saadi, dem richtigen Vater des Kindes –“
„Tausend Donner!“
„Von dem Fakihadschi Malek Omar“, fuhr der Diener unbeirrt fort, „und von dessen Sohn oder Gefährten Ben Ali, der aber gar nicht sein Sohn sein kann.“
„Mensch, du faselst!“
„Ich wiederhole nur das, was ich gehört habe.“
„Du träumst – oder hast geträumt!“
„Oh, ich war im Gegenteil sehr wach und munter. Aber in diesem Augenblick ist ja alles gleichgültig; es würde seine Bedeutung erst vor dem Richter erhalten. Für jetzt frage ich Sie bloß, ob Sie geneigt sind, mich als Einbrecher anzuzeigen.“
Der Alte steckte die Hände in die Taschen, als ob, wenn er ihnen die Bewegung raube, auch sein Innerstes zur Ruhe kommen müsse.
„Setz dich!“ gebot er.
Er schritt, als Henry gehorchte, mehrere Male im Zimmer auf und ab, trat dann zur Tür, schob den Riegel vor und wendete sich dann mit weit gedämpfterer Stimme als vorher an den anderen:
„Es ist also wahr, daß du die Baronin in ihrem Arabisch belauscht hast?“
„Ja, Herr Kapitän.“
„Und sie hat wirklich das gesagt, was du vorhin erwähntest?“
„Wüßte ich sonst davon?“
„Wovon hat sie sonst gesprochen?“
Das Gesicht des Dieners nahm einen unbeschreiblich schlauen, aber ebenso zurückhaltenden und berechnenden Ausdruck an. Wäre ein Zeichner zugegen gewesen, so hätte er diesen Menschen als die Personifikation der größten Verschlagenheit in die Mappe bringen können.
„Von sehr vielem noch“, antwortete er.
„Ich will das hören! Verstehst du? Ich muß es wissen!“
„Hm! Ich kann es nicht sagen.“
„Warum nicht?“
„Weil es mir augenblicklich nicht einfällt.“
„So besinne dich. Denke nach.“
„Das geht nicht so schnell und auf Kommando, wie Sie es wünschen und verlangen. Es können Tage, ja Wochen vergehen, ehe ich mich klar und deutlich erinnern kann.“
„Ich verstehe dich, Halunke. Aber glaube ja nicht, daß die dunklen Andeutungen, welche du doch nur gehört haben kannst, imstande sein werden, mich in Verlegenheit zu bringen.“
„Oh, es waren mehr als dunkle Andeutungen! Warum erhält übrigens die Frau Baronin keine Gelegenheit, Französisch zu lernen? Warum darf niemand mit ihr sprechen?“
„Das geht dich den Teufel an! Du hast mir zu antworten, nicht aber zu fragen! Also gestehe, ob du mit der Baronin gesprochen hast!“
„Kein Wort!“
„Das lügst du! Ich glaube dir nicht!“
„Dann halten Sie mich leider für dümmer, als ich bin. Es lag mir natürlich daran, so viel wie möglich zu hören und zu erlauschen; darum mußte ich so tun, als ob ich kein einziges Wort verstehe. Hätte die Baronin das Gegenteil bemerkt, so hätte ich wohl vergebens gewartet, meine Neugierde befriedigt zu sehen.“
„Du hattest nicht zu lauschen und nicht hinzuhören!“
„Sollte ich mir die Ohren verstopfen?“
Der Kapitän war für den Gegenstand ihres Gesprächs so außerordentlich interessiert, daß er es gar nicht beachtete, welch ein Spiel sein Diener mit ihm trieb und in welchen Ausdrücken dieser sich bewegte. Er drohte nur:
„Ich werde mich bei meiner Schwiegertochter erkundigen, und ich befinde mich im Besitz der nötigen Mittel, sie zum Geständnis zu bringen, ob du mit ihr gesprochen hast.“
„Tun Sie das! Ich kann ruhig sein.“
„Ich hoffe es. Aber nun sage mir, was du getan hättest, wenn dir der jetzige Raub geglückt wäre?“
„Was hätte ich tun sollen? Ich hätte das Geld einstweilen vergraben.“
„Aber der Verdacht hätte auf dich kommen können!“
„Das glaube ich nicht.“
„Der Dieb konnte nur im Haus sein.“
„Pah! Man hätte keine Spur entdeckt. Es war kein Schloß verletzt. Sie hatten Ihr Geld gezählt und sich dann eingeriegelt. Der Diebstahl wäre vollständig unerklärlich geblieben und auch niemals aufgeklärt worden. Das Geld hätte ich, wie gesagt, an einem sicheren Ort einstweilen vergraben.“
„Aber man hätte die Nachschlüssel bei dir finden können. Ich hätte natürlich Haussuchung halten lassen.“
„Man hätte nichts gefunden. Auch sie wären vergraben worden.“
„Aber der Zufall und der Teufel treiben oft ihr Spiel. Am sichersten für dich wäre doch die Flucht gewesen.“
Bei diesen Worten hielt er sein Auge forschend auf Henry gerichtet. Dieser bemerkte den lauernden Blick und antwortete:
„Halten Sie mich für unzurechnungsfähig? Ich hätte ja gerade durch diese Flucht den Verdacht auf mich gelenkt!“
„Hm! Ich sehe, daß ich mich vielleicht in dir getäuscht habe. Da du dich erwischen ließest, so hatte ich keine große Meinung von deiner Umsicht und Geschicklichkeit.“
„Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich überzeugt war, im Falle des Mißlingens straffrei auszugehen. Bei anderer Gelegenheit würde ich sicherlich nicht ergriffen werden.“
„Bist du so überzeugt davon?“
„Vollständig! Ein tüchtiger Einbrecher schlägt lieber zehn Angreifer tot, als daß er sich ergreifen läßt.“
„Mensch, ich beginne zu glauben, daß du ein höchst gefährliches Subjekt bist!“
„Möglich!“ nickte Henry kaltblütig.
„Du sprichst vom Einbrechen ganz in der Weise, als ob du etwas Ähnliches bereits begangen hättest.“
„Ich leugne es auch gar nicht.“
„Und als ob du bereit seist, ganz dasselbe wieder zu tun?“
„Hier wenigstens nicht. Sie werden schon dafür sorgen, daß Ihre Kasse von jetzt an sicher ist.“
„Aber anderwärts?“
Henry blickte seinen Herrn ziemlich lange von der Seite an; dann meinte er langsam und mit Betonung:
„Das wird ganz allein von der Lage abhängen, in welche Sie mich versetzen. Jagen Sie mich ohne Zeugnis fort, so erhalte ich keine Stelle und muß sehen, was ich tue.“
„Wie nun, wenn ich dich nicht fortjage?“
„Wollen Sie den Fuchs im Stall behalten?“
„Nein. Aber ich will ein anderes Tier zum Vergleich heranziehen. Der Leopard raubt und mordet, aber sobald man klug ist, kann man sich seiner zur Jagd bedienen.“
Der Diener nickte leise vor sich hin.
„Das oder so etwas Ähnliches habe ich mir gedacht“, sagte er. „Das lag auch mit in meiner Kalkulation, ehe ich mich daran machte, den Schlüssel in Ihr Schloß zu stecken.“
Der Alte, welcher noch immer auf und ab schritt, blieb jetzt vor ihm stehen und sagte:
„Henry, wenn das wahr ist, so bist du allerdings ein Kopf, der zu gebrauchen ist. Ich habe wirklich Lust, dich zu begnadigen!“
„Damit Sie mich als Jagdleopard gebrauchen können?“ lachte der Diener. „Versuchen Sie es einmal, Herr Kapitän!“
„Wärst du bereit dazu?“
„Warum nicht? Aber man muß seine gute Rechnung dabei finden.“
„Ich würde dafür sorgen, daß dies der Fall ist. Aber hier gilt es Verwegenheit, Verschlagenheit und Verschwiegenheit.“
„Mit diesen drei Gerichten kann ich Ihnen aufwarten. Sagen Sie mir nur, was ich zu tun habe!“
„Geduld! Geduld! Ich muß vor allen Dingen deiner auch sicher sein.“
„Sind Sie das etwa nicht?“
„Du verlangst doch nicht etwa, daß ich dir ganz plötzlich vertraue, nachdem ich dich wenige Minuten vorher beim Einbruch ertappt habe.“
„Habe ich Ihnen nicht gerade durch diesen Einbruch bewiesen, daß Sie mir etwas Ähnliches sorglos anvertrauen können?“
„Vielleicht. Aber – hm, es geht doch nicht! Es fehlt dir etwas, was jedenfalls unumgänglich notwendig vorhanden sein muß. Du verstehst kein Deutsch!“
Da stand Henry vom Stuhl auf und antwortete lächelnd:
„Wer hat Ihnen diese Lüge aufgebunden?“
„Alle Wetter! Verstehst du es?“
„Leidlich, vielleicht sogar besser als leidlich.“
„Wo hast du es gelernt?“
„Von meiner Gouvernante.“
Richemonte nahm an, daß diese Antwort ein Scherz sein solle, aber als er sah, welch ernstes Gesicht der Diener dabei zeigte, fragte er:
„Eine Gouvernante hast du gehabt, Kerl?“
„Eine ganze Reihe vielmehr. Es konnte keine bei mir aushalten, denn ich war ein verdammt wilder Knabe. Meine Eltern ließen mir alles angehen. Ich weiß ihnen für das jetzt keinen Dank, denn sie allein sind schuld, daß ich das wurde, was ich bin.“
„Wer war dein Vater?“
Der Einbrecher starrte eine Minute lang in das Licht der Laterne, ohne zu antworten. Was zuckte nur jetzt über sein nicht unschönes Gesicht? Waren es Schatten, oder waren es die Zeichen einer plötzlich über ihn gekommenen Rührung, einer milden, reuigen Regung, wie sie ja auch der ärgste Verbrecher nicht immer von sich zu weisen vermag? Dann aber fuhr er mit der Hand durch die Luft und antwortete, indem seine Stimme einen heiseren Klang annahm:
„Pah! Man soll nicht an Vergangenes denken, sondern es lieber ruhen lassen! Ich sitze auf der Lawine, und sie rollt bergab. Vielleicht begräbt sie mich unter sich, vielleicht auch rettet mich ein kühner Sprung im rechten Augenblick.“
„Nun also, was war dein Vater?“
„Erlassen Sie mir die Antwort. Sie kann nichts nützen, und es hätte ja auch keinen Zweck, wenn ich Ihnen eine Unwahrheit aufladen wollte. Es mag genug sein, daß mir mein jetziges Schicksal nicht an der Wiege gesungen wurde. Was ich war, das geht mich nichts mehr an; ich will es vergessen; ich will nichts mehr davon sagen und hören. Und was ich jetzt bin, das will ich auch ganz sein!“
Da streckte ihm der Kapitän die Hand entgegen und sagte:
„So ist es recht! Ich sehe ein, daß ich mich auf dich werde verlassen können. Hat dir das Geschwätz dieser dummen Baronin wirklich erlaubt, einen kleinen, kurzen Blick in verborgene Sachen zu werfen, so wirst du erkannt haben, daß auch mein Schicksal kein erfreuliches gewesen ist. Aber ich habe gerade wie du gesagt: Die Vergangenheit vergessen, die Gegenwart ergreifen und für die Zukunft sorgen. So ist es mir gelungen, und ich bin überzeugt, daß es auch dir gelingen wird, Herr deines Geschicks zu werden. Der Mensch ringt dem Schicksal kein Jota mehr ab, als sein eigener Wert beträgt. Kann ich mich auf dich verlassen?“
Henry schlug die dargebotene Hand ein und antwortete:
„Ich denke es und werde es Ihnen beweisen.“
„So laß uns aufrichtig sprechen! Schreckst du vor einem Diebstahl zurück, wenn er dir reichlich belohnt wird, auch wenn es ein schwerer, ein Einbruch sein würde?“
„Nein.“
„Aber wenn man dich dabei überraschte und ergreifen wollte?“
„Pah! Ich würde gut bewaffnet sein!“
„Das heißt, du würdest von den Waffen entschlossenen Gebrauch machen und dich verteidigen?“
„Ja. Wer mich angreifen wollte, müßte daran glauben!“
„Welche Belohnung würdest du fordern?“
„Das käme auf die Schwierigkeit des Unternehmens an und auf den Wert des Objekts, Monsieur Kapitän.“
„Beides ist bis jetzt noch nicht zu bestimmen. Aber erkläre mir noch einen Widerspruch. Erst sagtest du, daß du eigentlich Kunstschlosser seist, und dann ließest du ahnen, daß deine Wiege nicht an einer gewöhnlichen Stelle gestanden habe.“
„Beides ist richtig. Ich stürzte von der Stelle hinab, auf welcher ich geboren wurde. Ich wurde zunächst ein Glücksritter und später etwas noch weniger Gutes und dabei war es notwendig, sich zuweilen mit gewissen Schlosserarbeiten zu beschäftigen. Einer meiner Kollegen hatte dieses Handwerk oder, wie es hier genannt werden muß, diese Kunst gelernt, und zu ihm ging ich in die Lehre.“
„Das befriedigt mich. Für heute mag es genug sein. Vielleicht ist es zu deinem Glück, daß du heute deine Kunst an meiner Kasse versuchtest. Ich hoffe, du bist überzeugt, daß du von mir nichts zu befürchten hast?“
„Ich befürchte nicht das mindeste.“
„Nun, solltest du dennoch einen kleinen Zweifel hegen, so will ich denselben hiermit zerstreuen. Da, nimm!“
Er öffnete den einen der noch auf dem Tisch liegenden Beutel, welcher lauter Gold enthielt, nahm eine Handvoll heraus und gab es ihm.
„Danke, Monsieur!“ meinte Henry, indem er das reiche Geschenk in seine Tasche verschwinden ließ. „Wenn ich von der Höhe dieses unerwarteten Geschenks schließen soll, um was es sich bei dem erwähnten weiteren Einbruch handelt, so darf ich es mir nicht als einen Pappenstiel denken.“
„Es wird sich allerdings nicht um eine Kleinigkeit handeln.“
„Sie sollen mit mir zufrieden sein!“
„Ich hoffe es! Das Nähere vielleicht bald. Alles übrige, das heißt, deine jetzige Arbeit und so weiter bleibt beim alten. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“
Er ging und begab sich leise nach demjenigen Teil des Schlosses, in welchem die Dienerschaft schlief. In seinem Zimmerchen angekommen, öffnete er die Laterne und warf sich in einen Stuhl. Er stemmte den Kopf in die Hand und begann zu grübeln. Das Licht beleuchtete sein Gesicht, und wenn es einmal aufflackerte, so huschten gespenstische Schatten durch den Raum. Er bemerkte es nicht.
Woran mochte er jetzt denken? An die Eltern, denen er vorhin die Schuld aufgebürdet hatte, ihn zu dem gemacht zu haben, der er war – zum kühnen und verschlagenen Verbrecher? Wer kann das wissen! Wußte doch er selbst es kaum. Er gab sich seinen Gedanken widerstandslos hin, ohne Rechenschaft von sich zu fordern. Das Licht brannte herab, es flackerte einige Male kurz auf und verlöschte dann. Erst jetzt erwachte er aus seinem Grübeln.
„Finster“, murmelte er. „So geht es auch mit dem Licht der Jugend, des Glücks und des Lebens. Aber sorgen wir dafür, daß ein neues vorhanden sei, um angezündet zu werden, wenn das alte verlöschen will! Was nützt das Grübeln und Sorgen! Ich sehe, daß ich richtig gerechnet und mich in dem Kapitän nicht getäuscht habe. Er meint, mir überlegen zu sein; er denkt, in mir ein gutwilliges, dankbares und einträgliches Werkzeug gefunden zu haben; er wird entschlossen sein, mich auszunutzen, bis er mich nicht mehr braucht. Aber er irrt sich. Ich werde ihm dienen um meines eigenen Vorteils willen, aber mich zu betrügen soll ihm nicht gelingen!“
Als am anderen Morgen der Kapitän erschien, um sich mit dem Grafen zum Frühstück, welches sie allein einnahmen, niederzusetzen, zeigte sein sonst so strenges Gesicht einen Ausdruck von Heiterkeit, welcher Rallion sofort auffallen mußte. Dieser fragte daher:
„Über welches Glück sind Sie denn bereits heute am frühen Tag hinweggestürzt, daß ich Sie bei so vorteilhafter Laune sehe?“
„Heute nicht, sondern bereits am gestrigen Abend, gleich nachdem wir uns getrennt hatten“, antwortete der Gefragte. „Und zwar ist es ein Glück, welches Sie ebenso nahe angeht, wie mich selbst.“
„Sie machen mich um so neugieriger. Darf man dieses Glück, von welchem ich mir also auch einen Teil erhoffe, kennenlernen?“
„Ja. Erinnern Sie sich des Gegenstandes, über welchen wir vor unserer Trennung sprachen?“
„Natürlich! Wir sprachen über Königsau.“
„Und fanden keine Handhabe, sehr fatalerweise. Aber ich bin sehr erfreut, Ihnen sagen zu können, daß mir ein außerordentlich glücklicher Gedanke gekommen ist.“
„Ist er wirklich glücklich und auch ausführbar, so ist er mehr als Gold wert. Ich hoffe, daß ich ihn erfahren werde!“
„Das versteht sich. Vorher will ich Ihnen aber von einem anderen Glücke berichten, welches ich gestern abend noch gehabt habe. Es wurde nämlich bei mir eingebrochen.“
Der Graf öffnete erstaunt den Mund und sah den Alten erwartungsvoll an.
„Eingebrochen? Hier im Schloß?“ fragte er.
„Ja, sogar in meinem Schlafzimmer.“
„Himmel! Welch ein Wagnis! Eingebrochen in Ihrem Schlafzimmer! Und das nennen Sie ein Glück?“
„Sogar ein sehr großes, ein sehr bedeutendes.“
„Das begreife der Teufel! Ich halte einen Einbruch für einen sehr gewagten Streich von seiten des Einbrechers und für ein großes Malheur für den Betroffenen.“
„Hm. Ja. Von gewagten Streichen sind Sie ja überhaupt nie ein Freund gewesen!“
Der Graf runzelte die Stirn und fragte in nicht sehr freundlichem Ton:
„Zweifeln Sie etwa an meinem Mut?“
„Oh, ganz und gar nicht“, lachte der Alte. „Es gibt ja sehr verschiedene Arten von Mut.“
„Das ist mir neu. Mut ist doch immer gleich.“
„O nein. Es gibt Mut der Unbesonnenheit, den Mut der Liebe, den Mut der Entsagung, den Mut der Verzweiflung, ja, sogar den Mut der Feigheit.“
„Der letztere ist ein Unding.“
„Keineswegs. Aber jedenfalls war er demjenigen fremd, welcher gestern abend bei mir eingebrochen ist.“
„Was hat er gestohlen?“
„Nichts, gar nichts. Der Einbruch ist ihm nicht gelungen. Ist das nicht ein Glück für mich zu nennen, da ich über zwanzigtausend Franc im Kasten hatte, den er öffnete?“
„Das war allerdings ein Glück!“
„Und das nicht allein. Ich habe ihn sogar erwischt und festgehalten. Ist das kein Glück?“
Der Graf machte eine Bewegung des Schrecks und rief:
„Unvorsichtiger! Wie können Sie so etwas wagen! Einen Einbrecher festzunehmen! Ohne alle andere Hilfe! Wie nun, wenn er Sie massakriert hätte? Das wäre ja leicht möglich gewesen.“
„Er hat es aber doch nicht getan.“
„Er hatte also den Kasten bereits offen?“
„Ja, und das Geld bereits in der Tasche; aber ich zwang ihn, es wieder herauszugeben.“
„Kapitän, das ist wirklich entsetzlich! Das sind leichtsinnige Jugendstreiche von Ihnen. Ich rühme mich doch auch einer gehörigen Portion von Mut und Verwegenheit, aber einem Einbrecher jage ich seinen Raub niemals wieder ab. So etwas kann höchst unglücklich ausfallen, wie zahlreiche Beispiele beweisen. Aber, da fällt mir ja ein, daß man gar nichts gehört und bemerkt hat.“
„Was sollte man denn hören?“
„Hilferuf und Kampfgetümmel!“
„Nichts weniger als das. Es ist vielmehr sehr ruhig dabei hergegangen.“
„Das begreife ich nicht. Wo steckt denn der Kerl? Es war nur einer?“
„Glücklicherweise, ja.“
„Sie haben ihn doch sofort in Eisen schmieden und forttransportieren lassen?“
„Fällt mir gar nicht ein.“
„Nicht? Was denn sonst?“
„Ich habe ihn wieder freigelassen.“
Da machte der Graf ein Gesicht, als ob er geradezu Ungeheuerliches vernommen habe. Er starrte den Kapitän eine ganze lange Weile sprachlos an und rief dann aus:
„Freigelassen? Sie scherzen doch wohl nur?“
„Nein, ich spreche im völligen Ernste.“
„Welch eine Unverzeihlichkeit! Einen Dieb, einen Mörder, einen Einbrecher frei zu lassen, der nun bei anderen abermals einbrechen wird.“
„Das ist ja gerade der Grund, weshalb ich ihm die Freiheit schenkte!“
„Daß er auch andere nächtlich überfallen soll?“
„Ja doch! Gerade dieses.“
„Da hört sich denn doch alles auf! Sind Sie denn verrückt, Kapitän?“
„Nicht die Spur. Ich handelte aus schlauer Berechnung, was bei Verrückten und Wahnsinnigen doch nicht vorzukommen pflegt.“
„Aber wohin ist der Mensch nun?“
„Er ist hier im Schloß.“
Da zog der Graf die Beine erschrocken an sich, als ob er Sorge trage, daß der freigelassene Einbrecher sich unter dem Tisch befinde.
„Im Schloß?“ fragte er. „Ist das wirklich wahr? Höre ich recht?“
„Ihr Gehör scheint ganz ausgezeichnet zu sein. Der Mann befindet sich hier im Schloß; er gehört zu meiner Dienerschaft.“
„Donnerwetter! Bedient er etwa auch mich mit?“
„Ja, allerdings.“
„War er bewaffnet, als er einbrach?“
„Mit einem langen, scharfen und sehr spitzen Messer.“
Da schnellte der Graf von seinem Sessel empor, als ob er von einer Spannfeder in die Höhe getrieben worden sei, und rief entsetzt:
„Das ist genug! Nein, nein, das ist sogar zu viel, mehr als zu viel! Kapitän, wollen Sie mir einen großen Gefallen erweisen?“
„Gern, wenn ich vermag.“
„Sie vermögen es. Lassen Sie sofort und unverweilt anspannen.“
„Warum, lieber Graf?“
„Weil ich abreisen will, schleunigst abreisen. Oder denken Sie etwa, daß es mir einfallen kann, hier zu bleiben und zu warten, bis der Kerl kommt, mit dem Messer in der Hand, um nun auch bei mir einzubrechen? Ich bin im glücklichen Besitz einer tüchtigen Portion Mut und Verwegenheit; ich bin sogar in meinem Leben schon sehr oft geradezu tollkühn gewesen, aber ein vorsichtiger Mann ist nur dann mutig, kühn und verwegen, wenn es sich nicht um Tod und Leben handelt. Ich habe keine Lust, mich erdolchen zu lassen.“
Der Alte lachte kurz und leise auf, zog die Spitzen seines weißen Schnurrbartes breit und sagte unter einem nicht sehr bewundernden Blick:
„Ja, ja, tollkühn sind Sie sehr oft gewesen, dagegen läßt sich nicht streiten; aber dieses Mal werden Sie ja gar keine Gelegenheit haben, Ihre Verwegenheit zu betätigen. Ich habe den Mann völlig unschädlich gemacht.“
„Unschädlich? Völlig?“ fragte der Graf, indem er tief Atem holte und sich langsam wieder auf seinen Sitz niederließ. „Ihn freigelassen und doch unschädlich gemacht? Wie haben Sie das angefangen?“
„Ich habe mich mit ihm in aller Freundlichkeit noch eine ganze Weile unterhalten und ihn sogar wegen des Einbruchs belohnt.“
„Belohnt?! Kapitän, jetzt bemerke ich allerdings, daß Sie nur flunkern, ganz gewaltig flunkern. Sie wollen mir ein Märchen aufbinden, um zu sehen, ob ich wirklich Mut besitze, ob ich in Wirklichkeit kühn sein kann. Ich bitte Sie, mich heute und die nächsten Tage in dem betreffenden Zimmer schlafen zu lassen. Wenn es ihm einfallen sollte, den Einbruch abermals in Szene zu setzen, so will ich ihn empfangen. Ich werde ihm die Knochen so zusammenschütteln, wie ein Knabe die Steinchen und Gläser eines Kaleidoskops zusammenwirft.“
„Hm! Ja, das traue ich Ihnen zu“, lachte Richemonte. „Leider aber werden Sie keine Gelegenheit finden, diesen Mut zu betätigen. Was ich Ihnen erzählte, ist zwar wörtlich wahr, aber der Mann wird nicht wieder als Einbrecher, sondern nur als mein Verbündeter das Zimmer betreten, von welchem Sie sprechen.“
„Als Ihr Verbündeter? Alle Wetter! Das klingt ja ganz und gar, als ob Sie von jetzt an in Gemeinschaft mit ihm den Einbrecher spielen wollten.“
„So ist es auch.“
„Diable. Ich vermag Sie nicht zu verstehen. Sie geben mir da Rätsel auf, welche ich nicht zu lösen vermag, obgleich ich mich rühmen kann, eine ganz gehörige Portion von Scharfsinn zu besitzen.“
„Ich beabsichtige gar nicht, diesen mir so wohlbekannten Scharfsinn auf die Probe zu stellen, er ist mir bereits bekannt. Ich will Ihnen alles kurz erklären, indem ich Ihnen sage, daß der gestrige Einbruch mich eben auf den Plan gebracht hat, mit dessen Hilfe wir den Königsaus eine Schlappe beibringen, welche sie nie verwinden werden.“
Kaum waren diese Worte gesprochen, so rückte der Graf näher.
„Ah. Wirklich?“ fragte er schnell. „Sprechen Sie! Teilen Sie es mir mit.“
„Dieser Einbrecher wird das Werkzeug sein, mit dessen Hilfe wir die Familie unserer Feinde ein für allemal ruinieren werden. So unwahrscheinlich das klingen mag, so wahr und sicher ist es doch. Hören Sie. Aber leise, damit kein zufälliger Lauscher ein Wort vernehmen kann.“
Sie führten lange und in sichtlicher Erregung ein leise geflüstertes Gespräch. Die Augen des Alten glühten in tückischer Freude, und im Gesichte des Grafen war eine Spannung zu bemerken, welche nach und nach in den Ausdruck der Genugtuung überging.
„Nun, was sagen Sie zu dem Plan?“ fragte endlich der Kapitän.
„Daß er herrlich, geradezu genial erdacht ist.“
„Er wird gelingen.“
„Das ist das allerbeste an ihm. Wir wagen nichts.“
„Trotzdem wir bei Ihrer bekannten Tollkühnheit vor einem Wagnis keineswegs zurückschrecken würden!“ meinte der Alte im Ton versteckter Ironie.
„Ganz und gar nicht!“ stimmte der Graf eifrigst bei. „Aber der Geldpunkt? Wie regeln wir diesen?“
„Wie Freunde dergleichen untereinander zu regeln pflegen.“
„Das heißt, wir teilen? Mir ist das recht. Aber wer hat das Geld zu beschaffen?“
„Beide, wenn auch jeder nach seinen Kräften. Sie sind viel, viel reicher als ich; aber ich glaube doch, daß es mir möglich sein wird, bare hunderttausend Francs aufzubringen.“
„Gut. Das übrige zahle ich. Wieviel wird es ungefähr betragen?“
„Ich weiß das nicht. Wir werden, um uns eine Zurückweisung zu ersparen, natürlich sehr weit über den eigentlichen Wert bieten müssen: aber das bringt uns doch nicht den mindesten Schaden.“
„Es gilt dabei zu bedenken, daß sie uns beide kennen. Ich fürchte, daß sie von uns gar nichts werden wissen wollen.“
„Wir werden doch nicht solche Toren sein, das Geschäft in unseren Namen oder gar persönlich entrieren zu wollen.“
„Ah. Vielleicht einen Strohmann?“
„Nichts anderes. Wir schieben einen Strohmann vor, der uns für einige hundert Francs gern zu Diensten sein wird.“
„Und wie wird es diesem famosen Diener Henry, diesem verteufelten Einbrecher, gelingen, seine Aufgabe zu erfüllen?“
„Er sucht Zutritt in der Familie.“
„Etwa als Diener, gerade wie er zu Ihnen gekommen ist? Weiß man denn, ob sie einen Diener gebrauchen können und engagieren werden?“
„Von solchen Unwahrscheinlichkeiten dürfen wir das Gelingen unseres Vorhabens ganz und gar nicht abhängig machen. Ich habe während dieser ganzen Nacht mir alles zurechtgelegt und auch einen sehr leichten Weg gefunden, Henry den Zutritt zu eröffnen.“
„Er wird nach Berlin gehen müssen.“
„Noch weiter. Die Verhältnisse derjenigen Menschen, welche ich entweder liebe oder hasse, sind mir stets genau bekannt; nur um die Schicksale mir gleichgültiger Leute bekümmere ich mich nicht. So lasse ich auch die Familie Königsau stets beobachten. Ich weiß, daß sie sich gegenwärtig auf Breitenheim befindet, jenem Gut, welches der alte Hugo auf Blüchers Bemühung hin geschenkt erhielt. Nur einer fehlt dort, nämlich Gebhard Königsau, welcher sich gegenwärtig im Orient befindet. Dieser Umstand ist für uns von großem Wert, weil er es uns möglich macht, Henry auf gute Weise einzuführen. Habe ich Ihnen erzählt, daß dieser als Chasseur d'Afrique in Algerien gestanden hat?“
„Ja. Ich erinnere mich dessen.“
„Nun, Gebhard Königsau ist ja auch dort gewesen.“
Da schnipste der Graf mit den Fingern und rief bewundernd:
„Ah, ich ahne. Genial, wahrhaft genial. Sie sind ein verdammt spitzer Kopf! Wenn Sie in bezug auf Scharfsinn auch nicht gerade an Unsereinen reichen, so würden Sie doch einen ganz netten Diplomaten abgeben, Kapitän.“
„Meinen Sie?“ fragte Richemonte ironisch.
„Ja. Wenn ich das sage, so ist es wahr, denn ich bin ja Diplomat. Also Henry wird Gebhard in Algerien getroffen haben. Wo liegt dieses Gut Breitenheim?“
„Im preußischen Regierungsbezirke Gumbinnen, eine kleine Strecke hinter Nordenburg.“
„Gumbinnen? Der Teufel hole diese deutschen oder preußischen Namen, bei denen man sich die Zunge verrenkt und verstaucht. Und wo liegt dieses Gumbinnen?“
„Nach der russischen Grenze zu.“
„So weit? Doch das ist egal. Also Henry hat Gebhard von Königsau in Algerien getroffen; er befindet sich auf einer Reise nach Petersburg; kommt durch diese Gegend; da fällt ihm ein, daß sein Freund hier wohnt; er geht, ihn zu besuchen; er findet ihn nicht, bedauert das natürlich sehr, wird aber herzlich und gastfreundlich aufgenommen.“
„Ja, so ist mein Plan“, stimmte der Alte bei.
„Er ist wirklich genial; aber es gibt dabei doch einige Bedenken.“
„Ich kenne kein einziges.“
„Gebhard wird nichts von diesem Freund erzählt haben.“
„Was schadet oder hindert das? Königsau wird während seiner Reise mehrere Bekanntschaften angeknüpft haben, ohne ausdrücklich von ihnen zu berichten.“
„Gut. Aber Henry wird gefragt werden, wo und wie er den Deutschen in Algerien getroffen hat. Wird das, was er antwortet, mit den Erlebnissen Gebhards stimmen?“
„Ganz genau.“
„Das bezweifle ich sehr.“
„Oh, ich habe auch hier bereits gesorgt. Diese Deutschen haben nämlich, trotzdem sie die größten Ignoranten der Wissenschaft und Bildung sind, die famose Monomanie, über alles, was sie sehen, hören, oder denken, ein Buch zu schreiben –“
„Mein Himmel, welch ein Blödsinn!“ fiel der Graf ein. „Wer soll so ein Buch, so ein Schriftwerk, solche Makulatur kaufen?“
„Es gibt genug Dumme, welche dies tun. Gebhard von Königsau hatte natürlich nach seiner Rückkehr aus Afrika auch nichts Eiligeres zu tun, als schleunigst einen Band zusammenzuschmieren.“
„Welcher Unsinn! Was soll in dem Buch stehen?“
„Seine Erlebnisse.“
„Wer in Deutschland kann sich für Afrika interessieren? Kein einziger Mensch. Was weiß ein Deutscher überhaupt von Afrika? Es ist ja bekannt, daß die Deutschen die miserabelsten Geographen sind. Die meisten werden den Namen Afrika noch gar nicht gehört haben. Sie wohnen ja viel zu weit nach Norden; Algerien aber, also Afrika, gehört uns. Wir Franzosen sind es, welche sich ausschließlich mit der Zivilisation des dunklen Erdteils abgeben, und so gebührt uns auch das ausschließliche Recht, Bücher über diesen Erdteil zu schreiben. Daran mögen sich die Deutschen nur niemals wagen.“
„Ich kann Ihnen nicht ganz unrecht geben, trotzdem aber ist jenes Buch von Königsau geschrieben worden und sogar in einer französischen Übersetzung erschienen. Hier erkennt man wieder einmal die selbstlose Großmut unserer glorreichen Nation. Es hat sich ein mitleidiger, französischer Verleger gefunden, um diesem beklagenswerten Deutschen in Form des Honorares ein Almosen zukommen zu lassen. Da ich, wenigstens negativ, mich für Königsau interessieren muß, so habe ich mir diese Übersetzung gekauft. Sie gleicht einem Tagebuch und gibt ganz genau an, was von Datum zu Datum erlebt wurde. Ich werde Henry dieses Buch zu lesen geben, und so wird er wissen, was er zu antworten hat.“
Wie dieser Punkt, so wurden auch noch andere Punkte eingehend besprochen, deren Erörterung zum Gelingen des Planes unumgänglich notwendig war. Das Gewitter im Südwesten stand im Begriff, seinen zweiten Blitzstrahl zu versenden, von welchem anzunehmen war, daß er zerstörender wirken werde, als der erste. –
Einige Wochen später fuhr eine Droschke erster Klasse an einem breiten Hauseingang einer der belebtesten Straßen Berlins vor. Der Insasse, ein langer, schmächtiger Herr in elegantem Reiseanzug, aus dessen ganzem Äußeren man den Franzosen vermuten konnte, stieg aus und trat in den Flur. Dort gab es linker Hand eine Glastür, an deren Scheibe dieselben Worte wie auf der über dem Tor angebrachten Firma zu lesen waren: ‚Samuel Cohn, Bankgeschäft und Länderagentur‘.
Der Fremde öffnete diese Tür, trat ein und fragte den in diesem Raum befindlichen Kommis in französischer Sprache:
„Ist Monsieur Cohn zu sprechen?“
„Ja, Monsieur; der Chef ist soeben gekommen“, antwortete der Kommis mit einer sehr gewandten Verbeugung, aber in einem desto weniger gewandten Französisch.
„Hier, mich melden!“
Der Fremde gab dem Jünglinge die Karte. Kaum hatte dieser einen Blick auf dieselbe geworfen, so machte er, fast wie ein Kautschukmann eine abermalige Verbeugung, welche aber alle zweiunddreißig Richtungen der Windrose durchlief, und sprang dann mit einer Eilfertigkeit davon, als sei er in jeder dieser Richtungen von fünf Taranteln und zehn Skorpionen gezwickt und gebissen worden.
Er durcheilte das nächste, lange, aber schmale Zimmer, in welchem mehrere Kommis an Stehpulten arbeiteten, riß dann eine Tür auf und schrie hinein:
„Herr Cohn, Herr Cohn, Herr Samuel Cohn, beeilen Sie sich schleunigst zu beginnen, sich zu erheben, um aufzustehen von dem Stuhl, auf welchem Sie doch nicht in sitzend ausruhender Stellung empfangen können den Herrn, welcher auf französischer Manier präsentiert eine Karte mit der Krone eines Grafen und begehrt zu sprechen das Bankgeschäft und die Länderagentur des Herrn Samuel Cohn in Berlin.“
Der Prinzipal riß dem Kommis die Karte aus der Hand, betrachtete sie nur den fünfzigsten Teil einer Sekunde und antwortete dann, dem Jüngling eine tiefe Verbeugung machend, welche eigentlich dem zu erwartenden Besuch galt:
„Eine Krone, ein Graf! Seltene Ehre! Feines Geschäft jedenfalls! Mag eintreten!“
Der Kommis wollte zurück, rannte aber dabei im Umdrehen an den Fremden, welcher bereits hinter ihm stand, da er es nicht für opportun gehalten hatte, zu warten.
„Monsieur Cohn?“ fragte der Eintretende in stolzem Ton.
„Habe die Ehre, habe die große Ehre! Bin Cohn selbst, Samuel Cohn vom Bank- und Ländergeschäft!“
Diese Worte stieß der Chef unter einem Dutzend seiner tiefsten Verbeugungen hervor und zog die Tür dabei hinter dem schnell eintretenden Fremden zu. Dieser ließ sich ohne Aufforderung und ohne alle Umstände in den hier befindlichen Diwan nieder, zog eine Zigarre hervor, setzte sie in Brand und sagte dann:
„Ich bin Graf Jules Rallion –“
Der Bankier wollte mit einer Flut von Höflichkeiten antworten; aber der Franzose schnitt ihm dieselbe durch eine rasche Handbewegung ab und fuhr fort:
„Keine überflüssigen Worte! Ich liebe im Geschäft die Kürze. Ich will mit Ihnen ein Geschäft machen.“
„Da wird Heil widerfahren meinem –“
„Lassen Sie das Heil fahren, wohin es will! Die Hauptsache ist das Geschäft. Ist Ihnen der Name Königsau bekannt?“
„Königsau? Ja, ja! Guter Name, gute Zahler, feine Leute, pünktliche –“
„Gut, gut! Wissen Sie, wo die Familie wohnt? Aber antworten Sie möglichst kurz.“
„Ganz wie der Herr Graf befehlen! Diese Familie bewohnt das Gut Breitenheim in der Nähe von Nordenburg. Sie besitzt noch ein zweites Gut, welches an das erstere grenzt und –“
„Schon gut! Ich weiß das! Wissen Sie vielleicht, ob diese beiden Güter verkauft werden?“
Der Jude zog ein langes Gesicht und antwortete dann in verwundertem Ton:
„Verkauft? Nein. Warum sollten werden die Güter verkauft? Hat doch die Familie nicht einen Heller Schulden oder Hypothek auf ihnen.“
„Das ist mir egal!“ antwortete der Graf in zurechtweisendem Ton. „Ich will die Güter kaufen. Ich bin durch jene Gegend gekommen, und sie hat mir gefallen. Ich suche Ihre Vermittlung. Wenn Sie denken, daß Sie nichts tun können, so wende ich mich an einen anderen Agenten.“
Der Jude erschrak. Er versuchte zwar noch einmal den Einwand: „Aber der Besitzer beabsichtigt ja gar nicht, zu verkaufen.“
Doch da erhob sich der Graf von seinem Sitz und meinte:
„Gut! Wenn Sie kein Geschick haben, den Besitzer zum Verkaufen zu bewegen, so suche ich mir einen gewandteren Vermittler.“
Da sprang ihm der Agent in den Weg und rief:
„Bleiben Sie, erlauchter Graf! Gehen Sie nicht fort, durchlauchtigster Monsieur! Was ein anderer kann, das bringt Samuel Cohn auch zustande. Sagen Sie mir nur, ob Sie die Güter partout haben wollen um jeden Preis?“
„Um jeden Preis.“
„Aber das wird Ihnen kosten ein großes und schweres Geld.“
„Was geht das Sie an! Wissen Sie, welchen Wert dieselben haben?“
„Nein. Wieviel wollen Sie an diesen Besitz wenden?“
„Bieten Sie, bis man zuschlägt. Die Summe bezahle ich.“
„Wann, und in welcher Weise, gnädigster Herr?“
„Sofort und bar.“
„Anweisung würde genügen.“
„Ich bezahle bar; dabei bleibt es“, meinte Rallion hartnäckig.
So ein Geschäft und so ein Mann war dem Bankier noch nicht vorgekommen. Dieser Franzose trat auf wie ein Engländer, der seine Guineen gar nicht zählen kann.
„Gut! Schön!“ meinte Cohn. „Ich werde sprechen in eigener Person mit Herrn von Königsau. Wann soll ich reisen?“
„Sofort.“
„Wohin soll ich geben die Nachricht von meinem Erfolg?“
„Ich reise mit Ihnen bis Rastenburg. Dort erwarte ich Ihren persönlichen Bericht. Ihr Honorar können wir unterwegs besprechen. Vorher aber muß ich eine Bedingung machen. Mein Name darf nicht genannt werden. Der Besitzer darf nicht wissen, daß ich es bin, welcher die Güter kauft. Ist dies möglich zu machen?“
„Es ist nicht leicht; aber Samuel Cohn verspricht, zu machen, was möglich ist.“
„Wohlan, so fahre ich nach dem Bahnhof voraus; beeilen Sie sich nachzukommen! Ich bin nicht gewohnt, zu warten.“
Er ging und ließ den Agenten in einem Seelenzustand zurück, welcher die größte Ähnlichkeit mit einem Rausch hatte. Trotz dieser Aufregung und trotz allem, was in größter Eile noch zu besorgen war, gelang es dem Agenten, den Bahnhof früh genug zu erreichen.
Und einige Tage später rollte ein eleganter Mietwagen auf der Straße dahin, welche von Nordenburg und Darkehmen führt. Diese Straße durchschneidet den zu dem Gut Breitenheim gehörigen Wald. Links von derselben führt ein Fahrweg direkt nach dem Gutshof.
In diesen letzteren bog die Kutsche ein und fuhr nach ungefähr fünf Minuten in den offenen Hof der Besitzung. Ein junger, elegant gekleideter und wohlfrisierter Herr stieg aus. Zwei der auf dem Hofe befindlichen Knechte eilten herbei zu seinem Dienst. Er trat ihnen entgegen und fragte in ein wenig fremden Dialekte:
„Dieses Gut gehört Herrn von Königsau?“
„Ja, mein Herr“, antwortete der eine der beiden.
„Ist dieser Herr zu Hause und zu sprechen?“
„Er ist daheim und hoffentlich auch zu sprechen. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen.“
Er wurde über den sehr sauber gehaltenen Hof nach dem Herrenhaus geführt und dann, in einem Vorzimmer angelangt, wo er seine Karte abgab, gebeten, einen Augenblick zu verweilen. Der Knecht, welcher in augenblicklicher Abwesenheit eines Dieners dessen Stelle vertrat, kehrte sehr rasch zurück und bat den Fremden, ihm zu folgen. Sie gelangten durch zwei Zimmer hindurch in ein drittes, welches augenscheinlich die Bibliothek des Besitzers war. Karten und Pläne lagen auf den Tischen und Stühlen, und an allen drei Wänden ragten Gestelle voll Büchern bis zur Decke empor. Hier war alles einfach; keine Spur von Luxus ließ sich sehen, und doch machte dieses Arbeitszimmer den Eindruck einer anspruchslosen und unbewußten Vornehmheit.
An dem mittleren der drei hohen und breiten Bogenfenster stand ein bequemer Sorgenstuhl, in dessen Kissen eine männliche Gestalt ruhte, deren Eindruck man gleich auf den ersten Augenblick einen imponierenden nennen mußte.
Schneeweißes, kurzgeschnittenes Haar ließ die Formen eines edel gewölbten Schädels erkennen; ein dichter Vollbart von eben derselben Farbe umrahmte ein leicht gebräuntes, schönes Greisenangesicht, aus welchem ein Paar Augen blickten, so hell, so klar, wie man es bei so hohem Alter selten zu bemerken pflegt. Über diesem Angesicht lag es wie ein milder Seelenfrieden ausgebreitet, und doch konnten bei näherer Betrachtung zwei kleine Fältchen nicht unbemerkt bleiben, welche, obwohl von den Spitzen des Schnurrbartes leicht verdeckt, sich an den Mundwinkeln schräg vorüberzogen und eine leichte Störung dieses Seelenfriedens zu bedeuten schienen. Die Gestalt dieses Mannes, welcher ein geöffnetes Buch in der Hand hielt, in welchem er soeben mit noch unbewaffnetem Auge gelesen hatte, war hoch und breit. So und nicht anders mußten die Recken Karls des Großen gebaut gewesen sein, welche mit größter Leichtigkeit Rüstungen von solcher Schwere trugen, daß ein jeder andere durch sie zur Erde niedergedrückt worden wäre.
Seinem Stuhl gegenüber, an dem Pfeiler, an welchem ein hoher und breiter Spiegel befestigt war, stand ein Möbel, halb Bett und halb Stuhl. In den darauf befindlichen Kissen erblickte man, mehr sitzend als liegend, eine Frauengestalt, welche nicht weniger Interessen erregte als der Mann.
Unter starken und langen schneeweißen Locken, welche jetzt zu einer Art Kranz geflochten waren, erblickte man einen unbeschreiblich schönen Matronenkopf. Zwar zeigte das Gesicht desselben eine krankhafte, fast wächserne Blässe; aber das milde Licht, welches aus den großen, dunklen Augen strahlte, der versöhnliche Ernst, welcher auf der trotz des Alters noch faltenfreien Stirn thronte, die fast noch jugendlich zu nennende Rundung der Wangen, das Kinn, welches weder zu voll, noch zu spitz und scharf in den weißen Hals überging, sie bildeten zusammen einen Beweis der Wahrheit, daß der Mensch nicht alt werden kann, so lange das Herz jung bleibt. Nur die Lippen, einst jedenfalls voll, schön entworfen und zum Küssen einladend, waren dünner und bleicher geworden, und ihre etwas zusammengezogene Stellung gegeneinander ließ vermuten, daß diese Greisin in unbewachten und unbeobachteten Augenblicken den Mund heimlich zusammenpresse, um innere Schmerzen zu unterdrücken und zu verbergen, welche von den Ihrigen nicht geahnt und entdeckt werden sollten.
Der untere Körper dieser Dame war bis über die Füße herab mit einer wollenen Decke verhüllt. Sollte diese Greisin, deren Augen noch so froh und jugendlich zu lächeln verstanden, ein von ihr aus Liebe nicht eingestandenes Leiden in sich tragen, welches von den Füßen auf begonnen hatte, dem Körper die so notwendige Lebenswärme zu entziehen?
Diese beiden, der Greis und die Matrone, waren Hugo von Königsau, der einstige Liebling Blüchers, und Margot, seine Frau, welche das Glück an seiner Seite der Liebe eines Kaisers vorgezogen hatte.
Aus dem ehrwürdigen Haar Hugos lief ein roter, fingerbreiter Streif schräg bis über die Hälfte der Stirn herab. Das war die Narbe jenes verhängnisvollen Hiebes, welcher ihm fast das Leben gekostet und seinem Gedächtnis eine unausfüllbar scheinende Lücke gerissen hatte.
Margot hielt die Hände wie zum Gebet gefaltet, zu jenem Gebet, welches unbewußt aus dem Auge blickt, von der Wange strahlt, um die Lippen lächelt und um den ganzen Menschen weht, wie der süße, reine Duft den Kelch der bescheidenen Resedablüte umzittert.
Ihr Auge war auf die Mitte des Zimmers gerichtet, wo ein Knabe auf Händen und Füßen hin und her trabte, um den englischen Zelter vorzustellen, auf welchem eine kleine, allerliebste Reiterin saß und seinen Rücken mit den quatschigen Fäustchen traktierte, um den armen, bereits schwitzenden Gaul aus dem Trab gar noch in den Galopp zu treiben. So ein kleines Tausendschönchen weiß eben auch schon ganz genau, daß es sich ungestraft erlauben darf, das gutmütige stärkere Geschlecht in Zaum und Zügel zu nehmen.
Und daneben stand, diese Gruppe betrachtend, mit glückstrahlendem Auge eine liebe, milde Madonnengestalt, die Mutter dieser beiden schönen Kinder, und doch noch so jungfräulich angehaucht, als ob die Liebe noch gar nicht dagewesen sei, ihr Herz, Mund und Sinn zu erschließen – Ida von Rallion, die Frau Gebhards von Königsau, welcher leider jetzt in der Ferne weilte.
Dieses Stilleben wurde durch den Knecht unterbrochen, welcher eintrat, um eine Karte zu überbringen und dabei zu melden, daß ein fremder Herr angekommen sei und nach Herrn von Königsau gefragt habe. Hugo nahm die Karte, warf einen Blick auf dieselbe und las laut:
„Henry de Lormelle. Diesen Namen kenne ich nicht. Hast du ihn vielleicht einmal gehört, beste Margot?“
„Nie“, antwortete die Matrone.
„Oder du, liebe Ida?“
„Ich auch nicht, Papa.“
„Nun, wir werden ja gleich sehen. Ich bitte den Herrn, einzutreten.“
Diese Worte waren an den Knecht gerichtet, welcher sich entfernte, um den Fremden herbeizubringen. Als derselbe eintrat, grüßte er stumm, aber mit einer Verbeugung, welche bewies, daß er gewohnt sei, sich in guter Gesellschaft zu bewegen. Er wurde nicht mit jenen kalten, neugierig oder gar zudringlich fragenden und taxierenden Blicken empfangen, mit denen in manchen Familien der zum ersten Mal Zutritt Nehmende begafft oder gar beleidigt wird, sondern Königsau legte sein Buch weg, erhob sich, ging ihm entgegen, reichte ihm die Hand und begrüßte ihn französisch, da er aus dem Namen schließen konnte, daß der Besuch ein Franzose sei.
„Willkommen, Monsieur de Lormelle! Ich heiße Königsau, und diese Damen sind meine Frau und die Gattin meines Sohnes. Die Enkel spielen dort Kavallerie, was ich gütigst zu entschuldigen bitte. Ebenso mögen Sie verzeihen, daß meine Frau sich nicht erheben kann. Ihr Leiden wehrt ihr die Möglichkeit, Sie anders als sitzend zu begrüßen.“
Das klang so warm, so herzlich, als ob der Franzose bereits seit Jahren Bekannter der Familie sei. Er schritt auf Margot zu, küßte ihr die Hand und sagte:
„Ich würde es sehr beklagen, wollten Sie sich meinetwegen auch nur eine Spur von Schmerz bereiten, Madame. Gott lasse Sie gesunden durch die Freude, welche Sie an dem herzlieben Bild haben müssen, eine Freude, an welcher die Mama dieser reitenden Kavallerie sicherlich teilnehmen wird.“
Dabei deutete er mit der Linken auf die beiden Kinder und ergriff mit der Rechten auch die Hand Idas, um sie zum chevaleresken Gruß an seine Lippe zu ziehen.
Das alles geschah so gewandt, so ungesucht, daß es auf die Familie den besten Eindruck machte.
„Nehmen Sie Platz“, meinte Königsau. „Und denken Sie, bei Freunden oder Bekannten zu sein.“
Der Fremde verbeugte sich dankend und antwortete deutsch:
„Unter Bekannten pflegt man sich der Sprache des Hauses zu bedienen. Gestatten Sie mir, in der Ihrigen zu sprechen und verzeihen Sie mir die Regelwidrigkeiten, welche zu unterlassen ich nicht vermögen werde.“
„Wir werden möglichst milde Richter sein“, meinte Margot, indem sie ihm mit einem freundlichen Lächeln zunickte.
„Davon bin ich überzeugt“, antwortete er. „Ich werde ja bereits im ersten Augenblick von der angenehmsten Gewißheit berührt, mich einem Familienkreis genähert zu haben, in welchem Liebe, Güte und Milde das Zepter führen. Dies ist mir um so wohltuender, als ich wirklich in der Überzeugung, hier einen Freund zu finden, um Erlaubnis zum Zutritt ersuchte.“
„Einen Freund?“ fragte Ida. „Oh, da ist es ja nicht anders möglich, als daß Sie meinen Gatten meinen.“
„Gebhard?“ fragte die Matrone. „Solltest du richtig raten?“
„Die gnädige Frau hat sich nicht geirrt“, sagte Henry. „Ich berührte auf meiner Reise nach Petersburg diese Gegend und erinnerte mich dabei der Heimat meines Freundes Gebhard von Königsau, welchen ich in Algerien kennengelernt habe.“
„In Algerien?“ fragte Hugo. „Herr de Lormelle, Sie bereiten uns da eine höchst angenehme Überraschung. Mein Sohn ist leider gegenwärtig von der Heimat abwesend, aber Sie sollen trotzdem in Ihrer Überzeugung, hier Freunde zu finden, nicht getäuscht werden. Ich heiße Sie nochmals, und zwar von ganzem Herzen willkommen.“
Er gab ihm die Hand zum zweiten Mal und fuhr dann fort:
„Sie lassen uns doch hoffen, daß Petersburg Sie nicht gar zu sehnlichst erwartet?“
„Ich reise allerdings nur zum Vergnügen“, antwortete Henry, „werde aber in der Stadt an der Newa bereits erwartet.“
„Oh, was das betrifft, so hat man jenseits der Grenze genügend gelernt, sich in Geduld zu üben. Eine kurze Ruhepause auf Breitenheim wird Ihnen wohl erlaubt sein. Nicht wahr, Richard?“
Diese letztere Frage war lächelnd an den Knaben gerichtet worden, welcher sein Schwesterchen abgeworfen hatte, um herbeizutreten und, die Hände auf den Rücken gelegt, mit komisch wirkender Kennermiene den Fremden zu betrachten.
„Es wird sich gleich finden, ob ich es ihm erlaube, lieber Großpapa“, antwortete der Knabe wichtig.
„So, so“, lachte der Großvater, und alle stimmten in sein Lachen ein.
Der kleine Richard aber blieb ernsthaft stehen und fragte:
„Sie haben meinen Papa gesehen, Monsieur?“
„Ja“, antwortete Henry, sich zu gleichem Ernst zwingend.
„Hat er Sie lieb gehabt?“
„Ja, und ich ihn auch, wie ich gern gestehen will.“
„Nun, das ist die Hauptsache, und so können Sie also hier bleiben.“
Gerade der gravitätische Ernst, mit welchem diese Worte ausgesprochen wurden, wirkte so Heiterkeit erregend, daß es gar nicht möglich war, an Worte wie ‚kindlich vorlaut‘ oder ‚von den Eltern verzogen‘ zu denken. Die ausdrücklich gegebene Genehmigung des Kindes, daß der Gast dableiben dürfe, bildete den Ausgangspunkt eines sehr animierenden Gespräches, an welchem alle gleichen Anteil nahmen. Das kleine Mädchen war in den Schoß der Mama geklettert; Richard aber hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und sich auf die unterste Stufe einer Treppenleiter gesetzt. Indem er dort eine Bildermappe durchstöberte, schien es, als ob er seine Aufmerksamkeit ganz allein auf diese richte, aber doch schweiften seine Augen häufig zu dem Gast hinüber und blieben an dem Gesicht desselben hängen. Niemand bemerkte dies, als der allein, dem diese Blicke galten.
Später wurden dem Franzosen zwei Zimmer angewiesen, wobei man ihn bat, sich zunächst von der unbequemen Fahrt auszuruhen. Als er sich dort allein und ungestört wußte, trat er an den Spiegel, um sein Ebenbild zu studieren.
Der Gast der Familie Königsau schien mit der Musterung seiner äußeren Erscheinung sehr zufrieden zu sein; denn ein siegesbewußtes Lächeln spielte um seine Lippen, als er sich vom Spiegel wandte.
„Hm!“ brummte er. „Ich finde gar nichts Auffälliges an mir. Ich bin vollständig überzeugt, bei allen einen recht guten Eindruck hervorgebracht zu haben, und da man sagt, daß der erste Eindruck maßgebend sei, so kann ich mit meinem hiesigen Debüt sehr zufrieden sein. Warum aber brachte dieser Knabe die Augen gar nicht von mir weg? Ist es wahr, was man sagt, daß das Ahnen des Kindes in der Beurteilung des Menschen glücklicher sei als oft der Scharfblick eines Menschenkenners? Der Junge scheint intelligent zu sein; er kann mich nicht leiden. In seiner Naivität erlaubte er mir nur aus dem Grund dazubleiben, weil sein Vater mich lieb gehabt habe. Es ist klar: Er hat eine Antipathie gegen mich, und da es Eltern gibt, welche gern auf sympathische Regungen ihrer Kinder achten, ja sogar nach diesen Regungen handeln, so ist der Junge das einzige Glied dieser Familie Königsau, welches Besorgnis einflößen könnte. Ich werde ihm mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, als seinen Verwandten.“
Nach diesem Selbstgespräch begann er, es sich bequem zu machen; doch war die Einsamkeit, in welcher er sich befand, von keiner langen Dauer, denn er wurde bereits nach kurzer Zeit zum Mahl gebeten, welches man des Gastes wegen auf eine andere Stunde, als üblich, verlegt hatte. Er war Diener vornehmer Häuser gewesen und hatte sich als solcher genug Gewandtheit und Lebensanschauung angeeignet, um die Rolle eines Mannes der vornehmen Gesellschaft spielen zu können. Es gelang ihm auch, das Vertrauen der Familie zu gewinnen, mit alleiniger Ausnahme des Knaben, welcher sich den Liebkosungen und geschickt angebrachten Schmeicheleien gegenüber sehr abweisend verhielt.
Der Tag wurde im Familienkreis verbracht, da anzunehmen war, daß der Gast von der Reise ermüdet sei. Aber bereits am anderen Vormittag fragte Königsau ihn, ob es ihm angenehm sei, einen kleinen Ritt mitzumachen, da er im Begriff stehe, die Feldarbeit zu inspizieren. Natürlich schloß der Franzose sich ihm an. Er hoffte, daß während des Rittes das Gespräch auf das Thema kommen werde, welches bisher noch nicht berührt worden war, obgleich Henry sehr viel daran lag, den Gegenstand zur Sprache gebracht zu sehen.
Großvater Königsau erwies sich trotz seines Alters als ein noch sehr guter und sicherer Reiter. Der Franzose, welcher in dieser Kunst keine sehr große Übung besaß, hatte Mühe, mit ihm gleichen Schritt zu halten und eine Blamage zu vermeiden.
In einem kleinen Vorwerk wurde haltgemacht und ein Imbiß eingenommen. Im Verlauf des beinahe frugalen Dejeuners meinte Henry:
„In der Bewirtschaftung größerer Komplexe sind die Deutschen den Franzosen doch entschieden überlegen. Finden Sie das nicht auch, Herr von Königsau?“
Der Gefragte antwortete langsam und bedächtig:
„Ich möchte das nicht so ungeprüft gelten lassen, denn es entgehen mir die Erfahrungen, um hier einen entscheidenden Vergleich ziehen zu können. Wollte ich nach Ihren Worten gehen, so müßte ich schließen, daß die Franzosen uns in der Bewirtschaftung kleinerer Liegenschaften überlegen sind.“
„Das ist es, was ich meine.“
„Nun, das liegt doch wohl weniger in den individuellen Eigenschaften oder gar in der Verschiedenheit des Nationalcharakters, sondern an den wirtschaftlichen Zuständen der beiden Länder. Frankreich ist ein Wein anbauendes Land, und bei dieser Art der Fruchtgewinnung ist der Parzellenbau ein einträglicherer.“
„Sie mögen recht haben; doch wenn ich denke, in welcher musterhaften Ordnung sich Ihre Besitzung befindet, so habe ich doch alle Lust, meine vorhergehende Behauptung aufrechtzuerhalten. Es muß eine wahre Freude sein, sich den Besitzer einer solchen Liegenschaft nennen zu können.“
„Ach, mein lieber Herr de Lormelle, das klingt ja, als ob Sie sich nicht im Besitz eines Gutes befänden.“
„Meine Familie ist nicht nur wohlhabend, sondern sogar reich, sehr reich; aber Sie wissen, wir Franzosen sind Genußmenschen, und wenn wir ja arbeiten, so beschäftigen wir uns lieber mit Kunst und Wissenschaft, mit Literatur und Politik, als mit der Zerkleinerung der Ackerscholle, welcher wir doch nichts weiter abzuringen vermögen, als höchst prosaische Kartoffeln, Rüben und Kohl.“
„Aber doch sind diese unbedingt notwendig. Auch die Kunst und Wissenschaft, die Literatur und sogar in gewisser Beziehung die Politik beschäftigen sich mit ihnen.“
„Ich gebe das gern zu, möchte aber doch lieber eine Gruppe dieser Gewächse auf Leinwand malen, oder ein Buch über den Anbau der Kartoffel schreiben, als gezwungen sein, diese schmutzige Knolle aus der Erde zu wühlen.“
„Wer ein solches Buch schreiben will, darf die Kartoffel nicht nur auf der Leinwand eines Malers gesehen haben. Das Leben des Landmannes ist ein vorzugsweise nüchternes und mühevolles, ich gebe das zu; aber es hat auch seine Lichtseiten. Es bewahrt vor Oberflächlichkeit und Zerstreuung, es macht den Menschen gewissenhaft und ernst; es gibt ihm Liebe zur Heimat und lenkt sein Denken und Sinnen auf den Schöpfer und Erhalter aller Dinge. Lasse ich das Korn meines selbst gesäten Roggens oder Weizens durch die Finger gleiten, so fühle ich dieselbe Genugtuung, welche den Künstler erfüllt, wenn ihm eine Frucht seiner Phantasie geraten ist.“
„Von dieser Seite aus habe ich die Landwirtschaft allerdings noch nicht betrachtet. Ich bin zufrieden, wenn meine Verwalter und Pächter ihre Gelder zahlen. Das Gold, welches dann durch meine Finger rinnt, ist mir wertvoller als das Gold der Ähren und Körner.“
„Und doch ist es wahr, daß dieses Gold ohne das andere eine Chimäre sein würde. Das Metall ist nur ein Tauschmittel; die Landwirtschaft aber ist es, welche mit ihren Erträgnissen und Preisen die wahren, wirklichen Werte bestimmt.“
„Sie sind, wie ich höre, Nationalökonom, ich aber bin es nicht und darf mich also auf keine Kontroverse einlassen. Aber sollte es in Wahrheit sein, daß das Landleben die Liebe zur Scholle, also auch die Liebe zum Vaterland, den Patriotismus großzieht?“
„Es ist so.“
„Dann müßten Sie Ihre Besitzung außerordentlich liebhaben.“
„Sie ist mir wert und teuer.“
„So, daß Sie dieselbe nie veräußern würden?“
„Ich würde mich nur sehr schwer von ihr trennen.“
„Selbst wenn Ihnen bedeutende Vorteile geboten würden?“
„Es käme darauf an, welche Bedeutungen diese Vorteile für mich hätten. Ich befinde mich geradezu gegenwärtig in der Lage, über diesen Gegenstand reiflich nachzudenken.“
Jetzt sah der Franzose sich auf dem Weg, welchem er hatte einschlagen wollen.
„Ah!“ meinte er. „Wieso, Herr von Königsau?“
„Man will mir meine beiden Besitzungen abkaufen.“
„Dann muß der Käufer reich sein.“
„Er ist es.“
„Jedenfalls ein Bewohner der Umgegend, welcher den Wert Ihres Eigentums genau kennt?“
„Nein, sondern ein Fremder, ein Russe.“
„Was für einen Grund hat er, sich hier ansiedeln zu wollen?“
„Ich weiß es nicht und habe auch kein Recht, danach zu fragen. Ich habe erfahren, daß ihm die Gegend gefällt und daß er sich sehr eingehend nach dem Zustand meiner Besitzungen erkundigt hat.“
„Ich bin überzeugt, daß er nur Vorteilhaftes erfahren konnte.“
„Das ist allerdings der Fall. Er hat sich dann durch einen Berliner Agenten an mich gewendet.“
„Durch einen Berliner? Ist das nicht vielleicht ein Umstand, welcher Veranlassung gibt, vorsichtig zu sein?“
„Es gibt überall ehrliche und unehrliche Leute. Von diesem Agenten aber weiß ich, daß er sich in der Geschäftswelt keines ungünstigen Rufes erfreut.“
„Ich wäre wirklich neugierig, zu erfahren, ob dieser Russe geneigt ist, gut zu zahlen. Die Russen pflegen im Geldpunkt nicht immer anständig zu sein.“
„Was das betrifft, so hat mir dieser Herr ein Gebot tun lassen, welches mich wirklich in Verlegenheit brachte.“
„Wieso?“
„Das Gebot beträgt über hunderttausend Taler mehr, als meine Liegenschaften wert sind.“
„Ah!“ machte der Franzose im Ton des Erstaunens.
„Ja, ich füge hinzu, als sie sogar unter Brüdern wert sind.“
„Was gedenken Sie zu tun?“
„Ich habe nie daran gedacht, zu verkaufen. Ich bin mit meinem Besitz zu sehr verwachsen, als daß ich mich so leicht von ihm trennen könnte.“
„Selbst bei Ihrem Alter? Sie entschuldigen die Frage!“
„Oh, ich nehme sie Ihnen gar nicht übel, denn ich habe sie mir ja selbst bereits vorgelegt. Es ist wahr, ich habe jedenfalls kein Jahrzehnt mehr zu leben und muß mich also endlich doch von dem Acker trennen, den ich bebaute; aber ich überlasse ihn meinem Sohn. Das ist etwas ganz anderes, als ihn in fremden Händen zu sehen.“
„Im anderen Fall aber hinterlassen Sie Ihrem Sohn über hunderttausend Taler mehr.“
„Das fällt allerdings ins Gewicht. Dazu kommt der Umstand, daß ich gerade jetzt Gelegenheit hätte, eine Besitzung zu erwerben, welche ich bar bezahlen könnte, obgleich sie bedeutend mehr wert ist als die meinige.“
„So würde ich zugreifen.“
„Dieser Gedanke liegt allerdings sehr nahe, doch ist es mir unmöglich, auf eigene Faust zu handeln.“
„Sie sind ja selbständig.“
„Ein Gatte und Vater ist niemals selbständig. Ich kann das Erbe meines Sohnes nicht veräußern, ohne demselben Nachricht davon zu geben.“
„Das müssen Sie allerdings schleunigst tun.“
„Ich habe es auch bereits getan, und zwar augenblicklich, nachdem ich dieses vorteilhafte Gebot entgegengenommen hatte.“
„Ich befürchte, daß Sie diesen vorteilhaften Handel doch zurückweisen werden.“
„Warum?“
„Ihr Herr Sohn befindet sich ja im Orient.“
„Sie meinen, daß seine Entscheidung, seine Antwort, zu spät eintreffen werde?“
„Das ist es allerdings, was ich sagen wollte. Unsere postalischen Verbindungen sind höchst mangelhaft.“
„Zufälligerweise befindet Gebhard sich gegenwärtig an einem Ort, mit welchem man telegraphisch verkehren kann.“
„So haben Sie also telegraphiert?“
„Natürlich.“
„Und die Antwort bereits erhalten?“
„Noch nicht, obgleich sie längst da sein könnte. Jedenfalls handelt es sich dabei um eine zufällige kurze Abwesenheit meines Sohnes von diesem Ort, und ich erwarte alle Augenblicke den Telegraphenboten.“
„Bei dem regen Anteil, den ich an Ihnen und Ihrer lieben Familie nehme, bin ich wirklich neugierig, wie die Antwort meines Freundes Gebhard lauten wird.“
„Ich vermute, daß sie zustimmend sein werde.“
„Haben Sie einen Grund dazu?“
„Ja. Es war ihm störend, so weit entfernt von der Hauptstadt wohnen zu müssen, so oft er sich in der Heimat befand. Seine wissenschaftliche Stellung erfordert es, mit den Kapazitäten, welche da weilen, in naher Berührung zu sein. Und sodann liegt die Besitzung, welche ich gerade jetzt so billig kaufen könnte, an der Bahn, nur wenige Stunden von Berlin entfernt, welches man also in kürzester Zeit erreichen könnte.“
„Das ist allerdings vorteilhaft. Jetzt bin ich beinahe überzeugt, daß die Antwort Gebhards zustimmend lauten wird. Werden Sie in diesem Fall verkaufen?“
„Ich würde, aber ich bin noch von anderer Seite gebunden. Hat mein Sohn, während Sie in Algerien mit ihm verkehrten, Ihnen erzählt, wie ich in den Besitz des Gutes Breitenheim gekommen bin.“
„Ich glaube, mich entsinnen zu können“, antwortete der Franzose nachdenklich. „Erhielten Sie es nicht von Marschall Blücher?“
„Durch seine Vermittlung. Breitenheim ist ein Geschenk des damaligen Königs.“
„Ah ja. Sie hatten sich ausgezeichnet!“
„Was man geschenkt erhält, darf man nicht veräußern. Ich habe die Verpflichtung, und zwar in moralischer Beziehung, Breitenheim festzuhalten.“
„O weh! Sie müssen also den Ihnen gebotenen Vorteil von der Hand weisen?“
„Vielleicht auch nicht. Es gilt allerdings eine Anfrage an der betreffenden Stelle, ob der Verkauf des Gutes dort ungnädig bemerkt werde.“
„Haben Sie diese Anfrage tun lassen?“
„Ja. Ich habe den Auftrag dazu brieflich erteilt, und zwar noch, bevor ich meinem Sohne telegraphierte.“
„Müßte die Frage nicht von einer einflußreichen Person ausgesprochen werden?“
„Allerdings. Ich habe einen Verwandten – ah, Sie müssen ihn doch auch kennen. Haben Sie den Namen Goldberg gehört?“
Henry war vorzüglich unterrichtet. Er antwortete sofort:
„Natürlich. Gebhard hat mir von einem Freund erzählt, welcher diesen Namen trägt. Und dann später erzählte er mir in dem einzigen Brief, welchen ich von ihm besitze, daß dieser Herr von Goldberg die Schwester Ihrer Frau Schwiegertochter heimgeführt habe.“
„Ja, dieser Goldberg ist es, den meine ich. Er wohnt in Berlin und erscheint bei Hofe, wo er nicht ungern gesehen wird. Er ist die geeignetste Person, diese Angelegenheit in Ordnung zu bringen.“
„Dann darf ich Ihnen bereits im voraus gratulieren.“
„Oh, tun Sie das nicht zu früh.“
„Sie meinen, daß eine der beiden Antworten ablehnend ausfallen können?“
„Nein, obgleich die Möglichkeit dazu immerhin vorhanden ist. Ich weiß nicht, ob der Russe zahlen wird, was ich verlange.“
„Donner und Wetter. Sie wollen noch mehr profitieren, als hunderttausend Taler?“
Henry machte bei dieser Frage ein sehr erstauntes Gesicht. Ihm schien es ganz unmöglich, daß jemand einen so hohen Gewinn von sich weisen könne. Und zugleich trat bei ihm die Besorgnis ein, daß aus dem Handel nichts werden könne. In diesem Fall war es ihm auch unmöglich, den Streich auszuführen, um dessentwillen er nach Deutschland gekommen war. Er wollte nicht nur Königsau, sonder auch seine beiden Auftraggeber betrügen: Den alten Kapitän und den Grafen Rallion.
„Glauben Sie“, antwortete Königsau, „daß diese hunderttausend Taler ein hinreichendes Äquivalent sind für das, was ich aufgebe, wenn ich einen Ort verlasse, der mir und meiner Familie so lieb und teuer geworden ist?“
„Sie werden Ihre spätere Heimat ebenso lieb gewinnen.“
Königsau schüttelte unter einem milden, trüben Lächeln den Kopf.
„Nein, niemals!“ antwortete er. „Ich bin zu alt, um mich anderswo noch einleben zu können.“
„So wollen Sie den Preis höher stellen? Wenn aber der Russe zurücktritt?“
„So mag er es tun. Ich bin zum Verkauf ja nicht gezwungen. Wenn er noch fünfzigtausend Taler zulegt, werde ich auf den Handel eingehen, sonst aber nicht.“
„Das scheint mir zuviel zu sein.“
„Tragen Sie keine Sorge. Ein Mann, der es gerade auf mein Besitztum abgesehen hat, wird geben, was ich verlange.“
Henry wagte keine weitere Bemerkung. Ihm war es auch nicht unwahrscheinlich, daß Rallion und Richemonte auf die Forderung Königsaus eingehen würden. In jedem Fall war er selbst es, welcher die Summe in den Säckel strich.
Jetzt wurde der Ritt, welcher den ganzen Vormittag in Anspruch nahm, fortgesetzt, ohne daß der Gegenstand des beendeten Gespräches wieder in Erwähnung kam. Dieses letztere sollte aber sogleich bei ihrer Rückkehr geschehen; denn kaum waren sie eingetreten, so nickte Margot, die Großmama, ihrem Mann freundlich und verheißungsvoll zu und meinte:
„Ich habe eine Überraschung für dich, lieber Hugo.“
„Eine gute?“ fragte er.
„Ja. Rate!“
„Ein Brief unseres Goldberg?“
„Nein.“
„Nun, so ist es eine Depesche von Gebhard?“
„Richtig geraten!“
„Wo ist sie? Habt Ihr sie bereits gelesen?“
„Nein. Oder hätte ich mir jemals erlaubt, mich deiner Korrespondenz zu bemächtigen? Die Depesche ist ja an dich adressiert. Hier hast du sie.“
Sie zog sie unter der Decke hervor, mit welcher sie sich auch heute eingehüllt hatte. Es waren alle Glieder der Familie anwesend. Auch auf dem Gesicht Idas, der Schwiegertochter, war die neugierige Erwartung zu lesen, was ihr Mann antworten werde.
Königsau öffnete das Papier und las.
„Nun, was antwortet er?“ fragte er die beiden Damen.
„Lies vor, lies vor!“ baten sie.
„Gut. Hier steht kurz und bündig: ‚Verkaufe. Ich befinde mich wohl. Brief längst unterwegs. Grüße und Küsse von mir.‘ Er willigt also ein. Ist dir dies lieb, Margot?“
Sie strich sich mit der Rechten langsam über das Haar und antwortete dann beinahe leise, damit man ihrer Stimme die Bewegung nicht anhören möge:
„Ihr wißt ja, daß ich da glücklich bin, wo Ihr seid.“
Hugo kannte sie aber zu gut. Er trat an sie heran, küßte sie auf die Lippen und sagte:
„Ich weiß das, Margot. Bist du mir doch aus dem Vaterland in die Fremde gefolgt. Gehen wir auch fort von hier, so werden wir uns doch nicht verlassen. Billig aber verkaufe ich den Ort, an welchem wir so glücklich gewesen sind, auf keinen Fall.“
Damit war der Gegenstand für jetzt erledigt. –
Im besten Gasthof des Städtchens Rastenburg wohnte Graf Rallion, welcher sich aber unter einem anderen Namen eingetragen hatte. Die Zeit wurde ihm ungeheuer lang. Er gab sich zwar Mühe, sich mit der Lektüre des kleinen Stadtblättchens zu zerstreuen, aber er konnte dem Inhalt desselben kein Interesse abgewinnen. Eben stand er im Begriff, es mißmutig fortzuwerfen, als von draußen an die Tür geklopft wurde.
„Herein!“
Zwei Männer traten ein. Der eine war der Jude Samuel Cohn, den andern hatte der Graf noch nicht gesehen. Der Inhaber des Bankgeschäfts und der Länderagentur grüßte mit einer demütigen Verbeugung, welche sein Begleiter nachahmte, und sagte dann:
„Hier bin ich im Begriff, zu bringen dem Herrn Grafen Rallion den Herrn, welcher wird kaufen die Güter, um sie zu verkaufen sofort wieder dem Herrn Grafen, damit dieser werde königlich-preußischer Untertan mit zwei Rittergütern, von denen das eine ist ein Andenken an den großmächtigen Marschall Blücher, welcher ist gemacht worden zum Fürsten von Wahlstatt, weil er –“
„Unsinn“, rief ihm der Graf ärgerlich entgegen und wehrte seinen Wortschwall mit einer Gebärde des Unwillens ab. „Keine unnötigen Worte machen“, setzte er hinzu. – „Wer sind Sie?“
Mit dieser letzten Frage wendete er sich an den Fremden. Dieser wiederholte seine tiefe Verbeugung von vorhin und antwortete:
„Graf Smirnoff ist mein Name.“
Rallion zog die Augenbrauen zusammen. Der Fremde trug zwar einen feinen Anzug, doch war es zu verwundern, daß sich ein Graf bereit finden ließ, ein Geschäft wie das in Rede stehende zu übernehmen.
„Sind Sie Russe?“ fragte er ihn.
„Nein. Pole.“
„Exiliert?“
„Ja.“
„Können Sie sich legitimieren?“
„Vollständig. Da es sich um einen Kauf handelt, habe ich mich mit den nötigen Dokumenten versehen.“
„Sind Sie bemittelt?“
„Leider, nein.“
„Herr Cohn hier hat Ihnen bereits mitgeteilt, um was es sich handelt?“
„Ich bin vollständig informiert.“
„Wie hoch schätzen Sie Ihre Beihilfe?“
„Es sind mir zweitausend Taler geboten worden.“
„Sie werden diese Summe erhalten, allerdings nur dann, wenn das Geschäft wirklich zustande kommt. Welche Sicherheit aber gewähren Sie, daß Sie mir die beiden Güter faktisch übergeben, nachdem sie von mir auf Ihren Namen bezahlt worden sind?“
„Mein Ehrenwort.“
Es war ein fast höhnisches Lächeln, welches der Graf jetzt sehen ließ; aber dennoch klang seine Stimme höflich, als er bemerkte:
„Ich ziehe Ihr Ehrenwort auf keinerlei Weise in Zweifel; aber Sie werden zugeben, daß einer solchen Summe gegenüber weitgehende Garantien erforderlich sind.“
„Ich wüßte keine anderen, da ich nicht reich bin.“
„Nun, so weiß ich eine. Sie erhalten, sobald der Handel abgeschlossen ist, die Kaufsumme gegen die Akzeption eines Wechsels auf Sicht und auf die gleiche Summe laufend. Sobald ich Ihnen das Objekt abgekauft habe, bezahle ich es mit diesem Wechsel und lege bare zweitausend Taler zu. Sind Sie einverstanden?“
„Jawohl.“
„Sollten Sie zögern, so präsentiere ich den Wechsel und pfände Ihnen die Güter ab. Die zweitausend Taler büßen Sie dann ein.“
Da ergriff der Jude das Wort:
„Oh, der Herr Graf de Rallion kann sicher sein, daß ich mir einen Herrn ausgesucht habe, welchem Vertrauen zu schenken ein jeder bereit sein kann, auch ohne zu kennen die Verhältnisse, von denen der Herr Graf von Smirnoff ist gezwungen worden, einzugehen ein Geschäft, von dem er sich sagt, daß es ihm –“
„Unsinn!“ fiel ihm Rallion in die Rede. „Sie wissen, daß ich unnütze Reden nicht leiden kann. Wann sind Sie zu Königsau bestellt worden?“
„Es wurde kein bestimmter Tag genannt. Er wollte eine Antwort aus Berlin erwarten.“
„Kann er diese erhalten haben?“
„Sie kann bei ihm sein.“
„So ist es besser, abzureisen. Was haben Sie hier zu tun?“
„Nichts. Nur den Grafen de Rallion wollte ich sprechen, um ihm vorzustellen den erlauchten Grafen von Smirnoff, damit zustande komme die Übereinkunft wegen des –“
„Gut, gut! Wie ich höre, haben Sie hier nichts zu tun. Ich habe den Herrn Grafen Smirnoff kennengelernt, wir sind also fertig. Reisen Sie ab, und benachrichtigen Sie mich sofort, wann Sie das Geld brauchen.“
„So möchte ich sagen, daß die Entfernung zu groß ist, um das Geschäft schnell zustande zu bringen. Möchten der Herr Graf nicht näher zu den Königsaus herankommen?“
„Ich will mich nicht von ihnen sehen lassen.“
„Wenn Sie mit nach Drengfurth gehen, so werden Sie nicht in die Gefahr kommen, gesehen zu werden. Es ist noch Platz in unserm Wagen.“
Rallion machte eine abwehrende Handbewegung.
„Geht eine Post von hier nach Drengfurth?“ fragte er.
„Jedenfalls.“
„So benutze ich diese. Sie können sofort abreisen.“
Der Jude entfernte sich mit seinem Begleiter, nachdem vorher der Gasthof bestimmt worden war, in welchem man sich treffen wollte. Dann erkundigte sich Rallion nach der Post und erfuhr, daß dieselbe erst am nächsten Morgen abgehen werde.
Es war noch dunkel, als er sich einfand, um den Fahrschein zu lösen. Es währte nur noch kurze Zeit bis zum Abgang, und der Postillion saß bereits auf dem Bock. Er erfuhr, daß nur noch ein einziger Passagier mitfahren werde.
Als er sich zum Einsteigen anschickte, saß dieser bereits im Fond des Wagens.
„Rücken Sie zur Seite!“ gebot der Graf in befehlendem Ton.
Der Schein der Wagenlaterne fiel dabei auf sein Gesicht, so daß der andere dasselbe deutlich sehen konnte.
„Wieso?“ fragte er.
„Ich bin nicht gewöhnt, verkehrt zu fahren.“
„Ich auch nicht!“ meinte der im Wagen sitzende ruhig.
„Ich habe meinen Schein gelöst und bezahlt.“
„Ich auch.“
„Herr, ich bin Edelmann!“
„Herr, ich auch!“
„Mille tonnerres! Ich werde mit dem Postillion sprechen.“
„Ich nicht.“
Der Graf trat zum Kutscher und befahl ihm:
„Sorgen Sie dafür, daß ich den Platz erhalte, welcher mir gebührt.“
Der Rosselenker streckte den Arm phlegmatisch aus und antwortete:
„Her damit.“
„Was?“ fragte Rallion erstaunt.
„Den Fahrschein.“
„Ah, so! Hier!“
Er reichte ihm das Papier hinauf. Der Kutscher hielt es an die Laterne und gab sich Mühe, den Inhalt zu entziffern.
„Lautet auf Nummer zwei. Das ist der Platz in der linken Ecke auf dem Hintersitz. Die rechte Ecke hat der andere Herr auf Nummer eins, die er sich bereits gestern abend gelöst hat. Wenn Ihnen Ihr Platz nicht paßt, können Sie sich auf den Rücksitz setzen, da bloß zwei Personen da sind.“
„Was fällt Ihnen denn ein! Ich bin –“
Da fiel ihm der Kutscher schnell in die Rede:
„Was mir einfällt? Daß Sie Passagier Nummer zwei sind, das fällt mir ein! Darum bekommen Sie den Platz Nummer zwei! In einer halben Minute geht es fort. Wer da noch nicht eingestiegen ist, der bleibt stehen. Basta!“
Der Graf wäre am liebsten zurückgeblieben, aber er hatte auch nicht Lust, noch einen Tag bis zur nächsten Post zu warten. Darum stieg er mit seinem Handköfferchen ein, welches die Summe enthielt, die er für den beabsichtigten Kauf zu brauchen gedachte. Aber sich schweigend zu fügen, dazu war er nicht der Mann.
„Sie sagen, daß Sie Edelmann sind?“ fragte er den anderen Passagier, nachdem er diesem gegenüber Platz genommen hatte.
„Ja“, antwortete er kurz.
„Nun, ich bin sogar Graf!“
„Ich sogar auch.“
„Herr, ich werde Satisfaktion von Ihnen verlangen!“
Der andere stieß als einzige Antwort ein höhnisches, kurzes Lachen aus.
„Haben Sie es gehört?“ fragte Rallion.
„Haben Sie gehört: Ich lache.“
„Herr!“ knirschte Rallion. „Wissen Sie, was man unter Satisfaktion versteht?“
„Oh, sehr genau.“
„Daß Sie sich mit mir schlagen werden!“
„Schön. Das sollte mir ein Gaudium werden. Aber ich befürchte nur, es wird nichts daraus.“
„Dann sind Sie ein Feigling, ein elender.“
„Ich wohl nicht, aber Sie.“
„Monsieur, Sie scheinen unzurechnungsfähig zu sein.“
„Nein, sondern ich scheine nur zu wissen, mit wem ich es zu tun habe.“
„Nun, mit wem?“
„Mit einem Menschen, welcher beim Anblick eines Degens in Ohnmacht fällt, und wenn er das Wort Pistole hört, davonläuft.“
Der Graf fühlte sich frappiert. Aber er befand sich hier in der Fremde. Wer sollte ihn kennen? Er antwortete:
„Ich wiederhole, daß Sie unzurechnungsfähig sind.“
„Und ich sage Ihnen, daß ich keine Lust habe, mich mit Ihnen zu zanken. Ich bin müde und werde schlafen, bis der Tag anbricht. Dann werde ich mich Ihnen vorstellen, um unser Gespräch fortzusetzen. Sagen Sie aber jetzt noch ein einziges Wort zu mir, so gebe ich Ihnen eine Ohrfeige, daß Ihr ganzer werter Korpus durch die Kutschenwand hinaus auf die Straße fliegt.“
Diese Worte waren in einem solchen Ton gesprochen, daß es Rallion angst und bange wurde. Es war ihm, als ob er trotz der im Wagen herrschenden Dunkelheit den Arm seines Gegenübers bereits in Bewegung sehe. Daher verzichtete er auf jedes weitere Wort und legte sich so bequem wie möglich auf seinen Sitz zurück.
So verging die Zeit in völliger Schweigsamkeit. Die Räder mahlten im tiefen Sand, und zuweilen ließ sich ein kurzer Zuruf des Kutschers hören. Es war dem Grafen nicht ganz geheuer; aber die im Wagen herrschende Stille, verbunden mit dem eintönigen Geräusch der Bewegung übte eine einschläfernde Wirkung auf ihn aus. Er faßte sein Köfferchen mit den Händen, drückte es an sich und – schloß die Augen.
Als er sie wieder öffnete, war es hell geworden. Sein erster Blick galt natürlich dem Mann, welcher ihm gegenübersaß. Er konnte von demselben nichts erkennen als ein paar Stiefel, eine Reisemütze und einen weiten Mantel, welcher hoch emporgezogen war. Ganz oben, zwischen Mütze und Kragen, blickten zwei dunkle Augen hervor.
Sobald aber der Inhaber dieser Augen jetzt bemerkte, daß der Graf seinen Schlummer unterbrochen habe, ließ er den Mantel herab und enthüllte ein aristokratisch feines Gesicht, welches von einem dichten, dunklen Vollbart eingerahmt wurde.
Rallion kam es vor, als ob er diese Züge bereits einmal gesehen habe, aber er konnte sich nicht entsinnen, wo und wann dies geschehen sein solle.
Jetzt zog der andere ein Etui hervor und steckte sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, eine Zigarre an. Dann ließ er das Wagenfenster herab und blickte hinaus, um zu sehen, wie weit man gekommen sei. Als er nach einer kurzen Weile den Kopf zurückzog, warf er einen halb höhnischen, halb feindseligen Blick auf den Grafen und sagte:
„So, mein Herr, der Sie ein Graf sein wollen, jetzt können wir unser Gespräch fortsetzen. Vorher war es dunkel, und ich liebe es, demjenigen, der mich fordert, ins Gesicht zu sehen.“
„Ich ebenso.“
„Das bezweifle ich. Sie haben nur Mut, im Dunkeln zu intrigieren. Sie sind ein Schuft, ein Schurke, ein Lump, bei dessen Anblick es einem ist, als ob man eine häßliche Spinne entdecke. Ich sage Ihnen das aufrichtig ins Gesicht, bin aber überzeugt, daß Sie mich nicht zur Rechenschaft ziehen, sondern vor mir ausreißen werden.“
Das Gesicht des Grafen war totenbleich geworden. Er ballte beide Fäuste und antwortete:
„Hielte ich nicht meine bereits ausgesprochene Meinung, nämlich daß Sie unzurechnungsfähig sind, für die richtige, so sollten Sie erfahren, welche Antwort ich auf solche Worte gebe.“
„Pah! Natürlich werden Sie diese Meinung aufrechterhalten, damit Sie einen Grund haben, sich zurückzuziehen; aber ich lasse Ihnen die Flucht nicht gelingen. Daß Sie den besten Platz im Wagen beanspruchten, beweist, daß Sie weder Lebenserfahrung, noch Höflichkeit besitzen. Daß Sie mich forderten, weil ich meinen Sitz behielt, brächte einen jeden anderen, nur mich nicht, auf den sehr berechtigten Gedanken, daß Sie entsprungener Irrenhäusler sind. Ich hätte Ihnen eine Ohrfeige, welche ich Ihnen anbot, nicht nur angedroht, sondern auch wirklich gegeben, aber ich habe es nicht getan aus Rücksicht auf den unglücklichen Umstand, daß Sie mein Verwandter sind.“
Der Graf machte eine Bewegung der Überraschung.
„Ich? Ihr Verwandter?“ fragte er. „Sie träumen!“
„Ich bin vielmehr sehr wach. Sie sind doch jedenfalls der brillante Graf Jules Rallion, nicht?“
„Teufel! Woher wissen Sie das?“
„Mein lieber, lieber Cousin, fragen Sie doch nicht so dumm. Gerade, weil ich Sie so genau kenne, weiß ich auch, was Ihre Forderung, Ihr Verlangen nach Satisfaktion zu bedeuten hat. Sobald ich mich bereit zeige, mich mit Ihnen zu schlagen, werden Sie hier durch das Fenster springen und querfeldein laufen, so lange, bis der Postwagen nicht mehr zu sehen ist.“
„Ich werde Sie vom Gegenteil überzeugen, fordere aber vorher eine Erklärung, welcher Umstand Ihnen die Erlaubnis gibt, mich Ihren Verwandten zu nennen.“
„Ah! Sollten Sie mich in der Tat nicht kennen?“
„Ich bin ganz ahnungslos.“
„Nun, Sie sahen mich zum ersten Mal bei einer Gelegenheit, die Veranlassung gab, vor einem Duell davonzulaufen. Sie wurden von Gebhard von Königsau gefordert und gaben sich Mühe, schleunigst zu verschwinden.“
Jetzt begann der Graf zu ahnen.
„Teufel!“ rief er. „Sie sind – Sie sind doch nicht etwa –“
„Nun, wer?“
„Graf Kunz von Goldberg –“
„Der Gemahl Ihrer schönen Cousine Hedwig?“
„Ja.“
„Natürlich bin ich es, mein lieber, mein verehrtester Cousin. Ich bin sehr verwundert, Sie hier zu sehen. Bevor ich Sie aber frage, welchem freundlichen Umstand ich das Glück, Ihnen im Postwagen zu begegnen, verdanke, wollen wir unsere Satisfaktionsangelegenheit in Ordnung bringen. Schwager Königsau wohnt gar nicht weit von hier, und so bietet sich die beste Gelegenheit, seine damalige Forderung zum Austrag zu bringen. Vorher aber werde ich so höflich sein, Ihnen die verlangte Genugtuung zu geben. Blicken Sie hinaus. Sehen Sie den Wald da vorn, jenseits des Dorfes?“
„Ja“, stieß der Graf hervor.
„Nun, dort liegt ein Forsthaus, an welchem wir vorüberkommen. Ich kenne den Förster. Er hat prächtige Waffen und wird uns gern zwei gute Pistolen zur Verfügung stellen. Dann gehen wir in den Wald, aus welchem, darauf gebe ich Ihnen mein Wort, nur einer lebendig zurückkehrt. Und dieser eine werde ich sein. Einverstanden?“
Er sah den Grafen mit Augen an, aus denen dieser nicht recht klug werden konnte.
„Natürlich bin ich einverstanden“, antwortete Rallion. „Und ich glaube, besser zu wissen, wer der eine ist, welcher lebendig aus dem Wald zurückkehrt.“
„Oh, was das betrifft, so bin ich vollständig überzeugt, daß der, welchen Sie meinen, den Wald gar nicht erreichen wird.“
„Das wird sich finden.“
Damit war die Diskussion beendet. Der Postwagen rollte nach kurzer Zeit in das Dorf und hielt vor dem Wirtshaus, um die dort liegenden Briefschaften aufzunehmen.
„Zehn Minuten Zeit, meine Herren“, meldete der Postillion.
Rallion stieg aus und trat mit seinem Köfferchen in das Haus. Goldberg folgte ihm langsam. Um seine Lippen spielte ein eigentümliches Lächeln. Als er die Gaststube erreichte, war dieselbe leer. Nur der Wirt befand sich da.
„Ist kein Passagier hier eingetreten?“ fragte Goldberg.
„Nein, mein Herr.“
Goldberg begab sich in den Hof und dann in den Garten. Dort fand er einen Knecht, welcher mit dem Spaten arbeitete.
„War ein Fremder hier im Garten?“ erkundigte er sich.
„Ja“, lautete die Antwort.
„Wohin ist er?“
„Durch die Pforte ins Freie.“
Goldberg trat zur Pforte und kam gerade noch zur rechten Zeit, die Gestalt des flüchtigen Franzosen hinter einem Gesträuch verschwinden zu sehen. Er lachte heimlich vor sich hin und kehrte in die Stube zurück. –
Es war mehr als eine halbe Stunde vergangen, als der Knecht Schritte hörte. Er blickte sich um und sah den Fremden, welcher durch die Pforte zurückkehrte, und schüttelte den Kopf, Rallion aber schritt stracks nach dem Gastzimmer, in welchem der Wirt saß, seine Pfeife rauchend. Als dieser den Eintretenden erblickte, sagte er:
„Sapperlot! Sind Sie nicht vorhin mit der Post gekommen?“
„Ja.“
„Der Postillion hat Sie gesucht.“
„Warum?“ fragte Rallion unbefangen.
„Na, weil er nicht länger warten konnte.“
„Nicht länger warten?“ klang es erstaunt. „Ich will doch nicht hoffen, daß die Post fort ist.“
„Bereits seit zwanzig Minuten.“
„Donnerwetter. Der Postillion sagte ja, daß er fünfzig Minuten hier zu warten habe.“
„Da haben Sie gewaltig verkehrte Ohren gehabt. Hier wird zehn Minuten gehalten, keine Sekunde länger.“
„Er sagte fünfzig. Ich werde mich beschweren.“
„Versuchen Sie es! Es wird Ihnen nichts helfen. Übrigens meinte der andere Passagier, daß wir Sie nicht zu suchen brauchten.“
„Ah! Wieso?“
„Das weiß ich nicht. Wohin wollen Sie denn?“
„Nach Drengfurth.“
„Dahin gibt es jetzt keine Gelegenheit.“
„Kann ich denn keinen Wagen bekommen?“
„Nein. Kein Mensch im Dorf hat einen Kutschenwagen; aber am Nachmittag kommt ein Stellwagen durch, auf dem Sie einen Platz finden werden.“
„So werde ich warten. Sagen Sie einmal, wie lange muß man fahren, um jenseits des Dorfes durch den Wald zu kommen.“
„Wie lange? Das ist kein Wald, sondern nur ein kleines Eckchen Holz. In zwei Minuten ist man hindurch.“
„Es gibt aber ein Forsthaus da?“
„Nein.“
„Wie? Auch keinen Förster?“
„Fällt niemand ein.“
Jetzt sah Rallion ein, auf welch schmähliche Weise er sich blamiert hatte. Er biß die Zähne zusammen und wollte etwas sagen, um seine üble Laune an dem Wirt abzuleiten, als draußen ein Kutschenwagen im Trab angerollt kam und vor der Tür hielt. Der Kutscher klatschte mit der Peitsche und fragte, als der Wirt herbeieilte:
„Ist die Post längst vorüber?“
„Seit einer halben Stunde.“
„Danke! Adieu!“
Er wollte eben die Zügel aufnehmen, wurde aber daran gehindert. Der Kutschenschlag wurde nämlich geöffnet, und der Insasse sprang heraus.
„Halten bleiben!“ gebot er dem Kutscher. Dann wollte er eiligen Schrittes in das Haus treten; dort aber kam ihm Rallion bereits entgegen.
„Kapitän, Sie hier?“ rief der letztere.
„Ja, ich!“ antwortete Richemonte. „Ich sah Sie am Fenster stehen und stieg natürlich sofort aus.“
„Welch ein Zusammentreffen! Aber sagen Sie, was Sie veranlaßt, in diese Gegend zu kommen.“
„Was haben Sie hier im Koffer?“ fragte statt einer Antwort der Kapitän, indem er auf das Köfferchen deutete, welches der Graf noch immer in der Hand hatte.
„Geld.“
„Ah so! Hinein damit in den Wagen! Übrigens, da ich Sie hier treffe, haben wir Zeit. Kommen Sie, um nicht gehört zu werden. Die Pferde mögen einige Minuten ruhen.“
Er nahm den Arm des Grafen unter den seinigen und schritt mit ihm abseits.
„Haben Sie wirklich geglaubt, lieber Graf“, fragte er dann, „daß ich mich um diese wichtige Angelegenheit nicht weiter kümmern werde? Wie weit sind Sie?“
„Ich denke, daß die Sache heute oder morgen entschieden sein wird.“
„Wieso?“
Rallion unterrichtete den Kapitän über den Stand der Dinge und meinte dann:
„Aber Sie hier zu sehen habe ich nicht erwartet.“
„Nicht wahr?“ lachte der Kapitän. „Ich komme, um einen Fehler gutzumachen, welchen wir begangen hätten und der uns großen Schaden bereiten müßte.“
„Welchen?“
„Denken Sie sich einmal, was wir beabsichtigen, was geschehen soll. Nachdem Henry verschwunden ist, erfährt dieser Königsau, daß Graf Rallion der eigentliche Käufer ist.“
„Was weiter. Was kann das mir schaden?“
„Ungeheuer viel. Graf Rallion ist sein Todfeind. Dieser Deutsche wird die Tat, welche ihn ruiniert, mit dieser Todfeindschaft in Verbindung bringen; er wird sich an die Polizei wenden; man wird nachforschen, und was wird man erfahren?“
„Nun?“
„Daß Graf Rallion, der Käufer, mit diesem sogenannten Henry de Lormelle im Einvernehmen gestanden hat.“
„Alle Teufel! Ich muß aber doch mit Henry im Einvernehmen bleiben.“
„Nein! Das dürfen Sie nicht. Das eben ist mir nachträglich eingefallen, und daher komme ich Ihnen nach.“
„Wie aber haben Sie mich gefunden?“
„Ich wußte die Adresse des Juden. Dort erfuhr ich, daß Sie in Rastenburg seien, und da angekommen, wo Sie sich eines anderen Namens bedient hatten, erfragte ich dennoch, daß Sie mit der Post abgereist seien. Ich nahm ein Privatfuhrwerk, eilte Ihnen nach und – da bin ich.“
„Ist mir lieb! Also Sie wollen den Henry auf sich nehmen?“
„Ja. Sie müssen Ihr Alibi nachweisen können. Man wird erforschen, daß Sie sich zur Zeit der Tat in dieser Gegend befunden haben, aber man darf Ihnen nicht sagen können, daß Sie diesen Henry de Lormelle gesprochen oder auch nur gesehen haben.“
„Wie aber wollen Sie ihn treffen, ohne von anderen bemerkt zu werden?“
„Dafür lassen Sie mich sorgen! Aber sagen Sie mir zunächst, was Sie so allein hier tun, und wohin die Postkutsche ist, welcher Sie sich anvertraut hatten.“
„Ja, mein lieber Kapitän, das ist eine ganz verteufelte Angelegenheit. Ich steige heute in den Wagen, und wer sitzt drin? Raten Sie einmal!“
„Einer von den Königsaus?“
„Zwar kein Königsau, aber ebenso schlimm, ein Verwandter von ihnen, nämlich dieser Graf von Goldberg –“
„Der Mann Ihrer Cousine?“
„Ja.“
„Ich denke, er befindet sich in Berlin! Was will er hier?“
„Weiß ich es?“
„Hat er Sie erkannt?“
„Ich denke, nein“, antwortete Rallion zögernd. „Sobald ich ihn bei Tagesanbruch erkannte, bin ich hier ausgestiegen.“
„Eine Vorsicht, welche ich loben muß. Aber sagten Sie mir nicht, daß Königsau, um sich entscheiden zu können, einen Brief aus Berlin erwarte?“
„So ist es.“
„Nun, dann ist Goldberg dieser Brief. Er kommt persönlich, und wir sind nun sicher, daß die Entscheidung vor der Tür steht. Kommen Sie, steigen wir ein.“
„Bis wohin fahren wir?“
„Sie bis Drengfurth, wo Sie aussteigen, ohne daß ich mich sehen lasse. Ich fahre dann irgendwohin, wo ich den Kutscher loswerden kann, ohne Verdacht zu erregen. Wenn ich mit Ihnen zu sprechen habe, werde ich Sie zu finden wissen. Schlau wird das allerdings anzufangen sein, denn auch mich darf man mit Ihnen jetzt nicht zu sehen bekommen.“ –
Kunz von Goldberg, war mit der Post weiter gefahren und hatte über das Zusammentreffen mit Rallion ein innerliches Gaudium gefühlt. Welche Bedeutung diese Begegnung für die Familie Königsau haben sollte, davon hatte er allerdings keine Ahnung.
Auf Breitenheim richtete sein Erscheinen große Freude an. Er eilte gleich nach dem Aussteigen in das ihm wohlbekannte Zimmer, in welchem sich die Familie zu befinden pflegte, und traf hier Margot und Ida, ihre Schwiegertochter. Er umarmte beide herzlich und fragte dann nach Königsau.
„Er befindet sich bei den Gästen“, antwortete Margot. „Ah, ich habe noch gar nicht gesagt, wen wir hier haben.“
„Ich werde es wohl erfahren.“
„Es ist der polnische Graf von Smirnoff, welcher sich als Käufer präsentiert, und ein Berliner Bankier, welcher seine finanzielle Beihilfe zu sein scheint. Mein Mann hat mit Sehnsucht auf Ihre Antwort gewartet, lieber Kunz.“
„Ich habe es vorgezogen, Sie persönlich zu bringen und Ihnen meinen Beirat anzubieten, da Gebhard nicht anwesend ist.“
„Wir sind Ihnen zu großem Dank verbunden. Welchen Bescheid aber bringen Sie uns?“
„Einen guten. Man sieht nicht die Spur eines Grundes, einer rein geschäftlichen Entschließung eurerseits hindernd in den Weg zu treten, sondern, was ich mir gleich dachte, man sagte sich, daß ihr Herr eures Besitzes seid und mit demselben tun könnt, was euch beliebt.“
„So befürchte ich, daß Hugo verkaufen wird!“
„Sie befürchten es?“ fragte Goldberg. „Warum befürchten?“
„Glauben Sie nicht, daß man nur ungern von hier scheidet?“
„Das glaube ich Ihnen ohne alle Versicherung. Aber bedenken Sie den Vorteil des Handels, welcher Ihnen in Aussicht steht.“
„Wiegt dieser pekuniäre Vorteil das auf, was wir nach unserem Wegzug von hier vermissen werden?“
„Ja, das bin ich überzeugt, liebe Tante. Ich habe gar wohl geahnt, daß Sie gegen diesen Verkauf sein werden, und darum bin ich ja gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.“
„Sie wollen mir zureden?“
„Ja, das gestehe ich Ihnen offen. Ich möchte Sie bitten, nicht allein Ihre Gefühle zu berücksichtigen, sondern vor allen Dingen an Ihre Kinder zu denken. Ihr kleiner Richard soll Offizier werden; da ist eine Vergrößerung des Vermögens um hunderttausend Taler oder gar noch mehr wohl mit in Rechnung zu ziehen.“
„Das mag sein. Wir Frauen rechnen weniger nach Zahlen; unser Einmaleins ist das Gefühl, und das ist nicht immer untrüglich.“
„Sie werden also nicht dagegen sein, liebe Tante?“
„Nein“, antwortete sie mit einem milden Lächeln, in welchem sich fast eine Art Entsagung aussprach.
„Was hat Gebhard geantwortet?“
„Auch er ist Ihrer Meinung. Wir sollen verkaufen.“
„Sehen Sie! Ich bin überzeugt, daß Sie die mit dem Verkauf in Verbindung stehende Ortsveränderung bald überwinden werden, und ich hoffe, daß Onkel Königsau mir beistimmt.“
Er hatte richtig vermutet. Königsau hatte fünfzigtausend Taler mehr verlangt, und der Pole war mit der Bitte um eine kurze Überlegungsfrist hervorgetreten. Während derselben hatte er sich bei Rallion Instruktion geholt und den Auftrag erhalten, die geforderte Summe zu zahlen. Rallion war ja überzeugt, nicht nur in den Besitz der beiden Güter zu gelangen, sondern die Kaufsumme auch wieder zu erhalten, welche er dann mit dem Kapitän teilen wollte.