Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, wurde 1948 durch seinen

ersten Roman »Mich wundert, daß ich so fröhlich bin« bekannt. Sein

preisgekröntes Schauspiel »Der Schulfreund«, die Romane »Das ge-heime

Brot«,

»Affäre

Nina

B.«

und

»Ich

gestehe

alles«

(Knaur-Taschenbuch Band 193) wurden außergewöhnliche Erfolge.

Verfilmt wurden seine Romane »Es muß nicht immer Kaviar sein« (Band

29), »Bis zur bitteren Neige« (Band 118), »Liebe ist nur ein Wort« (Band 145), »Gott schützt die Liebenden« (Band 234), »Lieb Vaterland magst

ruhig sein« (Band 209), »Alle Menschen werden Brüder« (Band 262),

»Und Jimmy ging zum Regenbogen« (Band 397), »Der Stoff, aus dem die

Träume sind« (Band 437) und »Die Antwort kennt nur der Wind« (Band

481). In all diesen Werken, ebenso wie auch in den späteren Romanen

»Niemand ist eine Insel« (Band 553), »Hurra - wir leben noch!« und den neu

erschienenen

Erzählungen

»Zweiundzwanzig

Zentimeter

Zärtlichkeit« hat sich Simmel als brillanter Erzähler, unerbittlicher Zeitkritiker und Künder wahrer Humanität international einen Namen gemacht. Großen Anklang fanden auch seine Kinderbücher »Ein

Autobus, groß wie die Welt«, »Meine Mutter darf es nie erfahren« und

»Weinen streng verboten«.

September 1979

Vollständige Taschenbuchausgabe

Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.

München/Zürich

© Droemer Knaur Verlag Schoeller & Co., Locarno 1976

Umschlaggestaltung und Illustrationen Ulrik Schramm

Gesamtherstellung Ebner Ulm

Printed in Germany

ISBN 3-426-00643-X

Johannes Mario Simmel:

Ein Autobus, groß wie die Welt

Ein Jugend-Roman

Droemer Knaur


Das erste Kapitel

Ein schwarzes Schaf rast durch den Schnee - 18 Kinder laufen um die Wette - Lucie muß weinen - Herr Wiedmann droht mit Ohrfeigen - Wir drehen die Zeit zurück - Der rote Autobus ist abfahrt-bereit - Der dicke Martin zeigt seine Muskeln, und Karli hat Hals-

weh - Helmut schlägt einen Ringkampf vor - Tante Beate lernt

Josef kennen - Die Fahrt geht los - Helmut ist wütend, und Josef

reißt aus - Thomas rettet die Situation - Es donnert in der Luft,

und plötzlich wird es finster - Es muß etwas Schreckliches geschehen sein.

Am 26. Dezember, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, ra-

ste ein dickes schwarzes Schaf durch den Schnee neben

der Landstraße, die nach Bergstadt führt.

Es war gegen Mittag und sehr warm. Das Schaf rannte,

so schnell es konnte, auf den nahen Wald zu. Es war so

dick, daß es von weitem aussah wie eine große, dunkle

Kugel. Hinter ihm her liefen 18 Kinder, Buben und Mäd-

chen.

Das ist ein ungewohnlicher Anfang für eine Geschichte,

nicht wahr? Aber die Geschichte selbst ist gleichfalls un-

gewöhnlich - und deshalb muß es wohl auch ihr Anfang

sein.

Weit hinten in der langen Reihe der Kinder, die dem fet-

ten schwarzen Schaf nachliefen, stolperte ein erschöpftes

kleines Mädchen. Das kleine Mädchen weinte bitterlich

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und rief immer wieder verzweifelt: »Josef, Josef, komm

doch bitte, bitte, zurück!«

Anscheinend hieß das Schaf >Josef<, und anscheinend

gehörte es dem kleinen Mädchen. Aber es war ein eigen-

williges Schaf, und es kümmerte sich weder um die Rufe

des armen kleinen Mädchens noch um die der anderen

Kinder, die gleichfalls alle laut seinen Namen riefen.

Eine junge Frau mit freundlichem Gesicht und blondem

Haar holte das kleine Mädchen ein und nahm es an der

Hand.

»Sei ruhig, Lucie«, sagte sie. »Weine nicht. Wir werden

dein Schaf schon fangen!«

Als Lucie die freundliche junge Frau bemerkte, brach sie

neuerlich in Tränen aus.

»Oh, Tante Beate«, rief sie schluchzend, »warum hat Hel-

mut die Tür aufgemacht? Ich habe ihm gar nichts getan,

und er hat die Tür aufgemacht und Josef hinausgestoßen!

Warum, Tante Beate, warum?«

Tante Beate zog Lucie mit sich durch den tiefen Schnee

und sah nach vorne zum Waldrand, wo die anderen Kin-

der inzwischen angekommen waren. Das Schaf Josef hielt

sich hinter den ersten Bäumen verborgen. »Ich weiß nicht,

warum er es getan hat«, sagte Tante Beate. »Sicherlich

wollte er dir damit nichts Böses antun. Und bestimmt

wird er sich bei dir entschuldigen. Ich bin überzeugt, daß

es ihm schon wieder leid tut, was er angestellt hat!«

Damit eilten die beiden weiter über den Acker.

Helmut, der Junge, von dem sie gesprochen hatten, saß

zu dieser Zeit auf dem Trittbrett eines großen roten

Autobusses, der auf der Landstraße stand. Hinter dem

Lenkrad des Autobusses saß ein dicker Mann in einer

Lederjacke und mit einem roten Gesicht und sah ihn böse

an. Der dicke Mann war der Chauffeur des Autos und hieß

Wiedmann. Herr Wiedmann war wütend.

»Als ob man nicht schon genug Scherereien mit neunzehn

Kindern hätte«, sagte er zornig, »und als ob wir nicht oh-

nehin schon um eine ganze Stunde verspätet wären! Nein,

da muß noch so ein Lausbub wie du die Autotür aufma-

chen und das Schaf hinauslassen!« Helmut, der Junge,

mit dem Herr Wiedmann sprach, rutschte auf seinem

Trittbrett ein bißchen hin und her. Er fühlte sich nicht

wohl.

»Ich habe es nicht mit Absicht getan«, erklärte er unsi-

cher.

»Nicht mit Absicht! Nicht mit Absicht!« wiederholte Herr

Wiedmann ärgerlich. »Die Tür ist von selber aufgegan-

gen, was? Glaubst du, ich habe nicht gesehen, daß du die

kleine Lucie schon seit Salzburg geärgert hast?« Er stand

auf, kletterte ins Freie und kam auf Helmut zu. Helmut

war ein großer, starker Junge, der aussah, als ob er sich

vor nichts fürchten würde. Herr Wiedmann schien dabei

eine Ausnahme zu sein. Vor ihm fürchtete sich Helmut

jetzt ein wenig. Er zog den Kopf zwischen die Schultern

und schielte ängstlich nach oben, als er den Chauffeur sa-

gen hörte: »Bei Gott, wenn ich nicht wüßte, daß man

Kinder nicht schlagen soll, dann würde ich dir jetzt ein

paar Ohrfeigen geben, daß du die Engel singen hörst,

mein Lieber!«

Helmut schwieg und sah ihn an. Herr Wiedmann

brummte böse und drehte ihm den Rücken zu. Er sah

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über den tief verschneiten Acker zum Waldrand hinüber,

in dessen Schatten 18 Kinder und Tante Beate noch im-

mer mit Bitten und Locken und Betteln versuchten, das

Schaf Josef zu bewegen, zu ihnen zurückzukehren.

Die ganze Situation war sehr sonderbar, findet ihr nicht?

Wie kam der rote Autobus hierher, auf die Landstraße,

viele Kilometer entfernt vom nächsten Dorf? Wer war

Tante Beate? Und wer waren die 19 Kinder? Woher ka-

men sie? Wohin fuhren sie? Wieso besaß Lucie ein

schwarzes Schaf namens Josef? Und warum hatte Helmut

es aus dem Autobus gestoßen? Das sind eine ganze Men-

ge Fragen, und es lassen sich bestimmt noch ein paar wei-

tere finden. Und um sie alle beantworten und unsere

Geschichte so weitererzählen zu können, daß alle sie ver-

stehen, müssen wir ein bißchen zurückgreifen und uns an

Dinge erinnern, die schon hinter uns liegen. Um zu wis-

sen, wohin der Autobus fährt, müssen wir wissen, woher

er kommt. Wir müssen zurückkehren nach Salzburg. Und

wir müssen die Zeit zurückdrehen von 2 Uhr nachmittag

(so spät ist es jetzt) auf 8 Uhr früh. (So spät war es, als

alles begann.)


Um 8 Uhr früh an diesem Tag stand der große rote

Autobus noch auf dem Platz vor dem Festspielhaus in

Salzburg. Salzburg ist eine sehr schöne Stadt, und der

Platz vor dem Festspielhaus gehört zu einer ihrer schön-

sten Stellen. Die Sonne schien hell auf den weißen

Schnee, und der rote Autobus leuchtete ordentlich unter

ihren Strahlen. Es war ein sehr bequemer Autobus mit

vielen Fenstern und blitzenden Metallbeschlägen. In sei-

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nem Inneren sah man weiche Ledersitze zu beiden Seiten

eines Ganges, der durch den ganzen Autobus lief. Es wa-

ren sieben Sitze auf jeder Seite des Ganges, und auf je-

dem Sitz hatten zwei Fahrgäste Platz. Vorne, hinter dem

mächtigen Lenkrad, war der Sitz des Chauffeurs. Aber

um 8 Uhr früh saß der Chauffeur noch nicht auf ihm. Um

8 Uhr früh stand er neben der offenen Autobustüre und

half seinen kleinen Passagieren beim Einsteigen. Auf der

anderen Seite der Tür stand Tante Beate mit ihrem

freundlichen Gesicht und nahm den Fahrgästen das Ge-

päck ab.

Es waren 19 Fahrgäste, und ohne Ausnahme Kinder. Sie

gingen bereits in die Schule, der Jüngste unter ihnen war

sieben Jahre alt und der Älteste neun Jahre. Manche hat-

ten Rucksäcke, andere Koffer, und manche hatten beides,

Rucksack und Koffer. Sie waren alle sehr aufgeregt, und

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die Eltern, die sie bis zum Autobus gebracht hatten und

nun im Schnee herumstanden, waren mindestens ebenso

aufgeregt. Sie gaben ihren Kindern gute Ratschläge, wäh-

rend sie sich verabschiedeten, und trugen ihnen auf,

schön brav zu sein, gesund zu bleiben und Tante Beate zu

folgen.

Vorne, an der Windschutzscheibe des Autobusses, klebte

ein großer, weißer Zettel, auf dem mit großen schwarzen

Buchstaben ein langes Wort geschrieben stand:

FERIENKINDERTRANSPORT

Und das erklärt eigentlich schon eine ganze Menge.

Ein Ferienkindertransport ist eine sehr lustige Angele-

genheit. Viele von euch werden bestimmt schon so etwas

mitgemacht haben. Wenn man einmal in die Schule geht,

dann sieht das Leben anders aus. Dann kann man nicht

mehr Fußball spielen und schwimmen, in den Wald lau-

fen oder in der Sonne liegen, wann man will. Das kann

man dann nur noch in den Ferien, wenn die Schule ge-

schlossen ist.

Aber auch zu Weihnachten gibt es Ferien. Vom 23. De-

zember an, dem Tag vor dem Heiligen Abend, bis zum 7.

Januar, dem Tag nach dem Dreikönigsfest. Das sind na-

türlich ganz andere Ferien als die im Sommer! Da ist es

kalt, es schneit, und man muß sich warm anziehen. Ob-

wohl es so kalt ist, soll man doch viel im Schnee und im

Wald herumlaufen, denn das ist sehr gesund. Im Winter

wird man leichter krank, die gute klare Luft beschützt

einen dann. Und weil Kinder doch nie so richtig ins Freie

kommen, wenn sie in der Stadt wohnen, und weil man

doch will, daß sie gesund bleiben, hat man die Ferien-

transporte erfunden.

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Die Ferientransporte führen Kinder aus der Stadt aufs

Land. Dort wohnen die Kinder dann in einem Hotel oder

in einem Heim, eine Tante paßt auf sie auf, sie essen und

spielen und singen und lachen - und zuletzt kehren sie

gesund und braungebrannt und vergnügt zu ihren Eltern

zurück, und die Schule kann weitergehen!

Genauso ein Ferientransport war es, zu dem sich die 19

Kinder am 26. Dezember um 8 Uhr früh auf dem Platz

vor dem Festspielhaus in Salzburg versammelten.

Die Kinder kamen aus Schulen in Salzburg und in der

Umgebung. Sie hatten alle blasse Gesichter, aber das soll-

te bald anders werden. »In einer Woche seid ihr schwarz

wie Neger«, behauptete Tante Beate. Sie hatte schon viele

Kindertransporte geleitet, und sie erklärte den Eltern,

wohin die Fahrt ging. Die Eltern hörten so neugierig zu

wie die Kinder, die einander ab und zu von der Seite an-

sahen, so, wie man neue Freunde mustert.

»Wir fahren zuerst nach Zell am See«, sagte Tante Beate,

während Herr Wiedmann, der Chauffeur, die Rucksäcke

und Koffer auf den leergebliebenen Sitzen hinten im

Autobus verstaute. »Von Zell am See fahren wir dann in

die Berge hinauf. Und am Abend sind wir in Schruns.

Dort werden wir in einem schönen kleinen Hotel woh-

nen. Und am sechsten Januar kommen wir dann alle wie-

der zurück!«

Eine Frau mit einem mageren, blassen Jungen trat zu

Tante Beate. »Ach, bitte, liebe Tante Beate«, sagte sie,

»das ist mein Sohn, der kleine Karli. Achten Sie darauf,

daß er sich jeden Tag brav in die Sonne legt, er sieht so

schlecht aus und ist oft krank. Ich möchte, daß er sich ein-

mal richtig erholt! Gerade jetzt fühlt er sich nicht gut.«

Tante Beate sah Karli aufmerksam an. Er blickte sie

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flehend an. »Du fühlst dich nicht gut?« fragte die Tante.

»O ja!« rief der blasse Junge. »Ich fühle mich sehr gut,

Tante, wirklich!«

»In der Nacht hat er Halsschmerzen bekommen«, sagte

die Mutter.

Karli hatte Angst, daß man ihn vielleicht im letzten

Augenblick wieder nach Hause schicken würde. Er klet-

terte schnell an Tante Beate vorbei in den Autobus hinein

und hielt sich an einem Fensterrahmen fest.

»Ich habe gar keine Schmerzen mehr!« rief er. »Ich bin

ganz gesund!«

Tante Beate betrachtete ihn nachdenklich.

»Zeig mir einmal deine Zunge«, sagte sie. Karli zeigte sie

widerwillig. Die Zunge war weiß.

»Na, sehr hübsch sieht sie nicht aus«, meinte Tante Beate.

»Wir haben oben in Schruns einen Onkel Doktor, der

wird dich gleich untersuchen, wenn wir ankommen.«

Sie gab Karli einen liebevollen Klaps, und er strahlte sie

an. Sollte der Onkel Doktor ihn ruhig untersuchen -

wenn er nur mitfahren durfte! Er ging durch den Mittel-

gang des Autobusses nach hinten, wo bereits ein paar

Kinder saßen. Neben einem sehr dicken Jungen war noch

ein Platz frei. Der dicke Junge trug eine Brille, und auf

seinen Knien lag ein Paket mit Wurstsemmeln und Äp-

feln. Der dicke Junge hatte den Mund voll und kaute ver-

sunken. Er war so sehr mit Essen beschäftigt, daß er

zuerst gar nicht hörte, daß Karli ihn etwas fragte. Karli

mußte noch einmal fragen: »Darf ich mich zu dir setzen?«

Der dicke Junge sah auf und nickte.

»Mhm«, sagte er dann. Mehr konnte er nicht sagen, er

hatte den Mund zu voll. Karli betrachtete ihn interessiert.

»Ich heiße Karli«, erklärte er höflich.

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»Mhm«, sagte der dicke Junge und kaute wie verrückt. Es

schien ihn nicht sehr zu interessieren, wie Karli hieß. Er

biß ein Riesenstück von seiner Semmel ab, schob das

offene Paket zu Karli und murmelte dazu etwas, was so

klang wie: »Hi-u-au?« Es klang so, weil er vor lauter

Futtern nicht richtig sprechen konnte. Sonst hätte es ge-

klungen: »Willst du auch?«

Karli verstand ihn auch so. Er schüttelte den Kopf und

erwiderte: »Danke, nein. Ich habe gerade gefrühstückt.«

Der dicke Junge schluckte zum erstenmal alles, was er im

Mund hatte, hinunter und sah ihn verblüfft an.

»Ich auch«, sagte er, jetzt mit klarer Stimme. »Aber ich

habe schon wieder Hunger. Ich habe überhaupt immer

Hunger.«

»Ich nicht«, sagte Karli.

»Das merkt man«, meinte der Dicke. »Du siehst auch so

aus! Schau mich an! Essen macht stark. Da!« Er bog den

linken Arm ab und ließ Karli seine Muskeln fühlen. Er

hatte sehr starke Muskeln.

»Bum«, sagte Karli beeindruckt.

»Könntest du auch haben, wenn du mehr essen wür-

dest!« sagte der Dicke. »Im übrigen heiße ich Martin«,

fügte er hinzu. Er gab Karli die Hand. »Ich bin der dick-

ste Junge in meiner Klasse«, erklärte er stolz.

»Das glaube ich«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Karli

drehte sich um. Hinter ihnen saßen ein Junge und ein

Mädchen. Der Junge hatte blonde Haare, die wild in die

Luft standen, als wären sie noch niemals gekämmt wor-

den, und das Mädchen war klein, zart und sah den gro-

ßen rotbackigen Jungen bewundernd an. Es war der Jun-

ge, der gesprochen hatte.

»Was glaubst du?« fragte Martin, ein wenig verärgert.

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»Daß du der Dickste bist.«

»Der Dickste und der Stärkste«, erklärte Martin mit Be-

tonung.

Der blonde Junge lachte. Es war ein ungläubiges und her-

ausforderndes Lachen, und Martin wurde ein wenig röter

im Gesicht. Karli fand, daß es eigentlich sehr ungezogen

von dem blonden Jungen war, sich in ihr Gespräch einzu-

mischen und den dicken Martin auszulachen, aber der

blonde Junge sah aus, als ob er sich immer in die Gesprä-

che anderer Leute einmischen würde. Es schien ihm viel

Spaß zu machen, sich einzumischen. Das kleine, zarte

Mädchen an seiner Seite betrachtete ihn hingerissen.

»Daß ich nicht lache!« sagte der Blonde. »Du und der

Stärkste!«

»Du brauchst es ja nicht zu glauben«, meinte Martin be-

leidigt.

»Tu ich auch nicht«, sagte der Blonde. »Ich wette mit dir,

daß ich mit einer Hand stärker bin.«

»Lächerlich«, sagte der dicke Martin und grunzte verächt-

lich.

Der Blonde stieß ihn in den Rücken, nur so zum Spaß,

aber Martin zuckte zusammen.

»Wir können es ja einmal untersuchen«, sagte der Blon-

de. »Ich heiße Helmut, und ich wette mit dir, daß ich dich

in zwei Minuten auf den Rücken lege.«

»Ich wette nie«, erklärte Martin. Er schien nicht nur dick

und stark, sondern auch sehr diplomatisch zu sein.

»Weil du dich nicht traust«, sagte Helmut triumphierend.

»Nein«, sagte Martin, »weil ich Wetten nicht mag!«

»Feigling!« sagte Helmut herausfordernd.

»Ha!« sagte Martin und biß in seinen Apfel. Karli lachte

ein bißchen aus Nervosität. Beim Lachen tat ihm der Hals

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weh. Er hörte schnell zu lachen auf, denn es war ihm un-

angenehm, an seinen Hals erinnert zu werden. Die Mut-

ter des kleinen, zarten Mädchens trat an das Autofenster.

»Na, Hanna«, sagte sie, »hast du schon Freunde gefun-

den?«

»O ja«, erwiderte die kleine Hanna und blickte scheu und

bewundernd zu Helmut hinüber. Ihre Mutter wandte sich

gleichfalls an den blonden Jungen.

»Paß ein wenig auf Hanna auf, bitte, ja?« fragte sie. »Sie

ist ein bißchen ängstlich und unbeholfen und noch nie al-

lein fortgefahren.«

Helmut stand auf und verbeugte sich wie ein Erwach-

sener.

»Sie brauchen keine Angst zu haben, gnädige Frau«, sag-

te er ernst. »Hanna steht unter meinem Schutz.«

Karli blinzelte. Helmut sagte wirklich >gnädige Frau<

und >unter meinem Schutz

sen, und Karli wünschte, er hätte die Worte gesagt. Auch

der dicke Martin schien sehr beeindruckt zu sein. Er

schluckte hinunter, sah aus dem Fenster zu Hannas Mut-

ter hinunter und äußerte: »Unter meinem Schutz auch!«

Dabei sah er Helmut herausfordernd an. Hannas Mutter

bemerkte den Blick nicht und sagte erfreut: »Na, dann

kann ja überhaupt nichts passieren, Hanna, wenn du

zwei so starke, nette Jungen zu Freunden hast, gelt?«

Hanna nickte mit sorgenvollen Augen und sagte leise:

»Nein, hoffentlich nicht!« Sie schien sehr ängstlich zu

sein. Martin drehte sich zu ihr um und reichte ihr einen

Apfel. »Da«, sagte er. »Iß! Damit du groß und stark wirst!«

»Danke«, sagte Hanna und lächelte ihm zu. Dann biß sie

in den Apfel. Der blonde Helmut ärgerte sich. Die erste

Runde hatte eindeutig der dicke Martin gewonnen.

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Ehe er jedoch dazu kam, Hanna seinerseits einen Gefallen

zu erweisen, ereignete sich beim Eingang des Autobusses

etwas, was seine Aufmerksamkeit vollkommen gefangen-

nahm. Er stand auf und sah nach vorne. Er traute seinen

Augen nicht. Denn beim Eingang des Autobusses stand

eine kleine Menschengruppe. In der Mitte der Menschen-

gruppe stand ein kleines Mädchen. Und neben dem klei-

nen Mädchen stand ein schwarzes Schaf!

Das schwarze Schaf war so dick und wollig, daß man zu-

nächst überhaupt nicht sagen konnte, wo vorne und hin-

ten war. Man hätte ihm eine Zigarre in den Mund

stecken müssen, um es sagen zu können. Ferner stand das

schwarze Schaf sehr unglücklich und bedrängt im weißen

Schnee und schien darunter zu leiden, daß alle Leute es

anstarrten.

Die Mutter des Mädchens, welches das Schaf an einem

Strick festhielt, sprach gerade mit Tante Beate.

»Liebe Frau Beate«, sagte sie bittend, »erlauben Sie doch

ausnahmsweise, daß Lucie Josef mitnimmt!«

»Wen mitnimmt?« fragte Tante Beate verblüfft.

»Josef«, sagte die Mutter. »So heißt das Schaf.«

»Ich habe hier einen Ferienkindertransport und nicht

einen Ferienschafetransport«, sagte der Chauffeur Wied-

mann, der dazutrat, und betrachtete das schwarze Schaf,

das Josef hieß, mit Widerwillen.

»Es ist ein gutes, stilles Schaf«, sagte die Mutter. »Es

macht nichts schmutzig, und es beißt nicht.«

»Es wird ganz still in einer Ecke liegen und schlafen«,

sagte die kleine Lucie.

»Sie werden keine Scherereien mit ihm haben«, sagte die

Mutter. Tante Beate schüttelte hilflos den Kopf.

»Aber, um alles in der Welt, was sollen wir mit dem

Schaf denn in Schruns anfangen?«

»Da machen Sie sich gar keine Sorgen, Frau Beate!« rief

die Mutter. »In Schruns wird Josef vom Autobus abge-

holt. In Schruns erwartet man ihn bereits!«

»Wer erwartet ihn?« fragte Wiedmann mißtrauisch.

»Der Besitzer«, sagte Lucie.

»Wenn der Besitzer in Schruns ist, was macht das Schaf

dann in Salzburg?« fragte Wiedmann weiter. Die Sache

kam ihm sehr verdächtig vor.

»Es war bei uns nur zu Besuch«, sagte Lucie. Ihre Mutter

unterbrach sie und erklärte gleich die ganze Situation.

»Wir haben Verwandte in Schruns«, sagte sie. »Zu

Ostern brachten sie uns ein ganz kleines Lamm als Über-

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raschung.« Alle sahen den riesengroßen schwarzen und

fetten Josef an und konnten sich kaum vorstellen, daß er

einmal ein ganz kleines Lamm gewesen sein sollte. »Es

blieb bei uns und wurde immer größer«, sagte Lucies

Mutter. »Und als der Winter kam, da wuchs ihm auch

noch dieser unheimliche Pelz, und jetzt ist es soweit, daß

wir Josef unbedingt zurückschicken müssen.«

»Warum?« fragte Tante Beate.

»Warum was?«

»Warum ist es jetzt soweit, daß Sie ihn zurückschicken

müssen?«

»Unsere Wohnung ist zu klein«, sagte Lucies Mutter be-

treten. »Josef braucht zuviel Platz. Zuletzt hielt er das

ganze Kinderzimmer besetzt. Das geht doch nicht, nicht

wahr?«

Tante Beate nickte. Das ging wirklich nicht. Sie sah un-

entschlossen zu Josef hinunter. (Sie hatte inzwischen ent-

deckt, wo hinten und vorne war.) Josef erwiderte ihren

Blick gramvoll.

»Und deshalb müssen wir ihn zurückgeben«, beendete

Lucies Mutter ihren Bericht. »Wir haben unseren Ver-

wandten bereits geschrieben, sie erwarten Josef. Aber mit

der Eisenbahn kann man so ein Tier doch unmöglich al-

lein fahren lassen. Und weil doch Lucie ohnehin nach

Schruns fährt und weil es doch bestimmt keine großen

Umstände machen würde, da haben wir gedacht . . . da

haben wir gehofft . . . ich meine, wir glaubten . . .« Lucies

Mutter verwirrte sich. Sie brach plötzlich ab und sah Tan-

te Beate nur flehend an.

Tante Beate sah Herrn Wiedmann an.

Herr Wiedmann sah das schwarze Schaf an.

Das schwarze Schaf sah Tante Beate an.

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»Ja, also . . .«, sagte Tante Beate.

»Es ist gegen die Vorschrift«, sagte Herr Wiedmann.

»Andererseits«, sagte Tante Beate, »kann man das Schaf

nicht so einfach weiter in Lucies Kinderzimmer wohnen

lassen, nicht wahr?«

»Natürlich kann man das nicht«, brummte Herr Wied-

mann und zündete sich verlegen eine Zigarette an.

»Es wird Ihnen bestimmt nicht die allergeringsten

Schwierigkeiten bereiten, Frau Beate«, flehte Lucies Mut-

ter.

»Ganz bestimmt nicht!« rief Lucie wie ein Echo.

»Na, also dann schön«, sagte Tante Beate. Und Herr

Wiedmann sagte: »Meinetwegen, ich weiß von nichts!«

»Danke!« rief Lucie. Und auch ihre Mutter bedankte sich

erleichtert.

»Schon gut«, sagte Herr Wiedmann, räusperte sich und

schubste das Schaf Josef in den Autobus. »Dann wollen

wir aber endlich machen, daß wir weiterkommen!« Er

hob Lucie hoch und schob auch sie in den Autobus hinein.

Sie lehnte sich noch einmal hinaus, um von ihrer Mutter

Abschied zu nehmen, dann folgte sie Josef, der mittler-

weile weiter nach hinten getrottet war und sich im Mit-

telgang, neben dem Sitz des blonden Helmut, niederge-

lassen hatte. Lucie sah sich um. Auf der anderen Seite des

Ganges, links neben Helmut, war noch ein Platz neben

einem stillen Jungen frei, der ihr freundlich entgegensah.

Dorthin setzte sie sich.

»Guten Morgen«, sagte sie. »Ich heiße Lucie.«

»Ich heiße Thomas«, sagte ihr Nachbar und lächelte, wäh-

rend sie einander die Hand gaben.

Tante Beate kletterte in den Autobus und schloß die Tür

hinter sich. Herr Wiedmann setzte sich ans Lenkrad und

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ließ den Motor anspringen. Die Mütter drängten an die

Fenster, die Kinder standen auf, und ein allgemeines

Auf-Wiedersehen-Sagen begann. Es dauerte nicht sehr

lange. Denn Herr Wiedmann trat auf das Gaspedal, und

der große rote Autobus rollte langsam an. Er fuhr über

den Schnee des breiten Platzes einen Bogen, erreichte die

Straße und erhöhte seine Geschwindigkeit.

Die Mütter und Väter winkten mit ihren Taschentüchern.

Die 19 Kinder winkten zurück und sahen, wie die Eltern

kleiner und kleiner wurden. Bei der nächsten Straßenecke

verschwanden sie ganz. Nun würde man sie erst am 6. Ja-

nuar wiedersehen. Das große Abenteuer hatte begonnen!

Das Schaf Josef lag still auf dem Boden des Ganges und

atmete schwer.

Der dicke Martin fuhr fort, seine Schinkensemmeln zu

essen. Die kleine, zarte Hanna weinte ein bißchen in ein

kleines, zartes Taschentuch hinein, denn der Abschied

von der Mutter war ihr sehr nahegegangen.

Der blonde Helmut legte tröstend einen Arm um ihre

Schulter und sah sie ermutigend an.

Und der kleine Karli schluckte vorsichtig, um festzustel-

len, ob sein Hals noch schmerzte. Der Hals schmerzte

noch. Karli beschloß bedrückt, möglichst wenig zu

schlucken.

Der große rote Autobus erreichte die verschneite Brücke

und verschwand schnell im Gewimmel des morgendlichen

Verkehrs . . .

Eine halbe Stunde später waren sie bereits auf der Land-

straße, die nach Zell am See führte. Hier lag der Schnee

viel höher, und in der Sonne leuchtete er viel stärker als

der Schnee in der Stadt.

Am Straßenrand wanderten Telegrafenstangen vorüber,

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kleine Häuser, manchmal ein Dorf und manchmal ein tief

verschneites Stück Wald. Es war sehr warm im Inneren

des Autobusses und sehr gemütlich. Die 19 Kinder hatten

damit angefangen, Freundschaften zu schließen. Sie un-

terhielten sich miteinander, sie lachten und plauderten,

und Tante Beate wanderte hin und her und sah zu, daß

alles in Ordnung war und sich alle zufrieden fühlten.

Die kleine Hanna hatte noch immer nicht ihre Ängstlich-

keit abgelegt. Sie saß in die Ecke ihres Sitzes beim Fen-

ster gepreßt und sah erschrocken hinaus ins Freie, wo die

Landschaft auf eine erschreckend heftige Weise vorüber-

sauste.

»Wir fahren sehr schnell, nicht?« fragte sie Helmut.

»Das ist gar nichts«, sagte er beruhigend und herablas-

send. »Höchstens fünfzig Kilometer!«

»Wenn wir auf Glatteis kommen und der Autobus zu

rutschen beginnt, dann kann ein schreckliches Unglück

geschehen bei dem Tempo!«

»Aber wo!« sagte Helmut.

»Doch«, sagte Hanna, »ich habe schon in der Zeitung von

solchen Sachen gelesen!«

»Unsinn«, sagte Helmut. »Ich kann selbst Auto fahren,

und ich würde auf dieser Straße ruhig hundert Kilometer

riskieren, ohne daß du deshalb Angst haben müßtest!«

»Na, na«, sagte Martin, der zugehört hatte.

»Hast du etwas gesagt?« erkundigte sich Helmut.

»Ich habe >na, na< gesagt«, erklärte der dicke Martin.

»Na, na, was?«

»Ich glaube nicht, daß du einen Autobus lenken kannst.

Und schon gar nicht im Hundert-Kilometer-Tempo.«

»Wollen wir wetten?«

»Ich wette nie«, sagte Martin. Er sagte es bereits zum

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zweitenmal, und deshalb ärgerte er damit den blonden

Helmut doppelt.

»Ich werde es euch beweisen!« rief dieser aufgebracht.

»Bitte nicht«, sagte Hanna. »Ich möchte nicht, daß du es

uns beweist. Ich hätte viel zuviel Angst.«

»Da hast du es«, sagte der dicke Martin. Er drehte sich

um und starrte Helmut an. »Du nimmst überhaupt den

Mund zu voll«, meinte er.

»Ach was!« rief dieser. Er drehte sich ärgerlich zur Seite.

Es hatte ihn gekränkt, daß Hanna sagte, sie hätte viel zu-

viel Angst, wenn er den Autobus lenken würde. Sie war

eben auch nur ein feiges, dummes Mädchen. Mit Mäd-

chen sollte man überhaupt gar nicht erst anfangen, dachte

Helmut wütend. Er sah vor sich hin auf den Boden, und

sein Blick fiel dabei auf das Schaf Josef, das friedlich vor

seinen Füßen lag. Helmut mußte seinen Zorn irgendwie

loswerden. Das Schaf schien ihm ein herrliches Mittel zu

diesem Zweck.

Er blickte Lucie an.

»Du«, sagte er, »dein Schaf stinkt aber scheußlich!«

Lucie sah ihn entgeistert an.

»Das ist nicht wahr!« rief sie. »Mein Schaf stinkt nicht!«

»Doch«, sagte Helmut.

»Nein!«

»Doch!«

»Nein!!!« Lucie bekam einen roten Kopf.

»Es stinkt«, sagte Helmut nachdrücklich, und um zu zei-

gen, wie nachdrücklich er es meinte, gab er dem Schaf Jo-

sef einen kleinen Tritt. Das Schaf zuckte zusammen. Im

allgemeinen heißt es immer, Schafe haben keinen Ver-

stand. Im Falle des Schafes Josef lagen die Dinge anders.

Das Schaf Josef war ein außergewöhnlich kluges und auf-

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gewecktes Schaf. Es hatte sehr gut bemerkt, daß Helmut

es nicht leiden konnte, und der Tritt, den er ihm gab,

kam Josef gar nicht so unerwartet. Weil er ihm nicht un-

erwartet kam, richtete Josef auch sofort den Kopf auf

und schnappte nach Helmuts Bein. Er schnappte nicht

sehr fest, und er zwickte den Jungen eigentlich auch nur

in die Haut, ohne ihn richtig zu beißen - aber Helmut er-

hob augenblicklich ein riesengroßes Geschrei.

»Tante Beate! Tante Beate!« rief er laut. Sie kam sofort

zu ihm geeilt.

»Was ist denn los?« fragte sie aufgeregt.

»Lucies Schaf hat mich gebissen«, rief Helmut weinerlich

und untersuchte sein Bein.

Martin betrachtete ihn ironisch.

»Ich verstehe nicht, wie man so wehleidig sein kann«,

24

meinte er, und seine Augen hinter der Hornbrille blinzel-

ten erfreut Hanna zu.

»Du weißt ja nicht, wie weh es tut!« rief Helmut. »Ich

sitze hier friedlich und ruhig, und auf einmal beißt dieses

Biest mich ins Bein!«

Tante Beate hatte mittlerweile den >Biß< untersucht und

richtete sich jetzt lächelnd wieder auf.

»Na«, sagte sie, »so arg scheint es ja nicht gewesen zu

sein.«

»Es tut aber schließlich weh!« behauptete Helmut.

»Josef kann nichts dafür«, sagte Lucie aufgeregt.

»O ja, er kann!«

»Nein! Du hast ihn getreten, und da hat er nach dir ge-

schnappt!« rief Lucie, den Tränen nahe.

»Das stimmt nicht!« rief Helmut.

»Oh!« rief Lucie entsetzt. »Wie kannst du so lügen?«

»Du lügst selber«, sagte Helmut trotzig.

»Lucie lügt nicht«, sagte in diesem Augenblick der Junge,

der Thomas hieß und an Lucies Seite saß. Er hatte eine

ruhige, angenehme Stimme, und sie klang so, als ob Tho-

mas sich immer zuerst gut überlegte, was er dann sagte.

»Lucie lügt nicht! Du hast das Schaf getreten. Daraufhin

hat es nach dir geschnappt.«

Das Schaf selbst lag wieder wie ein Bettvorleger auf dem

Boden und rührte sich nicht. Für das Schaf war der Fall

erledigt. Für Helmut war er es noch nicht.

»Ich habe es nicht getreten, ich habe es nur geschubst!«

sagte er bockig.

»Warum hast du es geschubst?« fragte Tante Beate.

»Weil es stinkt«, sagte Helmut.

Das war eine ganz verkehrte Antwort, denn nun kniete

Tante Beate nieder und roch lange und gewissenhaft an

25

Josef. Danach richtete sie sich wieder auf und sagte kopf-

schüttelnd: »Es stinkt nichtl«

»Doch stinkt es!« sagte Helmut. »Für mich doch!«

Tante Beate betrachtete ihn längere Zeit. Er erwiderte ih-

ren Blick, aber zuletzt sah er zur Seite.

»Mein Lieber«, sagte Tante Beate schließlich, »wenn du

findest, daß Josef unangenehm riecht.. .«

»Ja, das finde ich!« rief er.

» . . . dann gibt es nur eine Möglichkeit«, fuhr sie fort.

»Du wirst dich ein bißchen nach hinten zu den Koffern

setzen. So lange, bis du findest, daß die Luft dort auch

nicht besser ist als hier.« Sie nahm ihn an der Hand und

führte ihn sanft nach hinten.

»Bitte«, sagte Helmut. Er war wütend. Er hörte, wie je-

mand lachte. Und dann mußte er noch sehen, wie Martin

plötzlich aufstand und sich neben die kleine Hanna setz-

te. Das hatte er notwendig gehabt!

»Wenn du lieber wieder nach vorne zu den anderen kom-

men willst, mußt du es nur sagen«, meinte Tante Beate.

Und dann ließ sie ihn allein.

Helmut saß zwischen den Koffern und Rucksäcken und

sah böse zu, wie die Kinder im Autobus lachten und

plauderten. Hanna unterhielt sich mit dem dicken Martin

und Lucie mit Thomas. Und Tante Beate hatte sich zu

Karli gesetzt.

Helmut dachte nach. Am liebsten wäre er aufgestanden

und wieder nach vorne gegangen und hätte gesagt, daß es

ihm leid tat, was er angestellt hatte. Aber dann hätten

die anderen ihn vielleicht für einen Feigling gehalten! Sie

hätten gedacht, er wäre aus Angst vor Tante Beate zu-

rückgekommen! Nein, das wollte er auch nicht! Und so

blieb er zwischen den Koffern und Rucksäcken sitzen,

26

während die anderen sich vergnügt unterhielten und

draußen die Landschaft sich vorüberdrehte wie auf einem

Plattenspieler.

Je länger er so dasaß, um so wütender wurde er auf das

Schaf Josef. Das Schaf war an allem schuld. Mit dem

Schaf hatte alles angefangen! Er würde dem Schaf schon

noch eins auswischen! Er dachte lange darüber nach, wie

er das wohl anstellen konnte, aber es fiel ihm nichts

Brauchbares ein. Erst gegen Mittag, als der Autobus

hielt, damit die Kinder ein bißchen herumlaufen und et-

was essen konnten, hatte er dann eine Idee. Es war weit

hinter Zell am See, auf der Straße nach Bergstadt.

Der Autobus hielt am Rand der weißen Landstraße zwi-

schen den Feldern. Die Sonne schien, es war sehr warm,

und hinter den Feldern sah man den verschneiten Rand

eines dichten Waldes. Tante Beate kletterte zuerst ins

Freie und half dann den Kindern heraus. Der Chauffeur,

Herr Wiedmann, zündete sich eine Pfeife an. Und Tante

Beate ging mit den Kindern ein Stück die Straße hinun-

ter, wo sie sich alle auf Decken in den Schnee kauerten,

aus ihren Köfferchen und Täschchen Butterbrote und

Obst nahmen und zu essen begannen.

Helmut ging nicht mit. Er saß bockig im Autobus, und als

Tante Beate ihn aufforderte mitzukommen, sagte er nein.

Das Schaf lag noch immer vor ihm. Lucie hatte Herrn

Wiedmann gebeten, die Autotür besonders gut zu schlie-

ßen, damit Josef nicht ausreißen konnte, und als Helmut

nun sah, wie sie alle mit ihrem Mittagessen beschäftigt

waren, da beschloß er, es ihnen heimzuzahlen.

Heimlich und leise, still und sehr vorsichtig schlich er zum

Ausgang und öffnete die Tür. Dann schlich er zurück und

gab dem Schaf noch einen Schubs. Das Schaf spürte die

27

kalte Luft von draußen, erhob sich und trottete nach vor-

ne, dann sprang es ins Freie. Helmut lachte.

Das Schaf stand einen Augenblick reglos im Schnee und

sah sich um. Gleich darauf, hatte Lucie es erblickt.

»Josef!« rief sie entsetzt.

Josef hörte den Ruf und setzte sich in Bewegung. Er lief

in der entgegengesetzten Richtung davon und in die ver-

schneiten Felder hinein. Weil er so dick war, sah er aus

wie eine große, dunkle Kugel.

»Josef!« schrie Lucie verzweifelt, während auch die ande-

ren Kinder aufsprangen. »Oh, Tante Beate, Helmut hat

Josef ausgelassen!« Sie begannen alle, dem Schaf nachzu-

laufen, um es wieder einzufangen. Alle, bis auf Herrn

Wiedmann und auf Helmut.

Die beiden blieben beim Autobus zurück.

Die anderen rannten über den verschneiten Acker dem

dicken Schaf nach, das schon beinahe beim Wald war.

Tante Beate holte Lucie ein, die bitterlich weinte, und

nahm sie an der Hand.

»Sei ruhig, Lucie«, sagte sie. »Wir werden dein Schaf

schon fangen!«

»Oh, Tante Beate«, rief Lucie aufschluchzend, »warum

hat Helmut die Tür aufgemacht? Ich habe ihm gar nichts

getan, und er hat die Tür aufgemacht und Josef hinausge-

stoßen! Warum, Tante Beate, warum?«

So, seht ihr, das haben wir schon einmal gelesen.

Aber damals wußten wir noch nicht, wie alles zusammen-

hing. Wie der rote Autobus mit den 19 Kindern auf die

Landstraße kam, wohin sie fuhren, woher sie kamen und

welche Bewandtnis es mit Helmut und dem schwarzen

Schaf hatte.

Jetzt wissen wir es. Weil wir die Zeit zurückgedreht ha-

28

ben und noch einmal nach Salzburg zurückgekehrt sind,

wo alles begann. Und nun können wir unsere Geschichte

in aller Ruhe weitererzählen. Wir werden dort anfangen,

wo wir aufgehört haben.

Dort, wo die 18 Kinder und Tante Beate am Waldrand

standen und mit Bitten und Locken versuchten, das Schaf

Josef zu bewegen, zu ihnen zurückzukehren.

»Josef!« rief Lucie.

»Josef!« riefen die 17 anderen Kinder.

»Josef!« rief Tante Beate.

Aber Josef kam nicht.

Er saß im Dickicht des verschneiten Waldes, sah ver-

schreckt und mißtrauisch auf das Feld hinaus, und wenn

eines der Kinder ihm näher kam, zog er sich sofort weiter

in den Wald zurück. Es war inzwischen noch wärmer ge-

worden, und von dem steilen Berghang, der dem Wald

auf der anderen Seite der Straße gegenüberlag, wehte ein

föhniger Wind.

Thomas hatte sich still und nachdenklich von den ande-

ren entfernt. Er gings den Rand des Ackers entlang und

war bald allein. Er hatte die Absicht, einen großen Bogen

um das Schaf zu beschreiben und sich möglichst unbemerkt

von der anderen Seite an Josef heranzuarbeiten. Wenn er

ihn so aufscheuchte, dann war zu hoffen, daß Josef den

Wald verlassen und auf das Feld hinauslaufen würde, wo

die anderen Kinder ihn leichter fangen konnten.

Als Thomas fand, daß er weit genug von den Kindern

entfernt war, begann er, in den Wald hineinzugehen. Das

war gar nicht so einfach, er blieb immer wieder an Ästen

29

und Wurzeln hängen und fühlte, wie seine Schuhe

schwer vom Schnee und naß wurden. Plötzlich erblickte

er zwischen den Bäumen auf einer kleinen Lichtung eine

Holzkrippe. Die Krippe sah aus wie ein großer Wasch-

trog mit einem Dach. Thomas trat näher. Sie war mit

Futter für Rehe und andere Tiere des Waldes gefüllt. In

einem Nebenfach sah er ein weißes, glänzendes Pulver,

das er zunächst für Schnee hielt.

Aber wie kam der Schnee in die Krippe? Das Dach mußte

ihn doch abhalten!

Thomas überlegte hin und her, dann siegte seine Neugier,

und er versuchte, indem er einen Finger mit einem Körn-

chen des weißen Pulvers in den Mund steckte, festzustel-

len, wonach es schmeckte. Dann nickte er zufrieden.

Das Pulver schmeckte genauso wie Salz. Und im nächsten

Augenblick hatte Thomas eine großartige Idee.

Die anderen standen noch immer am Waldrand und ver-

suchten, Josef aus seinem Versteck zu locken, als Tho-

mas, ziemlich außer Atem, angerannt kam.

»Tante Beate!« rief er. »Tante Beate!«

Sie sah ihm neugierig entgegen.

»Was hast du denn da?« fragte sie erstaunt, und auch die

anderen Kinder kamen näher und starrten Thomas an,

der seinen Mantel ausgezogen und ihn wie ein Bündel

über den Rücken geworfen hatte. Er trug etwas in seinem

Mantel, das konnte man deutlich sehen, und dieses Etwas

schien sehr schwer zu sein.

»Ja, was hast du?« riefen ein paar Kinder. Thomas ließ das

Mantelbündel in den Schnee fallen und rang nach Luft.

30

»Salz!« sagte er dann stolz.

»Was?« riefen ein paar Stimmen.

Thomas nickte zufrieden.

»Jawohl«, sagte er, »Salz!« Und er berichtete rasch, wo er

es gefunden hatte. Die Kinder sahen ihn verständnislos

an.

»Ja, aber was willst du denn mit dem Salz anfangen?«

fragte schließlich Lucie und wischte sich die verweinten

Augen trocken.

»Mit dem Salz werden wir dein Schaf fangen«, erklärte

Thomas. Danach war es einen Augenblick ganz still, so

verblüfft waren alle.

»Mit dem Salz?«

»Ja, mit dem Salz!« sagte Thomas und sah Tante Beate

an. Diese lächelte plötzlich, legte ihm eine Hand auf die

Schulter und sagte freundlich: »Du bist ein sehr kluger

Junge, Thomas! Ich gratuliere dir zu deinem Einfall!«

Der dicke Martin drängte sich vor.

»Ich verstehe kein Wort«, behauptete er.

»Paßt einmal auf«, sagte Tante Beate. »Was glaubt ihr

wohl, warum in der Futterkrippe für die Tiere Salz war?«

»Wahrscheinlich, weil die Tiere Salz gern haben«, sagte

die schüchterne kleine Hanna.

»Sehr richtig!« Tante Beate nickte. »Die Tiere haben sehr

gern Salz, und um ihnen eine Freude zu machen, haben es

die Menschen in die Krippe gestreut.«

»Das stimmt!« rief ein Junge. »Wir hatten einmal eine

Ziege, die war ganz verrückt nach Salz!«

»Außerdem haben wir es in der Schule gelernt«, sagte

Thomas. Lucie sah ihn staunend an.

»Glaubst du, daß Josef auch gern Salz hat?«

»Alle Schafe haben gern Salz«, erklärte er. »Und da habe

ich mir gedacht: Wenn wir das Salz in den Schnee streu-

en, dann wird Josef aus dem Wald herauskommen und

die Spur entlang lecken. Und wenn wir das Salz so streu-

en, daß die Spur bis zum Autobus zurückführt...«

». . . dann wird er in den Autobus zurückklettern!« rief

Lucie und klatschte in die Hände.

Die Kinder sahen Thomas ehrfurchtsvoll an.

Nur der dicke Martin konnte es sich nicht verkneifen, zu

Hanna zu sagen: »Wenn ich heute schon mehr gegessen

hätte, wäre ich selber auf die Idee gekommen!«

Darüber mußten die anderen lachen, und Martin lachte

zuletzt mit. Dann sagte Tante Beate: »Also paßt auf: Wir

gehen jetzt alle zum Autobus zurück und verstecken uns

auf seiner anderen Seite, damit das Schaf uns nicht sieht.

Weil Thomas den Einfall mit dem Salz gehabt hat, glau-

be ich, daß wir es ihn auch streuen lassen werden, nicht

wahr?«

Die Kinder nickten zustimmend.

32

»Und wenn Josef im Autobus ist, dann werfen wir ein-

fach die Tür hinter ihm zu!« rief ein Mädchen.

»Und wenn wir die Tür zugeworfen haben, dann werde

ich dem Helmut eine kleben!« versprach Martin, der sich

bemühte, auch etwas Hilfreiches zu tun.

»Nein«, sagte Tante Beate. »Das wirst du nicht. Helmut

wird sich bei Lucie entschuldigen, und dann werden wir

nicht mehr von der Sache reden!« Sie nahm ein kleines

Mädchen an der Hand, und alle mit Ausnahme von Tho-

mas gingen schnell durch den Schnee zum Autobus zu-

rück.

»Schade«, sagte der dicke Martin unterwegs.

»Was ist schade?« fragte Hanna, die an seiner Seite ging.

»Schade, daß er sich entschuldigen muß«, sagte Martin.

»Ich hätte ihm gerne eine geklebt.« Er seufzte. »Na«, sag-

te er, »aufgeschoben ist nicht aufgehoben!«

Als sie den Autobus erreichten, erklärte Tante Beate Herrn

Wiedmann, was sie vorhatten, und danach versteckten

sich alle auf der anderen Seite des Wagens. Sogar Helmut

versteckte sich. Er versteckte sich hinten beim Auspuff. Er

hatte ein sehr schlechtes Gewissen.

Unter dem Autobus durch sahen nun 18 Kinder, Tante

Beate und Herr Wiedmann gespannt hinüber zum Wald-

rand, wo Thomas damit begonnen hatte, Salz in den

Schnee zu streuen. Er streute es nicht in einer ununter-

brochenen Spur, sondern in Abständen, damit das Schaf

sich an so viel Salz nicht den Magen verdarb und viel-

leicht mitten auf dem Acker genug bekam.

In seinem Gebüsch saß Josef und sah ihm mißtrauisch zu.

Er bemerkte, daß der Junge vor ihm immer wieder etwas

Weißes, Glitzerndes in den Schnee warf, und er wurde

neugierig. Ein paar Schritte können nicht schaden, dachte

33

Josef. Es war ja weit und breit kein Mensch zu sehen,

warum sollte er es nicht riskieren? Und so kam er

schließlich aus dem Dickicht etwas heraus und schnupper-

te an der Stelle, wo die Salzspur begann.

Drüben hinter dem Autobus hielten die Kinder den Atem

an.

»Jetzt!« rief Lucie.

»Pssst!« machten die anderen, und sie schwieg er-

schrocken.

Thomas hatte die Spur bis zum Eingang des Autobusses

gestreut und kam nun zu ihnen. Auch er sah gespannt

zum Waldrand hinüber. Dort hatte das Schaf inzwischen

die Nase in das Salz gesteckt. Mit einem sehr verwunder-

ten Gesichtsausdruck sah es auf. Dann leckte es seine

Nase ab. Und dann grunzte es laut vor Vergnügen. Das

war ja seine Lieblingsspeise!

Josef leckte den Schnee ab, so schnell es ging. Bald kam

verdorrtes Gras zum Vorschein. Aber Josef hatte einmal

Salz geschmeckt, und mit seiner Seelenruhe war es vor-

über! Laut grunzend und aufgeregt marschierte er aus

dem Wald heraus auf den Acker und machte sich über

den nächsten Salzfleck her.

Beim Autobus nickte Thomas befriedigt.

»Allerhand«, sagte Herr Wiedmann und klopfte ihm an-

erkennend auf die Schulter. (Um dieses Schulterklopfen

beneidete ihn Martin brennend.) Ein paar von den Kin-

dern beleckten ihre eigenen Lippen, als wären sie selber

Schafe. Aber das taten sie nur vor Aufregung.

Das Schaf leckte sich Meter um Meter näher. Einmal

schien es mitten auf dem Acker plötzlich genug zu haben,

und den Kindern stand das Herz beinahe still. Aber dann

besann sich Josef und leckte weiter. Nach einer Viertel-

stunde war er bis auf ein paar Meter an den Autobus

herangekommen. Herr Wiedmann erhob sich geräuschlos

und schlich um die Motorhaube herum. Und als in der

einundzwanzigsten Minute das Schaf direkt unter der

offenen Autotür leckte, da stürzte der Chauffeur sich nach

vorne, packte es am Fell und stieß es mit einem trium-

phierenden Aufschrei in das Auto hinein, worauf er hin-

ter ihm donnernd die Tür zuwarf.

»Hurra!« riefen die Kinder. Und alle drängten nach vor-

ne, um Josef zu sehen, der mit einem sehr dummen Ge-

sichtsausdruck im Mittelgang saß und den Kopf schüttelte.

Lucie lief zu Thomas und bedankte sich bei ihm.

»Bitte«, sagte dieser, »es ist gerne geschehen!«

Gerade als Lucie ihn wieder verlassen und zu Josef gehen

wollte, klopfte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte

sich um. Hinter ihr stand Helmut.

»Ja?« sagte Lucie.

»Es tut mir leid, was ich getan habe«, sagte Helmut und

bekam einen roten Kopf dabei. »Bitte, verzeih mir!«

Lucie öffnete den Mund, um »Aber natürlich!« zu sagen.

Doch sie kam nicht mehr dazu. Denn in diesem Augen-

blick geschah etwas Furchtbares.

Zunächst donnerte es laut.

Das war nun eigentlich etwas ganz Lächerliches, denn zu

Weihnachten hat wohl noch niemand ein Gewitter erlebt!

Die Kinder glaubten deshalb auch zuerst, sie hätten nicht

recht gehört, und sahen verwirrt zu Tante Beate. Aber

das Donnern hörte nicht auf! Im Gegenteil.

36

Es wurde lauter und lauter, und bald darauf hätte man

schreien müssen, um sich noch verständigen zu können.

Gleichzeitig mit dem Donnern wurde es dunkel, so, als

ob es plötzlich Nacht werden wollte. Dazu kam ein hefti-

ger Wind auf, der um den Autobus heulte. Die Kinder

rannten zu Tante Beate und klammerten sich an sie. Han-

na weinte laut, und der dicke Martin kroch blitzschnell

unter den Autobus. Dabei sah er zu dem steilen Hang

hinüber und schrie auf.

»Dort!« brüllte er. Dann verbarg er den Kopf im Schnee.

Die anderen sahen alle in die Richtung, in die er gewie-

sen hatte. Und dann stand ihnen beinahe das Herz still.

Über den Steilhang herunter schoß eine riesige dunkle

Masse. Die Masse war so groß wie ein Haus, nein, so

groß wie zehn Häuser, so groß wie fünfzig Häuser, sie

riß Bäume und Felsen mit sich fort!

Das Donnern war so laut geworden, daß man nicht mehr

verstehen konnte, was Tante Beate schrie. Die Kinder

warfen sich in den Schnee. Der Sturmwind preßte sie zu

Boden. Die dunkle Masse raste weiter unten ins Tal, und

der Erdboden zitterte. Vom Hang herunter raste ebenfalls

eine dunkle Masse, wenn auch kleiner, nach der anderen

Seite des Berges, so daß der Autobus zwischen den bei-

den lag.

Die Luft war erfüllt von Pulverschnee. Steine, Wurzeln,

Äste flogen durch die Gegend. Es wurde ganz dunkel, der

Autobus zitterte, ein Fenster zerbrach klirrend, und die

Kinder preßten sich reglos in den Schnee. Sie konnten

nicht denken. Sie konnten nicht einmal weinen.

Das Donnern wurde überlaut, dann riß es plötzlich ab.

Es war wieder totenstill. Zwei Lawinen waren zu Tal ge-

gangen.

37

Das zweite Kapitel

Wir sind noch einmal davongekommen - Was ist eigentlich eine

Lawine? - Ein Unglück kommt selten allein - Karli liegt ohnmächtig im Schnee - Die Krankheit mit dem schwierigen Namen - Man darf

nie die Nerven verlieren - Es gibt keinen Ausweg - Karli muß un-

bedingt ins Krankenhaus - Die Kinder stimmen ab, und Agathe

leiht ihren neuen Schlitten - Herr Wiedemann macht sich auf einen

schweren Weg - Vielleicht müssen wir hier übernachten? - Es geht

nur, wenn einer dem anderen hilft - Der dicke Martin kommt in

eine entsetzliche Situation.

Zwei Minuten später war alles vorbei.

Die Sonne schien wieder, der Schnee glänzte hell, und

drüben im Wald piepsten aufgeregt ein paar unsichtbare

Vögel. Die Kinder, die sich hinter dem Autobus verbor-

gen hatten, erhoben sich langsam. Der erste, der seine

Sprache wiederfand, war der Chauffeur Wiedmann. Herr

Wiedmann wischte sich den Schweiß von der totenblei-

chen Stirn und sagte mit heiserer Stimme: »Herrgott, das

war aber knapp!«

So als ob dieser Ausspruch einen Bann gebrochen hätte,

begannen die Kinder nun durcheinanderzureden. Ein paar

Mädchen, unter ihnen Hanna, brachen in Tränen aus und

rannten zu Tante Beate. Auch zwei Jungen waren unter

ihnen. Sie merkten erst jetzt, da schon alles vorüber war,

so richtig, wie sehr ihnen der Schreck in die Glieder ge-

38

fahren war. Herr Wiedmann gab Tante Beate einen kur-

zen Blick und ging dann mit schnellen Schritten die Land-

straße hinunter, um nachzusehen, was geschehen war,

während die junge Frau sich bemühte, die Kinder zu be-

ruhigen.

»Ihr braucht keine Angst mehr zu haben!« rief sie. »Jetzt

ist schon wieder alles vorbei! Jetzt ist schon wieder alles

gut!«

Der dicke Martin lag noch immer unter dem Autobus. Er

traute dem Frieden nicht. Nun sah er vorsichtig zu Tante

Beate empor, schob seine verrutschte Brille zurecht und

fragte aufgeregt: »Was war denn das eigentlich?«

»Zwei Lawinen«, sagte Tante Beate.

Die Kinder kamen näher, sogar Martin kroch aus seinem

Versteck hervor, nachdem er noch einen vorsichtigen Blick

auf den Steilhang geworfen hatte.

»Was ist eine Lawine?« fragte ein Junge.

»Stellt euch einmal vor«, sagte Tante Beate, »hoch oben

in den Bergen beginnt ein kleiner Stein bergab zu rollen.

Oder ein bißchen Schnee. Aus dem Schnee wird ein

Schneeball, und aus dem Schneeball wird bald eine große

Schneemasse, weil der kleine Ball doch immer mehr

Schnee mit sich nimmt beim Talwärtsrollen. Je größer die

Masse wird, um so schneller rutscht sie. Bald ist sie so

groß wie ein Mensch, dann so groß wie ein Autobus,

dann so groß wie ein Haus - und zuletzt ist sie so groß,

wie ihr es eben gesehen habt. Dann nennt man das eine

Lawine. Eine Lawine kann nichts mehr aufhalten. Eine

Lawine reißt Bäume und Felsen mit und . . .«

Sie konnte nicht weitersprechen, denn in ihren Satz hin-

ein begann Hanna neuerlich laut zu schluchzen.

»Was hast du denn?« Tante Beate sah sie erschrocken an.

39

»Angst!« rief Hanna und weinte bitterlich. »Was ist,

wenn eine neue Lawine den Berg herunterkommt und ge-

rade hierher zu uns?«

»Es wird keine neue Lawine mehr kommen«, sagte Tante

Beate. (Aber sie sah dabei ein bißchen bedrückt zu dem

Berghang empor.)

»Und wenn sie doch kommt?«

»Sie wird nicht kommen!«

»Ja, das hast du schon einmal gesagt, Tante!« rief ein

Junge. »Wenn sie aber trotzdem kommt?«

Die Kinder wurden wieder unruhig. Jetzt hatten die mei-

sten von ihnen Angst.

»Rede keinen Unsinn!« sagte Thomas laut zu dem Jun-

gen, der zuletzt gesprochen hatte. »Wir werden ja nicht

hierbleiben, sondern weiterfahren!«

In diesem Augenblick sagte eine Stimme hinter ihm:

»Nein, das werden wir leider nicht.«

Alle drehten sich um. Herr Wiedmann war zurückgekom-

men. Er atmete schwer, er schien gelaufen zu sein.

»Warum nicht?« fragte Tante Beate.

»Weil die Straße versperrt ist«, sagte Herr Wiedmann.

»Die Lawine hat sie verschüttet, der Schnee liegt meter-

hoch. Es hat gar keinen Sinn, es erst zu versuchen, wir

kommen nie durch.«

»Dann müssen wir zurückfahren!« sagte Tante Beate.

Herr Wiedmann nickte.

»Jawohl«, sagte er, »das müssen wir. Und zwar schnell,

verehrte Herrschaften!«

Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Sie rann-

ten zum Eingang des Autobusses und kletterten hinein.

Das Schaf Josef hatte sich hinten bei den Rucksäcken und

Koffern verkrochen und blinzelte ihnen nervös entgegen.

40

Es war auch sehr mitgenommen. Außerdem hatte es

Durst. Das kam von dem vielen Salz. Thomas erwischte

noch eine Handvoll Schnee, bevor er einstieg, und brachte

sie Josef, der den Schnee gierig verschlang.

»Sind alle da?« rief Tante Beate und sah sich um.

Der dicke Martin machte eben den Mund auf, um »Ja!«

zu rufen, da bemerkte er, daß der Platz neben ihm leer

war.

»Nein!« rief er laut. »Karli fehlt!«

Tante Beate zuckte zusammen.

»Wo ist er?«

41

»Ich weiß nicht!« sagte der dicke Martin und sah sich su-

chend um.

»Karli!« rief Tante Beate. »Karli, wo bist du?«

Und auch ein paar Kinder riefen Karlis Namen.

Er antwortete nicht.

Tante Beate sprang in den Schnee hinaus und lief um den

Autobus herum, um Karli zu suchen. Wo konnte er nur

sein? Was war mit ihm geschehen? Er war doch eben

noch da gewesen . . .

Als sie um den Wagen herumkam, sah sie ihn. Er lag am

anderen Ende des Autobusses im Schnee, mit dem Ge-

sicht nach unten.

»Karli!« schrie Tante Beate.

Er rührte sich nicht.

Sie rannte zu ihm, zu Tode erschrocken, und schüttelte

ihn. Die Kinder im Autobus drängten an die Fenster, ein

paar wollten wieder aussteigen.

»Sitzen bleiben!« rief Herr Wiedmann. Er rief es so dro-

hend, daß die Kinder sich tatsächlich wieder setzten.

Tante Beate schüttelte Karli. Er stöhnte ein bißchen, dann

schlug er die Augen auf und sah sie verständnislos an.

»Karli!« rief Tante Beate. »Was hast du denn? Was ist

mit dir?«

Karli machte den Mund auf, um zu sprechen. Dabei holte

er Atem. Es klang, als ob eine Lokomotive heulte, richtig

unheimlich.

»Fehlt dir etwas?«

»Durst«, sagte Karli heiser. »Ich habe Durst.«

Tante Beate richtete sich auf.

»Herr Wiedmann!« rief sie. »Ach bitte, kommen Sie doch

einmal her!« Der Chauffeur nahm eine Thermosflasche

aus einem Fach unter der Windschutzscheibe und sprang

42

ins Freie. Er rannte zu Karli und Tante Beate. Im Laufen

schraubte er schon die Flasche auf, und als er ankam,

setzte er sie dem Jungen an die Lippen. Karli trank hastig

den süßen Tee, der sich in ihr befand. Tante Beate stützte

dabei seinen Kopf.

»Du bist ja ganz heiß«, sagte sie erschrocken und fuhr

ihm mit der Hand über die Stirn. »Ich glaube, der Junge

hat Fieber«, meinte sie zu Herrn Wiedmann.

»Wie ist denn das passiert?« fragte dieser.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Karli und räusperte sich. Er

räusperte sich ununterbrochen. Und jedesmal, wenn er

sich räusperte, tat ihm der Hals so weh, als hätte man ein

Messer in ihn gesteckt und drehte es dauernd hin und

her. »Ich habe die Lawine kommen sehen, und ich bin

furchtbar erschrocken. Das ist alles. Ich glaube, ich bin

dann umgefallen.«

»Hast du Schmerzen?« fragte Tante Beate besorgt.

»Halsweh«, sagte Karli weinerlich.

»Mach einmal den Mund auf«, sagte Herr Wiedmann.

Karli folgte gehorsam. Es war ihm alles gleichgültig. Er

fühlte sich müde und benommen. Richtig schwindlig. Auf

einmal sehnte er sich gar nicht mehr danach, mit den an-

deren nach Schruns zu fahren. Auf einmal hatte er Sehn-

sucht nach zu Hause, nach seiner Mutter, nach seinem

warmen, weichen Bett. Er wäre gerne in seinem Bett gele-

gen. Er machte den Mund auf. Tante Beate und Herr

Wiedmann sahen ihm in den Hals. Der Hals war weiß

belegt, ebenso die Zunge. Die beiden Erwachsenen blick-

ten einander stumm an. Sie machten sehr ernste Gesich-

ter.

»Tut's dir beim Schlucken weh?« fragte der Chauffeur.

»Ja«, sagte Karli mühsam.

43

»Sehr?«

»Mhm!« Karli war dem Weinen nahe. Herr Wiedmann

sah Tante Beate an.

»Der Junge muß schnellstens zum Arzt!« sagte er.

»Sie glauben auch . . .?« fragte sie betreten.

Er nickte.

»Diphtherie«, sagte er dann.

Die Kinder im Autobus drängten nach vorne, als Herr

Wiedmann und Tante Beate mit Karli zurückkamen. Sie

stützten ihn von beiden Seiten, und der Chauffeur hob

ihn zuletzt in den Wagen hinein, so schwach war Karli

plötzlich. Sie setzten ihn hinter dem Chauffeur auf eine

freie Bank, und Tante Beate setzte sich neben ihn.

Die Kinder redeten durcheinander:

»Was hat der Karli, Tante?«

»Ist er krank?«

»Muß er ins Krankenhaus?«

Tante Beate rief: »Bleibt alle, wo ihr seid! Ja, der arme

Karli ist krank. Wir fahren jetzt zurück zur nächsten

Stadt und bringen ihn zum Onkel Doktor!«

Herr Wiedmann hatte unterdessen den Motor in Gang

gesetzt, er fuhr in den verschneiten Acker hinein, um den

Autobus zu wenden. Danach schaltete er um, und sie roll-

ten schnell.den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Tante Beate stützte Karlis Kopf in ihrem Schoß.

Herr Wiedmann hielt das Steuer umklammert und sah

geradeaus.

»Wir hätten den Jungen nie mitnehmen dürfen«, sagte er.

Tante Beate nickte schuldbewußt.

»Ich dachte, er hätte wirklich nur Halsweh«, sagte sie leise.

»Diphtherie ist eine scheußliche Sache«, sagte Herr Wied-

mann. »Da geht es um Stunden!«

44

»Hoffentlich ist nicht auch die andere Lawine. . .«, be-

gann Tante Beate und brach dann ab. Sie wollte sagen:

». . . ist nicht auch die andere Lawine auf die Straße

niedergegangen!« Aber sie sagte es nicht, denn sie wollte

die Kinder, die hinter ihr saßen und zuhörten, nicht er-

schrecken.

Herr Wiedmann verstand sie trotzdem.

»Nur ruhig«, sagte er, »wir werden schon durchkom-

men!«

Sie fuhren jetzt durch ein tiefes Tal. Zu beiden Seiten der

Straße erhoben sich steile Berge.

»Die andere Lawine ist bestimmt erst da drüben herun-

tergekommen«, sagte der Chauffeur noch. »Da brauchen

wir keine Angst zu haben.«

Vor ihm beschrieb die Straße einen großen Bogen um

einen Felsen. Als sie um den Felsen gefahren waren, sa-

hen sie plötzlich die Straße nicht mehr. Vor ihnen erhob

sich eine riesige Wand aus schmutzigem Schnee. Die

Schneewand war so groß wie ein hohes Haus, und aus ihr

sahen Baumstämme und Steinblöcke heraus. Das Tal

schien ganz mit Schnee ausgefüllt zu sein, die Straße war

verschwunden. Herr Wiedmann trat hart auf die Bremse.

Er hatte sich geirrt.

Auch die zweite Lawine war auf die Straße niedergegan-

gen.

Sie waren alle viel zu sehr erschrocken, auch nur ein

Wort hervorzubringen. Die Kinder starrten in den

schmutzigen Schnee hinein, ein paar hielten sich an den

Händen, der dicke Martin legte eine Hand um Hannas

45

Schulter, neben der er noch immer saß, und sagte: »Keine

Angst, wir kommen schon durch!«

Hannas Unterlippe zitterte: »Wir kommen nicht durch!

Nie kommen wir hier durch! Schau dir doch den Schnee

an, da kann der größte Autobus nicht fahren!«

»Man wird uns von der anderen Seite entgegenkommen

und die Straße freischaufeln«, sagte der blonde Helmut,

der jetzt vor ihnen auf dem Platz saß, den früher Karli

benützt hatte.

»Aber wann?« fragte Hanna verzagt.

Darauf konnte Helmut keine Antwort geben. Er sah be-

drückt ins Freie und in das verschüttete Tal und schwieg.

Er dachte, daß er auch gerne woanders gewesen wäre.

Aber er sagte es nicht. Sonst hätte man ihn am Ende noch

für feige gehalten.

Vor ihm sprach Lucie gerade dem dicken, schwarzen Schaf

Mut zu.

»Hab' keine Angst«, sagte sie und streichelte Josefs Fell,

»heute abend bist, du bestimmt zu Hause, es kann sich

nur um ein paar Stunden handeln . . .«

Josef leckte ihre Hände ab und schwieg.

»Was sollen wir jetzt machen?« fragte Tante Beate Herrn

Wiedmann. Dieser zuckte die Achseln.

»Zurückfahren! Hier ist es hoffnungslos. Vielleicht kann

ich drüben bei der anderen Lawine durch die Felder

weiterkommen!«

»Und wenn nicht?«

Herrn Wiedmanns Nacken lief rot an. Er drehte sich nicht

zu Tante Beate um, während er durch die Zähne sagte:

»Tja, dann weiß ich auch nicht, was wir tun sollen!«

Er schaltete den Rückwärtsgang ein, und der große rote

Autobus fuhr langsam und vorsichtig ein weites Stück

46

durch das enge Tal zurück, bis die Straße wieder breiter

wurde und Herr W i e d m a n n wenden konnte. D a n n ratter-

te der W a g e n wieder die Straße entlang, die sie gekom-

men waren. Die Sonne schien hell, es war ein schöner

Tag, und m a n hätte richtig fröhlich sein können. Aber

niemand beachtete die Sonne und die Schönheit des Ta-

ges. Denn alle mußten immerfort an dasselbe denken:

daran, daß sie hier, viele Kilometer entfernt von dem

nächsten O r t , in einer tiefen Schneewüste eingeschlossen

waren wie in einem großen Gefängnis.

Sie passierten die Stelle, an welcher der Autobus schon

einmal gehalten hatte, die Stelle, an welcher Josef, das

Schaf, ausgerissen war. Herr W i e d m a n n griff in die

Brusttasche seines buntkarierten Hemdes, holte eine Zi-

garette heraus und steckte sie zwischen die Lippen. Aber

er vergaß, sie anzuzünden. Er paßte nur auf die Straße

auf. Zehn M i n u t e n später bot sich ihnen dasselbe Bild.

Wieder stiegen zu beiden Seiten der Straße Berghänge

empor. Im Schnee konnte man noch die Fußspuren Herrn

Wiedmanns erkennen, der hier schon einmal entlangge-

gangen war. U n d dann sahen sie hinter einer Straßenbie-

gung die Stelle, an der die andere Lawine heruntergerast

war. Auch hier schien es aussichtslos, weiterzukommen.

Herr W i e d m a n n bremste und drehte sich um.

»Paßt einmal auf«, sagte er. »Ich will versuchen, einen

Bogen um die verschüttete Straßenstelle zu fahren. Durch

die Felder und über den Hang. Haltet euch gut an, ihr

werdet ein bißchen durcheinandergeschüttelt werden.«

Die Kinder taten, was er sagte, und warteten aufgeregt.

Herr W i e d m a n n fuhr in den Schnee neben der Straße

hinein. Der Autobus zitterte und keuchte. Seine Räder

holperten und sprangen hin und her, als wollten sie tan-

47

zen. Herr Wiedmann hielt das Lenkrad mit beiden Hän-

den umklammert, und sein Nacken war noch röter gewor-

den. Er schien sich sehr anzustrengen. Tante Beate hielt

Karlis Kopf vorsichtig in die Höhe, damit er nicht allzu-

sehr hin und her gestoßen wurde, und strich ihm über

das Haar. Karli sagte nichts. Nur ab und zu räusperte er

sich. Er hielt die Augen geschlossen und fühlte sich be-

nommen und müde. Er stellte sich vor, er liege auf einem

großen Schiff, das mit den Wellen kämpfte und auf- und

niedertauchte. Die Schaukelbewegung ließ ihn noch be-

nommener und müder werden. Seine Glieder waren so

schwer wie Blei. Schmerzen hatte er eigentlich nur, wenn

er schluckte. Das >Schiff<, auf dem Karli sich befand,

neigte sich nach rechts und nach links, es hüpfte und

schwankte, und plötzlich, mit einem schrecklichen Krach,

hielt es an. So, als ob es gegen einen Felsen gestoßen sei.

Karli fuhr auf, riß die Augen auf und sagte heiser und

erschrocken: »Was ist passiert?«

Er sah, daß der große Autobus mitten auf einem tief ver-

schneiten Hang stehengeblieben war und merkwürdig

schief hing. Hinter sich hörte er viele aufgeregte Kinder-

stimmen.

Und vor sich sah er den rotnackigen Herrn Wiedmann,

der sich in seinem Sitz zurückfallen ließ und sagte: »So,

jetzt ist es aus!«

Der Autobus hatte sich festgefahren.

Mit den Vorderrädern hing er an irgendwelchen durch

den Schnee unsichtbaren Felsen fest. Die Mitte des Wa-

gens ruhte gleichfalls auf Gestein. Nur die Hinterräder

48

drehten sich noch rasend schnell in der Luft. Dann dreh-

ten sie sich langsamer, und zuletzt standen sie still. W ä h -

rend die Kinder aufgeregt durcheinandersprachen, holte

Herr W i e d m a n n aus seiner Tasche eine Landkarte hervor

und schlug sie auf. Tante Beate neigte sich über ihn.

»Wir sind hier festgefahren«, sagte der Chauffeur dabei.

»Wir müssen sehen, ob wir nicht zu Fuß weiterkommen.«

»Könnten Sie es nicht noch einmal versuchen?« fragte

Tante Beate vorsichtig, aber er schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Ich komme ja nicht einmal mehr von

diesen Felsen hier frei.« Er fuhr mit dem Finger die Land-

karte entlang. »Hier ungefähr sind wir«, sagte er.

»Welches ist der nächste Ort?«

»Bergstadt«, sagte er.

»Wie weit ist es dorthin?«

»Etwa dreißig Kilometer«, sagte Herr Wiedmann. »Un-

terwegs werden wir bestimmt irgendwo einen Bauernhof

finden, von dem aus man telefonieren kann. Aber zu-

nächst müssen wir irgendwie durch die Lawine durch, das

bleibt uns auf keinen Fall erspart.« Er fügte hinzu: »Und

wenn wir nicht durch sie durch können, dann müssen wir

um sie herumgehen.«

»Wie weit wird das sein?«

»Das kann ich nicht sagen«, meinte er. »Vielleicht einen

Kilometer, vielleicht fünf.«

Während sie sich unterhielten, waren immer mehr Kinder

nach vorne gekommen. Jetzt sagte ein Junge: »Aber

durch den Schnee kann man doch überhaupt nicht gehen.

Da versinkt man ja bis zum Hals!«

Der blonde Helmut lachte. »Du vielleicht! Ich wette mit

dir, daß ich in ein paar Stunden in Bergstadt bin!« (Er

hatte sich das W e t t e n noch immer nicht abgewöhnt.)

49

»Du kannst es ja versuchen«, sagte der Junge. »Ich habe

keine Lust, irgendwo vor lauter Schnee plötzlich keine

Luft mehr zu bekommen und zu ersticken!«

»Du bist eben ein Feigling!« sagte Helmut. »Ich habe kei-

ne Lust, hier herumzusitzen und zu warten, bis jemand

kommt und uns ausgräbt. Ich werde euch schon beweisen,

daß ich nach Bergstadt komme. Ich schicke euch dann von

dort eine Ansichtskarte!«

Herr Wiedmann drehte sich um und sah ihn wütend an.

»Halt den Mund«, sagte er. »Mußt du schon wieder an-

fangen?«

»Ich will nicht ewig hierbleiben und erleben, daß noch

eine Lawine herunterkommt«, erwiderte Helmut böse.

»Wir wollen alle nicht ewig hierbleiben«, sagte Tante

Beate. »Und du hast unrecht, wenn du glaubst, daß du

durch den Schnee kommen würdest. Der Schnee ist hier

an manchen Stellen mehrere Meter tief.«

»Man könnte ja einen Weg schaufeln«, meinte Helmut.

»Ja«, sagte Herr Wiedmann, »das könnte man. Und was

glaubst du, wie lange wir da brauchen würden?«

»Das weiß ich nicht!« Helmut bekam einen roten Kopf.

»Aber ich denke, es ist immer noch besser, wir graben

einen Weg, und es dauerte zwei Tage, bis wir durch sind,

als wir sitzen hier herum und tun gar nichts.«

Ein paar Kinder riefen, das sei auch ihre Ansicht.

»Warte einen Moment«, sagte Thomas. »Du denkst im-

mer nur an dich. Du bist ein Junge, und du bist einer von

den Kräftigsten. Was glaubst du, wie bald die Schwäche-

ren und die Mädchen nicht mehr weiterkönnten!«

»Dann sollen die Schwächeren und die Mädchen eben

hierbleiben und warten, bis man sie ausgräbt!« rief Hel-

mut.

50

»Ja, und du und ein paar andere gehen davon, was?« rief

Martin.

»Klar«, sagte Helmut, »warum nicht?«

»Jetzt hört aber endlich auf!« rief Tante Beate. »Das

kommt ja gar nicht in Frage. Entweder alle gehen oder

keiner. W i r werden doch hier niemanden allein zurück-

lassen!«

Helmut schwieg beschämt.

Herr W i e d m a n n stand auf und sagte: »Mir scheint, ihr

vergeßt alle miteinander, daß wir einen sehr kranken

Jungen im W a g e n haben.« Er sah kurz hinunter zu Karli,

der wieder in Tante Beates Schoß lag und ihm müde zu-

blinzelte. »Wenn irgend jemand es eilig hat, nach Berg-

stadt zu kommen, dann ist er es«, fuhr Herr Wiedmann

fort. »Oder bist du anderer Ansicht?« fragte er und sah

Helmut scharf an.

»Natürlich nicht«, sagte dieser. »Wir könnten ihn ja hin-

bringen.«

»Ja, das ist es gerade«, meinte Herr Wiedmann. »Wenn

wir uns alle miteinander aufmachen und einen Weg gra-

ben - was glaubt ihr wohl, wie lange wir dazu brauchen?

Mindestens dreimal so lange, als wenn wir versuchen,

Karli allein durchzubringen. W a s wollt ihr mit eurem Ge-

päck machen? Wo wollt ihr schlafen, wenn es Abend

wird und wir noch nicht durch den Schnee sind? Und was

soll geschehen, wenn einer von euch nicht weiterkann?«

Niemand antwortete.

»Na also«, sagte Herr Wiedmann, »seht ihr!« Er faltete

seine Karte wieder zusammen und steckte sie ein. »Ich

denke, ich werde versuchen, mit Karli die Stadt zu errei-

chen, und ihr bleibt schön hier bei Tante Beate und war-

tet, bis Hilfe kommt. In der Stadt kann ich gleich dafür

51

sorgen, daß Leute aufbrechen und euch entgegengraben.«

»Was hat denn der Karli eigentlich?« fragte Helmut, et-

was ruhiger.

»Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Herr Wiedmann,

»aber es könnte sein, daß er Diphtherie hat. Das ist eine

sehr gefährliche Krankheit, und wenn er sie wirklich hat,

dann muß er schnellstens zu einem Arzt, der ihm Medi-

zin gibt.«

Die kleine, zarte Hanna, die wortlos und mit weit aufge-

rissenen Augen zugehört hatte, drängte sich plötzlich

nach vorne, hängte sich an Herrn Wiedmanns Arm und

rief verzweifelt: »Bitte, Onkel, nimm wenigstens mich

mit, wenn du gehst! Ich werde dir gewiß nicht im Weg

sein, aber ich will nicht hierbleiben! Ich habe solche

Angst!«

»Liebe Hanna«, sagte Tante Beate, »die anderen Kinder

haben bestimmt auch Angst! Was soll Herr Wiedmann

sagen, wenn sie alle mitgenommen werden wollen?«

»So viel Angst wie ich können sie gar nicht haben«, sagte

Hanna.

»Vielleicht haben sie nicht so viel Angst wie du, aber be-

stimmt möchten sie genauso gerne von hier fort. Und sie

haben doch alle dasselbe Recht dazu, findest du nicht?«

»O ja, das schon«, sagte Hanna leise und trat etwas zu-

rück, wobei sie Herrn Wiedmanns Arm wieder losließ.

»Na siehst du!« sagte Tante Beate. »Und du möchtest

doch nicht, daß man dir erlaubt mitzugehen, wenn man es

allen anderen verbieten muß?«

»Nein, das möchte ich nicht«, sagte Hanna noch leiser.

Martin klopfte ihr auf die Schulter und sagte: »Weshalb

hast du eigentlich Angst? Ich bin doch da!«

Und sogar Helmut, der mürrisch danebengestanden war,

52

sagte jetzt viel freundlicher: »Na, und ich doch schließlich

auch!«

Hanna lächelte ihm schwach zu. Es tat ihr leid, daß sie

überhaupt davon gesprochen hatte, wie gerne sie mit

Herrn W i e d m a n n gegangen wäre.

Tante Beate war aufgestanden.

»Hört einmal alle zu«, sagte sie. »Ihr sollt nicht den Ein-

druck haben, daß nur das geschieht, was die Erwachsenen

sagen. Ihr h a b t alle gehört, worum es geht. Karli ist

krank, er m u ß ins Krankenhaus. Herr Wiedmann kann

aber nur ihn allein mitnehmen, weil es sonst zu lange

dauert.« T a n t e Beate machte eine Pause und sah sich im

Autobus um. Alle hörten ihr zu. Sogar das dicke schwar-

ze Schaf tat so, als verstünde es jedes Wort.

»Das haben wir, die Erwachsenen, euch vorgeschlagen«,

fuhr Tante Beate dann fort. »Aber wenn ihr der Ansicht

seid, daß ihr ein ebenso großes Recht darauf habt, mit

Herrn W i e d m a n n zu gehen, wie Karli, dann könnt ihr es

sagen. Und wenn mehr mitgehen als hierbleiben wollen,

dann werden wir ihn eben alle begleiten. Nur daß dann

Karli vielleicht zu spät ins Krankenhaus kommt. Das

müßt ihr euch überlegen!«

Herr W i e d m a n n sagte: »Und außerdem müßt ihr euch

überlegen, wie euch wohl zumute wäre, wenn ihr jetzt

selber Diphtherie hättet!«

»Ja«, sagte Tante Beate. »So ist es! Und jetzt heben alle,

die mit Herrn W i e d m a n n gehen wollen, die Hand hoch!«

Sie wartete.

Die Kinder, die vorne standen, sahen sich um. Aber nie-

mand hatte die Hand gehoben. N u r Hannas Arm ging,

wie von selber, halb in die Höhe, aber sie drückte ihn

ganz schnell wieder herunter.

53

»Das ist schön von euch«, sagte Tante Beate.

»Das war doch selbstverständlich«, sagte Helmut laut.

»Wenn der arme Karli doch k r a n k ist!«

Herr W i e d m a n n blickte ihn überrascht an, denn Helmut

hatte kurz vorher ganz andere Dinge gesagt, aber dann

lächelte er erfreut und sagte: »So ist es recht, Helmut!«

Danach richtete er seine W o r t e wieder an alle. »Ich glau-

be«, sagte er, »ich habe in Salzburg auch einen Schlitten

hinten beim Gepäck verstaut. W e m gehört denn der?«

»Mir!« rief eine dünne Stimme. Sie gehörte einem klei-

nen Mädchen mit langen Zöpfen, das eine H a n d hob.

»Wie heißt du denn?« fragte Herr W i e d m a n n .

»Agathe«, sagte das Mädchen.

»Würdest du mir deinen Schlitten leihen, Agathe?«

Das kleine Mädchen mit den Zöpfen schluckte schwer.

»Es ist ein ganz neuer Schlitten«, sagte es. »Ich habe ihn

erst vorgestern vom Christkind bekommen!« Es schluckte

noch einmal und fügte hinzu: »Und ich habe meiner

Mami versprochen, daß ich ihn nicht herleihen werde.«

»Aber das wäre ja auch kein gewöhnliches Herleihen«,

sagte Tante Beate. »Schau einmal, Herr W i e d m a n n und

Karli haben einen weiten W e g vor sich, und Karli ist

krank. Vielleicht k a n n er schon bald nicht mehr allein

laufen. Und Herr W i e d m a n n k a n n ihn doch unmöglich

den ganzen W e g auf dem Rücken tragen. W e n n du uns

deinen Schlitten leihen wolltest, dann wäre es viel leich-

ter für Karli.« Agathe drehte hilflos an ihren Zöpfen.

»Na?« sagte Tante Beate.

»Aber paßt auf, daß ihr ihn nicht kaputtmacht«, sagte

Agathe schließlich rasch und mit gesenktem Kopf. Die

anderen Kinder klatschten Beifall, und Agathe eilte nach

hinten, wo sie ihren prächtigen neuen Schlitten unter

54

Koffern und Rucksäcken hervorzog und nach vorne

brachte.

Karli, der sich aufgerichtet hatte, lächelte ihr zu. »Dan-

ke«, sagte er mit seiner heiseren Stimme.

»Bitte«, sagte Agathe. »Und hoffentlich kommst du gut

an.« Sie fühlte sich plötzlich sehr angenehm durchwärmt

und fand, daß sie eine gute Tat begangen hatte. Das tat ihr

wohl.

Herr Wiedmann holte unter seinem Sitz eine Schaufel

hervor, knöpfte seine Jacke zu und zog den Schlitten ins

Freie. Dabei ging ihm der Schnee bis zu den Hüften.

»Komm«, sagte er zu Karli. Dieser stand auf. Er hatte

rote Flecken auf den Wangen, und ab und zu klapperte er

ein bißchen mit den Zähnen. Aber er lächelte tapfer und

sagte: »Also lebt wohl, alle miteinander!«

»Auf Wiedersehen!« riefen die Kinder. »Leb wohl, Karli!

Tschüß! Gute Reise!«

Herr Wiedmann sagte zu Tante Beate: »Wir werden ver-

suchen, um die Lawine herumzugehen. Sobald ich zu

einem Telefon komme, rufe ich die Polizei oder die

Feuerwehr an und melde, wo ihr seid.«

»Schön«, sagte Tante Beate und gab ihm die Hand.

»Und alles Gute!« sagte Herr Wiedmann. Er sagte es laut

und an alle.

»Danke, Herr Wiedmann!« riefen alle.

»Na also, dann komm«, sagte der Chauffeur zu Karli,

nahm ihn in die Arme und hob ihn auf den Schlitten.

Karli hielt sich mit beiden Händen fest, und Herr Wied-

mann begann zu ziehen. Nach ein paar Schritten wurde

der Schnee weniger tief, und der Chauffeur tauchte wie-

der bis zu den Knien auf. Langsam und mühselig zog er

den Schlitten mit dem kranken Jungen hinter sich her. Er

ging vom Autobus weg den Berghang hinauf und begann

einen großen Bogen um die Stelle zu beschreiben, an wel-

cher die Lawine niedergegangen war. Karli drehte sich ab

und zu um und winkte.

Die Kinder im Autobus winkten zurück. Lucie hatte so-

gar das schwarze Schaf aufgehoben, damit es aus dem

Fenster blicken konnte. Sie hielt eine seiner Vorderpfoten

hoch und bewegte sie auf und ab, damit es so aussah, als

ob auch Josef zum Abschied winkte. Nach einer Weile

sagte Tante Beate: »So, das haben wir gut erledigt, nicht

wahr?«

Die Kinder nickten und sahen einander an wie erfolgreiche

Geschäftsleute, die gerade mit viel Verstand und Geschick

einen Haufen Geld verdient haben.

»Hoffentlich kommt Karli gut an«, sagte Lucie.

56

»Wie lange kann es dauern, bis uns jemand ausgräbt,

Tante?« fragte ein Mädchen.

»Ich weiß nicht«, sagte Tante Beate. »Nicht sehr lange.«

»Aber doch vielleicht bis zum Abend?«

»Ja, das schon.«

»Vielleicht auch noch länger?«

»Wenn wir Pech haben und die Lawine die Straße auf

einem großen Stück zugeschüttet hat, vielleicht auch noch

länger.«

»Bis morgen früh?« piepste eine dünne Stimme. Sie ge-

hörte Agathe, die ihren Schlitten geliehen hatte.

Tante Beate zögerte mit einer Antwort, denn sie befürch-

tete, den Kindern mit ihr einen großen Schrecken einzuja-

gen. (Es war durchaus möglich, daß es bis zum nächsten

Morgen dauerte, ehe man sie fand, dachte sie bei sich.)

Aber gleich darauf erlebte sie eine Überraschung. Bei der

Vorstellung, im Autobus eine Nacht verbringen zu müs-

sen, wurden die Kinder seltsamerweise gar nicht ängst-

lich, sondern im Gegenteil: Sie wurden richtig übermütig!

Sie redeten wieder alle durcheinander und stellten sich

eine solche Übernachtung bereits in ihren Einzelheiten

vor. Sie würden auf den Sitzen schlafen müssen! Und

sich nicht waschen können, außer im Schnee! Sie würden

in den Kleidern übernachten müssen!

»Und Wachen aufstellen!« meinte der dicke Martin.

»Und Decken verteilen!« rief Hanna, die vor lauter Auf-

regung sogar vergaß, Angst zu haben.

»Und abendessen!« rief ein Junge. (Es war natürlich der

dicke Martin.)

Tante Beate lächelte. Und weil sie sah, daß alle so gut

aufgelegt waren, beschloß sie, gleich noch etwas zu sagen,

was ihr auf dem Herzen lag.

57

»Ja«, rief sie, »das alles werden wir vielleicht tun müs-

sen, wenn man uns nicht rechtzeitig ausgräbt. Aber habt

ihr denn auch alle warme Decken?«

Die meisten nickten, nur ein Mädchen schüttelte den

Kopf. Und d a n n riefen noch zwei Jungen bedrückt:

»Nein!«

»Seht ihr«, sagte T a n t e Beate. »Und wie ist es mit dem

Essen? Habt ihr alle genug zu essen?«

»Mir hat meine M u t t i nur ein paar Brote mitgegeben«,

sagte H a n n a , der das plötzlich einfiel.

»Mir auch«, erklärte ein Junge. »Ich habe gedacht, daß

wir schon am Abend in Schruns sind.«

»Ich auch!« rief Lucie aufgeregt. »Ich habe ü b e r h a u p t nur

noch ein Stück Kuchen!« D a n n fiel ihr noch etwas ein:

»Und für Josef h a b e ich gar nichts!«

Tante Beate lachte.

»Na«, sagte sie, »es wird aber doch auch ein paar unter

euch geben, die mehr mitbekommen haben, als sie auf-

essen können. Oder irre ich mich?« fragte sie und sah

plötzlich den dicken Martin an.

Der dicke Martin wurde puterrot. Er befürchtete Entsetz-

liches. Das Entsetzliche trat ein.

»Ich schlage vor«, sagte Tante Beate fröhlich und unbe-

kümmert, ohne ihren Blick von Martin zu nehmen, »daß

wir alles, was wir zu essen und zum Zudecken haben, zu-

sammenlegen. D a n n können wir es gerecht verteilen.

Diejenigen, die zuviel haben, werden noch immer genug

bekommen, und diejenigen, die zuwenig hatten, werden

satt sein und es warm haben. W a s haltet ihr davon?«

Die Kinder fanden, das wäre eine großartige Idee. Sie

fingen sofort an, ihre Eßvorräte und ihre Decken zusam-

menzutragen, und auf den leeren Sitzen vor T a n t e Beate

58

häuften sich Schinkensemmeln, Decken, Äpfel, Kuchen,

Käsebrote und Bonbons. N u r der dicke Martin saß re-

gungslos und sah dem Treiben entgeistert zu. Tante Beate

bemerkte es sehr gut.

»Na, M a r t i n « , sagte sie nach einer Weile, »und was ist

mit dir?« Martin stand auf, ging zu seinem Koffer und

holte eine Decke hervor, die er Tante Beate überreichte.

»Hier, bitte«, sagte er.

»Danke schön«, sagte sie. »Und wie ist das mit dem

Essen?«

Er sah sie flehend an.

»Tante Beate«, sagte er, »ich bin ein Junge, der immer

hungrig ist. Ich bin der dickste Junge in meiner Klasse.

Meine M u t t i hat mir viel zu essen mitgegeben, weil sie

weiß, daß ich immer Hunger habe. Es tut mir leid, daß

andere Kinder weniger haben. Aber was kann ich dafür?«

»Du kannst natürlich nichts dafür, Martin«, sagte Tante

Beate. »Die anderen Kinder können allerdings auch nichts

dafür, daß sie weniger zu essen haben als du. Aber das

ist natürlich ihre Sache. Niemand kann dich zwingen, dei-

ne Eßvorräte mit den anderen zu teilen.«

»Das stimmt«, sagte Martin und nickte.

»Ich könnte mir freilich vorstellen«, meinte Tante Beate

langsam, »daß du zufällig keine Decke gehabt hättest.«

»Ich habe aber eine«, rief Martin triumphierend. »Ich bin

immer gut ausgerüstet, wenn ich verreise.«

»Wenn du aber zufälligerweise weniger gut ausgerüstet

gewesen wärest und keine Decke gehabt hättest«, fuhr

Tante Beate unerbittlich fort, »dann könnte ich mir vor-

stellen, daß du sehr glücklich darüber gewesen wärest,

wenn dir jemand, der zufällig zwei Decken besitzt, eine

von ihnen gegeben hätte.«

59

»Das stimmt«, sagte Martin bereitwillig. Doch er fügte

hinzu: »Aber ich habe eine Decke, und ich habe genug zu essen.«

»Ja, dann freilich bist du in einer sehr glücklichen Lage,

Martin«, meinte Tante Beate. »Und niemand kann dich

zwingen, anderen zu helfen.«

Martin sah sie verwirrt an.

»Tante«, sagte er ernsthaft, »bitte glaube nicht, daß ich

geizig bin. N u r : Ich muß wirklich mehr essen als andere

Kinder. Ich brauche mehr Essen, weil ich so dick bin. Das

mußt du doch verstehen!«

»Das verstehe ich, Martin«, sagte Tante Beate, drehte sich

von ihm fort und zu den anderen Kindern um.

»Na«, fragte sie, »seid ihr schon fertig?«

Die Kinder zeigten ihr, was sie alles zusammengetragen

hatten. Tante Beate tat, als sähe sie Martin plötzlich

überhaupt nicht mehr. Er stand auf einmal allein da.

Auch die anderen Kinder beachteten ihn nicht. Er kam

sich schrecklich überflüssig vor. Zuletzt ging er langsam

zu seinem Sitz zurück. Er setzte sich und sah zu, wie vor-

ne im Autobus die Decken verteilt wurden. Es ging sehr

fröhlich dabei zu. Die Kinder lachten und schrien durch-

einander. Von Martin n a h m niemand mehr Notiz.

Der dicke Junge kämpfte mit sich. Er blickte auf das

große Freßpaket neben sich. D a n n blickte er nach vorne

zu den anderen Kindern. Und dann blickte er wieder hin-

unter zu seinen feinen Schinkensemmeln.

Martin kämpfte genau neun Minuten mit sich selbst.

In der zehnten Minute stand er auf, nahm das Freßpa-

ket und ging schnell zu den anderen.

»Hier«, sagte er hastig, »ich habe es mir überlegt. So

hungrig bin ich eigentlich gar nicht mehr!«

60

Das dritte Kapitel

Wie man feststellt, wo Süden ist - Herr Wiedmann ist auch nur ein

Mensch - Karli begreift, daß es nur eine Möglichkeit gibt - Ich sehe etwas, was du nicht siehst - Darf man 18 Kinder im Stich lassen,

um eines zu retten? - Die Kinder wählen Tante Beates Stellver-

treter - Martin wächst über sich selbst hinaus - Karli fühlt sich sehr unheimlich und bekommt Besuch - Die Erwachsenen brechen auf -

Helmut zeigt sein wahres Gesicht.

Herr W i e d m a n n und Karli hatten unterdessen die felsige

Gegend u n d die Stelle, an welcher der Autobus festge-

fahren war, hinter sich gelassen und bahnten sich durch

tiefen Schnee ihren W e g weiter und weiter von der Stra-

ße fort in ein hügeliges Gelände hinein. Zweimal hatte

der Chauffeur versucht, parallel zur Straße weiterzukom-

men, und beide Male war er sofort in tiefe Schneemassen

geraten, die ihm ein Weitergehen unmöglich machten.

Die zweite Lawine hatte nicht nur die Straße, sondern

auch einen großen Teil der Gegend jenseits von ihr zuge-

schüttet.

Es war jetzt später Nachmittag, die Sonne stand schon

tief, aber noch immer war es recht warm, und Herrn

Wiedmann rann der Schweiß in großen Tropfen von der

roten Stirn. Er b a h n t e den Weg. In seine Fußstapfen trat

der kleine Karli, der hinter ihm ging. Von Zeit zu Zeit,

wenn er sich besonders schwach und elend fühlte, seufzte

61

er unterdrückt. D a n n blieb Herr W i e d m a n n stehen, sah

ihn mitleidig an und sagte: »Na also, dann setz dich halt

wieder auf den Schlitten.«

W e n n er das sagte, gab Karli ihm die Schnur des bunten

Schlittens, die er bis dahin in der Hand gehalten hatte,

und setzte sich müde nieder. Und Herr W i e d m a n n änder-

te dann die Art seiner Arbeit. Er stapfte zunächst ein

Stück in den Schnee hinein, dann kam er zurück und zog

den Schlitten mit Karli nach. Das war eine sehr unange-

nehme Form der Fortbewegung, denn der Schnee war

weich, und der Schlitten sank tief in ihn ein, so leicht sich

Karli auch machte. Herr Wiedmann schwitzte. Zweimal,

als der Schlitten plötzlich zu allem Überfluß umkippte,

fluchte er auch. Danach lächelte er Karli sofort entschuldi-

gend an, damit dieser merken konnte, daß es nicht böse

gemeint war. Nach einer Viertelstunde stand der Junge

auf. »Jetzt geht es wieder eine Weile«, meinte er heiser

und n a h m Herrn W i e d m a n n die Schlittenschnur ab.

Der Chauffeur blieb plötzlich stehen.

»Warte einmal«, sagte er und holte seine Karte aus der

Jacke. »Wir wollen sehen, wo wir sind. Sonst verlaufen

wir uns am Ende noch!« Karli kam näher und sah gleich-

falls auf die Karte.

»Hier war die Straße, von hier sind wir ausgegangen«,

meinte Herr Wiedmann. Er zeigte auf ein grünschraffier-

tes Gebiet der Karte. »Das ist der Wald, der da drüben

anfängt. Ich glaube, der Bogen, den wir gemacht haben,

ist groß genug. Jetzt müssen wir wieder nach Süden

gehen.«

»Wo ist Süden?« fragte Karli.

»Das werden wir gleich haben«, erklärte Herr Wiedmann

und nahm eine große runde Uhr aus der Jackentasche.

62

»Wenn du wissen willst, wo Süden ist, dann mußt du die

Uhr so halten, daß die Zwölf dorthin sieht, wo die Sonne

steht.« Er gab Karli die Uhr. »Bitte«, sagte er. Karli tat,

was Herr W i e d m a n n gesagt hatte. Die Sonne stand nied-

rig über einem verschneiten Berg. Dorthin richtete der

Junge die 12.

»So«, sagte Herr Wiedmann, »nun m u ß t du nachsehen,

wo der kleine Zeiger steht.«

Der kleine Zeiger stand auf 4.

»Und jetzt m u ß t du den Winkel halbieren, den die Vier

mit der Zwölf einschließt. Am einen Ende dieser Halbie-

rungslinie liegt Süden, am anderen Ende Norden!«

Karli legte seinen kleinen Finger über die Uhr. D a n n sah

er auf und lächelte H e r r n W i e d m a n n an. »Da ist Süden.«

»Stimmt«, sagte Herr Wiedmann. »Und jetzt wollen wir

wieder weitergehen.«

Karli nickte und setzte folgsam einen Fuß vor den ande-

ren. Aber auf sonderbare Weise wollten seine Füße nicht

gehorchen. Sie knickten in den Knien ein, und im näch-

sten Augenblick saß Karli im Schnee.

»Was ist denn?« fragte Herr W i e d m a n n erschrocken.

»Nichts«, sagte Karli heiser, »meine Knie waren auf ein-

mal so weich! Ich glaube, jetzt geht es schon wieder!«

Er versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Herr Wied-

mann stapfte durch den Schnee zu ihm und half ihm.

Aber auch das hatte keinen Sinn. Denn plötzlich fühlte

Karli, wie ihm heiß und kalt wurde, wie er zu schwitzen

begann, und er glaubte, sein Herz an den Schläfen schla-

gen zu hören. D a n n fühlte er sich furchtbar übel. Und

er hatte das Gefühl, daß es finster um ihn wurde.

64

Als er wieder zu sich kam, lag er unter einem großen ver-

schneiten Baum. Er hatte den Baum noch nie gesehen,

und auch die Gegend, die er erblickte, als er sich nun

langsam aufrichtete, war ihm fremd. Er bemerkte noch

einige Bäume und hinter ihnen verschneite Felder. Karli

erschrak heftig, denn er konnte Herrn Wiedmann nicht

sehen. Er fühlte, wie sich sein kleiner Körper wieder mit

Schweiß bedeckte. Wo war Herr Wiedmann? Hatte er ihn

allein gelassen? Karli versuchte zu rufen, aber er mußte

es zweimal versuchen, so sehr tat ihm sein Hals weh da-

bei.

»Herr Wiedmann!« rief er schließlich heiser. Im nächsten

Augenblick antwortete die Stimme des Chauffeurs. »Ja,

Karli. Hier bin ich!«

Karli drehte sich um. Herr Wiedmann saß an die andere

Seite des Baumes gelehnt, unter dem er gelegen war.

Jetzt stand er auf und kam herüber. Sein Gesicht war

noch röter, und er hatte seine Lederjacke ausgezogen, so

heiß war ihm!

»Wo sind wir?« fragte Karli schwach. Herr Wiedmann

setzte sich neben ihn.

»Wir sind ein Stück weiter nach Süden gekommen.«

»Und was war mit mir?«

»Du bist ohnmächtig geworden«, sagte Herr Wiedmann

freundlich zu ihm.

»Aber .. .« begann Karli verblüfft. Er wollte sagen: »Aber

wenn ich ohnmächtig w a r - w i e sind wir dann weiterge-

kommen?«

Herr Wiedmann schien ihn auch so zu verstehen. »Ich

habe dich getragen«, sagte er.

»Es tut mir leid«, sagte Karli.

»Was tut dir leid?«

65

»Daß ich ohnmächtig geworden bin und daß Sie mich tra-

gen mußten.«

»Rede keinen Unsinn«, sagte Herr Wiedmann verlegen.

»Du bist ja nicht zum Spaß ohnmächtig geworden. Du

bist krank. Du kannst gar nichts dafür!«

Karli fiel etwas ein. Er sah sich noch einmal um und er-

blickte Agathes Schlitten neben dem Baum.

»Warum haben Sie mich nicht auf dem Schlitten weiter-

gezogen?« fragte er.

»Ich habe es versucht«, sagte Herr Wiedmann. »Aber

zuerst bist du mir immer wieder in den Schnee gefallen,

und dann ist der Schlitten zu tief eingesunken.«

»Sie konnten mich doch nicht tragen und gleichzeitig auch

den Schlitten ziehen!« rief Karli.

»Nein«, gab Herr Wiedmann zu, »das konnte ich nicht.

Ich habe dich immer ein Stück getragen, dann habe ich

dich niedergesetzt und bin zurückgegangen, den Schlitten

holen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah

Karli nachdenklich an. »Wie fühlst du dich denn jetzt?«

»Danke, sehr gut«, sagte Karli. Er log. Er fühlte sich gar

nicht gut.

»Zeig mir einmal deinen Hals!«

Karli machte den Mund auf. Herr Wiedmann betrachtete

die Zunge, dann nickte er langsam.

»Na ja«, sagte er. Und dann legte er einen Arm um den

Jungen und sagte freundlich: »Paß einmal auf, Karli. Wir

sind alle beide in einer scheußlichen Lage, und deshalb

muß ich jetzt mit dir reden wie mit einem Erwachsenen.«

Karli nickte und sah ihn aufmerksam an. Herr Wiedmann

sprach weiter: »Ich habe mir alles sehr genau überlegt.

Du mußt unbedingt noch heute nacht zu einem Arzt kom-

men. Es ist auch gar nicht mehr weit. Vielleicht sind es

66

nur ein paar Kilometer. Aber wir müssen über die Felder,

und da hat der Schlitten keinen Sinn. Denn auf den Fel-

dern ist der Schnee noch tiefer, und wir werden so weit

einsinken, daß ich dich nicht ziehen kann.«

»Ja«, sagte Karli und nickte.

»Wie gesagt«, fuhr Herr Wiedmann fort und sah dabei

kurz zu den verschneiten Ästen des großen Baumes hin-

auf, unter dem sie beide saßen, »ich habe mir alles sehr

gut überlegt, weißt du, und ich habe gefunden, daß ich

dich nicht noch ein paar Kilometer tragen kann. Ich bin

stark, aber so stark bin ich nicht, es hätte gar keinen

Sinn, das nicht zuzugeben. Vielleicht schleppe ich dich

noch tausend Meter - oder vielleicht auch zweitausend.

Aber dann, das weiß ich genau, bin ich so fertig, daß ich

keinen Schritt mehr weiterkann!«

Karli nickte. »Ich bin sehr schwer, Herr Wiedmann«, sag-

te er, denn er hatte das Gefühl, daß es dem Chauffeur

peinlich war, zugeben zu müssen, er sei nicht stark ge-

nug, ihn bis ans Ziel zu tragen.

Herr Wiedmann schüttelte den Kopf.

»Du bist gar nicht schwer! Der verdammte Schnee ist es,

der einen fertigmacht, verstehst du?«

»Ja«, sagte Karli.

»Natürlich müssen wir trotzdem einen Weg finden, dich

zum Arzt zu bringen«, fuhr Herr Wiedmann fort.

»Ja«, sagte Karli wieder. Er schluckte, fühlte, wie es

schmerzte, und stellte sich ein hübsches weißes, warmes

Bett in einem hübschen warmen Zimmer vor. Dann hörte

er auf, es sich vorzustellen. Es ging ihm zu nahe.

»Und es gibt, glaube ich, nur einen Weg«, sagte Herr

Wiedmann. »Wenn ich nicht allein wäre, sondern noch

jemanden hätte, der mir hilft, dann könnten wir dich auf

67

den Schlitten legen und entweder gemeinsam tragen oder

jedenfalls den Schlitten aus dem tiefsten Schnee heraus-

halten und weiterziehen.«

»Ja, Herr Wiedmann«, sagte Karli zum drittenmal. Und

dann fügte er leiser hinzu: »Aber es gibt doch nieman-

den, der Ihnen hilft!«

»O ja, doch«, sagte Herr Wiedmann langsam. »Es gibt je-

manden.«

»Wen?« fragte Karli.

»Tante Beate«, sagte Wiedmann.

»Die ist doch im Autobus!«

»Ja«, sagte Herr Wiedmann leise, »die ist noch im Auto-

bus.« Er räusperte sich und meinte: »Ich müßte noch ein-

mal zurückgehen und sie holen.«

»Allein zurückgehen?«

»Ja«, sagte Herr Wiedmann. »Allein zurückgehen. Sonst

dauert es viel zu lange. Ich müßte hingehen und mit ihr

zurückkommen, noch ehe es finster wird, denn in der

Nacht wird es noch schwerer sein, den rechten Weg zu

finden.«

Darauf entstand eine Pause. Karli sprach nicht, und Herr

Wiedmann sprach gleichfalls nicht. Endlich fragte der

Chauffeur langsam: »Traust du dich, hier auf mich zu

warten, Karli?«

Karli nickte. Dann sagte er heiser: »Ja.«

»Es kann dir gar nichts geschehen«, meinte Herr Wied-

mann. »Ich gehe unseren Spuren nach, und dann komme

ich, den Spuren nach, wieder zurück. Es ist die sicherste

Sache von der Welt. In ein oder zwei Stunden bin ich

wieder zurück. Ich lasse dir meine Jacke da, damit du

nicht frierst.«

»Danke, Herr Wiedmann«, sagte Karli.

68

»Und du hast keine Angst?«

»O ja«, sagte Karli, »Angst habe ich schon. Große Angst.

Aber wenn Sie nicht gehen und Tante Beate holen, dann

komme ich überhaupt nicht zum Arzt, das sehe ich ein.

Und deshalb möchte ich, daß Sie gehen.«

»Du bist ein guter Junge«, sagte Herr Wiedmann. Er

klopfte Karli auf die Schulter. »Man kann mit dir schon

wie mit einem Erwachsenen reden!« Er stand auf, schlug

sich den Schnee von den Beinen und deckte Karli mit sei-

ner Jacke zu. »Ich komme zurück, so schnell ich kann«,

versprach er. Karli nickte.

»Ja, Herr Wiedmann«, sagte er. Dann gab der Chauffeur

ihm die Hand. Karli schüttelte sie matt. Und dann ging

Herr Wiedmann rasch den Weg zurück, den sie gekom-

men waren. Er benützte seine eigenen Fußstapfen dazu

und verschwand bald hinter den Bäumen. Zweimal drehte

er sich um und winkte.

Karli winkte zurück.

Als Herr Wiedmann hinter einer verschneiten Hecke ver-

schwand, zog Karli die schwere Jacke um die Schultern

zusammen und fröstelte. Irgendwo im Wald schrie ein

Vogel. Dann war es wieder still. Karli stand auf, setzte

sich auf den bunten Schlitten und starrte die Bäume an.

Er fühlte sein Herz klopfen. Sein Hals tat ihm weh beim

Schlucken. Er dachte an seine Mutter und daran, wie gerne

er zu Hause gewesen wäre.

Lieber Gott, dachte Karli, mach, daß die zwei Stunden

bald um sind!

Hinter ihm, im Wald, schrie wieder der Vogel.

Karli saß ganz still auf dem Schlitten. Er rührte sich nicht.

70

Es war 5 Uhr, und es dämmerte nun schon stark.

Im Autobus hatte Tante Beate das elektrische Licht ange-

knipst, und wenn man draußen im Schnee stand, dann

sah der Wagen aus wie ein gemütliches helles, kleines

Haus mit vielen erleuchteten Fenstern. Die Kinder spiel-

ten >Ich seh' etwas, was du nicht siehst<. Das ist ein sehr

interessantes Spiel, bei dem ein Kind an einen Gegen-

stand denkt, den es in seiner Umgebung sehen kann,

während die anderen Kinder erraten müssen, worum es

sich handelt. Sie fragen der Reihe nach, und wer richtig

rät, darf sich als nächster etwas denken. Im Augenblick

war Hanna daran. Sie dachte an das linke Ohr des

schwarzen Schafes, das sie vor sich auf dem Boden liegen

sah, und die anderen Kinder hatten sie bereits sehr in die

Enge getrieben. Sie wußten schon, daß >es< schwarz, im

Autobus und teilweise aus Fleisch war. Martin fragte

eben: »Ist es der Teil eines Tieres?«, als die Autobustür

aufgerissen wurde und alle erschrocken zusammenfuhren.

Die ängstliche Hanna schrie sogar leise auf. Aber dazu

bestand gar kein Grund, denn in der offenen Autobustür

erschien sofort ein Mensch, den sie alle kannten: Herr

Wiedmann, der Chauffeur. Herrn Wiedmanns Kleider

waren voll Schnee, es sah so aus, als wäre er ein paarmal

gefallen, und er war ziemlich außer Atem. Jetzt kletterte

er in den Wagen, schloß die Tür und setzte sich schwer

atmend auf seinen Sitz hinter dem Lenkrad. Er setzte

sich verkehrt, so daß er sie alle sehen konnte.

»Um Gottes willen«, sagte Tante Beate, »wo kommen Sie

denn her? Und wo ist der kleine Karli?«

Herr Wiedmann holte tief Luft. Und dann berichtete er

in knappen Worten, warum und wie er hierhergekom-

men war und wo sich der kleine Karli befand. Sein gan-

71

zer Bericht dauerte drei Minuten. In diesen drei Minuten

war es totenstill im Autobus. Alle lauschten gespannt.

»Ja«, sagte Herr Wiedmann zuletzt, »so ist das gewesen.

Karli wartet unter dem großen Baum darauf, daß ich zu-

rückkomme. Aber es hat keinen Sinn, daß ich allein kom-

me. Ich brauche jemanden, der mir hilft. Und dieser Je-

mand müßte Tante Beate sein.«

Tante Beate hatte gleichfalls schweigend zugehört. Jetzt

stand sie auf und sagte erregt: »Wie stellen Sie sich denn

das vor, Herr Wiedmann? Ich kann doch nicht einfach

achtzehn Kinder allein lassen! Die Kinder wurden mir

anvertraut, die Nacht k o m m t . . .«

»Die Nacht kommt auch für den kleinen Karli«, sagte

Herr Wiedmann. »Wenn er nicht bald ins Krankenhaus

gebracht wird, ist es für ihn zu spät.«

»Darf ich achtzehn Kinder im Stich lassen, um ein Kind

zu retten?« fragte Beate leise.

72

»Sie lassen die achtzehn Kinder ja nicht im Stich«, sagte

Herr Wiedmann. »Die achtzehn Kinder müssen nur für

kurze Zeit auf sich selbst achtgeben, das ist alles.« Er sah

auf die Uhr. »Viertel sechs«, sagte er, »wir haben keine

Zeit zu verlieren. Bitte, entscheiden Sie sich!«

»Ich kann mich nicht entscheiden!« rief Tante Beate.

»Ja«, sagte Herr Wiedmann entschlossen, »dann müssen

wir die achtzehn Kinder entscheiden lassen!« Tante Beate

wollte ihn unterbrechen, aber er sprach schon weiter.

»Hört zu!« rief Herr Wiedmann, der Chauffeur. »Ihr

habt gerade miterlebt, wie es Tante Beate zu schwer fiel,

euch allein zu lassen. Es ist ihr zu schwer gefallen, weil sie

die Verantwortung für euch übernommen hat und glaubt,

daß sie euch nicht allein lassen kann. Aber ihr seid doch

große Kinder, nicht wahr? Ihr könnt doch bestimmt eine

Nacht lang für euch selber sorgen! Besonders wenn davon

das Leben des kleinen Karli abhängt. Oder irre ich

mich?«

»Sie irren sich nicht, Herr Wiedmann!« rief Thomas.

»Wirklich nicht?« fragte der Chauffeur.

»Wirklich nicht!« riefen alle Kinder. Herr Wiedmann sah

Tante Beate an.

»Bitte«, sagte er. Sie hob hilflos die Schultern.

»Ich weiß trotzdem nicht, ob es richtig ist«, sagte sie leise.

Helmut drängte sich vor.

»Herr Wiedmann«, sagte er schnell, »wenn ich schon

nicht mitgehen darf, um Ihnen zu helfen, Karli ins Kran-

kenhaus zu bringen, dann geben Sie mir wenigstens den

Auftrag, Tante Beate hier zu vertreten. Ich verspreche

Ihnen, daß dann alles in bester Ordnung sein wird!«

»Warum gerade dir?« rief der dicke Martin.

»Ich bin der Größte und der Stärkste«, sagte Helmut.

73

»Bist du auch der Klügste?« fragte Herr Wiedmann.

»Ja«, sagte Helmut, »ich glaube schon.«

Der Chauffeur klopfte ihm auf die Schulter.

»Na«, sagte er, »wäre dir auch die Sache mit dem Salz

eingefallen, um das Schaf zurückzubekommen? Oder

warst du nur so klug, es hinauszulassen?«

Ein paar Kinder lachten, und Helmut senkte den Kopf.

Was hätte er darauf sagen sollen?

»Nein, nein«, sagte Herr Wiedmann, »so geht das auch

nicht, daß wir dich einfach zum Vertreter Tante Beates er-

nennen. Da haben die anderen Kinder auch noch etwas

mitzureden. Vielleicht wollen sie dich gar nicht alle!«

»Warum sollen sie mich nicht wollen?« fragte Helmut

aufgebracht.

»Das weiß ich nicht«, sagte Herr Wiedmann. »Ich weiß

nur, daß jeder von deinen Gefährten dasselbe Recht hat,

zu bestimmen, wen er als Vertreter von Tante Beate se-

hen will. Einen Vertreter brauchen wir, das ist ganz klar.

Aber wir wollen ihn nicht einfach bestimmen!«

»Wie denn wollt ihr ihn ernennen?« fragte Helmut.

Herr Wiedmann sah auf die Uhr. »Na ja«, sagte er dann,

»es ist schon zwanzig Minuten nach fünf, aber dazu müs-

sen wir noch Zeit haben.« Er wandte sich an alle. »Wir

werden ihn wählenl« rief er, und dabei zog er ein Notiz-

buch aus der Tasche. Er nahm ein paar Seiten heraus, zer-

riß sie in der Mitte, bis er auf diese Weise eine ganze

Menge Zettel in der Hand hielt, und gab diese dann an

Martin weiter, der neben ihm stand.

»Verteile sie«, sagte er. Martin tat, was man ihm befoh-

len hatte. Er gab jedem Kind einen Zettel. Herr Wied-

mann sprach inzwischen schon weiter: »Jeder von euch

soll Gelegenheit haben mitzuwählen!« rief er. »Jeder

74

kann auf seinen Zettel den Namen des Jungen oder des

Mädchens schreiben, den er am liebsten als Stellvertreter

Tante Beates sehen möchte! Er kann natürlich auch seinen

eigenen Namen daraufschreiben. Den Zettel soll er dann

zusammenfalten, damit niemand sieht, was er daraufge-

schrieben hat, und ihn wieder abgeben!« Martin hatte

alle Zettel verteilt.

»Habt ihr alle etwas zum Schreiben?« fragte Herr Wied-

mann.

»Ja!« riefen die Kinder.

»Na, dann also los!« sagte der Chauffeur. Die Kinder be-

gannen zu kritzeln. Manche setzten sich in eine Ecke und

hielten die eine Hand über das Geschriebene, damit man

es nicht sehen konnte, andere saßen mit dem leeren Zet-

tel in der Hand da und sahen angestrengt in die Luft, so

als wüßten sie nicht recht, was sie schreiben sollten, und

ein paar flüsterten miteinander, als müßten sie sich noch

beraten. Aber zuletzt waren sie doch alle fertig, und Mar-

tin ging mit einer Pappschachtel herum, um die Zettel

wieder einzusammeln.

Er trug die Schachtel mit den zusammengefalteten Zetteln

zu Herrn Wiedmann zurück, der sie entgegennahm.

»So«, sagte er, »nun wollen wir einmal sehen, wer die

meisten Stimmen bekommen hat.«

Er faltete den ersten Zettel vorsichtig auseinander und las:

»Helmut!«

Helmut strahlte.

»Natürlich«, sagte er.

»Warte es ab«, meinte Herr Wiedmann. »Es kommen

noch siebzehn andere Zettel!«

Auf dem zweiten Papier stand >Martin<. Auf dem drit-

ten stand wieder >Helmut<. Dann kam ein Papier mit

75

>Lucie<. Und dann eines mit >Thomas<. Nach diesem öff-

nete Herr Wiedmann ein >Agathe<-Papier. Und dann

gab es eine Überraschung: Herr Wiedmann öffnete nach-

einander sechs Zettel, auf denen allen Thomas gewählt

wurde!

Die Kinder waren sehr aufgeregt.

Wer würde als Sieger hervorgehen?

Zuletzt war das Resultat klar: Thomas hatte neun Stim-

men bekommen, Helmut vier und Agathe, Lucie, Martin

und zwei andere Jungen je eine.

»Thomas hat also die meisten Stimmen«, sagte Herr

Wiedmann. »Die meisten von euch haben Thomas ge-

wählt, und deshalb wird er Tante Beate vertreten.« Er

sah Thomas an. »Nimmst du die Wahl an?« fragte er ihn.

»Ja«, sagte Thomas.

»Gut«, sagte Herr Wiedmann und wandte sich an die an-

deren. »Dann bitte ich euch, ihm zu folgen in allem, was

er euch sagt. Er wird die Lebensmittel verteilen, und er

bekommt die Autoschlüssel. Ich gratuliere euch im übri-

gen zu eurer Wahl. Ich selber hätte auch nur Thomas ge-

wählt.«

»Ich werde mich bemühen, es gut zu machen, Herr Wied-

mann«, sagte Thomas.

»Davon bin ich fest überzeugt, mein Junge«, erwiderte

der Chauffeur.

Er sah Tante Beate an. »Na«, meinte er, »sind Sie nun et-

was beruhigter?«

Sie lächelte ihn an.

»Ja«, sagte sie. »Mit Thomas als meinem Vertreter bin

ich wirklich beruhigter.«

»Schön«, sagte Herr Wiedmann, »dann will ich nur noch

meine beiden Taschenlampen holen, damit wir in der

76

Nacht den rechten Weg finden.« Tante Beate zog, wäh-

rend Herr Wiedmann tat, was er angekündigt hatte, ih-

ren Mantel an. Martin kam nach vorne und klopfte ihr

auf die Schulter.

»Tante Beate«, sagte er, »wenn du Karli wiedersiehst,

möchtest du ihm das hier mitbringen?«

Tante Beate sah auf die Hand, die er ihr entgegenhielt.

Auf der Hand lag eine Tafel Schokolade.

»Danke, Martin«, sagte Tante Beate erfreut. »Das wird

den armen Karli bestimmt sehr freuen!«

Karli saß zu dieser Zeit noch immer im Schnee unter dem

großen verschneiten Baum. Im Wald war es nun schon

dunkel geworden. Karli lehnte mit dem Rücken an dem

harten Baumstamm und dachte darüber nach, wie spät es

sein konnte. War eine Stunde vergangen, seit Herr Wied-

mann fortging? Oder waren es schon zwei? Karli konnte

es nicht sagen. Er hatte jedes Gefühl für die Zeit ver-

loren. Er saß da und zitterte gelegentlich. Gegenüber, hin-

ter einem dichten Gebüsch, raschelte es von Zeit zu Zeit

auf wirklich unheimliche Weise.

Karli sah angestrengt hinüber, aber er konnte nichts er-

kennen.

Es ist der Wind, sagte er sich. Aber er glaubte selbst nicht

recht daran, daß es der Wind war. Der Wind raschelt an-

ders. Ganz anders. Karli räusperte sich, um selbst ein

bißchen Lärm zu machen, aber das Räuspern tat ihm weh,

und so ließ er es wieder sein.

Ich habe keine Angst, sagte er sich. Es besteht gar kein

Grund, Angst zu haben. Es ist doch der Wind. Außerdem

77

sind bestimmt schon zwei Stunden um, und Herr Wied-

mann wird jeden Augenblick zurückkommen.

Es kann sich nur noch um Minuten handeln. Angst zu ha-

ben, ist ganz lächerlich. Nur Feiglinge haben Angst. Und

ich bin kein Feigling. Ich habe also auch keine Angst.

Hinter dem Gebüsch ist überhaupt nichts. In diesem

Augenblick raschelte es wieder hinter dem Gebüsch. Karli

riß die Augen auf - vergeblich. Es war viel zu dunkel im

Wald, als daß man auch nur noch das geringste hätte er-

kennen können. Karli zitterte ein bißchen. Dann nahm er

sich zusammen und sagte laut, obwohl ihm der Hals da-

bei weh tat: »Ich habe keine Angst!« Er schwieg und

wartete. Dann sagte er: Ȇberhaupt keine Angst habe

ich.«

Er fand, daß es beruhigend war, die eigene Stimme zu

hören, und deshalb sagte er es noch ein paarmal.

Als er es gesagt hatte, lachte er plötzlich.

Es hallte unheimlich in dem stillen Wald, aber Karli fand,

daß es ihm auch Spaß machte zu lachen. Und deshalb

lachte er noch einmal. Danach sagte er wieder ein paar-

mal, daß er keine Angst habe. Nach einigen Minuten, die

er so zubrachte und in denen es gelegentlich hinter dem

Gebüsch raschelte, wurde seine Stimme leiser. Sein Kopf

sank nach vorne auf die Brust, und er seufzte.

»Gar keine Angst«, sagte er noch einmal undeutlich.

Dann war er eingeschlafen.

Hinter dem Gebüsch entstand neuerlich Bewegung. Dann

teilten sich die verschneiten Äste, und ein großer grauer

Hase kam hervor. Der Hase hoppelte langsam und neu-

gierig durch den Schnee zu dem Baum, an dem Karli

lehnte, und setzte sich neben ihn. Er sah ihn interessiert

an und rührte sich nicht.

78

Nur einmal schnupperte er.

Seine kleinen runden Augen leuchteten in der Dunkel-

heit.

Im Autobus waren Herr Wiedmann und Tante Beate auf-

bruchbereit.

»Also seid brav, Kinder«, sagte Tante Beate, »und folgt

Thomas schön. Spätestens morgen früh sehen wir uns

wieder.«

»Hast du die Schokolade?« rief Martin aufgeregt.

Tante Beate nickte. »Ja, hier!«

»Gott sei Dank«, sagte Martin. »Ich hatte schon Angst,

sie ist verlorengegangen.«

Herr Wiedmann öffnete die Autotür und stieg ins Freie.

Er ließ seine Taschenlampe aufleuchten und half Tante

Beate beim Aussteigen.

»Schlaft schön!« rief er. »Und gute Nacht!«

»Gute Nacht!« riefen die Kinder. Die Tür fiel hinter Tan-

te Beate zu. Die Kinder blickten den Erwachsenen nach,

aber es war nun schon so dunkel, daß man nichts mehr

sehen konnte als den Schein von Herrn Wiedmanns Ta-

schenlampe, der, über den Schnee flackernd, sich entfernte.

Thomas war einer der letzten, die sich wieder von den

Fenstern wegdrehten. Als er es schließlich tat, stieß er mit

Helmut zusammen, der direkt hinter ihm stand.

»Ja, was gibt es?« fragte Thomas.

»Ich wollte dir nur etwas sagen«, erklärte der blonde

Junge. »Ich habe dich nicht gewählt. Für mich bist du

nicht der Vertreter von Tante Beate, damit du es nur

weißt!«

79

Das vierte Kapitel

Ich erkenne die Wahl nicht an - Man beweist Mut nicht nur mit der Faust, man braucht auch den Kopf dazu - Der dicke Martin macht

einen Vorschlag zur Güte - Helmut schließt sich selbst aus - Man

muß an die Verpflegung denken - 61 Schinkensemmeln, 33 saure

Gurken und 67 harte Eier - Josef wird beinahe vergessen - Karli

hat einen schrecklichen Traum - Die Jungen stellen Wachen auf -

Tante Beate kann nicht mehr - Herr Wiedmann sieht ein Licht und

bekommt einen Kuß - »Hier Städtisches Krankenhaus!« - Helmut

setzt einen Plan in die Wirklichkeit um - Schinkenbrote und Äpfel

liegen im Schnee.

Die beiden Jungen standen einander gegenüber, und bei-

de schwiegen eine Weile. Dann fragte Thomas: »Was

willst du damit sagen?«

Die anderen Kinder kamen neugierig herbei. Der blonde

Helmut warf den Kopf zurück: »Ich will damit sagen, daß

du mir den Buckel herunterrutschen kannst! Ich werde

mich um nichts kümmern, was du anordnest. Für mich

bist du überhaupt Luft!«

Der dicke Martin lachte wütend. »Du bist ja nur böse,

weil wir dich nicht gewählt haben!« rief er.

»Es wäre besser, wenn ihr es getan hättet«, sagte Hel-

mut.

»Und warum?«

»Weil ich stärker und größer bin als der da«, erklärte

80

Helmut und zeigte auf Thomas. »Und mutiger auch«,

fügte er hinzu.

»Mut beweist man nicht nur mit den Muskeln«, erwider-

te Thomas ruhig. »Man braucht auch den Kopf dazu!«

Helmut trat nahe an ihn heran und betrachtete ihn aus

schmalen Augen. »Also du bist auch mutig, ja?«

»Ich glaube schon«, sagte Thomas.

Helmut nickte. »Gut«, sagte er, »dann mache ich dir einen

Vorschlag. Wir ringen. Dabei kannst du zeigen, wie mu-

tig du bist. Und wenn du mich besiegst, dann will ich dich

als Vertreter von Tante Beate anerkennen. Wenn du mich

aber nicht besiegst, dann bin ich ihr Vertreter!« Er sah Thomas erwartungsvoll an, und auch die anderen Kinder

machten neugierige Gesichter. Aber Thomas schüttelte nur

still den Kopf.

»Nein«, sagte er.

»Was, nein?«

»Nein, ich werde nicht mit dir ringen.«

Helmut lachte. »Das habe ich mir so vorgestellt! Du bist

eben ein Feigling!«

»Das hat mit Feigheit nichts zu tun«, erwiderte Thomas.

»Doch hat es!« rief Helmut.

»Nein«, sagte Thomas. »Es hat nichts mit Feigheit zu tun.

Die anderen Kinder haben mich gewählt. Sie hätten auch

dich wählen können. Aber sie haben es nicht getan. Die

Wahl ist viel wichtiger als unsere Prügelei. Es ist ganz

leicht möglich, daß du mich besiegst, wenn wir ringen,

und daß du stärker bist als ich. Aber damit ist überhaupt

nichts bewiesen. Denn dann könnte zum Beispiel Martin

kommen und dich herausfordern und besiegen und

dann . . .«

»Das könnte er nie!« rief Helmut.

81

»Ha, ha«, sagte Martin ironisch.

»Hört auf«, sagte Thomas. »Es ist ganz gleich, ob er es

kann oder nicht. Es war nicht der Sinn der Wahl, daß wir

uns nach ihr zu prügeln beginnen. Und weil es nicht ihr

Sinn war, will ich es auch nicht tun.« Er wandte sich an

die anderen. »Wenn ihr lieber Helmut als mich habt,

dann könnt ihr es noch immer sagen!«

»Nein!« riefen die Kinder. »Wir wollen dich, Thomas!«

»Da siehst du es«, meinte Thomas. »Du kannst dich nicht

selber wählen, wenn die anderen dich nicht wollen. Sel-

ber wählen, wenn die anderen dich nicht wollen, kannst

du dich nur, indem du alle zusammen verprügelst. Dazu

hätten wir aber wirklich keine Wahl gebraucht.«

»Außerdem möchte ich einmal sehen, wie er uns alle zu-

sammen verprügelt!« rief ein Junge.

Der dicke Martin schob sich nach vorne. »Thomas«, sagte

er, »ich habe eine Idee. Ich ringe mit Helmut als dein

Stellvertreter. Du brauchst dir nicht die Hände schmutzig

zu machen, und Angst zu haben brauchst du auch nicht.

Den erledige ich mit der linken Hand.«

Helmut lachte. »Das möchte ich erst einmal sehen!« rief

er.

»Nein«, sagte Thomas. »Hier wird sich niemand prü-

geln.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Weil mit Prügeln nichts bewiesen ist, mein Lieber«, sag-

te Thomas. »Damit mußt du dich einmal abfinden. Wenn

du das nicht kannst, dann tu eben, was du willst!«

Der blonde Helmut trat von Thomas zurück.

»Das brauchst du mir nicht zweimal zu sagen!« rief er.

»Und ob ich tu, was ich will!« Er drehte sich um und sah

die anderen an. »Ihr werdet ja sehen, wohin ihr kommt

mit eurem Thomas! Wenn es nach ihm geht, dann sitzt ihr

in einer Woche noch hier! Ich bin ja nicht verrückt, daß

ich mich von ihm herumkommandieren lasse!«

»Halt schon endlich den Mund«, sagte der dicke Martin.

»Du machst mich ganz nervös!«

»Du wirst noch viel nervöser werden«, sagte Helmut.

Dann drehte er sich um. »So«, sagte er, »ihr Wickelkin-

der, und jetzt möchte ich mein Essen und meine Decken

zurück, denn ich mache nicht mehr mit bei eurem Idioten-

verein.« Er sah Thomas an. »Na«, meinte er, »das ist dir

wahrscheinlich weniger angenehm, was?«

»Es ist mir ganz gleichgültig«, sagte Thomas. »Bitte,

nimm zurück, was dir gehört. Wir werden auch ohne dein

Essen auskommen.«

Thomas ging zu dem Autobussitz, auf dem die Kinder

83

ihre Vorräte zusammengetragen hatten, schlug eine Decke

zurück und sagte: »Bitte, bediene dich!«

Helmut folgte ihm und suchte aus den vielen Butterbrot-

paketen und Schokoladetafeln aus, was ihm gehörte. Die

anderen paßten auf. Zuletzt nahm Helmut seine beiden

Decken, warf sie über die Schultern und ging, ohne auch

nur ein Wort zu sagen, nach hinten, dorthin, wo er an

diesem Tag schon einmal gesessen hatte - zu den Koffern

und Rucksäcken.

Dort setzte er sich nieder und begann in großer Ruhe zu

essen. Er aß Wurstsemmeln und Orangen. Er tat, als

wäre er allein im Autobus. Die anderen schienen nicht

mehr für ihn zu existieren. Thomas sah ihm eine Weile

zu.

»So«, sagte er dann, »und jetzt wollen auch wir endlich

zu Abend essen!« Diese Erklärung regte die anderen so

auf, daß sie Helmut vollkommen vergaßen. Er hockte im

Halbdunkel zwischen den Koffern, aß seine Semmeln und

sah verärgert, wie sich die Kinder um Thomas drängten.

Sie betrachteten den Haufen Lebensmittel auf dem Sitz.

»Paßt auf«, sagte Thomas, »wahrscheinlich kommen die

Erwachsenen schon morgen vormittag, um uns auszugra-

ben, und wir brauchen deshalb nur Essen für ein Nacht-

mahl und ein Frühstück.«

»Und vielleicht für ein Mittagessen«, sagte der vorsichti-

ge Martin.

»Stimmt«, sagte Thomas. »Aber ich glaube, wir sollten

einmal daran denken, daß es vielleicht noch länger

dauert, bis man zu uns kommt. Möglicherweise bis mor-

gen abend. Oder, wenn alles schiefgeht, bis übermor-

gen!«

Hanna erschrak. »So lange?« rief sie ängstlich.

84

Thomas schüttelte den Kopf.

»Bestimmt nicht so lange! Aber wir wollen es uns doch

einmal vorstellen. Es muß nicht so sein. Aber es kann so sein. Und wenn wir das Essen nur für zwei Mahlzeiten

einteilen, d a n n könnte es sein, daß wir dann hungern

müssen!«

Aus dem Kofferraum des Autobusses erklang Helmuts

Lachen. »Dann k ö n n t e es sein, dann könnte es sein!« rief

er und ahmte T h o m a s ' Stimme nach. »Ihr Milchkinder,

ich sage euch ja, ihr werdet in einer Woche noch hier sit-

zen, wenn ihr auf Thomas hört!«

»Was würdest du denn machen, wenn wir auf dich hör-

ten?« fragte ein Mädchen.

»Ich würde nicht hierbleiben, sondern mit euch allen nach

Bergstadt gehen. Da wären wir morgen früh schon in

Sicherheit.«

Martin w a n d t e sich verblüfft an Thomas. »Du«, sagte er,

»das ist aber gar nicht so d u m m ! W a r u m gehen wir denn

nicht wirklich alle zusammen fort, anstatt hier herumzu-

sitzen und zu warten?«

»Weil wir es T a n t e Beate versprochen haben«, sagte Tho-

mas. »Und weil wir nicht alle stark genug sind, um so

weit durch den Schnee zu gehen.«

Der dicke Martin sah die kleine, schmale H a n n a an seiner

Seite an und sagte verlegen: »Ja, das ist auch wahr. Ent-

schuldige, daran habe ich nicht gedacht!«

Thomas nickte.

»Schon gut«, meinte er. »Ich schlage vor, wir verteilen

das Essen nicht so, daß es nur für zwei Mahlzeiten reicht,

sondern so, daß wir fünf Mahlzeiten daraus bereiten

können.«

»Wieso fünf?« fragte ein Junge.

85

»Jetzt ein Abendessen«, erklärte Thomas, »morgen ein

Frühstück, dann ein Mittagessen, dann noch ein Abend-

essen und zur Sicherheit noch ein Frühstück.«

»Und wenn die Erwachsenen viel früher kommen?« frag-

te der dicke Martin.

»Dann kannst du alles, was noch da ist, allein aufessen«,

sagte Thomas, und die Kinder lachten. »Seid ihr einver-

standen?« fragte er.

»Ja«, riefen die Kinder.

»Gut«, sagte Thomas, »dann wollen wir einmal sehen,

was da ist.« Sie begannen, die Lebensmittel zu sortieren:

das Obst auf einen Haufen, die Schokolade auf einen

zweiten, die Butterbrote auf einen dritten, und die Schin-

kensemmeln kamen auf einen vierten Haufen.

Dabei hatte der dicke Martin (natürlich er, wer sonst?)

wieder eine Idee.

»Moment, Moment!« rief er plötzlich aufgeregt. Die an-

deren hörten mit dem Zählen auf und sahen ihn an.

»Was ist denn?« fragte Lucie.

»Mir ist etwas eingefallen«, erklärte Martin. »Zuerst wa-

ren wir neunzehn Kinder, nicht wahr? Dann hat Helmut

seine Sachen wieder zurückgenommen, und wir waren

nur noch achtzehn.«

»Na und?« sagte Lucie.

»Wir sind aber gar nicht achtzehn«, rief Martin. »Wir

sind nur siebzehn, denn Karli ist auch nicht mehr da!«

Die Kinder nickten. Daran hatten sie nicht gedacht.

»Er ist nicht da«, fuhr Martin fort, »aber sein Freßpaket

liegt noch hier. Er braucht es nicht. Sollen wir es liegen-

lassen, oder sollen wir es nicht lieber auch verteilen?«

»Verteilen natürlich!« rief Lucie. Und die anderen Kinder

waren auch dafür.

86

»Nein!« sagte Thomas plötzlich mit lauter Stimme.

»Nein, was?«

»Wir werden das Freßpaket nicht verteilen«, erklärte

Thomas fest.

»Aber warum nicht?«

»Weil Karli Diphtherie hat«, sagte Thomas.

»Na und?«

»Ich habe einmal gelesen, daß Diphtherie eine an-

steckende Krankheit ist«, sagte Thomas »Wir können sie

alle bekommen, weil wir alle mit Karli zusammen waren.

Ich sage: Wir können sie bekommen. Wir müssen nicht.

Aber wenn wir Sachen essen, die er in der Hand gehabt

hat, dann können wir sie viel leichter bekommen. Und

deshalb werden wir die Sachen nicht anrühren.«

Das leuchtete den anderen ein. Sie nickten.

»Wir werden auch seine Decken nicht benutzen«, sagte

Thomas. »Wir werden das Essen und die Decken in den

Schnee hinauslegen.«

Martin seufzte.

»Außerdem werden wir uns alle im Schnee die Hände

waschen, bevor wir essen«, fuhr Thomas fort. »Denn wir

haben Karli die Hand gegeben und ihn angerührt.«

»Hör schon auf!« rief ein Junge. »Am besten wäre es,

wenn wir überhaupt aus dem Autobus fortkämen, denn

Karli hat schließlich auch im Autobus gesessen!«

»Ja«, sagte er, »das wäre das beste! Doch das geht leider

nicht. Wir können nur tun, was geht. Aber das müssen

wir tun. Oder will vielleicht einer von euch Diphtherie

bekommen?«

»Blöde Frage«, sagte Martin.

»Na also«, sagte Thomas.

»Aber um das Freßpaket ist es doch ein Jammer«, sagte

87

der dicke Martin abschließend. Er konnte es nicht unter-

drücken. Danach kletterten sie alle in den Schnee hinaus

und wuschen sich die Hände. Nur Helmut blieb im Wa-

gen und sah hämisch lächelnd zu.

Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatten, begannen

sie mit einer Bestandsaufnahme des Essens. Sie zählten

alles. Und zuletzt nahm Thomas einen Zettel und schrieb

auf, was sie besaßen. Auf dem Zettel stand:

61 Schinkensemmeln

24 Wurstsemmeln

68 Butterbrote

33 saure Gurken

81 Äpfel

21 Orangen

51 Tafeln Schokolade

173 Bonbons

23 Packungen Keks

12 Bananen

67 harte Eier

Danach ergab sich sofort ein neues Problem. Martin

schlug vor, die gesamten Vorräte in 17 Teile zu teilen und

jedem die gesamte Portion für fünf Mahlzeiten zu über-

geben.

»Jeder soll essen können, wann und was er will!« meinte

der dicke Junge.

Dagegen sprach sich Agathe aus. »Ich halte das nicht für

gut«, erklärte sie mit leiser Stimme und stellte sich dabei

auf die Zehenspitzen, damit die anderen sie besser sehen

konnten. »Denn wenn jeder gleich alles bekommt, dann

werden gewisse Leute auch gleich alles aufessen und

nichts mehr haben und zu den anderen betteln gehen.«

88

»Mit den >gewissen< Leuten meinst du mich, nicht?« fragte

Martin empört.

»Ich habe gesagt >gewisse< Leute. Ich meine niemanden

besonderen«, erwiderte Agathe.

Thomas unterbrach sie.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte er. »Ich glaube, es

ist besser, wir lassen die Vorräte auf einem Haufen und

nehmen nur jedesmal so viel, wie wir für eine Mahlzeit

brauchen!«

»Ich halte das für eine Kateridee«, sagte Martin bockig.

»Schön«, meinte Thomas. »Stimmen wir ab! Wer ist da-

für, daß die Vorräte zusammenbleiben?«

14 Kinder hoben die Hand.

»Wer ist dagegen?«

Drei Kinder hoben die Hand. (Es waren Martin und zwei

Jungen.)

»Die Vorräte bleiben zusammen«, erklärte Thomas.

»Wir beugen uns vor dem Beschluß der Mehrheit«, sagte

Martin vornehm.

»Es bleibt euch auch nichts anderes übrig«, sagte die

kleine Agathe. Und dann begannen die Mädchen, das

Abendessen zu verteilen. Die Jungen sahen ihnen dabei

genau auf die Finger, besonders Martin.

Zum Abendessen bekam jedes Kind eine Wurstsemmel,

ein Butterbrot, einen Apfel, ein hartes Ei, eine halbe Ta-

fel Schokolade und drei Bonbons. Sie fanden alle, daß

das ein sehr ausgiebiges Abendessen war. Sie setzten

sich, und es wurde auf einmal ganz still im Autobus,

während sie zu essen begannen. Richtig feierlich still!

In die feierliche Stille hinein ertönte plötzlich ein Auf-

schrei. Die Kinder fuhren erschrocken herum.

Es war Lucie, die geschrien hatte.

89

»Bist du verrückt geworden?« fragte Martin, der sich vor

Schreck verschluckt hatte. »Was schreist du denn so?«

»Josef!« rief Lucie mit schriller Stimme. »Josef! Wir ha-

ben Josef vergessen!«

Die Kinder ließen ihre Wurstsemmeln sinken.

Bei Gott, sie hatten Josef, das dicke schwarze Schaf, ver-

gessen! Martin faßte sich als erster.

»Josef ist so dick, daß er ruhig einmal ein bißchen hun-

gern kann«, meinte er.

Lucie sprang auf. »Du bist genauso dick!« rief sie. »Ich

möchte wissen, was du sagen würdest, wenn man dir

nichts zu essen gäbe!«

»Ich bin ein Mensch«, sagte Martin. »Josef ist ein Tier.

Menschen kommen zuerst!«

Lucie wandte sich an Thomas. »Aber das geht doch nicht!«

rief sie. »Josef kann doch nicht einfach hungern!«

»Du kannst ihm ja dein Essen geben!« rief ein Junge.

Thomas stand auf. »Ich kann natürlich niemanden zwin-

gen, Josef etwas abzugeben«, sagte er. »Aber ich glaube,

daß ich ihm jedenfalls eine halbe Wurstsemmel geben

werde.« Und das tat er auch.

Josef fraß sie schnell und leckte ihm dankbar die Hand.

Die Kinder sahen beschämt zu. Nachdem Thomas sich

wieder gesetzt hatte, fütterte Lucie das Schaf. Dann stand

der dicke Martin auf. Er versuchte, Josef ein saures Bon-

bon zu geben, aber Lucie sah ihn an, und sofort brach er

ein Stück seines Butterbrotes ab. Von da an stand ein

Kind nach dem anderen auf und brachte Josef zu essen.

Auf diese Weise wurde das Schaf satt und legte sich zu-

frieden auf den Boden. Die anderen Kinder wußten nicht,

was sie tun sollten. Sie wollten dem Schaf auch zu essen

geben.

90

»Heute hat es genug«, erklärte Lucie, die es wissen muß-

te. »Aber morgen zum Frühstück könnt ihr ihm etwas ge-

ben!«

Die Kinder nickten. Sie setzten sich wieder und fuhren

fort zu essen.

»Es hat mir noch nie so gut geschmeckt«, sagte Martin.

»Ja«, sagte die kleine Hanna, »das stimmt!« Sie steckte

eine saure Gurke in den Mund, aber sie vergaß abzubei-

ßen. Sie starrte plötzlich vor sich hin.

»Na«, sagte Martin, der sie beobachtete, »was hast du

denn auf einmal?«

»Nichts«, sagte Hanna. »Glaubst du, daß Tante Beate

jetzt schon bei Karli ist?«

91

Karli schlief.

Er lag unter dem großen verschneiten Baum im Wald und

träumte, er säße in einer bunten Luftschaukel auf einem

Jahrmarkt. Die Musik spielte, es waren viele Menschen

da, und alle Schaukeln waren voll besetzt. In jeder saßen

oder standen zwei Leute und schwangen die Schaukeln

auf und nieder, nur in seiner Schaukel war ein Sitz leer

geblieben, und er war allein.

Er stand auf, beugte die Knie und schwang die bunte

Holzschaukel heftig auf und nieder. W e n n er hinaufflog,

sagte er »Huuu!«, und wenn er hinunterflog, rief er

»Hiiiii!« Und dabei hatte er das Gefühl, daß sein Magen

hin und her zu w a n d e r n begann. Die Menschen unter

ihm wurden klein wie Puppen, er sah über die Dächer der

Buden hinweg, und die Schaukel flog immer höher. Nun

stieß sie schon oben an, Karli stand beinahe kopf, wenn

sie richtig ausschlug, und er fühlte, daß ihm ein bißchen

schwindlig wurde. Er beschloß, mit dem Schwingen

aufzuhören und zu bremsen.

Aber das Bremsen half nichts! Sosehr er sich auch gegen

die Bewegung der Schaukel stemmte, sosehr er auch ver-

suchte, ihren Flug aufzuhalten - die Schaukel wurde im-

mer wilder. N u n überschlug sie sich bereits wie ein rollen-

der Reifen, und Karli stand plötzlich auf dem Kopf, wo-

bei er sich fest anhalten mußte, um nicht hinunterzufal-

len. Die ganze Gegend wirbelte um ihn. Alles drehte sich

im Kreis. Die Häuser flogen auf ihn zu und von ihm weg,

die Menschen wurden groß und wieder ganz klein, und

die Musik dröhnte in seinen O h r e n , daß ihm ganz

schlecht wurde.

»Aufhören!« schrie Karli. »Aufhören! Aufhören!!!« Aber

niemand hörte ihn. Die Schaukel war toll geworden. Sie

92

drehte sich schon so schnell wie ein Autorad, und die Bal-

ken, an denen sie hing, begannen zu ächzen. Sie stöhnten

und schwankten, und das ganze Gerüst wackelte wie im

Sturm.

»Hilfe!« schrie Karli.

Niemand hörte ihn.

Und plötzlich gab es einen entsetzlichen Ruck, und er sah

verzweifelt, wie die Balken, an denen die Schaukel hing,

aus der Erde gezogen wurden. Die Schaukel erhob sich

mit ihm in die Lüfte.

Wie ein Komet sauste Karli nun dahin, die langen Balken

flogen hinter ihm her, und er beschrieb einen riesenhaf-

ten Bogen über den Himmel. Die ganze Stadt glitt unter

ihm weg, und dann begann die Schaukel zu stürzen.

Die Luft rauschte an Karli vorüber, während sie stürzten,

und er sah mit Entsetzen, wie die Häuser und Kirchtürme

größer und größer wurden und in rasender Eile auf ihn

zukamen. Karli schloß die Augen.

Jetzt, dachte er, jetzt gleich werden wir zusammensto-

ßen!

Im nächsten Augenblick gab es einen ohrenbetäubenden

Krach, und er schrie auf.

Er schrie noch, als er die Augen aufschlug.

Er lag im Schnee, und Herr Wiedmann leuchtete ihm mit

einer Taschenlampe ins Gesicht. Hinter Herrn Wiedmann

stand Tante Beate.

Karli sah sie beide wie durch dichten Nebel.

»Sei still, Karli«, sagte Herr Wiedmann, während er ihn

hochhob und auf den Schlitten bettete, wo er ihn zudeck-

te, »jetzt sind wir ja wieder bei dir.«

Karli klapperte vor Angst mit den Zähnen.

»Warum hast du denn geschrien?« fragte Tante Beate.

93

»Die Schaukel ist davongeflogen«, sagte Karli. Tante

Beate sah Herrn Wiedmann an, und dieser schüttelte den

Kopf.

»Hier«, sagte er und gab Karli die Schokolade, die er vom

dicken Martin erhalten hatte, »das schickt dir Martin.«

Karli sah die Schokolade an, aber er nahm sie nicht.

»Martin war nicht in der Schaukel«, sagte er.

»Karli, das ist Schokolade!« rief Tante Beate.

»Mit Schokolade hätte ich vielleicht bremsen können«,

sagte Karli. »Aber so sind wir zusammengestoßen . . .«

Er seufzte, schloß die Augen und murmelte etwas, was

man nicht verstehen konnte.

Nur plötzlich rief er laut: »Vorsicht! Ein Kirchturm!«

Herr Wiedmann zuckte mit den Schultern und legte ihm

eine Hand auf die heiße Stirn.

»Er phantasiert«, sagte er. »Wir müssen uns jetzt sehr

beeilen!«

Tante Beate nickte. Sie hob den Schlitten mit Karli hin-

ten auf, Herr Wiedmann hob ihn vorne. Zusammen gin-

gen sie weiter in den Wald hinein. Herr Wiedmann hatte

seine Taschenlampe an einem Knopf seiner Jacke befestigt,

die er wieder angezogen hatte. Den Spaten trug er unter

den Arm geklemmt. Die beiden Erwachsenen wanderten

weiter in den Wald hinein.

Karli wußte von alldem schon nichts mehr.

Er war wieder eingeschlafen.

Im Autobus hatten die Kinder ihr Abendessen beendet

und bereiteten sich zum Schlafen vor. Thomas verteilte

die Decken, als Kopfpolster nahmen die Kinder ihre

94

Mäntel und Schals. Manche machten sich in ihren Ecken

richtige kleine Nester. Sie behielten alle ihre Schuhe und

Kleider an.

Helmut saß noch immer zwischen den Koffern. Er sah

den anderen zu, aber er rührte sich nicht. Nur einmal

stand er auf, um seine eigene Decke auszubreiten.

Thomas rief die Jungen zusammen.

»Paßt auf«, sagte er, »die Mädchen kommen für das, was

ich vorhabe, nicht in Frage. Die Mädchen sollen schlafen.

Aber ich glaube, es wird gut sein, wenn wir einen Wach-

dienst einrichten.«

»Wozu?« fragte Martin.

»Für den Fall, daß die Erwachsenen noch in der Nacht zu-

rückkommen«, sagte Thomas. »Dann werden sie uns

leichter finden. Oder vielleicht passiert irgend etwas.«

»Was soll passieren?« fragte ein Junge.

»Das weiß ich nicht«, sagte Thomas. »Aber wenn etwas

passiert und einer von uns wach ist, dann kann er gleich

die anderen wecken.«

Das leuchtete den Jungen ein.

Thomas nahm seine Armbanduhr ab. »Ich fange an«,

sagte er. »Jeder wacht eine Stunde. Ich gebe meine Uhr

weiter. Jetzt ist es acht Uhr. Um sechs Uhr ist es schon et-

was hell. Bis dahin wollen wir wachen. Wir sind zehn, es

geht sich gerade aus.«

»In welcher Reihenfolge wollen wir wachen?«

»Das können wir gleich bestimmen«, sagte Thomas.

Hinten bei den Koffern hörte Helmut zu. Er wäre am

liebsten nach vorne gelaufen und hätte mitgemacht, denn

die Sache mit dem Wachen regte ihn sehr auf. Aber er

blieb sitzen. Nein, dachte er, er hatte eine viel bessere und

aufregendere Idee!

95

Die Jungen hatten mittlerweile die Reihenfolge bestimmt.

Thomas verriegelte die Tür des Autobusses.

»Schaut her«, sagte er. »Hier sind die Schalter für die

Scheinwerfer! Wenn ihr etwas seht oder hört, dann dreht

ihr sie an!« Er zeigte den anderen, wie man die Schein-

werfer in Betrieb setzte.

»Woher weißt du denn das alles?« fragte Martin beein-

druckt.

»Ich habe Herrn Wiedmann in Salzburg gebeten, es mir

zu erklären«, sagte Thomas. Er ließ die Jungen an die

Schalter und wartete, bis alle gezeigt hatten, daß sie die

Scheinwerfer bedienen konnten.

»Und wenn etwas los ist, dann weckt ihr sofort die ande-

ren auf!« sagte er.

Die Jungen nickten und zogen sich auf ihre Plätze zu-

rück.

»Habt ihr alles, was ihr braucht?« fragte Thomas.

»Ja«, riefen die Kinder.

»Gut«, sagte Thomas. »Dann drehe ich jetzt das Licht

aus.« Er tat es. Im Autobus wurde es dunkel, von drau-

ßen leuchtete hell der Schnee im Licht des Mondes, der

eben über einen Berg heraufkam.

Thomas setzte sich an den Platz Herrn Wiedmanns hinter

dem Steuerrad, man konnte seinen Rücken als Silhouette

sehen. Er drehte einmal kurz die Scheinwerfer an, dann

löschte er sie wieder.

Im Autobus wurde es still.

»Gute Nacht allerseits«, sagte Thomas.

»Gute Nacht«, murmelten die Kinder. Sie rutschten noch

in ihren Sitzen hin und her, streckten und dehnten sich,

gähnten und zogen ihre Decken zurecht.

Lucie sah nach, was Josef machte. Er schlief bereits, und

96

als sie ihn streichelte, brummte er ein bißchen im Traum.

Der dicke Martin legte einen Arm um Hanna und zog

ihre Decke hoch.

»Liegst du gut?« fragte er.

»Ja«, sagte Hanna schläfrig. »Wann mußt du wachen?«

»Von fünf bis sechs«, sagte Martin stolz. »Ich bin der

letzte!«

»Hast du gar keine Angst?«

»Angst«, wiederholte Martin so, als wäre ihm überhaupt

noch nicht der Gedanke gekommen. »Wovor denn?«

»Ich weiß nicht, wovor. Ich habe nur gedacht, du hättest

vielleicht welche«, murmelte Hanna schläfrig. Sie lehnte

sich an ihn, und er hielt sie fest in seinem Arm. Er kam

sich unerhört stark und erwachsen vor.

Nach und nach hörten auch die geflüsterten Gespräche

auf. Der Mond stand jetzt über dem Berg, und sein grü-

nes Licht fiel auf den roten Autobus. Vorne, hinter dem

Lenkrad, saß Thomas. Er sah auf seine Uhr. Es war halb

neun.

Herr Wiedmann und Tante Beate marschierten durch die

Nacht. Im Mondschein war es leichter, den Weg zu

finden, und eine Zeitlang blieb der Schnee so hart, daß

man auf ihm weiterkommen konnte, ohne zu graben. Sie

trugen den Schlitten mit Karli. Tante Beate ging hinten,

Herr Wiedmann vorne. Sie trugen ihn ein weites Stück,

dann setzten sie ihn nieder und ruhten sich eine Weile

aus. Und dann trugen sie ihn weiter. Tante Beate taten

die Arme und die Beine weh, aber sie sagte kein Wort.

Sie sah nur immer wieder besorgt nach Karli, der nicht

97

mehr richtig aufwachte. Er sprach im Traum, phantasierte

und schlief schlecht. Wenn er die Augen manchmal öffne-

te, erkannte er niemanden und wußte sichtlich nicht, wo

er war und was mit ihm geschah. Gegen Mitternacht ka-

men sie dann wieder in tiefen Schnee, und Herr Wied-

mann mußte einen Pfad freischaufeln. Tante Beate setzte

sich erschöpft an das Fußende des Schlittens. Sie seufzte

tief und massierte ihre schmerzenden Beine.

«Jetzt kann es nicht mehr weit sein«, sagte Herr Wied-

mann, der sich nach ihr umdrehte, mitleidig. »Meiner An-

sicht nach müssen wir bald wieder zur Straße kom-

men.«

»Hoffentlich«, sagte Tante Beate. »Lange halte ich es

nicht mehr aus.«

»Denken Sie an den Jungen«, sagte Herr Wiedmann über

die Schulter, während er Schnee schaufelte. »Der muß

heute nacht noch ins Krankenhaus, sonst ist es zu spät für

den armen Kerl!«

»Glauben Sie auch wirklich, daß wir auf dem richtigen

Weg sind?« fragte Tante Beate.

»Ich hoffe es«, sagte Herr Wiedmann, ein bißchen ge-

reizt. »Ich habe jedenfalls alles getan, um . . .«

Er sprach nicht weiter.

»Was haben Sie denn?« fragte Tante Beate.

Er gab keine Antwort.

»Herr Wiedmann!« rief sie. »Was ist passiert?«

Der Chauffeur starrte in die Ferne.

»Licht«, sagte er. »Ich sehe ein Licht!«

Tante Beate sprang auf.

»Wo?« rief sie.

»Dort vorne!«

Herr Wiedmann zeigte mit der Hand. Und tatsächlich:

98

Weit vor ihnen, im Schnee, leuchtete ein kleines helles

Licht herüber.

Es schien aus einem Fenster zu kommen. Und das Fenster

mußte zu einem Haus gehören! Und in dem Haus muß-

ten Menschen sein! Und die Menschen würden ihnen hel-

fen!

Tante Beate konnte vor Aufregung nicht still stehen.

»Licht!« schrie sie laut. Und dann fiel sie Herrn Wied-

mann plötzlich um den Hals und gab ihm einen Kuß. Im

nächsten Augenblick ließ sie ihn erschrocken wieder

los.

»Verzeihen Sie, Herr Wiedmann«, sagte sie verlegen. »Das

ist sonst nicht meine Art. Es war nur, weil ich so glücklich

bin.«

»Schon gut«, sagte der Chauffeur. »Sie brauchen sich

nicht zu entschuldigen, Fräulein Beate. Ich bin auch glück-

lich.«

Und dann küßte er sie gleichfalls.

Gegen dreiviertel eins hatten sie sich bis auf wenige Me-

ter an das Haus herangearbeitet. Das Licht schien noch

immer. Der Schnee wurde wieder härter, und Herr Wied-

mann sah, daß sich hinter dem Haus die Landstraße hin-

zog. Und die Landstraße war nicht verschüttet! Er blickte

sich nach Tante Beate und dem Schlitten um.

»Können Sie ihn ziehen? Ich laufe schnell hinein!« sagte

er.

Sie nickte.

Herr Wiedmann stolperte durch den Schnee zur Haustür

und klopfte.

99

»Herein!« rief eine Männerstimme. Der Chauffeur trat

ein, während Tante Beate den Schlitten das letzte Stück

an das Haus heranzog. Im Inneren des Hauses, in einer

großen Stube, saß ein alter Mann an einem Tisch und

rauchte eine Pfeife. Er schien gerade einen Brief geschrie-

ben zu haben und im Begriff zu sein, schlafen zu

gehen.

»Guten Tag«, sagte Herr Wiedmann hastig und außer

Atem. »Haben Sie ein Telefon?«

Der alte Mann stand auf und nickte verblüfft.

»Ja«, sagte er, »da drüben, aber wieso . . .«

Herr Wiedmann hörte schon nicht mehr auf ihn. Er rann-

te zu dem altmodischen Telefonapparat, der neben der

Tür an der Wand befestigt war, hob den Hörer ab und

drehte an einer Kurbel. Es klingelte.

Der alte Mann klopfte Herrn Wiedmann auf den Arm.

»Hören Sie«, sagte er, »wollen Sie mir nicht erklä-

ren . . .?«

»Später«, sagte der Chauffeur und schob ihn beiseite.

»Gehen Sie hinaus, draußen liegt ein Kind. Helfen Sie es

hereinbringen!«

Der alte Mann nahm seine Pfeife aus dem Mund und

starrte ihn an. Dann drehte er sich um und ging hin-

aus.

»Hallo!« rief Herr Wiedmann. »Hallo! Hallo!«

Eine Frauenstimme meldete sich.

»Fräulein!« rief Herr Wiedmann hastig, »bitte geben Sie

mir sofort das Krankenhaus! Es ist sehr wichtig! Wir

haben hier ein Kind mit Diphtherie!«

»Ich verbinde«, sagte die Stimme des Fräuleins im Fern-

sprechamt.

Dann klickte es in der Leitung. Und dann hörte Herr

100

Wiedmann zu seiner unendlichen Erleichterung eine

freundliche, tiefe Männerstimme, welche langsam sagte:

»Hier Städtisches Krankenhaus!«

Die Jungen im Autobus lösten einander pünktlich ab. Der

Mond wanderte über den Himmel, die Stunden vergin-

gen eine nach der anderen, und ein Junge nach dem ande-

ren setzte sich hinter das große Steuer, um eine Zeitlang

zu wachen. Der letzte, der an die Reihe kam, war Martin.

Er stolperte schlaftrunken nach vorne, setzte sich und zog

die Decke hoch. Es war sehr kalt im Autobus. Martin

fror. Er hatte sich seine Wache viel lustiger vorgestellt. Er

knipste ein paarmal die Scheinwerfer an und aus, aber

auch das machte ihm keinen rechten Spaß. Er war müde,

und ihn fror. Es würde ohnehin nichts geschehen, dachte

er. Draußen wurde es langsam heller. Die Gegend wurde

grau. Der neue Tag zog herauf.

Martin preßte die steifen Knie an den dicken Bauch und

gähnte. Zehn Minuten später war er tief eingeschla-

fen . . .

Zu dieser Zeit erwachte Helmut. Er brauchte eine Weile,

um sich zurechtzufinden, dann fiel ihm wieder ein, wo er

sich befand. Und gleichzeitig damit erinnerte er sich an

seinen Plan vom Abend vorher.

Er hatte es satt, hier länger herumzusitzen, sich von Tho-

mas Befehle erteilen zu lassen und zu warten, bis die Er-

wachsenen kamen! Wenn diese Kleinkinder ihm nicht

101

glauben wollten, daß es das beste war, sich selber einen

Weg durch den Schnee zu suchen, dann würde er es ihnen

beweisen.

Er würde einen Weg finden! Und wenn die anderen

dann ankamen, saß er schon lange gemütlich und warm

in dem Hotel und konnte sie auslachen! Dann würden

sie alle erkennen, daß sie einen Fehler begangen hatten,

als sie Thomas wählten und nicht ihn! Dann würde es

ihnen aber leid tun!

Helmut hatte schon einen ganz bestimmten Plan. Es war

eigentlich ein sehr einfacher Plan, und er konnte gar nicht

mißlingen. Er würde direkt den Spuren nachgehen, die

Herr Wiedmann und Tante Beate im Schnee zurückgelas-

sen hatten. So mußte er ans Ziel kommen.

Es war Helmut klar, daß er aufbrechen mußte, solange

die anderen noch schliefen. Später würden sie ihn be-

stimmt festzuhalten versuchen. Nein, jetzt war die einzig

richtige Zeit! Er sah nach vorne.

Der dicke Martin war in Herrn Wiedmanns Sitz zusam-

mengesunken und schnarchte leise. Auch die anderen

Kinder schliefen noch tief. Es war ganz still im Autobus.

Draußen wurde es merklich heller. Der Himmel war klar.

Bald wird die Sonne aufgehen, dachte Helmut. Er erhob

sich leise und vorsichtig, steckte an Essen ein, was ihm

von seinem Vorrat noch geblieben war, und schlich dann

auf Zehenspitzen nach vorne. Dabei mußte er über Josef

steigen, der mitten auf dem Gang lag. Als er bei dem fest

schlafenden Martin vorüberkam, ergab sich eine Schwie-

rigkeit. Er konnte die Tür nicht öffnen, denn vor ihr la-

gen auf einer Decke die Lebensmittel, welche die anderen

zusammengetragen und sortiert hatten. Helmut versuchte,

die Decke beiseitezuziehen, aber das machte zuviel

102

Lärm. Ein Mädchen bewegte sich unruhig im Schlaf. Hel-

mut stand stocksteif und still, bis sie ruhig weiterschlief,

dann schob er den Riegel der Tür zurück.

Er wollte versuchen, über die Lebensmittel zu steigen.

Vorsichtig öffnete er die Tür. Sie quietschte ein bißchen.

Von draußen kam eiskalte Morgenluft herein. Ich muß

mich beeilen, sonst wachen noch alle auf, dachte Helmut.

Mit einem Ruck öffnete er die Tür ganz. Dabei kam die

Decke ins Gleiten, und ein großer Teil der Butterbrote,

Schinkensemmeln und Äpfel rutschte über die Blechstu-

fen in den Schnee hinunter. Wieder verursachte Helmut

einigen Lärm. Aber die anderen erwachten nicht. Nur

Martin brummte etwas im Schlaf.

Helmut überlegte: Soll ich die Lebensmittel wieder ein-

sammeln und zurücklegen? Kann ich das riskieren, ohne

fürchten zu müssen, daß die anderen dabei erwachen?

Nein, das konnte er nicht riskieren!

Er trat ins Freie und schloß die Tür hinter sich zu. Ver-

sehentlich stieg er auf ein Butterbrot.

Er bemerkte es gar nicht. Vorsichtig und gebückt schlich

er vorn um den Autobus herum.

Da drüben begann Herrn Wiedmanns Fußspur!

Mit ein paar großen Sätzen war Helmut bei ihr. Er be-

gann eilig auf den verschneiten Wald loszumarschie-

ren.

Einmal drehte er sich noch um.

Der rote Autobus stand still und friedlich zwischen den

Felsen. Nichts regte sich. Helmut ging weiter. Er fühlte

sich sehr stark und unternehmungslustig.

Das fünfte Kapitel

Es war höchste Zeit - Eine Sirene heult durch die Nacht - »Die

Schaukel fliegt noch immer.« - Herr Wiedmann telefoniert mit der

Polizei - Alarm! - Ein Chauffeur gibt gute Ratschläge und schläft dabei selber ein - Der dicke Martin erwacht mit einem Ruck und sieht die Bescherung - Sensation im Autobus - Ein alter Mann wird geimpft - »Wollen Sie nicht gefälligst die Tür zumachen?« - Eine

riesige Hand schleudert Helmut durch die Luft — Es donnert noch

einmal - Hanna verliert die Nerven - Thomas denkt nach und kommt zu einer schrecklichen Erkenntnis.

Zu jener Zeit, da Helmut den Autobus verließ, um im er-

sten Morgengrauen Herrn Wiedmanns Spuren nachzu-

gehen, lag der kleine Karli bereits in einem weichen, war-

men, weißen Krankenhausbett, und ein Arzt gab ihm ge-

rade eine Spritze. Karli seufzte ein bißchen und zuckte

zusammen, als die spitze Nadel in seinen Arm eindrang,

aber er erwachte nicht. Er war nicht mehr erwacht, seit er

unter dem großen Baum im Wald eingeschlafen war und

von der wildgewordenen Luftschaukel geträumt hatte. Er

lag in einem Bett im Krankenhaus von Bergstadt und

schlief und wußte nichts davon, wie er hierhergekommen

war. Das wußten nur Herr Wiedmann und Tante Beate,

die neben seinem Bett standen und dem Arzt zusahen.

»Ein Glück, daß es so schnell gegangen ist«, sagte der

Arzt. »Es war höchste Zeit!«

105

Herr Wiedmann nickte.

Er erinnerte sich an das Haus an der Landstraße und an

das Telefongespräch, das er dort geführt hatte. Er hatte

dem Mann in der Telefonzentrale des Krankenhauses er-

klärt, wo er sich befand und daß er ein schwerkrankes

Kind bei sich hatte, das sofort zum Arzt gebracht werden

mußte. Der Mann in der Telefonzentrale hatte verspro-

chen, ein Rettungsauto zu schicken.

Es dauerte eine Stunde, bis das Auto kam. Herr Wied-

mann bettete den unruhig schlafenden Karli auf die Bank

beim Ofen, und der alte Mann machte heißen Kaffee. Er

sagte, er habe die Lawinen zwar donnern hören, sie aber

nicht gesehen. Tante Beate sprach wenig. Nachdem sie

Kaffee getrunken hatte, legte sie den Kopf auf die Tisch-

platte und schlief, bis das Rotkreuz-Auto kam. Dann half

sie Herrn Wiedmann Karli in den Wagen tragen. Als sie

die beiden Männer sah, die mit dem Krankenwagen ge-

kommen waren, wurde sie wieder munter.

»Ich muß zur Polizei!« rief sie. »Ich muß dafür sorgen,

daß eine Hilfsmannschaft aufbricht! Ich bin für einen

Autobus voll Kinder verantwortlich, die im Schnee einge-

schlossen sind!«

Herr Wiedmann klopfte ihr freundlich auf die Schul-

ter.

»Immer schön eins nach dem anderen«, meinte er.

»Zuerst bringen wir Karli ins Krankenhaus.«

Und so geschah es. Nachdem sie sich von dem alten Mann

verabschiedet hatten, kletterten sie selber in den Ret-

tungswagen, und die Fahrt ging los! Das weiße Auto mit

dem roten Kreuz sauste über die verschneite Landstraße

nach Süden, daß der Wind an den Fenstern heulte. Ab

und zu, an gefährlichen Kreuzungen, ließ der Fahrer eine

106

Sirene aufheulen. Das Auto schwankte hin und her. Einer

der Männer hielt Karli fest, damit er nicht von der Trag-

bahre, auf die man ihn gelegt hatte, zu Boden glitt. Tante

Beate saß neben Herrn Wiedmann. Alle paar Minuten

fiel ihr Kopf schwer nach vorne, und sie schlief übermü-

det ein. Dann, etwas später, schüttelte das Auto beson-

ders heftig, und sie schreckte wieder auf.

»Die Kinder«, sagte sie, »ich muß zu den Kindern!«

»Schon gut«, sagte Herr Wiedmann, »schon gut!« Und er

klopfte ihr freundlich auf die Knie.

Der weiße Wagen mit dem roten Kreuz fuhr schnell wei-

ter nach Süden . . .

Eine Stunde später waren sie in der Stadt. Sie fuhren

durch menschenleere Gassen und hielten schließlich vor

einem großen H a u s , über dessen Eingang zu lesen war:

STÄDTISCHES KRANKENHAUS

Die beiden M ä n n e r sprangen hinaus und hoben die Trag-

bahre mit dem schlafenden Karli ins Freie. Sie trugen sie

über Stiegen und durch viele stille Gänge. Herr Wied-

mann und Tante Beate folgten ihnen. Ihre Schritte

hallten laut. Schließlich erreichten sie ein Zimmer, in dem

ein Einzelbett stand, und dort setzten die beiden Männer

Karli zu Boden. Ein Arzt kam, Herr W i e d m a n n erzählte

schnell alles, was der Doktor wissen mußte, und wäh-

renddessen zog eine Schwester dem Jungen die Kleider

aus und legte ihn ins Bett. Dabei erwachte Karli für ein

paar Augenblicke und sagte, mit aufgerissenen Augen

um sich blickend, heiser: »Die Schaukel f l i e g t . . . sie fliegt

noch immer!«

Die Schwester legte ihm beruhigend eine H a n d auf die

heiße Stirn und nickte. Sie wußte nicht, wovon er sprach.

Sie k o n n t e es auch nicht wissen! Dazu hätte sie von sei-

nem Traum wissen müssen. Nachdem man Karlis Tempe-

ratur gemessen u n d seinen Hals gründlich mit Hilfe einer

starken elektrischen Lampe angeschaut hatte, bekam er

seine erste Spritze.

Und das, wir sagten es schon, geschah zu eben jener Zeit,

da Helmut den Autobus mit den schlafenden Kindern

verließ und Herrn W i e d m a n n s Spuren in den Schnee hin-

ein folgte . . .

»Herr Doktor«, sagte Herr W i e d m a n n , als der Arzt Karli

die Injektion gemacht hatte und sich wieder aufrichtete,

»wir müssen jetzt schnell mit der Polizei telefonieren!«

»Warum?« fragte der Arzt.

108

»Zunächst«, sagte Tante Beate schläfrig, »muß die Polizei

sich mit der Polizei in Salzburg in Verbindung setzen und

dafür sorgen, daß Karlis Mutter verständigt wird. Wahr-

scheinlich will sie mit dem nächsten Eisenbahnzug hierher

zu ihrem Jungen kommen.«

Der Arzt nickte.

»Und ferner«, sagte Herr Wiedmann, »muß sofort eine

Hilfsmannschaft ausrücken und versuchen, sich einen

Weg in das Lawinengebiet zu graben, denn dort steht

mein Autobus, und in dem Autobus schlafen achtzehn

Kinder!« (Herr Wiedmann wußte nicht, daß in diesem

Augenblick nur noch 17 Kinder in seinem Autobus schlie-

fen!)

»Um Gottes willen«, sagte der Arzt, »dann müssen wir

wirklich sofort die Polizei verständigen! Bitte, folgen Sie

mir!« Er führte die beiden einen Gang entlang bis zu sei-

nem Privatzimmer und wählte dort eine Nummer.

»Polizei?« sagte er in den Hörer. »Einen Moment!« Und

er winkte Herrn Wiedmann heran.

Der Chauffeur übernahm den Telefonhörer, sagte, wer

und wo er war, und berichtete vor allem, was sich ereig-

net hatte. Am anderen Ende der Leitung saß ein Polizist,

der alles, was Herr Wiedmann sagte, mitschrieb.

Der Polizist saß ganz allein in der Amtsstube seines Re-

viers, auf seinem Schreibtisch brannte noch die Lampe,

obwohl bereits durch die Fenster blasses Morgenlicht in

den Raum fiel. Nebenan schliefen die Kollegen des Polizi-

sten, man konnte sie schnarchen hören. Der Polizist am

Telefon gähnte, während er mitschrieb. Er war die ganze

Nacht aufgewesen und sehr müde.

»Ja«, sagte er, »ja, ja, ich verstehe . . . eine Hilfsmann-

schaft, jawohl . . . ich werde alles Nötige veranlassen . . .

109

Wo sind Sie? Im Städtischen Krankenhaus? Gut, wir ho-

len Sie im Vorüberfahren ab!«

Er legte den Hörer hin und stand auf. Er ging zur Tür des

Raumes, in dem seine Kollegen schliefen, öffnete sie und

betrachtete kurze Zeit die Männer, die auf ihren Feldbet-

ten friedlich schlummerten. Dann zog er eine kleine Pfei-

fe aus der Tasche und pfiff gellend.

Die Polizisten fuhren erschrocken in ihren Betten auf.

»Aufstehen!« rief der Wachhabende.

Dabei grinste er ein bißchen. Aus Schadenfreude.

Im Krankenhaus legte auch Herr Wiedmann den Hörer

nieder. Er hatte sich beim Sprechen gesetzt und drehte

sich jetzt um. Dabei bemerkte er, daß der Arzt das Zim-

mer wieder verlassen hatte. Tante Beate saß in einem

Lehnstuhl und schlief mit offenem Mund. »Fräulein Bea-

te«, sagte Herr Wiedmann, »Sie können jetzt nicht ein-

schlafen! Gleich kommt die Polizei und holt uns ab! Fräu-

lein Beate!« rief er, etwas lauter, und schob den Stuhl zu-

rück, um sich zu erheben.

Dabei machte er die Entdeckung, daß seine Knie so

schwer waren wie Blei. Schon halb erhoben, ließ er sich

wieder in den Sessel zurückfallen. Sein Kopf sank nach

vorne. Er atmete tief aus.

»Fräulein Beate«, sagte Herr Wiedmann noch einmal,

schon sehr undeutlich, »Sie können jetzt nicht

schla . . .«

Er sprach nicht mehr zu Ende. Denn er schlief bereits sel-

ber.

Es war halb sieben.

Helmut hatte den Waldrand erreicht und ging auf weni-

ger tiefem Schnee schnell weiter zwischen den Bäumen.

Er war großartig aufgelegt. Lächerlich, dachte er, da hat

Herr Wiedmann mir erzählt, ich bin nicht groß und stark

genug, ihn zu begleiten, und jetzt gehe ich den gleichen

Weg wie die Erwachsenen, allein, ohne Hilfe und selb-

ständig - und es ist alles in bester Ordnung!

Helmut griff in die Tasche, holte ein Butterbrot heraus

und begann, im Weitergehen, zu essen. Es schmeckte ihm

wunderbar. Nachdem er fertiggegessen hatte, fing er an,

111

vor Vergnügen zu pfeifen. Er stellte sich vor, was für Ge-

sichter die Leute in der Stadt machen würden, wenn er

ankam und sagte, daß er es ganz allein fertiggebracht

hatte, aus dem Lawinengebiet herauszukommen! In ein

paar Stunden werde ich es geschafft haben, dachte er, es

kann ja gar nichts passieren. Die Spuren der Schuhe von

Herrn Wiedmann und in ihnen diejenigen von Tante

Beate zeichneten sich noch immer deutlich vor ihm ab. Ein

Glück, daß es nachts nicht geschneit hatte!

Helmut pfiff fröhlich. Einmal unterbrach er sein Pfeifen

und lachte laut auf.

Er stellte sich das dumme Gesicht vor, das der dicke Mar-

tin machen würde, wenn er erwachte und sah, was ge-

schehen war.

Der dicke Martin erwachte mit einem Ruck.

Er hatte geträumt, er gehe mit Lucie und Hanna baden.

Das Wasser des Bassins, in das sie stiegen, war selt-

samerweise nicht blau, sondern rot. Und als er ein biß-

chen davon kostete, konnte er zu seiner angenehmen

Überraschung feststellen, daß überhaupt kein Wasser in

diesem Bassin war, sondern reiner Himbeersaft! Martin

stürzte sich in die Fluten. Er schwamm und tauchte. Und

immer, wenn er tauchte, nahm er einen großen Schluck

von dem herrlichen süßen Himbeersaft.

Dann aber begann der Saft plötzlich unruhig zu werden

und Wellen zu werfen. Zuerst waren die Wellen noch

klein, und Martin konnte ihnen ausweichen. Doch in be-

ängstigender Eile wurden die Wellen größer und größer,

wuchsen mächtig an und verwandelten bald das ganze

112

Bassin in einen entsetzlich wildbewegten Ozean. Martin

sah sich nach den beiden Mädchen um. Sie kämpften be-

reits verzweifelt mit den Fluten. Er wollte ihnen zu Hilfe

eilen, doch dabei erreichte ihn selbst eine haushohe Wel-

le, warf ihn hoch und zog ihn dann mit sich hinunter in

die süße, klebrige, himbeerrote Tiefe. Martin schluckte

und schluckte und schluckte. Er bekam keine Luft mehr,

er fürchtete zu ersticken, mit letzter Kraft stieß er sich

verzweifelt vom Boden des Beckens ab und tauchte, mit

Händen und Füßen rudernd, aus dem Himbeermeer auf.

Und in diesem Augenblick erwachte er, nach Atem rin-

gend, in Herrn Wiedmanns Sitz hinter dem Lenkrad des

roten Autobusses.

Pfui Teufel, dachte Martin, war das ein Traum!

Er schüttelte sich und streckte die steifen Beine aus. Da-

bei fiel sein Blick auf den Boden, und er sah, was mit den

Lebensmitteln auf der großen Decke geschehen war.

Erschrocken stand er auf. Ein Blick ins Freie zeigte ihm

mehr. Er riß die Tür auf und sprang in den Schnee. Hier

lagen Brote, Obst und Schokolade. Und das meiste davon

war, wie Martin feststellte, steinhart gefroren, weil die

Nacht so kalt gewesen war. Martin tat das Herz weh.

Das gute Essen!

Wie konnte das nur geschehen sein? Schuldbewußt sagte

er sich, daß er selber verantwortlich für dieses rätselhafte

Unglück war. Er hatte seine Pflicht vernachlässigt. Er war

eingeschlafen! Wenn er nicht eingeschlafen wäre, hätte

das alles nicht geschehen können. Er bückte sich hastig

und hob ein paar von den steinhart gefrorenen Broten

auf. Dann ließ er sie wieder fallen.

Er kletterte in den Autobus zurück. Wie war das gesche-

hen, grübelte er. Wie war das geschehen? Jemand mußte

113

die Tür geöffnet und die Lebensmittel hinausgestoßen

h a b e n . . . aber wer? Wer? Seine Blicke wanderten durch

den Wagen mit den schlafenden Kindern.

Und dann bemerkte er, daß Helmut fehlte.

»Helmut fehlt!« schrie Martin laut.

Thomas erwachte als erster und fuhr in die Höhe. Hinter

ihm wurden andere Kinder munter. Sie rieben sich ver-

schlafen die Augen, sahen, daß die Sonne bereite in den

Wagen schien, und starrten den dicken Martin an, der

aufgeregt winkte.

»Was ist los?« fragte Thomas.

»Helmut!« schrie der dicke Martin. »Helmut ist ver-

schwunden!«

Die Kinder, die schon munter waren, sprangen auf und

drehten sich nach hinten um. Tatsächlich: Der Platz bei

den Koffern und Rücksäcken war leer!

»Wie hat er verschwinden können?« rief Thomas. »Du

hast doch neben der Tür gesessen und aufgepaßt?«

Martin senkte den Kopf.

»Das stimmt nicht ganz«, meinte er betreten.

»Was stimmt nicht ganz?«

»Ich habe zwar neben der Tür gesessen, aber ich habe

nicht aufgepaßt«, erwiderte Martin schuldbewußt.

»Und warum nicht?«

»Weil ich eingeschlafen bin«, sagte der dicke Junge leise.

Er schämte sich sehr. Die anderen schwiegen und sahen

ihn an. »Und während ich geschlafen habe, ist Helmut

ausgerissen. Und beim Ausreißen hat e r . . . hat e r . . . «

Martin schluckte. Er konnte es kaum sagen, was Helmut

beim Aussteigen angestellt hatte.

»Was hat er?« rief ein Junge. »Sprich schon!«

». .. hat er einen Teil von unseren Vorräten in den

114

Schnee hinausgestoßen!« sagte Martin mit gepreßter

Stimme.

Nun kam Leben in den Autobus.

Die Kinder rannten nach vorne, um das Unglück zu be-

sichtigen. Martin stand bedrückt neben der Tür und zeig-

te mit der Hand in den Schnee hinaus.

»Da «, sagte er.

»Meine Semmeln!« rief ein Mädchen.

»Meine Schokolade!« rief ein anderes. Ein paar Kinder

kletterten ins Freie und versuchten zu retten, was viel-

leicht noch zu retten war.

Martin sah Thomas an.

»Es tut mir leid, daß ich eingeschlafen bin«, sagte er leise.

Thomas nickte. »Das kann jedem passieren«, sagte er.

Martin konnte sich nicht verkneifen, zu bemerken:

»Wenn wir gestern das ganze Essen verteilt hätten, dann

hätte das alles nicht geschehen können!«

»Ach, laß das«, meinte Thomas. »Um das Essen mache

ich mir keine Sorgen.«

»Worum denn?«

»Um Helmut«, sagte der andere Junge. »Wer weiß, wo-

hin er gegangen ist. Hoffentlich findet er den richtigen

Weg . . .« Er schwieg.

»Was ist denn?« fragte der dick Martin. »Du siehst ja

auf einmal so traurig aus!«

»Ich wünschte, Tante Beate und Herr Wiedmann wären

schon wieder zurück«, sagte Thomas langsam.

Tante Beate und Herr Wiedmann saßen zu dieser Zeit

mit einem Dutzend Wachtmeistern auf einem offenen

115

Mannschaftswagen der Polizei. Der Wind wehte ihnen

ins Gesicht und wischte ihnen die Müdigkeit aus den

Augen. Sie hatten die Stadt schon hinter sich gelassen

und fuhren auf derselben Landstraße zurück, auf der sie

gekommen waren. Jetzt lag sie schon in hellem Sonnen-

schein. Neben Tante Beate saß ein Mann, der unter sei-

nem Mantel einen weißen Kittel trug. Auf den Knien hielt

er eine große Tasche. Er war ein Arzt aus dem Städti-

schen Krankenhaus und auf Wunsch der Polizei mitge-

fahren. Er sollte sofort nach dem Eintreffen beim Auto-

bus allen Kindern eine Spritze gegen Diphtherie geben.

Sie waren alle mit dem armen kranken Karli zusammen

gewesen, und deshalb waren sie auch alle in Gefahr, sich

angesteckt zu haben. Sogar Tante Beate und Herr Wied-

mann hatten schon ihre Spritze in den linken Oberarm

bekommen.

Vor dem Polizeiauto fuhr eine große Schneefräse der

Feuerwehr. Sie sollte später eingesetzt werden, um die

verschüttete Straße freizuschaufeln. Vorläufig hatte sie

noch nichts zu tun. Gegen halb acht erreichten sie das ein-

same Haus an der Straße, in dem der alte Mann wohnte.

Das Polizeiauto hielt, und der Arzt mit der großen Ta-

sche ging durch den Schnee auf das Haus zu. Herr Wied-

mann folgte ihm und klopfte an die Tür.

Von drinnen ertönte eine unwillige Stimme. Dann wurde

die Tür aufgesperrt, und der ungekämmte Kopf des alten

Mannes erschien. Als er Herrn Wiedmann erblickte,

machte er ein wütendes Gesicht. »Verflixt noch einmal«,

rief er aufgebracht, »werde ich heute überhaupt nicht

mehr schlafen können?«

»Wir gehen gleich wieder«, versprach der Chauffeur.

»Warum seid ihr überhaupt gekommen?« fragte der alte

116

Mann. Er öffnete die Tür ein wenig weiter, und man sah,

daß er ein langes Nachthemd anhatte und an den Füßen

Pantoffeln trug.

»Um Ihnen eine Spritze zu geben«, sagte der Arzt.

»Das auch noch«, sagte der alte Mann.

»Es ist notwendig«, erklärte Herr Wiedmann.

»Klar ist es notwendig«, sagte der alte Mann. »Glauben

Sie, ich will Diphtherie kriegen? Kommen Sie herein!«

Er ging voraus in die große Stube und legte sich dort auf

ein Bett. Nachdem er den einen Ärmel seines Nachthem-

des zurückgeschoben hatte, sagte er: »Na los, beeilen Sie

sich!«

Der Arzt hatte seine Tasche geöffnet und eine Injektions-

spritze gefüllt. Jetzt trat er zum Bett. Der alte Mann

schloß die Augen. »Ich kann kein Blut sehen!« behaup-

tete er.

Aber es war gar kein Blut zu sehen, nicht ein einziger

Tropfen, der Arzt war sehr geschickt und schnell. Er

klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle und sagte: »So,

jetzt kann Ihnen nichts passieren!«

»Danke«, sagte der alte Mann und drehte sich zur Wand.

»Und gute Nacht!«

»Guten Morgen, meinen Sie«, sagte der Arzt.

»Ich meine gute Nacht!« brummte der alte Mann. Und als

die beiden anderen lachten und von ihm fortgingen,

schrie er ihnen noch nach: »Machen Sie die Tür gut

zu!«

Der Arzt trat als erster ins Freie. Herr Wiedmann folgte

und wollte gerade, wie der alte Mann ihn gebeten hatte,

die Tür schließen, als sie ihm durch eine unsichtbare Ge-

walt aus der Hand gerissen wurde. Die Tür flog wieder

auf, und Herr Wiedmann wurde gegen ihr Holz gewor-

117

fen. Er sah, wie die Polizisten und Tante Beate eilig von

ihrem Wagen sprangen und auf ihn zu rannten und wie

der große Schneepflug der Feuerwehr plötzlich einen Bo-

gen beschrieb und in das verschneite Feld am Straßen-

rand hineinfuhr. Dann erfüllte ein Donnern und Getöse

die Luft, das er schon kannte. Der Boden bebte, Schnee

erfüllte die Luft, ein Sturmwind flog über das Haus hin,

und Herr Wiedmann wußte: Irgendwo jn der Nähe war

noch eine Lawine niedergegangen.

Gleich darauf wurde es wieder still, die Sonne schien wei-

ter, die Polizisten sahen einander schwer atmend an und

schwiegen.

Der erste, der sprach, war der alte Mann aus seinem Bett.

Er schien überhaupt nicht begriffen zu haben, was ge-

schehen war, denn er sagte nur böse: »Wollen Sie nicht

gefälligst die Tür zumachen?«

Helmut ging ein paar Minuten früher noch pfeifend über

ein tiefverschneites Stück baumloses Land am Fuß eines

Berghanges. Die Spuren von Herrn Wiedmann und von

Tante Beate leiteten ihn. Er pfiff vor sich hin. Jetzt wird

es nicht mehr lange dauern, dachte er, und ich kann damit

beginnen, wieder parallel zur Straße zu gehen. Und in ein

paar Stunden bin ich am Ziel!

Er sah zur Sonne empor, dachte, daß es wahrscheinlich

erst halb acht oder acht Uhr war, und beschloß, ein wenig

zu rasten. Er hatte es verdient! Er war sehr weit gekom-

men.

Helmut setzte sich auf einen Stein, der aus dem Schnee

ragte, griff in die Tasche und zog ein Stück Schokolade

118

heraus. Er hatte eben das erste Stück von der Rippe abge-

bissen, als er ein leises Sausen hörte und aufsah. Er

konnte nicht feststellen, woher das Sausen kam, obwohl

er überallhin blickte. Die Berghänge lagen still und fried-

lich im Sonnenschein. Aber das Sausen wurde lauter. Hel-

mut sprang auf. Er fühlte sich sehr unheimlich. Und

dann, plötzlich, sah er, was geschehen war und woher das

schreckliche Geräusch stammte.

Auf dem Berghang gegenüber war eine ganze große

Schneefläche ins Rutschen gekommen und glitt zu Tal. Es

sah aus, als käme ein riesengroßes weißes Tischtuch her-

unter. Helmut starrte es gebannt an.

Das Tischtuch richtete sich plötzlich auf, erhob sich in die

Luft und schien den halben Berg mit sich zu reißen. Ein

paar einsame Bäume kamen ihm in den Weg. Die Bäume

verschwanden in einer weißen Wolke, und als sie vorüber

war, waren auch die Bäume verschwunden! Und eine rie-

sige weiße Masse, in die das >Tischtuch< sich verwandelt

hatte, stürzte weiter bergab.

Das Sausen war in Donnern übergegangen.

Helmut schluckte mühsam. Er begriff, daß diese ganze

grauenhaft große Schneemasse, die da in Bewegung ge-

raten war, sich auf ihn zu bewegte, in das Tal, in dem er

selber sich befand. Er stand wie angenagelt. Er konnte

keinen klaren Gedanken fassen. Was sollte er tun? Wo-

hin sollte er flüchten, wo sich verstecken?

Die Lawine hatte die Baumgrenze erreicht und riß weitere

Bäume mit auf ihrem Weg zu Tal. Helmut ließ die Scho-

kolade fallen und rannte, so schnell er in dem hohen

Schnee konnte, weiter geradeaus. Er stolperte, fiel, erhob

sich wieder, er hatte den Mund und die Augen voll

Schnee, er bekam keine Luft mehr, er rang nach Atem,

119

und immer noch rannte er, rannte er, rannte er um sein

Leben. Ein Sturmwind erhob sich, es wurde dunkel, und

dichter Schneestaub erfüllte die Luft.

Das alles spielte sich viel schneller ab, als wir es hier er-

zählen können. Es dauerte nur einige wenige Augen-

blicke, bis eine mächtige unsichtbare Hand ihn am Kragen

packte und in die Luft hob. Es klingt unglaublich, wenn

man es liest, aber so war es: Helmut flog plötzlich durch

die Gegend. Er flog nicht lange, und er flog nicht weit,

aber er flog!

Die Lawine donnerte in das stille Tal, und eine riesenhaf-

te Schneewolke stieg auf. An ihrem Rande stürzte Hel-

mut schwer zu Boden und blieb liegen. Schnee stäubte

auf ihn und deckte ihn zu. Er lag auf dem Gesicht und

wußte von alldem schon nichts mehr.

Die Kinder im Autobus hörten gleichfalls das Donnern

der Lawine, aber sie konnten sie nicht sehen-der Berg-

hang, an dem der Autobus festgefahren war, lag dazwi-

schen. Deshalb erschraken sie auch nicht so sehr wie am

Tag vorher, als sie das Unheil hatten kommen sehen.

Aber angenehm war keinem von ihnen zumute.

»Glaubst du, daß die Lawine wieder auf die Straße

niedergegangen ist?« fragte Hanna mit weinerlicher

Stimme den dicken Martin. Sie waren, als sie das Don-

nern hörten, noch beim Frühstück gesessen, das sie aus

den Resten der noch genießbaren Vorräte hergerichtet

hatten, aber den meisten war nun der Appetit vergangen.

»Bestimmt nicht«, sagte der dicke Martin. (Ihm war der

Appetit nicht vergangen.) »Diese Lawine ist ganz woan-

120

ders heruntergekommen. Die Straße liegt doch dort drü-

ben!« Und er wies mit dem Finger in die entgegengesetz-

te Richtung.

Hanna begann zu jammern. »Warum kommt die Tante

nicht!« rief sie weinerlich. »Wo ist sie denn? Wann wer-

den wir endlich geholt? Ich habe solche Angst! Es kann

ganz leicht noch eine Lawine hier herunterkommen!«

»Nein, das kann sie nicht!« rief Martin, dem selbst nicht

sehr wohl war. »Das gibt es nicht! Es kommen nie mehre-

re Lawinen an derselben Stelle herunter! Das hast du

doch eben gesehen!« Hanna starrte ihn an, dann brach sie

wortlos in Tränen aus.

Dieser Erwiderung war der dicke Martin nicht gewachsen.

Er stand auf, streichelte hilflos Hannas Kopf, und als es

ihm nicht gelang, sie zu beruhigen, rief er verzweifelt:

»Thomas, komm doch her! Hanna weint!«

Thomas saß vorne, auf Herrn Wiedmanns Sitz. Er hatte

in den Schnee hinausgesehen und schien tief in Gedanken

versunken zu sein. Martin mußte ein zweites Mal ru-

fen. »Thomas!« Da erst schreckte der Junge auf.

»Ja«, sagte er. »Was willst du?«

»Ich .. .« begann Martin, dann bemerkte er das abwesen-

de Gesicht, das Thomas machte, und fragte: »Was hast

du denn?«

»Ich habe nachgedacht«, sagte Thomas.

»Worüber?«

»Die Lawine ist in der Gegend heruntergekommen, in die

Herr Wiedmann und Tante Beate mit Karli gegangen

sein müssen«, sagte Thomas.

»Rede keinen Unsinn!« rief Lucie. »Die drei sind gestern

nacht, vor vielen Stunden, dort gegangen! Es kann ihnen

doch nichts mehr geschehen sein!«

121

»Ich denke nicht an sie«, sagte Thomas.

»An wen denn?« rief ein Mädchen. Thomas stand lang-

sam auf.

»Kommt einmal mit«, sagte er und trat in den Schnee

hinaus.

Die Kinder folgten ihm. Thomas ging bis zu der Stelle,

wo die Spur von Herrn Wiedmanns Schuhen begann.

»Hier«, sagte er und wies auf den Boden.

»Was, hier?« fragte der dicke Martin verständnislos.

»Was siehst du?«

»Herrn Wiedmanns Schuhabdrücke«, sagte Martin.

»Was noch?«

»Andere Abdrücke in ihnen. Kleinere Abdrücke«, sagte

Lucie. »Sie werden von Tante Beate stammen.«

Thomas nickte. »Ja«, sagte er, »von Tante Beate oder von

Karli oder - von Helmut.«

»Von Helmut?« riefen ein paar Kinder erschrocken.

»Ja, von Helmut«, sagte Thomas ernst. »Ich glaube, daß

er Herrn Wiedmanns Spuren nachgegangen ist.«

Danach schwiegen alle. Schließlich sagte Martin: »Das

glaubst du, aber er kann auch ganz woanders hingegan-

gen sein.«

»Nein«, sagte Thomas, »das kann er nicht.«

»Ach«, sagte der dicke Martin, »und warum nicht?«

»Weil keine andere Spur vom Autobus wegführt«, sagte

Thomas langsam, und er betonte jedes Wort. »Deshalb

muß Helmut in Herrn Wiedmanns Fußspuren gegangen

sein. Deshalb habe ich Angst um ihn.«

»Angst?« fragte Hanna ängstlich. »Warum Angst?«

»Weil Helmut in die Richtung gegangen ist, in der die

Lawine herunterkam!« erwiderte Thomas leise.

122

Das sechste Kapitel

Nichts als Scherereien macht uns der Kerl - Man wird doch noch

reden dürfen! — Siebzehn Kinder suchen das achtzehnte - Martin

reibt sich die Hände - Helmut pfeift schon lange nicht mehr - Auch die Sonne verschwindet - Wie lange kann es dauern, bis wir durch

sind? - Helmut findet eine Spur im Schnee und faßt neuen Mut -

Hier muß die Lawine heruntergekommen sein - Für Helmut ist alles

aus - Martin fällt, flucht und rettet ein Menschenleben - Um Gottes willen, wo sind die Kinder? - Man muß warten - Herr Wiedmann sieht die Ausreißer als erster - Der dicke Martin denkt schon wieder an das Abendessen - Zuerst müssen die Herrschaften noch ihre

Spritze bekommen.

Nachdem Thomas gesprochen hatte, war es zunächst eine

ganze Weile still. Dann sagte ein Junge: »Wenn ihm et-

was passiert, ist er selber daran schuld.«

Thomas nickte. »Natürlich«, sagte er, »ist er selber schuld

daran. Aber wer weiß, ob ihm etwas passiert ist - und

was ihm passiert ist? Vielleicht hat die Lawine ihn er-

wischt. Vielleicht aber ist er nur gestürzt und hat sich ein

Bein gebrochen oder einen Arm und liegt jetzt irgendwo

im Schnee.«

»Wenn es so wäre, dann müßten wir ihm helfen, ganz

gleich, ob er selbst daran schuld ist oder nicht!« rief

Lucie.

»Stimmt«, sagte Thomas. »Nachher, wenn wir ihn geret-

123

tet haben, können wir ihm noch immer unsere Meinung

sagen. Wenn es ihm dann nicht schon selbst leid tut, was

er angestellt hat!«

Der dicke Martin faßte seine Gefühle zusammen. »Ich

möchte nicht, daß ihm viel passiert ist«, sagte er. »Aber

daß er so richtig erschrocken ist, das möchte ich schon.

Und dann möchte ich ihn retten. Und wenn ich ihn geret-

tet habe, dann möchte ich ihm eine herunterhauen!«

Ein paar Kinder lachten, aber ein Junge rief: »Ich nicht! Ich

finde, er hat sich das alles selbst eingebrockt, er soll es

auch auslöffeln! Wie kommen wir dazu, ihn zu suchen?

Vielleicht saust noch eine Lawine herunter, und wir wer-

den alle verschüttet! Nein, ich finde, er verdient es nicht,

daß man sich um ihn kümmert. Ich finde, wir sollten im

Autobus bleiben!«

Ein paar Kinder stimmten ihm zu, unter ihnen Agathe.

»Ja«, rief sie. »Das finde ich auch! Überhaupt: Wie hast

du dir die Sucherei denn eigentlich vorgestellt? Wir ha-

ben doch keine Ahnung, wo Helmut ist!«

»Die Sucherei hätte nur dann einen Zweck«, sagte Tho-

mas, »wenn möglichst viele von euch sich daran beteili-

gen. Dann könnten wir in einer weiten Reihe über den

Schnee und durch den Wald gehen und ein großes Gebiet

absuchen. Wir könnten immer wieder nach Helmut rufen

und ihn so vielleicht finden. Wenn einer allein geht, hat

das alles natürlich viel weniger Sinn!«

»Vielleicht ist Helmut auch überhaupt nichts passiert, er

ist gut durchgekommen, und wir suchen vergeblich!« rief

Agathe.

»Vielleicht«, sagte Thomas. »Aber vielleicht liegt er auch

irgendwo halb verschüttet und kann sich nicht rühren.

Das weiß kein Mensch.« Er hob beide Hände auf und ließ

124

sie wieder fallen. »Ich will euch etwas sagen: Ich mag

Helmut auch nicht besonders gut leiden, aber was soll

man machen? Ich denke, wir müssen ihn suchen gehen,

und bitte euch, mir dabei zu helfen!«

Die Kinder standen unschlüssig im Schnee und sahen ein-

ander an.

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