16

»Hier muß es gewesen sein, kein Zweifel«, sagte Grunt.

Von der Anhöhe schauten wir in das vor uns liegende Tal.

»Ich hatte eigentlich eine schlimmere Szene befürchtet«, sagte ich und dachte an die blutigen Spuren des Angriffs auf die Gruppe der Hobarts.

Auf den ersten Blick lagen vor uns umgeworfene und zum Teil verbrannte Wagen. Geschirre waren durchgeschnitten worden. Hier und dort ragte ein toter Zug-Tharlarion aus dem Gras. Die meisten Tiere waren anscheinend losgeschnitten und fortgetrieben worden.

»Vielleicht ist es schlimmer, als du denkst«, sagte Grunt. »Die Toten können noch überall im Gras liegen.«

»Möglich.«

»Doch scheint es kaum Aasgetier zu geben«, stellte er fest.

Ich blickte mich um. Hinter uns stand das rothaarige Mädchen, das erste an der Kette. Die anderen Sklavinnen und die Hobarts drängten sich um sie.

»Wie es aussieht, hat der Angriff nicht im Morgengrauen stattgefunden«, sagte Grunt, »und sicher auch nicht spät am Nachmittag.«

»Das verrät dir der Umstand, daß die Wagen weit verstreut sind«, sagte ich, »und keine Wagenburg bilden. Sie haben in einer Reihe gestanden, wie zum Abmarsch bereit.«

»Ja«, sagte Grunt.

»Außerdem konnte der Angriff nicht am späten Nachmittag stattfinden, weil dann die Gefahr bestanden hätte, daß sich Überlebende im Schutze der Dunkelheit davonmachten.«

»Genau. Ich vermute, die Wagen wurden gerade zur Abfahrt fertiggemacht.«

»Wenn das stimmt, müßten wir die Überreste von Abendfeuern und Kochstellen finden, mit kreisförmig aufgeschichteten Steinen.«

»Ja.«

Wir lenkten unsere Kaiila den Hang hinab und auf die Wagen zu. Es waren mehrere. Einige standen schräg, andere waren umgeworfen, und wieder andere erwarteten uns stumm und kahl auf ihren Rädern, unbeaufsichtigt, als stünden sie zum Gebrauch bereit, das Gras hoch zwischen den Achsen, die schweren Deichseln schräg herabhängend. Die meisten Wagen wiesen mehr oder weniger starke Brandspuren auf. Bei keinem war die schützende Plane intakt, die entweder abgerissen oder verkohlt war. Die runden Streben für die Planen, die aus Metall bestanden, hatten den Angriff überstanden. Vor dem Himmel bildeten sich makabre, skelettartige Umrisse, glichen sie doch freigelegten Brustkörben. Die Wagenreihe war etwa einen Pasang lang. Im Näherkommen sahen wir hier und dort verstreute Gegenstände, zuweilen auch auf den Ladeflächen. Truhen waren umgestoßen und aufgebrochen worden. Ich sah eine Puppe liegen, daneben einen Männerstiefel. Aus aufgerissenen Säcken hatte sich Mehl ins Gras ergossen.

»Hier sind die Reste der Abendfeuer«, sagte ich und führte meine Kaiila an einigen Steinringen vorbei.

»Ja«, bestätigte Grunt. Diese Feuerstellen hatten sich vermutlich im Kreis der Wagenburg befunden. Nun schien klar zu sein, daß der Angriff am Morgen begonnen hatte, wahrscheinlich während des Anschirrens der Zug-Tharlarion. Die Anzahl der durchschnittenen Zügel deutete darauf hin. Hier und dort sah ich Pfeile im Gras stecken. Die relative Starrheit dieser Objekte, die sich schräg erhoben, stand im Gegensatz zur fließenden, vom Wind getriebenen Bewegung der Grashalme.

Schaudernd sprang meine Kaiila plötzlich nach rechts. Ich hielt mich im Sattel und zog heftig die Zügel an. Dann schaute ich ins Gras.

»Was ist?«

»Ein Toter«, sagte ich. »Der aber nicht auf gewöhnliche Weise gestorben ist.«

Grunt ritt zu mir. »Muß ein Überlebender gewesen sein«, sagte er schließlich. »Der Mann war bekleidet. Er muß zu den Wagen zurückgekehrt sein, wahrscheinlich um Nahrung zu suchen.«

»Ich nehme es an.«

»Und dann muß ein wilder Sleen über ihn hergefallen sein.«

»Der Sleen jagt vorwiegend nachts«, sagte ich, denn ich hatte solche Wunden schon gesehen. Ich nahm nicht an, daß der unglückliche Mann von einem Sleen angefallen worden war.

»Ja, das Gras und der Boden sind frisch aufgewühlt«, bestätigte Grunt. »Das Blut ist noch nicht getrocknet.«

»Spann deine Armbrust!« sagte ich. Ich war ziemlich sicher, daß dieser Angriff vor kaum einer Ahn stattgefunden hatte.

Grunt wickelte die Zügel seiner Kaiila um den Sattelknauf.

Ich richtete mich auf und schaute in die Runde.

Ich hörte, wie Grunt seinen Bogen mit Hilfe des Steigbügelkabels schußbereit machte.

Erschaudernd stieg ich wieder auf den Rücken meiner Kaiila, wo ich mich doch wesentlich sicherer fühlte.

»Der Angreifer muß hier noch irgendwo sein«, sagte ich und blickte auf Grunts Armbrust. Im Zweifel würde er damit nur einmal schießen können.

»Was ist denn das für ein Raubtier?« fragte Grunt. »Ein Ungeheuer von der Sorte, wie du sie suchst?«

»Ich nehme es an. Außerdem ist es wie der andere Bursche ein Überlebender. Daß es sich in der Nähe der Wagen aufgehalten hat, deutet darauf hin, daß es verwundet wurde.«

»Dann ist es also äußerst gefährlich.«

»Ja«, bestätigte ich. Schmerz, Hunger und Verzweiflung machten ein solches Geschöpf auf keinen Fall weniger gefährlich.

Einige Fuß links von der Kaiila lag eine beschädigte Zuckertonne. Eine etwa vier Zoll breite Zuckerspur erstreckte sich drei oder vier Meter weit durch das Gras. Wahrscheinlich hatte jemand diese Last unter dem Arm geschleppt. Der Zucker war nun das Ziel vieler tausend Ameisen aus Hunderten von Ameisenhaufen in der Umgebung. Um den Zucker mochten in der nächsten Zeit zahlreiche unbemerkte kleine Kriege entbrennen.

Grunt und ich ließen unsere Kaiila weitergehen. Hinter uns hörte ich das rothaarige Mädchen würgen; sie war zu dicht an dem Toten vorbeigekommen.

»Dort vorn!« rief Grunt.

»Ich seh’s«, bestätigte ich.

»Wollen sie sich denn gar nicht verteidigen?« fragte er.

»Schnell!« brüllte ich und trieb meine Kaiila an.

Wir galoppierten los. Inzwischen befanden wir uns etwa eine halbe Pasang jenseits der zerstörten Wagenreihe und näherten uns anderen Wagen, die ohne erkennbare Ordnung in der Gegend herumstanden. Es handelte sich um die Fahrzeuge, nach denen ich vorhin vergeblich gesucht hatte, die kleineren eckigen Wagen, die im Zug der Söldner gefahren waren. Sie schienen ebenfalls zerstört zu sein. Zwei lagen auf der Seite, andere waren ausgebrannt oder schwer beschädigt. Sämtlichen Wagen fehlten die Tharlariongespanne. Aus der Distanz von den anderen Fahrzeugen und der Verteilung im Gras schloß ich, daß sie die Formation verlassen hatten und davongerast waren. Die Kutscher hatten nicht mehr die Zeit oder die Geistesgegenwart gehabt, einen Wehrkreis zu bilden.

In der Nähe von drei Wagen dieser Art hatten wir eine kleine Gruppe von Gestalten entdeckt, fünfzehn bis zwanzig Männer. Einer stand ein Stück vor den anderen, und es war dieser Mann, der am gefährdetsten war, denn vor ihm stand drohend eine riesige braune Gestalt, die sich anscheinend ganz in der Nähe aus dem Gras erhoben hatte. Ich wußte nicht, ob die Männer das Wesen aufgescheucht hatten oder ob es sich heimlich im Schutz des Grases angeschlichen hatte. Jedenfalls hielt der Mann eine Schaufel in der Hand, doch er hatte sie nicht abwehrend gehoben. Seine Haltung wirkte nicht mutig, sondern eher phlegmatisch. War es möglich, daß er die Gefahr, in der er schwebte, nicht begriff?

»Schnell!« spornte ich meine Kaiila an.

Grunts Reittier donnerte neben dem meinen dahin. »Der Mann ist verrückt!« rief mein Begleiter.

Das angreifende Ungeheuer schien ebenfalls verwirrt und unsicher zu sein und starrte den Mann untätig an.

Offenbar hatte es noch keinen Menschen erlebt, der so verständnislos reagierte.

Die Männer trugen graue Kleidung, lange, offene Büßerhemden, die bis auf die Waden frei herabhingen.

Plötzlich fuhr das Ungeheuer zu uns herum. Gleich darauf verhielt ich meine Kaiila, die auf die Hinterhand stieg, zwischen dem Monstrum und dem Mann.

Das Ungeheuer fauchte und machte einen Schritt rückwärts. Es war weder Kog noch Sardak.

»Zurück!« warnte ich die Männer.

Gehorsam traten sie zurück, einschließlich des vorn stehenden Mannes.

Ich ließ das Ungeheuer nicht mehr aus den Augen. Es schien schwer verwundet zu sein und hatte viel Blut verloren. Wahrscheinlich war es bewußtlos geworden und als tot in Ruhe gelassen worden. Sicher würden sich die roten Wilden an einem solchen Monstrum nicht zu schaffen machen, denn sie kannten diese Wesen nicht. Wahrscheinlich galt es bei ihnen dasselbe wie ein Sleen oder eine Urt.

Fauchend trat das Monstrum einen Schritt vor.

»Es wird gleich angreifen. Ich kann es töten.« Grunt hob die Armbrust.

»Nicht schießen!« sagte ich.

Grunt schoß nicht.

»Schau es dir doch an!« sagte ich.

Das Ungeheuer musterte zuerst Grunt, dann mich. Dann entblößte es eine Doppelreihe spitzer weißer Zähne.

»Es bekundet uns seine Verachtung«, sagte ich.

»Verachtung?« fragte Grunt verständnislos.

»Ja, denn er ist nicht so bewaffnet wie wir.«

»Es ist doch ein Ungeheuer!« sagte Grunt, senkte aber die Waffe.

»Was wir hier vor uns sehen, ist ein Kur«, informierte ich ihn.

Fauchend wich das Ungeheuer zurück. Als es einige Fuß Abstand gewonnen hatte, machte es kehrt, ließ sich auf alle vier Pfoten sinken und huschte durch das Gras. Es blickte sich nicht um.

Ich ritt mit der Kaiila zu der Stelle, wo das Monstrum gestanden hatte. Dort schaute ich mir die Spuren an, ehe ich schließlich zu Grunt und den anderen zurückkehrte.

»Du hättest mich nicht daran hindern sollen, es zu töten«, sagte Grunt.

»Mag sein.«

»Warum sollte ich nicht schießen?«

»Das hat mit gewissen Ehrenregeln zu tun«, sagte ich.

»Wer bist du eigentlich?«

»Einer, dem solche Ehrenvorstellungen vertraut waren und der sie nie ganz vergessen hat.«

Ich zog meine Kaiila herum und näherte mich dem Mann, der von dem Ungeheuer direkt bedroht worden war.

»Ich hatte schon Angst, es könnte zu Gewalttätigkeiten kommen«, sagte er.

»Ich habe das Gras an der Stelle untersucht, an der sich das Untier aufrichtete«, sagte ich. »Es hatte sich unbemerkt angeschlichen. Es machte Jagd auf euch.«

»Ich heiße Kürbis«, sagte der Mann. »Friede, Licht, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Güte seien mit dir.«

»Es wollte euch reißen«, sagte ich, und die Kaiila bewegte sich unruhig unter mir.

»Güte sei mit dir«, sagte der Mann.

»War dir die Gefahr nicht bewußt? Du hättest getötet werden können!«

»Welch ein Glück, daß du eingegriffen hast!« bemerkte er.

»War es Mut«, fragte ich, »der dich veranlaßte, dich dem Ungeheuer so kühn zu stellen?«

»Was ist schon Leben? Was der Tod?« fragte er. »Beide sind unwichtig.«

Verwirrt musterte ich den Burschen. Mein Blick wanderte schließlich auch zu den anderen, die hinter ihm standen. Sie waren in graue Gewänder gekleidet, vermutlich die einzigen Sachen, die sie besaßen. Die Kleidersäume waren halblang. Als Männer sahen sie in dieser Aufmachung geradezu töricht aus. Sie ließen die Schultern hängen. Die Augen waren glasig und ausdruckslos. Die Füße waren in Lumpen gehüllt. Interessanterweise hielten zwei der Gestalten gefiederte Lanzen in den Händen.

Wieder wandte ich mich dem Mann zu, der so etwas wie ein Anführer der Gruppe zu sein schien.

»Güte sei mit dir«, sagte er lächelnd.

Und ich erkannte, daß sein Verhalten nicht mutig gewesen war. Vielmehr hatte er in seinem Dasein nichts, für das sich zu leben lohnte. Vielleicht wäre ihm die Vernichtung sogar willkommen gewesen! Er hatte keine Anstalten gemacht, sich zu verteidigen.

»Wer seid ihr?« fragte ich.

»Wir sind der fröhliche Dung«, antwortete eine der Gestalten, »der die Erde anreichert und verschönt.«

»Wir sind die funkelnde Reflexion auf dem Wasser, die die Flüsse schön macht«, antwortete ein anderer.

»Wir sind Blumen, die auf dem Felde wachsen.«

»Wir sind nett.«

»Wir sind gut.«

Und wieder richtete ich den Blick auf den vermeintlichen Anführer, der sich Kürbis genannt hatte.

»Du bist der Anführer?« fragte ich.

»Nein, nein!« erwiderte er. »Wir sind alle gleich. Wir sind Gleiche. Wir sind nicht Ungleiche!« Bei diesen Worten zeigte er zum erstenmal ein Gefühl, nämlich Angst. Er wich zurück, drängte sich zwischen die anderen.

»Wir sind alle gleich«, sagte er.

»Woher wißt ihr das?«

»Wir müssen alle völlig gleich sein, es steht in der Lehre.«

»Ist die Lehre denn zutreffend?«

»Ja!«

»Woher willst du das wissen?«

»Sie ist der Test der Wahrheit.«

»Und woher weißt du das?«

»Es steht in der Lehre.«

»Dann ist deine Lehre nichts anderes als ein Kreis, der ohne Abstützung in der Luft schwebt.«

»Die Lehre braucht keine Abstützung«, sagte der Mann. »Sie ist in sich schlüssig und braucht nichts anderes. Sie ist ein goldener Kreis, sich selbst erhaltend, ewig.«

»Woher weißt du das?«

»Aufgrund der Lehre«, sagte ein Mann.

»Und was ist mit der Vernunft? Habt ihr Verwendung dafür?«

»Vernunft ist sehr kostbar«, antwortete ein Mann.

»Richtig verstanden und angewendet, ist sie voll vereinbar mit der Lehre und existiert in höchster Konsequenz, um der Lehre zu dienen.«

»Und was ist mit der Realität eurer Sinneswahrnehmungen?«

»Die Sinne sind notorisch unzuverlässig«, sagte einer der Graugekleideten.

»Soweit die Sinne die Lehre bestätigen, können ihre Eindrücke herangezogen werden«, meinte ein anderer. »Was versehentlich damit vereinbar erscheint, ist zu mißachten.«

»Welche Argumente oder Beweise würden euch genügen, die Falschheit der Lehre anzuerkennen?« fragte ich.

»Nichts ist erlaubt, was die Lehre im falschen Licht erscheinen läßt«, sagte der Mann, der den Namen Kürbis trug.

»So steht es in der Lehre«, erklärte ein anderer.

»Eine Lehre, die sich nicht widerlegen läßt, ist auch nicht zu bestätigen«, argumentierte ich. »Eine Lehre, die nicht einmal theoretisch in Frage gestellt werden kann, stimmt einfach nicht, sie ist hohl. Wenn die Welt nicht auf sie einwirken darf, kann sie auch keine Auswirkung auf die Welt haben. Dann verkündet sie ein Nichts. Dann ist sie ein Gebrabbel, so nichtssagend und leer, wie es eitel und sinnlos ist.«

»Dies sind tiefgreifende Erörterungen«, sagte der Mann, den ich für den Anführer hielt. »Da sie nicht in der Lehre stehen, brauchen wir uns damit nicht zu befassen.«

»Seid ihr glücklich?« fragte ich. Vielleicht kam ich mit solchen verbalen Formeln weiter, auch wenn sie im Grunde nichtssagend waren.

»O ja«, sagte der erste Bursche hastig. »Wir sind sehr, sehr glücklich!«

»Ja!« fielen einige andere ein.

»Güte sei mit dir!« rief jemand.

»Ihr seht mir aber nicht glücklich aus«, widersprach ich. Selten hatte ich eine bekümmertere, apathischere Gruppe von Lebewesen gesehen.

»Wir sind glücklich!« beharrte eine Stimme.

»Das wahre Glück liegt im Einhalten der Lehre«, verkündete jemand.

Ich zog meinen Dolch und hob ihn drohend, als wollte ich damit auf den ersten Mann einstechen. Er hob den Kopf und entblößte mir den Hals. »Friede und Licht und innere Ruhe und Zufriedenheit und Güte seien mit dir!« sagte er.

»Interessant«, murmelte ich und steckte das Messer wieder fort.

»Der Tod ist ohne Schrecken für alle, die das Leben nie richtig kennengelernt haben«, sagte Grunt.

»Was ist das Leben? Was der Tod?« fragte der Mann. »Beides ist unwichtig.«

»Wenn du nicht weißt, was sie sind«, sagte ich, »solltest du dir über ihre Wichtigkeit vielleicht kein Urteil erlauben.«

Mein Blick wanderte zu den beiden Männern mit den gefiederten Lanzen. »Wo habt ihr die Lanzen gefunden?«

»Im Gras«, antwortete einer. »Jemand verlor sie beim Kampf.«

»Wolltet ihr sie benutzen, um euch gegen das Ungeheuer zu verteidigen?« fragte ich.

»Nein! Natürlich nicht!«

»Ihr hättet es vorgezogen, aufgefressen zu werden?«

»Widerstand ist nicht erlaubt«, sagte der Mann.

»Kämpfen ist gegen die Lehre«, warf der Mann mit der zweiten Lanze ein.

»Wir verabscheuen Gewalt«, fügte ein dritter hinzu.

»Ihr hattet die Lanzen gehoben«, sagte ich. »Weshalb?«

»Wir dachten, du wolltest vielleicht gegen das Ungeheuer kämpfen«, sagte einer der Männer. »Dann hätten wir dir natürlich eine Lanze überlassen.«

»Und für wen war die zweite Lanze?« erkundigte ich mich.

»Für das Ungeheuer«, sagte der Bursche mit der ersten Lanze.

»Wir hätten es nicht erzürnen wollen«, sagte der Mann mit der zweiten Lanze.

»Ihr hättet es zugelassen, daß andere für euch kämpfen«, fragte ich, »und hättet euch mit dem Ergebnis abgefunden?«

»Ja«, sagte der erste Lanzenträger. »Wir sind nicht alle so edel und mutig wie Kürbis.«

»Was sind das für Leute?« wandte ich mich an Grunt.

»Waniyanpi«, antwortete dieser. »Sie leben nach Wertvorstellungen von Feiglingen und Idioten!«

Die Sklavenkette hatte uns inzwischen eingeholt. Mir fiel auf, daß keiner der Waniyanpi den Blick hob, um sich Grunts unbekleidete Schönheiten richtig anzuschauen.

Dann kehrte mein Blick zu Kürbis zurück, der trotz seiner Äußerung in der Gruppe den ersten Rang zu bekleiden schien.

»Wem gehört ihr?«

»Dem Kaiila-Stamm«, antwortete Kürbis.

»Ihr seid weit von zu Hause fort«, stellte ich fest.

»Ja.«

»Was macht ihr hier?«

»Wir wurden hergebracht, um das Schlachtfeld aufzuräumen«, antwortete er. »Wir müssen die Toten begraben, die Wagen zerschlagen und verbrennen und andere Überreste auf ähnliche Weise beseitigen.«

»Dann muß man euch schon lange vor dem Kampf hergeführt haben«, sagte ich.

»Ja«, sagte Kürbis.

»Habt ihr den Kampf beobachtet?«

»Nein. Wir mußten mit dem Gesicht nach unten liegen, die Augen geschlossen. Ein Junge blieb bei uns.«

»Um euch zu bewachen?«

»Nein, um uns vor Tieren zu schützen«, sagte Kürbis.

»Weiter westlich, zwischen anderen Wagen, liegt noch ein Toter.«

»Wir werden ihn finden«, sagte Kürbis.

»Das Schlachtfeld ist schon weitgehend geräumt«, stellte Grunt fest. »Ihr dürftet nicht die einzige Waniyanpi-Gruppe gewesen sein, die hier am Werk war.«

»Das ist richtig«, sagte Kürbis.

»Sind die anderen noch hier?«

»Das weiß ich nicht.« Ich wußte nicht, was Grunt mit seinen Fragen bezweckte.

»Wie viele Wagen dieser Art gab es?« fragte ich und deutete auf das Fahrzeug im Hintergrund, das zu den gedrungenen, geschlossenen Wagen der Söldnertruppe gehört hatte.

»Siebzehn«, antwortete Kürbis.

Diese Information beruhigte mich. In der Kolonne waren ursprünglich siebzehn Wagen dieses Typs gewesen, und siebzehn zerstörte Wagen hatte ich gezählt. Die Ungeheuer, die darin gehaust hatten – angesichts des Temperaments und Revierdenkens der Kurii in jedem Wagen sicher nur ein Wesen – waren sicher freigekommen. Die meisten mochten tot sein.

»Wie viele Gräber habt ihr und die anderen Waniyanpi ausgehoben?« wollte ich wissen.

»Über eintausend«, antwortete er.

Ich pfiff durch die Zähne. Es hatte wirklich hohe Verluste gegeben.

»Dabei mußt du dir klarmachen«, warf Grunt ein, »daß die roten Wilden ihre Toten selbst bestatten.«

Ich brachte im ersten Moment kein Wort heraus.

»Es war ein schlimmes Massaker«, fuhr Grunt fort. »Das hatte uns Kornähre schon mitgeteilt.«

»Wie viele von den Gräbern waren für Siedler, für Menschen von den großen Wagen?«

»Etwas mehr als vierhundert«, antwortete Kürbis und schaute sich zustimmungsheischend nach den anderen um.

»Ja«, sagte mehr als eine Stimme.

»Dann scheinen die Siedler bis zum letzten Mann ausgelöscht worden zu sein«, sagte Grunt.

Ich nickte. Der erste Angriff hatte vermutlich dem Siedlerteil des Zuges gegolten, der sich nicht so gut verteidigen konnte wie die Soldaten.

»Dann sind also ungefähr sechshundert Soldaten gefallen«, rechnete Grunt.

»Ja«, bestätigte Kürbis und erhielt wieder Bestätigung von seinen Leidensgenossen.

»Das ist sehr interessant«, sagte ich zu Grunt. »Denn daraus ergibt sich, daß an die vierhundert Soldaten geflohen sein müssen.«

»Daß sie nicht hier auf dem Schlachtfeld gefallen sind, muß nicht heißen, daß sie noch leben«, sagte Grunt. »Vielleicht hat man sie viele Pasang weit über die Prärie verfolgt und niedergemetzelt.«

»Die Wagen scheinen mir gründlich ausgeplündert zu sein«, stellte ich fest. »Dazu mußten sich unsere Freunde Zeit lassen. Außerdem weiß ich nicht, ob sie sich zugetraut haben, eine abwehrbereite Kolonne zu attackieren.«

Grunt zuckte die Achseln. »Ich auch nicht«, sagte er.

»Jetzt zu den Ungeheuern«, wandte ich mich an Kürbis. »Und zwar meine ich die von der zottigen Art, wie dich eben eines angreifen wollte. Wie viele davon habt ihr begraben, wenn überhaupt?«

»Neun«, gab Kürbis zurück. »Aber wir haben sie nicht begraben, da sie keine Menschen sind.«

Frustriert schlug ich mir auf den Oberschenkel.

»Wo sind diese Leichen?« fragte ich. Ich wollte feststellen, ob sich Kog oder Sardak unter den Toten befanden.

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Kürbis. »Die Flieher haben Seile angebracht und die Toten fortgeschleppt, auf die Felder.«

»Ich glaube, sie wußten nicht, was sie mit den Wesen anfangen sollten«, sagte einer der Männer.

In mir wuchs der Zorn. Daß ein Kur überlebt hatte, wußte ich, und nun schien festzustehen, daß den Wilden bis zu acht entkommen waren. Aus Medizingründen hatten viele Wilde wohl Bedenken gehabt, sie anzugreifen, da sie solche Wesen nicht kannten. Vielleicht stammten sie ja von der Medizinwelt! Wenn das so war, durften sie auf keinen Fall vernichtet, sondern mußten eher verehrt und geschützt werden. Wenn Sardak noch lebte, das wußte ich, würde er seinen Auftrag unbarmherzig weiterverfolgen.

»Interessieren dich Überlebende?« fragte Kürbis. »Du scheinst dich dafür zu interessieren.«

»Ja.«

»Nicht Soldaten, Ungeheuer und andere Flüchtlinge?«

»Ja.«

»Einige Kinder wurden verschont, junge Kinder«, sagte Kürbis. »Man fesselte sie in vier Gruppen. Die Flieher nahmen eine Gruppe, die aus sechs Kindern bestand. Die anderen drei Gruppen, jeweils fünf Kinder, wurden von den Sleen, den Gelben Messern und den Kailiauk fortgeführt.«

»Und die Kaiila?«

»Die haben keine Kinder genommen.«

»Die Kinder hatten großes Glück«, sagte einer der Männer vor mir.

»Ja«, sagte ein anderer. »Man wird sie ins Waniyanpi-Lager bringen und als Waniyanpi großziehen.«

»Welch ein Segen für sie!« rief eine Stimme.

»Es ist immer wunderbar, wenn die Lehre an die Jungen weitergegeben werden kann.«

»Ja, das ist die sicherste Methode, dafür zu sorgen, daß es immer Waniyanpi geben wird!« rief ein anderer.

Ich fragte mich, ob die Scheußlichkeiten und Verbrechen, die Erwachsene einander antaten, jemals an die Grausamkeiten herankamen, unter denen Kinder litten. Ich konnte es mir nicht vorstellen.

»Es gab andere Überlebende?« fragte ich.

»Einige junge Frauen«, sagte Kürbis. »Aber wir haben sie nicht beachtet. Sie waren nackt. Sie wurden gefesselt. Sie mußten unsere Herren neben ihren Kaiila begleiten.«

»Und wie wird ihr Schicksal aussehen?«

»Darüber wagen wir uns keine Gedanken zu machen«, erwiderte Kürbis errötend und senkte den Blick.

»Man wird sie versklaven, damit sie rückhaltlos ihren Herren dienen.«

Kürbis erschauderte.

»Möchtest du nicht auch so eine Sklavin haben?«

»Nein! Nein!« rief er, ohne den Blick zu heben. »Nein, nein!«

Die Heftigkeit seiner Reaktion fand ich bemerkenswert. Ich ließ den Blick zwischen den Waniyanpi herumwandern. Sie sahen mich nicht an.

»Gab es noch andere Überlebende?«

Dankbar hob Kürbis den Kopf. »Zwei«, erwiderte er. »Aber der eine wird es wohl nicht mehr lange machen.«

»Was meinst du?«

»Ein Junge, ein Staubfuß, möchte ich meinen. Er war Sklave bei den Soldaten. Man hat ihn drüben auf dem Hügel angepflockt. Wir sollen ihn am Leben erhalten, bis wir auf dem Schlachtfeld fertig sind, und ihn dann zurücklassen, damit er stirbt.«

»Das muß der junge Urt sein, der Sklave, der für die Söldner dolmetschen sollte«, sagte ich zu Grunt.

Mein Begleiter zuckte die Achseln. Er wußte nicht Bescheid. Ich hatte auch mehr zu mir selbst gesprochen.

»Und der andere?« fragte ich.

»Eine erwachsene Frau«, erwiderte Kürbis, »die, soweit ich weiß, ebenfalls mit den Soldaten kam.«

»Ausgezeichnet!« rief ich. »Ist sie blond und hübsch gebaut?«

»Sie ist blond«, antwortete Kürbis, »aber was den Rest deiner Fragen angeht, so durften wir nicht darauf achten.«

»Das muß Lady Mira aus Venna sein!« sagte ich zu Grunt.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet!«

»Kennst du sie?« wollte Grunt wissen.

»Wir sind uns einmal auf der Straße begegnet«, sagte ich. »Heute wird unser Zusammentreffen unter einem anderen Vorzeichen stehen.«

»Was ist los?« fragte Grunt besorgt.

»Nichts«, sagte ich. Ich freute mich – erstens daß die hohe Dame noch lebte. Zweitens fand ich es amüsant, daß die Nützlichkeit der blonden Agentin für die Kurii so jäh geendet hatte. Drittens konnte ich sie sicher auf die eine oder andere Weise überzeugen, mir einen Augenzeugenbericht von der Schlacht zu geben.

»Wo ist sie?« fragte ich Kürbis.

»Dort drüben, hinter dem Wagen«, antwortete er. »Wir haben sie dort untergebracht, damit wir sie nicht dauernd anschauen mußten.«

Staunend betrachtete ich die Waniyanpi und fragte mich, warum sie so verdrehte Ansichten hatten.

»Hebt die Röcke an, bis zur Hüfte, schnell!« befahl ich.

Schamvoll kam man meiner Aufforderung nach.

»Nein«, sagte Grunt. »Kastriert sind sie nicht. Die Veränderung wirkt durch den Verstand, durch die Erziehung, durch die Lehre!«

»Eine tückische Sache«, sagte ich.

»Ja«, bestätigte Grunt.

»Ihr könnt die Röcke wieder herunterlassen«, sagte ich.

Errötend kam man dem Befehl nach.

Ich drängte meine Kaiila auf den Wagen zu, den mir Kürbis gezeigt hatte.

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