7 Lebwohl. Die Entscheidung der Gefährten

Das Fest in Qualinost erinnerte Goldmund an den Totenschmaus nach der Beerdigung ihrer Mutter. Wie das Fest sollte die Bestattung ein fröhliches Ereignis sein – denn Tearsong war eine Göttin geworden. Aber für die Leute war es schwer, den Tod der schönen Frau zu akzeptieren. Und so hatten die Barbaren von Que-Shu ihr Dahinscheiden mit einem Gram betrauert, der an Gotteslästerung grenzte.

Der Leichenschmaus zu Ehren Tearsongs war das prunkvollste gewesen, was Que-Shu je erlebt hatte. Der trauernde Gatte hatte keine Kosten gescheut. Wie das Festessen in Qualinost an diesem Abend gab es Berge von Essen, die kaum bewältigt werden konnten. Es gab halbherzige Versuche, eine Unterhaltung zu führen, obwohl niemand reden wollte. Gelegentlich war einer, von Leid überwältigt, gezwungen, den Tisch zu verlassen.

Diese Erinnerung war so lebhaft, daß Goldmond wenig essen konnte; das Essen schmeckte ihr wie Asche. Flußwind betrachtete sie mit Sorge. Seine Hand fand die ihre unter dem Tisch, und sie umklammerte sie fest und lächelte, als seine Kraft in ihren Körper strömte.

Das Elfenfest fand im Hof südlich vom großen goldenen Turm statt. Um die Plattform aus Kristall und Marmor auf dem höchsten Hügel von Qualinost war keine Mauer, sie bot einen unbehinderten Ausblick auf die darunter liegende glitzernde Stadt, auf den dunklen Wald dahinter und sogar auf den tiefvioletten Rand des Tharkadangebirges weit im Süden.

Goldmond saß rechts neben der Stimme der Sonnen. Er versuchte, eine höfliche Unterhaltung zu führen, aber seine Sorgen und Probleme überwältigten ihn schließlich, und er verstummte.

Zur Linken der Stimme der Sonnen saß seine Tochter Laurana. Sie aß nichts, sondern saß nur mit gesenktem Kopf da, ihr langes Haar floß um ihr Gesicht. Wenn sie aufsah, dann nur, um Tanis’ Augen zu suchen.

Der Halb-Elf, sich den Blicken der Verzweifelten als auch Gilthanas’ kühler Beobachtung bewußt, aß wenig und ohne Appetit, seine Augen waren auf seinen Teller gerichtet. Sturm neben ihm überlegte sich Pläne für die Verteidigung von Qualinost.

Flint fühlte sich fremd und fehl am Platze, so wie sich Zwerge unter Elfen immer fühlen. Das Elfenessen schmeckte ihm sowieso nicht, und er lehnte alles ab. Raistlin knabberte geistesabwesend an den Köstlichkeiten, seine goldenen Augen musterten Fizban. Tika, die sich ebenfalls linkisch und fehl am Platze unter den anmutigen Elfenfrauen fühlte, bekam keinen Bissen hinunter. Caramon glaubte zu wissen, warum Elfen so schlank waren: Ihre Nahrung bestand nur aus Obst und Gemüse, mit delikaten Soßen verfeinert, mit Brot und Käse und einem sehr leichten, würzigen Wein serviert. Nach vier Tagen Hunger im Käfig wurde der Krieger davon einfach nicht satt.

Die einzigen in Qualinost, die das Fest genossen, waren Tolpan und Fizban. Der alte Magier führte mit einer Espe einen einseitigen Streit, während Tolpan einfach alles genoß und später – zu seiner großen Überraschung – zwei goldene Löffel, ein silbernes Messer und eine Schale aus Perlmutt entdeckte, die in einen seiner Beutel gewandert waren.

Der rote Mond war nicht sichtbar. Lunitari begann abzunehmen – ein schmales silbernes Band im Himmel. Als die ersten Sterne erschienen, nickte die Stimme der Sonnen seinem Sohn traurig zu. Gilthanas erhob sich und stellte sich neben den Stuhl seines Vaters.

Gilthanas begann zu singen. Die Elfenworte flossen in eine zarte und wundersame Melodie. Während er sang, hielt Gilthanas eine kleine Kristallampe in beiden Händen, das Kerzenlicht bestrahlte seine marmornen Gesichtszüge. Tanis schloß bei dem Lied die Augen; sein Kopf versank in seinen Händen.

»Was ist es? Was bedeuten die Worte?« fragte Sturm leise.

Tanis hob den Kopf. Mit gebrochener Stimme flüsterte er:

»Die Sonne, Das herrliche Auge

In unser aller Himmel, Verläßt den Tag

Und läßt

Den verträumten Himmel

Mit Feuerfliegen übersät, Die das Dunkel vertiefen.«

Die Elfen am Tisch erhoben sich nun leise, während sie in den Gesang einfielen. Ihr Gesang verwob sich zu einem unvergeßlichen Lied unendlicher Traurigkeit.

»Der Schlaf, Unser ältester Freund,

Wiegt sich in den Bäumen

Und ruft

Uns zu sich.

Die Blätter

Verbreiten kaltes Feuer, Verglühen zu Asche

Am Ende des Jahres.

Und Vögel

Bewegen sich im Wind

Und fliegen zum Norden, Wenn der Herbst endet.

Der Tag wird dunkel, Die Jahreszeit kühl, Aber wir

Erwarten der Sonne

Grünes Feuer über

Den Bäumen.«

Flackerndes Laternenlicht verbreitete sich vom Hof wie Wellen in einem ruhigen Teich durch die Straßen in die Wälder und noch weiter weg. Und mit jeder angezündeten Laterne stimmte ein anderer Elf in das Lied ein, bis der Wald selbst ein Lied voller Verzweiflung zu singen schien.

»Der Wind

Taucht durch die Tage.

In der Jahreszeit, während der Nacht

Entstehen große Königreiche.

Der Atem

Der Feuerfliege, des Vogels, Der Bäume, der Menschen

Verblaßt in einem Wort.

Der Schlaf jetzt, Unser ältester Freund, Wiegt sich in den Bäumen

Und ruft Uns zu sich.

Die unendlich lange Zeit, Die tausend Leben

Der Menschen und ihre Geschichten

Kehren in ihre Gräber ein.

Aber wir, Das ewige Volk

Im Gedicht und in der Pracht, Verblassen im Lied.«

Gilthanas’ Stimme erstarb. Sanft blies er die Kerze seiner Lampe aus. Einer nach dem anderen beendete das Lied und blies seine Kerze aus. In ganz Qualinost erloschen die Stimmen und die Lichter, bis Stille und Dunkelheit über das Land zogen.

Dann erhob sich die Stimme der Sonnen.

»Und jetzt«, sagte er niedergeschlagen, »ist es Zeit für die Zusammenkunft des Obersten Rates. Sie wird im Himmelssaal stattfinden. Tanthalas, wenn du deine Gefährten dorthin führen würdest.«

Es stellte sich heraus, daß der Himmelssaal ein riesiger, von Fackeln beleuchteter Platz war. Über ihm erhob sich die Kuppel des Himmels und der glitzernden Sterne. Aber es war zu dunkel. Die Stimme der Sonnen machte Tanis Zeichen, die Gefährten in seine Nähe zu bringen, dann versammelten sich sämtliche Einwohner von Qualinost um sie. Es war nicht notwendig, für Ruhe zu sorgen. Selbst der Wind wurde still, als die Stimme der Sonnen zu sprechen begann.

»Hier seht ihr unsere Lage.« Er zeigte auf den Boden. Die Gefährten erblickten eine riesige Landkarte zu ihren Füßen. Tolpan, der mitten in den Ebenen von Abanasinia stand, holte tief Luft. Noch nie hatte er solch eine wunderschöne Karte gesehen.

»Da ist Solace!« rief er aufgeregt.

»Ja, Kenderkind«, erwiderte die Stimme der Sonnen. »Und dort sammeln sich die Drachenarmeen. In Solace« – er zeigte mit einem Stock auf die Stelle – »und in Haven. Lord Verminaard hat kein Geheimnis aus seinen Plänen gemacht, in Qualinost einzufallen. Er erwartet nur seine Streitkräfte und sichert die Versorgungswege. Wir können gegen diese Horde nicht ankämpfen.«

»Sicherlich ist Qualinost leicht zu verteidigen«, sagte Sturm. »Auf dem Landweg gibt es keine direkte Straße. Wir überquerten Brücken über Schluchten, die keine Armee überwinden könnte, wenn man die Brücken vernichtete. Warum erhebst du dich nicht gegen sie?«

»Wenn es nur eine Armee wäre, könnten wir Qualinost wohl verteidigen«, antwortete die Stimme der Sonnen. »Aber was können wir gegen Drachen ausrichten?« Die Stimme der Sonnen spreizte hilflos seine Hände. »Nichts! Nach den Legenden konnte der mächtige Huma nur mit der Drachenlanze die Drachen besiegen. Nun gibt es niemanden – zumindest wissen wir nichts davon – , der sich an das Geheimnis dieser mächtigen Waffe erinnert.«

Fizban wollte etwas sagen, aber Raistlin stieß ihn an.

»Nein«, fuhr die Stimme der Sonnen fort, »wir müssen diese Stadt und diese Wälder aufgeben. Wir planen, in den Westen zu gehen, in das unerforschte Land, wo wir hoffen, für unser Volk eine neue Heimat zu finden – oder wir kehren vielleicht nach Silvanesti zurück, der ältesten Elfenheimat. Vor einer Woche machten unsere Pläne gute Fortschritte. Der Drachenfürst wird einen dreitägigen Gewaltmarsch brauchen, um seine Männer in Angriffsposition zu bringen, und Spione werden uns informieren, wenn die Armee in Solace aufbricht. Wir hätten genügend Zeit gehabt, in den Westen zu flüchten. Aber dann erfuhren wir von der dritten Drachenarmee in Pax Tarkas, kaum mehr als eine Tagesreise von hier. Wenn diese Armee nicht aufgehalten wird, sind wir verloren.«

»Und du weißt einen Weg, um diese Armee aufzuhalten?« fragte Tanis.

»Ja.« Die Stimme der Sonnen sah zu seinem jüngsten Sohn. »Wie ihr wißt, werden Männer aus Torweg und Solace und den Nachbarortschaften in der Festung von Pax Tarkas gefangengehalten; sie arbeiten als Sklaven für den Drachenfürsten. Verminaard ist klug. Aus Furcht vor einer Sklavenrevolte hält er die Frauen und Kinder dieser Männer als Geiseln. Wir sind überzeugt, daß sich die Männer gegen ihre Herren wenden und sie vernichten würden, wenn wir diese Geiseln befreiten. Es war Gilthanas’ Mission, die Geiseln zu befreien und die Revolte anzuführen. Er hätte die Menschen nach Süden in die Berge gebracht, die dritte Armee aufgehalten und uns so Zeit zur Flucht gegeben.«

»Und was wäre dann mit den Menschen geschehen?« fragte Flußwind barsch. »Es scheint mir, daß du sie der Drakoarmee in den Rachen wirfst, so wie ein Verzweifelter Wölfen Fleischstücke zuwirft.«

»Lord Verminaard wird sie nicht mehr lange leben lassen, befürchte ich. Das Eisenerz ist fast erschöpft. Er wird noch jedes kleine Stück zusammentragen, aber dann werden die Sklaven für ihn nutzlos sein. In den Bergen gibt es Täler, Höhlen, wo die Menschen leben und den Drachenarmeen widerstehen könnten. Sie könnten leicht die Gebirgspässe gegen sie halten, besonders jetzt, da der Winter einsetzt. Zugegeben, einige werden sterben, aber das ist der Preis, der bezahlt werden muß. Wenn du die Wahl hättest, Mann aus den Ebenen, würdest du lieber in der Sklaverei oder kämpfend sterben?«

»Gilthanas’ Mission ist gescheitert«, sagte Tanis, »und jetzt möchtest du, daß wir die Revolte anführen?«

»Ja, Tanthalas«, erwiderte die Stimme der Sonnen. »Gilthanas kennt einen Weg nach Pax Tarkas – den Sla-Mori. Er kann euch in die Festung führen. Du hast nicht nur die Möglichkeit, deine eigene Rasse zu befreien, sondern du bietest den Elfen eine Möglichkeit zur Flucht« – die Stimme der Sonnen verhärtete sich -, »eine Möglichkeit zu leben, die viele Elfen nicht mehr hatten, als die Menschen die Umwälzung über uns herbeiführten!«

Flußwind sah knurrend auf. Selbst Sturms Miene verfinsterte sich. Die Stimme der Sonnen holte tief Luft und seufzte dann. »Bitte vergebt mir«, sagte er. »Ich will euch nicht mit Peitschen aus der Vergangenheit schlagen. Ich werde meinen Sohn Gilthanas bereitwillig mit euch schicken, wohl wissend, daß wir uns vielleicht nie mehr wiedersehen werden. Ich bin zu diesem Opfer bereit, damit mein Volk – und euer Volk – leben kann.«

»Wir brauchen Bedenkzeit«, sagte Tanis, obwohl sein Entschluß schon feststand. Die Stimme der Sonnen nickte, und Elfenkrieger bahnten den Gefährten einen Weg durch die Menge und führten sie zu einem Wäldchen. Hier ließ man sie allein.

Tanis’ Freunde standen vor ihm, ihre ernsten Gesichter wirkten wie Masken aus Licht und Schatten unter den Sternen. Die ganze Zeit, dachte er, habe ich darum gekämpft, daß wir zusammenbleiben. Jetzt, glaube ich, müssen wir uns trennen. Wir können nicht riskieren, die Scheiben mit nach Pax Tarkas zu nehmen, und Goldmond wird sie nicht aus der Hand geben.

»Ich werde nach Pax Tarkas gehen«, sagte Tanis leise. »Aber mir scheint, es ist jetzt an der Zeit, daß wir uns trennen, meine Freunde. Bevor ihr was sagt, hört mir bitte zu. Ich möchte Tika, Goldmond, Flußwind, Caramon, Raistlin und dich, Fizban, bei den Elfen lassen in der Hoffnung, daß die Scheiben bei euch in Sicherheit sind. Sie sind zu wertvoll, um sie bei einem Überfall auf Pax Tarkas zu riskieren.«

»Das kann schon sein, Halb-Elf«, flüsterte Raistlin, »aber unter den Qualinost-Elfen wird Goldmond nicht denjenigen finden, den sie sucht.«

»Woher weißt du das?« fragte Tanis bestürzt.

»Er weiß überhaupt nichts, Tanis«, unterbrach Sturm bitter. »Mehr Geschwätz…«

»Raistlin?« beharrte Tanis und ignorierte Sturm.

»Du hast doch den Ritter gehört!« zischte der Magier. »Ich weiß nichts!«

Tanis seufzte, dann blickte er sich um. »Ihr habt mich zum Anführer ernannt…«

»Ja, das haben wir, Bursche«, sagte Flint plötzlich. »Aber deine Entscheidung kommt aus deinem Kopf – nicht aus deinem Herzen. Tief innen bist du nicht überzeugt, daß wir uns trennen sollten.«

»Nun, ich werde nicht bei diesen Elfen bleiben«, sagte Tika und kreuzte ihre Arme über der Brust. »Ich gehe mit dir, Tanis. Ich will eine Schwertkämpferin werden, wie Kitiara.«

Tanis zuckte zusammen. Diesen Namen zu hören, war wie ein Schlag ins Gesicht.

»Auch ich werde mich nicht bei Elfen verstecken«, sagte Flußwind, »erst recht nicht, wenn es bedeutet, meine Rasse für mich kämpfen zu lassen.«

»Er und ich sind eins«, sagte Goldmond und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Außerdem«, sagte sie weicher, »irgendwie weiß ich, daß der Magier die Wahrheit sagt – der Führer ist nicht unter den Elfen. Sie wollen vor der Welt fliehen, anstatt für sie zu kämpfen.«

»Wir kommen alle mit, Tanis«, sagte Flint bestimmt.

Der Halb-Elf sah sich hilflos in der Gruppe um, dann lächelte er und schüttelte den Kopf. »Ihr habt recht. Es war nicht meine wirkliche Überzeugung, daß wir uns trennen sollten. Es ist natürlich am vernünftigsten und logischsten, und darum handeln wir wohl nicht so.«

»Und jetzt könnten wir vielleicht ein wenig schlafen«, gähnte Fizban.

»Warte eine Minute, Alter«, sagte Tanis ernst. »Du gehörst nicht dazu. Du solltest wirklich bei den Elfen bleiben.«

»Soll ich?« fragte der alte Magier sanft, während seine Augen ihren unbestimmten Blick verloren. Er sah Tanis mit solch einem durchdringenden, fast drohenden Blick an, daß der Halb-Elf instinktiv einen Schritt zurücktrat, da er plötzlich eine fast greifbare Aura von Macht um den alten Mann spürte. Seine Stimme war sanft und intensiv. »Ich allein entscheide, wohin ich in dieser Welt gehe, und ich habe mich entschieden, mit dir zu gehen, Tanis Halb-Elf.«

Raistlin sah zu Tanis, als ob er sagen wollte: Verstehst du jetzt? Tanis erwiderte unentschlossen den Blick. Er bereute, das Gespräch mit Raistlin unterbrochen zu haben, aber fragte sich jetzt, wie sie in Anwesenheit des alten Mannes überhaupt miteinander sprechen sollten.

»Ich sage dir das, Raistlin«, sagte Tanis plötzlich im Lagerfeuer-Slang, einer verzerrten Form der Umgangssprache, die von den gemischtrassigen Söldnern auf Krynn entwickelt worden war. Die Zwillinge hatten sich vor langer Zeit einmal als Söldner verdingt – wie die meisten der Gefährten – , um zu überleben. Tanis wußte, daß Raistlin ihn verstehen würde. Und er war sich ziemlich sicher, daß der alte Mann diese Sprache nicht verstand.

»Wir sprechen, wenn willst«, antwortete Raistlin in der gleichen Sprache, »aber wenig weiß ich.«

»Du Furcht. Warum?«

Raistlins seltsame Augen sahen in die Ferne, als er langsam antwortete. »Ich weiß nicht, Tanis. Aber – du recht. Da ist Macht, im Alten. Ich fühle große Macht. Ich fürchte.« Seine Augen glänzten. »Und ich hungrig!« Der Magier seufzte und schien von daher wiederzukehren, wo er gewesen war. »Aber er recht. Versuchen, ihn aufhalten? Sehr viel Gefahr.«

»Als ob es nicht schon reichen würde«, sagte Tanis bitter und wechselte wieder in die Umgangssprache.

»Andere sind vielleicht genauso gefährlich«, sagte Raistlin und warf seinem Bruder einen bedeutungsvollen Blick zu. Der Magier sprach auch wieder in der Umgangssprache. »Ich bin müde. Ich muß schlafen. Bleibst du auf, Bruder?«

»Ja«, antwortete er und tauschte einen Blick mit Sturm. »Wir werden uns noch ein wenig mit Tanis unterhalten.«

Raistlin nickte und reichte Fizban seinen Arm. Der alte und der junge Magier gingen. Der alte Magier schlug mit seinem Stab auf einen Baum ein und beschuldigte ihn, versucht zu haben, sich an ihn heranzuschleichen.

»Als ob ein verrückter Magier nicht reichen würde«, murrte Flint. »Ich werde schlafen gehen.«

Einer nach dem anderen ging, bis Tanis, Caramon und Sturm allein waren. Tanis wandte ihnen müde sein Gesicht zu. Er hatte das Gefühl zu wissen, was kommen würde. Caramon errötete und starrte auf seine Füße. Sturm strich über seinen Schnurrbart und sah Tanis nachdenklich an.

»Nun?« fragte Tanis.

»Gilthanas«, antwortete Sturm.

Tanis runzelte die Stirn und kratzte seinen Bart. »Das ist meine Sache und nicht eure«, sagte er kurz.

»Es ist unsere Sache, Tanis«, beharrte Sturm, »wenn er uns nach Pax Tarkas führt. Wir wollen uns nicht in deine Angelegenheit mischen, aber offensichtlich besteht eine Feindschaft zwischen euch. Ich habe mitbekommen, wie er dich ansieht, Tanis, und ich an deiner Stelle würde nirgendwo hingehen, ohne einen Freund im Rücken zu haben.«

Caramon sah Tanis ernst an. »Ich weiß, er ist ein Elf und so weiter«, sagte der Krieger langsam. »Aber, wie Sturm sagt, er hat manchmal in seinen Augen einen komischen Blick. Kennst du nicht diesen Weg nach Sla-Mori? Können wir ihn nicht selbst finden? Ich traue ihm nicht. Sturm und Raist auch nicht.«

»Hör zu, Tanis«, sagte Sturm, als er sah, wie sich das Gesicht des Halb-Elf vor Zorn verdunkelte. »Wenn Gilthanas in solch einer Gefahr in Solace war, wie er behauptet, warum saß er dann so lässig im Wirtshaus? Und dann diese Geschichte, wie seine Kämpfer›zufällig‹in eine ganze Armee liefen! Tanis, schüttel nicht so schnell den Kopf. Er braucht nicht bösartig zu sein, nur irregeleitet. Was ist, wenn Verminaard irgendeinen Einfluß auf ihn ausübt? Vielleicht hat der Drachenfürst ihn überzeugt, sein Volk zu verschonen, wenn er uns dafür betrügt! Vielleicht war er darum in Solace, um auf uns zu warten.«

»Das ist lächerlich!« sagte Tanis schnell. »Woher hätte er denn wissen sollen, daß wir kommen?«

»Wir haben unsere Reise von Xak Tsaroth nach Solace nicht direkt geheimgehalten«, entgegnete Sturm kühl. »Wir sahen überall auf dem Weg Drakonier, und jenen, die aus Xak Tsaroth entkommen konnten, mußte klar gewesen sein, daß wir wegen der Scheiben dort waren. Verminaard weiß wahrscheinlich besser, wie wir aussehen, als er seine Mutter kennt.«

»Nein! Das glaube ich nicht!« sagte Tanis wütend und blickte Sturm und Caramon haßerfüllt an. »Ihr irrt euch beide! Ich würde mein Leben darauf setzen. Ich bin mit Gilthanas aufgewachsen, ich kenne ihn! Ja, es bestand eine Feindschaft, aber wir haben darüber geredet, und die Sache ist erledigt. Ich glaube, er wird an dem Tag ein Verräter seines Volkes werden, wenn du oder Caramon zu Verrätern werdet. Und, nein, ich kenne nicht den Weg nach Pax Tarkas. Ich bin dort noch nie gewesen. Und noch eine Sache«, schrie Tanis jetzt völlig in Rage, »wenn ich Leuten in dieser Gruppe nicht traue, dann sind es dein Bruder und dieser alte Mann!« Er sah Caramon anschuldigend an.

Der große Mann wurde blaß und senkte seine Augen. Er begann sich umzudrehen. Tanis beruhigte sich wieder, plötzlich war ihm klar, was er gesagt hatte. »Es tut mir leid, Caramon.« Er legte seine Hand auf den Arm des Kriegers. »Ich meinte das nicht so. Raistlin hat mehr als einmal unser Leben auf dieser wahnsinnigen Reise gerettet. Es ist nur, daß ich nicht glauben kann, daß Gilthanas ein Verräter ist!«

»Wir wissen es, Tanis«, sagte Sturm ruhig. »Und wir vertrauen deinem Urteil. Aber – eine Nacht ist zu dunkel, um mit verschlossenen Augen herumzulaufen, wie es bei meinem Volk heißt.«

Tanis seufzte und nickte. Er legte die andere Hand auf Sturms Arm. Der Ritter drückte sie, und die drei Männer standen schweigend da. Dann verließen sie das Wäldchen und gingen zum Himmelssaal zurück. Sie konnten immer noch die Stimme der Sonnen mit seinen Kriegern reden hören.

»Was bedeutet Sla-Mori?« fragte Caramon.

»Geheimer Weg«, antwortete Tanis.

Tanis wachte erschrocken auf, seine Hand griff zum Dolch an seinem Gürtel. Eine dunkle Gestalt bückte sich zu ihm, löschte die Sterne über ihm aus. Er faßte schnell zu und zog die Person herunter und legte den Dolch an ihre Kehle.

»Tanthalas!« Beim Anblick der blitzenden Waffe wurde ein leiser Schrei ausgestoßen.

»Laurana!« keuchte Tanis.

Ihr Körper drückte sich an seinen. Er spürte sie zittern, und jetzt, da er völlig wach war, konnte er ihr langes Haar über ihre Schultern fließen sehen. Sie war nur in ein dünnes Nachtgewand gekleidet. Ihr Umhang war ihr in ihrem kurzen Kampf entglitten.

Laurana hatte impulsiv ihr Bett verlassen, nur einen Umhang gegen die Kälte übergezogen und war in die Nacht geschlüpft. Nun lag sie über Tanis’ Brust, zu verängstigt, um sich zu bewegen. Dies war eine Seite von Tanis, von der sie nie gewußt hatte. Ihr wurde plötzlich klar, daß sie nun tot wäre – mit aufgeschlitzter Kehle -, wenn sie ein Feind gewesen wäre.

»Laurana…«, wiederholte Tanis und steckte mit zitternder Hand den Dolch wieder in den Gürtel. Er schob sie fort und setzte sich, wütend auf sich, weil er sie erschreckt hatte, und wütend auf sie, weil sie etwas Tiefes in ihm geweckt hatte. Einen Moment lang, als sie auf ihn gelegen hatte, hatte er intensiv den Duft ihres Haares, die Wärme ihres schlanken Körpers, das Muskelspiel ihrer Oberschenkel, ihre weichen kleinen Brüste wahrgenommen. Laurana war ein Mädchen gewesen, als er gegangen war. Er war zu einer Frau zurückgekehrt – einer wunderschönen, begehrenswerten Frau.

»Was im Namen der Hölle machst du hier zu dieser nächtlichen Stunde?«

»Tanthalas«, sagte sie, schluckte, zog ihren Umhang dichter um sich. »Ich wollte dich bitten, deine Meinung zu ändern. Laß deine Freunde die Menschen in Pax Tarkas befreien. Du mußt mit uns kommen! Wirf dein Leben nicht fort. Mein Vater ist verzweifelt. Er glaubt nicht, daß der Plan funktioniert – ich weiß es genau. Aber er hat keine andere Wahl! Er trauert jetzt schon um Gilthanas, als wäre er tot. Ich werde meinen Bruder verlieren. Ich will dich nicht auch noch verlieren!« Sie schluchzte. Tanis sah sich flüchtig um. Vermutlich waren überall Elfenwachen aufgestellt. Wenn die Elfen ihn in dieser kompromittierenden Situation fanden…

»Laurana«, sagte er, faßte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Du bist kein Kind mehr. Du mußt endlich erwachsen werden. Ich lasse meine Freunde nicht allein auf dieser gefährlichen Reise. Mir ist das Risiko klar; ich bin nicht blind! Aber wenn wir die Menschen von Verminaard befreien und deinem Volk Zeit zur Flucht geben können, ist es eine Möglichkeit, die wir nutzen müssen! Es wird auch für dich eine Zeit kommen, Laurana, da du dein Leben für etwas riskieren mußt, von dem du überzeugt bist – etwas, das mehr als das Leben selbst ist. Verstehst du?«

Sie sah zu ihm auf durch ihre goldenen Haare. Sie hörte auf zu schluchzen und zu zittern. Sie sah ihn aufmerksam an.

»Verstehst du, Laurana?« wiederholte er.

»Ja, Tanthalas«, antwortete sie weich. »Ich verstehe.«

»Gut!« Er seufzte. »Dann geh jetzt wieder ins Bett. Schnell. Du hast mich in Gefahr gebracht. Wenn Gilthanas uns so sehen würde…«

Laurana erhob sich und entfernte sich schnell aus dem Wäldchen, huschte durch die Straßen und an den Häusern vorbei wie der Wind durch die Espen. Sich an den Wachen vorbeizuschleichen, um in das Haus ihres Vaters zu kommen, war einfach – sie und Gilthanas machten das seit ihrer Kindheit. Bevor sie in ihr Zimmer ging, stand sie einen Moment an der Tür ihrer Eltern und lauschte. Das Licht brannte noch. Sie konnte Pergamentpapier rascheln hören, dann etwas Beißendes riechen. Ihr Vater verbrannte Papiere. Sie hörte das sanfte Murmeln ihrer Mutter, die ihren Vater ins Bett rief. Laurana schloß im stummen Schmerz kurz die Augen, dann preßte sie ihre Lippen entschlossen zusammen und rannte durch den dunklen kühlen Flur zu ihrem Schlafgemach.

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