»Nichts wie Scherereien macht uns der Kerl!« sagte

Agathe.

»Zuerst gibt es seinetwegen Krach, dann schmeißt er un-

ser Essen in den Schnee, und dann kann man ihn noch

suchen gehen«, sagte der dicke Martin. Das mit dem Essen

schien ihm den größten Kummer zu bereiten.

»Heißt das, daß du nicht mitgehen willst?« fragte

Thomas.

»Wieso denn?« fragte der dicke Martin verblüfft. »Klar

will ich mitgehen! Aber man wird doch noch reden

dürfen!«

»Und ihr?« fragte Thomas die anderen.

»Was sollen wir denn anderes tun?« rief Lucie. »Wir

müssen ja mitgehen! Wir können den Helmut doch nicht

im Stich lassen!«

Die anderen Kinder nickten. Das war natürlich auch ihre

Meinung!

»Hanna«, sagte Martin zu dem kleinen Mädchen, »wenn

du Angst hast, kannst du ruhig hierbleiben!«

»Ich habe keine Angst«, erklärte Hanna, und sie wunder-

te sich selber über ihre Worte. Aber es stimmte, sie hatte

plötzlich wirklich keine Angst mehr!

»Und was geschieht, wenn die Erwachsenen kommen und

wir nicht da sind?«

»Wir lassen ihnen eine Nachricht zurück«, sagte Thomas.

Er ging zum Autobus, hob ein Stück Pappendeckel auf,

125

das auf dem Boden lag, und schrieb mit Blockbuchstaben

darauf:

W I R SIND HELMUT SUCHEN GEGANGEN,

DER SICH VERLAUFEN HAT.

Er dachte kurz nach, dann schrieb er noch darunter:

BITTE, WARTET HIER AUF UNS !

W I R KOMMEN ZURÜCK!

Lucie nahm unterdessen Abschied von Josef, der sie

ängstlich ansah. »Sei schön brav«, sagte sie, »und stell

nichts an! Hier hast du noch zu fressen ... wir sind bald

wieder da, leb wohl!«

126

Die anderen Kinder zogen ihre Mäntel an.

»Seid ihr alle fertig?« fragte Thomas. Die Kinder nickten.

Sie verließen den Autobus und gingen, hintereinander, in

einer langen Reihe in den Schnee hinein. Als letzter ging

der dicke Martin. Vor ihm marschierte Hanna. Das schwar-

ze Schaf sah ihnen nach. Vom Lenkrad baumelte an einer

Schnur die Papptafel mit Thomas' Nachricht.

»Wenn wir ihn aber finden, und es ist ihm nichts pas-

siert, dann hau ich dem Helmut doch eine herunter!« sag-

te Martin zu Hanna. Er rieb sich die Hände.

Er hoffte, daß Helmut nichts passiert war.

127

Helmut lag unter einer dichten Schneeschicht, als er wie-

der zu sich kam. Er schlug die Augen auf und erhob sich

halb. Sein rechtes Bein schmerzte heftig, als er es an den

Leib zog. Er sah sich um. Die Gegend hatte sich verän-

dert, alles war weiß geworden, war nichts als eine endlose

Schneewüste. Die Spuren, die er entlanggegangen war,

konnte er nicht mehr finden. Die Lawine, die hinter ihm

herabgestürzt war, hatte sie unter sich begraben.

Als Helmut sich schwankend erhob, war ihm sehr elend

zumute. Beim ersten Schritt, den er tat, sank er bis zu

den Knien ein, und sein Bein brannte wie Feuer. Er biß

die Zähne zusammen. Er mußte weitergehen! Er mußte!

Er sah zum Himmel auf. Die Sonne stand schon ziemlich

hoch. Er erinnerte sich, daß sie links von ihm gestanden

war, bevor die Lawine kam, und er ging so weiter, daß

sie wieder links von ihm schien. Das heißt: Eigentlich

konnte man seine Art der Fortbewegung nicht recht

>gehen< nennen. Er tat ein paar Schritte, dann versank er

tief im Schnee, krabbelte sich mühsam wieder heraus,

kroch einige Meter auf allen vieren, stand auf, fiel wieder

hin, stand wieder auf und so weiter. Sein Bein schmerzte

ihn sehr. Er fühlte, wie sich sein Rücken unter den Klei-

dern mit Schweiß bedeckte. Sein Hemd klebte an der

Haut, er atmete schwer. Und noch immer war nichts wei-

ter zu sehen als Schnee, Schnee um ihn, Schnee bis an

den Horizont. Zehn Minuten später verschwand die Son-

ne hinter dichten Wolken, und es wurde etwas kühler.

Das war zunächst sehr angenehm. Bald aber verdeckten

die Wolken die Sonne, und nun konnte er nicht mehr die

Richtung bestimmen, in der er weitergehen mußte . . .

128

Zur gleichen Zeit geschah zweierlei.

Auf der Landstraße hatte die schwere Schneefräse der

Feuerwehr mit ihrer Arbeit begonnen. Ihre riesengroßen

Schaufelräder fraßen sich in den Schnee der verwehten

und verschütteten Straße, und aus einem Rohr an der

Seite der Maschine schoß ein hoher weißer Schneestrahl

in die Luft empor und flog in die Felder hinein. Die Poli-

zisten, Herr Wiedmann und Tante Beate standen auf dem

bereits gesäuberten Straßenstück und sahen der Arbeit

zu. Sie mußten nun warten. Sie konnten nichts anderes

tun.

»Wie lange wird es noch dauern, bis wir durch sind?«

fragte Tante Beate unruhig. Sie sah auf ihre Uhr.

Es war dreiviertel zehn.

Einer der Feuerwehrleute, die die Schneefräse bedienten,

zuckte die Achsel.

»Fünf, sechs Stunden - wenn wir Glück haben«, sagte er.

»Und wenn nichts geschieht!«

Tante Beate verstand, was er meinte. Er wollte sagen:

»Wenn nicht noch eine Lawine herunterkommt!«

»Es wird schon nichts geschehen«, sagte Herr Wiedmann

tröstend zu ihr.

Sie nickte. Dann ging sie ein bißchen zur Seite und starrte

in den Schnee. Erst nach einer Weile kam es ihr zu Be-

wußtsein, daß sie immer wieder dieselben Worte vor sich

hin sprach.

»Lieber Gott«, sagte sie, »mach, daß nichts mehr ge-

schieht und daß wir in ein paar Stunden bei den Kindern

im Autobus sind. Lieber Gott, mach, daß nichts mehr ge-

schieht und daß wir in ein paar Stunden bei den Kindern

im Autobus sind . . .«

Sie sagte dieselben Sätze immer wieder, immer wieder.

129

Sie wußte nicht, daß die Kinder zu dieser Zeit gar nicht

mehr im Autobus waren, daß nur ein dickes schwarzes

Schaf in ihm zurückgeblieben war .. .

Denn das war das zweite, was sich zur gleichen Zeit

ereignete: Die siebzehn Kinder hatten mit ihrer Suche

nach dem verschollenen Helmut begonnen.

Sie gingen, immer noch im Gänsemarsch, einer hinter

dem anderen, Herrn Wiedmanns Spuren nach, die noch

gut sichtbar waren. Ab und zu blieben sie stehen, um

Luft zu schnappen. Die Jungen behaupteten, sie täten es

nur, um auf die Mädchen Rücksicht zu nehmen, doch Lucie

rief: »Auf uns braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen! Wir

sind überhaupt nicht müde! Wenn es nach uns geht, sind

diese Pausen ganz unnötig!«

Und die kleine Hanna, die plötzlich so mutig geworden

war, krähte: »Jawohl, sehr richtig!« Und dann marschier-

te sie eiligst weiter hinter ihrem Vordermann her.

Eine Stunde später glaubte Helmut, am Ende seiner Kräf-

te zu sein. Er ließ sich verzagt in den Schnee sinken und

starrte vor sich hin. Sein Bein schmerzte ihn so sehr, daß

er kaum noch gehen konnte. Er hatte die Richtung ver-

loren, er wußte nicht, wo er sich befand, er hatte beinahe

schon jede Hoffnung aufgegeben, aus dieser entsetzlichen

Schneewüste jemals wieder herauszukommen. Eine Stun-

de war er mühsam weitergekrochen - und die Gegend

hatte sich nicht im geringsten verändert.

Während er so im Schnee saß und vor sich hin starrte,

wurde sein Blick plötzlich aufmerksam! Denn vor sich

sah er Spuren im Schnee. Spuren!

130

Seine Erschöpfung, seine Müdigkeit, der Schmerz im Bein

waren vergessen, er sprang auf, er humpelte weiter, auf

die Spur zu. Es war eine unregelmäßige, teilweise ver-

wischte Spur, aber ab und zu konnte man deutlich Schuh-

abdrücke im Schnee erkennen. Es gab keinen Zweifel

mehr: Hier war jemand gegangen, vor noch gar nicht lan-

ger Zeit war hier jemand gegangen!

Helmut biß die Zähne zusammen, er machte sich erneut

auf den Weg. Er ging der fremden Spur nach. Die Spur

gehörte zu einem Menschen, der irgendwo vor ihm ging!

Er mußte diesen Menschen finden, er mußte ihn einholen!

Dieser Mensch war seine ganze Hoffnung.

Dieser Mensch war seine Rettung!

Keuchend stolperte Helmut weiter in den Schnee hinein.

Die 17 Kinder hatten unterdessen eine Stelle erreicht, an

der Herrn Wiedmanns Spur endete. Vor ihnen begann

eine große, beinahe unübersehbare Schneewüste, die noch

kein menschlicher Fuß betreten zu haben schien. Thomas

blieb stehen und winkte die anderen heran.

»Hier muß die Lawine heruntergekommen sein«, sagte

er. »Hier, in diesem Tal. Herrn Wiedmanns Spuren sind

von ihr verwischt worden. Und hier, in diesem Tal, müs-

sen wir Helmut suchen. Wir wollen jetzt nicht mehr hin-

tereinander gehen, sondern nebeneinander, in sehr gro-

ßen Abständen, aber so, daß wir einander immer noch

sehen - wenigstens unsere Nebenmänner. Seid vorsichtig,

der Schnee wird manchmal sehr tief sein! Paßt immer

auf, daß ihr euren Nebenmann nicht verliert. Und wenn

ihr etwas seht, dann ruft laut die anderen herbei!«

131

Die Kinder begannen auseinanderzugehen. Sie bildeten

eine lange, lange Linie, die beiden Flügel der Reihe waren

nur noch als kleine dunkle Punkte im Schnee erkenn-

bar.

Und dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Langsam

und vorsichtig bewegten sie sich in das verschneite Tal

hinein.

Die Zeit verging.

Nur Thomas konnte sagen, wie spät es war, denn er hatte

als einziger eine Uhr. Die Sonne stand hoch am Himmel,

es war bereits früher Nachmittag, und noch immer be-

wegte sich die Kette der 17 Kinder durch den Schnee des

verwüsteten Tales vorwärts. Noch immer war keine Spur

von Helmut zu erblicken . . .

Irgendwo weiter vorne in der riesigen weißen Wüste

stolperte der große Helmut der Spur nach, die er gefun-

den hatte. Sein blondes Haar fiel ihm wirr in die Stirn,

sein Atem ging stoßweise, das eine Bein zog er nach. Vor-

bei war es mit dem vergnügten Pfeifen, vorbei mit allem

Übermut des Morgens, Helmut fühlte, daß er den Tränen

nahe war.

Wohin führte die Spur? Wohin führte sie?

Sie konnte doch nicht ewig weiterlaufen . . .

Gerade als er das dachte, sah er dann etwas Unbegreif-

liches und blieb stehen.

Vor ihm liefen zwei Spuren durch den Schnee.

Zwei Spuren, wo eben noch nur eine gewesen war!

Helmut blickte sich wild um. Was bedeutete das? Woher

kam die zweite Spur? Dann sah er zur Seite und entdeck-

132

te eine größere Vertiefung im Schnee. Und als er sie er-

blickte, begann er zu weinen, denn er begriff, was gesche-

hen war. Die Tränen rannen ihm über das Gesicht, und

er ließ sich langsam und kraftlos in den Schnee fallen.

Jetzt ist alles aus, dachte er.

Er war seiner eigenen Spur nachgegangen!

Die Kette der Kinder schob sich langsam und beharrlich

weiter in das verschüttete Tal vor.

Ab und zu blieb eines von ihnen stehen, hob die Hände

wie einen Trichter an den Mund und rief, so laut es

konnte:

»Helmut! Helmut!«

Dann fielen andere Kinderstimmen ein und riefen mit.

Aber niemand antwortete ihnen. Alles blieb stumm um

sie herum.

Der dicke Martin, der ein paar hundert Meter neben der

kleinen Hanna am linken Flügel ging, sah besorgt zu ihr

hinüber. Es war bereits Nachmittag, sie waren seit Stun-

den unterwegs, und Martin vermutete, daß Hanna schon

sehr müde war.

»Kannst du noch?« rief er zu ihr hinüber.

»Natürlich!« rief sie mit ihrer hohen Stimme zurück.

»Und du?«

»Selbstverständlich!« antwortete Martin sofort. Aber so

selbstverständlich war das gar nicht. Seine Beine taten

ihm schon ganz scheußlich weh, und vor allem hatte er

Hunger bekommen. Er dachte, wie dumm es von ihm ge-

wesen war, nicht daran zu denken, etwas zum Essen mit-

zunehmen. Alles wegen dieses gräßlichen Helmut, über-

133

legte er. Wer weiß, wie lange wir noch brauchen, um ihn

zu finden . . . Wenn wir ihn überhaupt finden!

Gerade als er das dachte, stolperte er schwer über etwas,

was ihm vor die Füße kam, und fiel in den Schnee.

Verflucht, dachte er. Das muß mir auch noch passieren.

Ich hätte doch im Autobus bleiben sollen! Was geht mich

schließlich dieser verrückte Helmut an?

Er versuchte wieder auf die Beine zu kommen, und dabei

erkannte er, worüber er gestürzt war. Das Hindernis lag

zusammengekrümmt vor ihm im Schnee und rührte sich

nicht.

Als Martin sich erhob, stützte er sich mit der Hand dar-

auf. Im gleichen Augenblick erschrak er heftig. Und im

nächsten Augenblick begann er zu schreien, so laut er

konnte.

»Hierher!« brüllte der dicke Martin. »Hierher! Schnell,

kommt hierher! Ich habe Helmut gefunden!«

Die anderen kamen herbeigestürzt, so schnell es ihnen

möglich war. Sie keuchten vor Aufregung, als sie eintra-

fen, und starrten stumm auf das Bündel, das vor Martins

Füßen lag.

Thomas trat vor und kniete neben ihm nieder.

»Helmut!« rief er und schüttelte den Jungen. »Helmut!

Hörst du mich?«

Helmut öffnete langsam die Augen und sah ihn an. Lange

Zeit schien es, als würde er Thomas überhaupt nicht er-

kennen. Dann richtete er sich auf, erblickte die anderen

und begann wieder zu weinen. Er wußte gar nicht, daß er

weinte. Aber die Tränen strömten ihm über das Gesicht

wie ein dichter Schleier, und er mußte zweimal schlucken,

bevor er sprechen konnte. Als er endlich soweit war, sag-

te er zwei Sätze.

134

Zuerst sagte er: »Es tut mir leid, was ich getan habe.«

Und danach: »Danke, daß ihr gekommen seid!«

Dann sank er wieder zurück und schloß die Augen.

Thomas sah den dicken Martin an.

»Wir sind gerade noch zurechtgekommen«, meinte er.

»Und du hast Helmut das Leben gerettet!«

»Gar keine Spur«, sagte Martin, »ich bin einfach auf ihn

drauf gefallen. Das hätte jedem anderen auch passieren

können!« Er sah Helmut an, der vor ihm im Schnee lag

und sich nicht rührte. »Schade«, meinte er noch, »jetzt

kann ich ihm doch keine herunterhauen!«

Lucie drängte sich zu Thomas durch. »Und was geschieht

jetzt?« fragte sie begierig.

»Jetzt müssen wir ihn zum Autobus zurücktragen«, er-

klärte Thomas. Er sah auf seine Uhr. Es war halb drei.

Es war halb vier Uhr, als der Mann am Steuer der großen

Schneefräse der Feuerwehr mit seiner Maschine plötzlich

ins Leere hineinstieß. Er richtete sich auf und starrte

durch das dicke Glasfenster nach vorne. Er sah ein Stück

verwehter Straße, ein paar Felsen, weiter hinten ein paar

Bäume, und zwischen den Felsen und den Bäumen sah er

- den roten Autobus.

»Wir sind da!« brüllte der Feuerwehrmann.

»Wir sind da!« brüllte auch Herr Wiedmann, der knapp

hinter der Schneefräse hermarschiert war. Er drehte sich

um und rannte zurück zu Tante Beate. »Wir sind da!«

schrie er noch einmal. Dann packte er sie an der Hand,

und gemeinsam liefen sie stolpernd in den Schnee hinein

und auf den Autobus zu. Je näher sie kamen, um so un-

heimlicher wurde ihnen die Stille im Wagen.

»Um Gottes willen«, sagte Tante Beate atemlos, »was ist

da geschehen? Wo sind die Kinder? Warum sehen wir

niemanden?«

Herr Wiedmann ließ sie stehen und rannte allein weiter.

Er erreichte seinen Autobus als erster. Er riß die Tür auf.

Der Autobus war leer, nur das dicke schwarze Schaf kam

auf ihn zu und machte aufgeregt »Mäh«.

Der Chauffeur sah sich entgeistert um. Dann entdeckte er

das Pappendeckelschild am Lenkrad.

Er hob es hoch und las.

136

Tante Beate erreichte hinter ihm den Autobus.

»Was ist los?« schrie sie. Neben ihr tauchten die ersten

Polizisten auf.

Herr Wiedmann reichte ihr wortlos die Papptafel. Sie las.

»Das auch noch«, sagte Tante Beate erschöpft und setzte

sich auf das Trittbrett des Autobusses. »Was sollen wir

jetzt machen?«

»Warten«, sagte Herr Wiedmann.

Die lange Reihe der Kinder wanderte durch den Schnee

den Weg zurück. Die Sonne stand schon tief, und sie wa-

ren alle todmüde. Zuerst hatten Thomas und der dicke

Martin Helmut getragen, dann waren sie von zwei ande-

ren Jungen abgelöst worden, und so ging es weiter, bis

alle, auch die Mädchen, an der Reihe gewesen waren.

Dann fingen sie wieder von vorne an. Helmuts Fuß war

angeschwollen, er konnte nicht mehr auftreten. Es war

ihm entsetzlich unangenehm, daß er nicht selber gehen

konnte und getragen werden mußte, und er entschuldigte

sich auch ununterbrochen dafür.

»Halt schon den Mund«, sagte der dicke Martin. »Sollen

wir dich vielleicht hier liegenlassen, weil du nicht laufen

kannst?«

»Nein«, sagte Helmut. »Aber ihr müßt doch alle sehr wü-

tend auf mich sein, nicht? Und deshalb ist es mir so pein-

lich, daß ich euch zur Last falle!«

»Hoffentlich ist es dir wenigstens eine Lehre«, sagte der

dicke Martin genießerisch. »Wir tragen dich gern, wenn

du jetzt vielleicht eher begreifst, daß es nicht auf die

Muskeln allein ankommt im Leben.«

137

Die Kinder erreichten die Stelle, an welcher Herrn Wied-

manns Spur, die nun schon ganz ausgetreten war, endete.

Es begann bereits zu dämmern. Nun sprach fast niemand

mehr. Sie fühlten sich alle müde und erschöpft. Stumm

trotteten sie hinter den beiden Kindern her, die als erste

gingen und Helmut zwischen sich trugen. »Jetzt sind wir

bald da«, sagte Thomas ermutigend. Aber niemand ant-

wortete ihm. Die Kinder sahen nur noch vor sich in den

Schnee, sie marschierten eines hinter dem anderen, und

sie waren viel zu müde, noch an irgend etwas anderes zu

denken als daran, wie gern sie schon wieder in dem gro-

ßen roten Autobus gewesen wären.

Herr Wiedmann sah sie als erster.

138

Es war schon beinahe finster, und er glaubte zuerst, sich

geirrt zu haben, aber dann bemerkte er, daß die dunklen

Punkte, die ihm aufgefallen waren, sich bewegten. Sich

auf ihn zu bewegten!

»Sie kommen!« schrie er. Er sprang aus dem Autobus

und rannte in den Schnee hinein. Die anderen rannten

ihm nach. Sie schrien laut und winkten mit den Händen.

Auch die Kinder schrien. Einzelne rannten vor, andere

halfen den beiden Jungen, die gerade Helmut trugen, da-

mit sie schneller vorwärts kämen. Und alle schrien durch-

einander.

Mitten zwischen den Felsen trafen sie dann zusammen,

die Kinder, Herr Wiedmann, Tante Beate, die Feuerwehr-

leute und die Polizisten. Das war ein Wiedersehen!

Die Erwachsenen umarmten die Kinder und drückten sie

an sich. Sie hoben sie hoch, und nun wurde nicht nur Hel-

mut getragen. Nun trugen die Erwachsenen alle achtzehn

mit Jubel und Hallo in den Autobus zurück. Und dort er-

wartete sie der dicke Josef, der ihnen maßlos aufgeregt

entgegensprang.

»Wir sind gerettet!« rief die kleine Hanna.

»Wir fahren weiter!« rief Herr Wiedmann.

»Wir können zu Abend essen!« rief der dicke Martin.

Und alle tanzten und sprachen und lachten durcheinan-

der. Alle, bis auf Helmut, der ganz still dasaß und nur

manchmal verlegen lächelte.

»Alles einsteigen!« schrie Herr Wiedmann. »Die Fahrt

geht weiter!«

Aber da erhob sich der Arzt mit dem weißen Kittel unter

dem Mantel und sagte: »Einen Moment noch! Zuerst

muß ich jedem von den Herrschaften noch seine Spritze

geben!«

139

Das letzte Kapitel

ist sehr kurz, aber nichtsdestoweniger doch ungemein bedeutungsvoll.

Eine halbe Stunde später war auch die sehr notwendige

Arbeit des Arztes zu Ende, und alle 18 Kinder hatten ihre

Spritze bekommen, die sie davor bewahren sollte, so

krank zu werden wie Karli. Sie waren alle sehr tapfer ge-

wesen, und Hanna behauptete sogar, es sei direkt ange-

nehm gewesen, sich von dem Onkel Doktor in den Arm

stechen zu lassen.

Da übertrieb sie natürlich ein bißchen, aber weh hatte es

keinem getan!

Und zum Schluß bekam auch noch Lucies schwarzes Schaf

Josef eine Spritze - »sicherheitshalber«, sagte der Dok-

tor und lächelte dabei.

Während sie noch darauf warten mußten, daß der Arzt

fertig wurde, erzählten sie Herrn Wiedmann und Tante

Beate alles, was geschehen war. Tante Beate und Herr

Wiedmann hörten aufmerksam zu. Und zuletzt war es

dann soweit: Herr Wiedmann konnte den Motor des gro-

ßen Autobusses anlassen, die Polizisten hoben ihn hinten

ein wenig hoch und von den Felsen herunter, auf denen

er sich festgefahren hatte, und langsam rollte der Wa-

gen auf die nun vom Schnee geräumte Landstraße zurück.

140

Das Auto mit den Polizisten und die große Schneefräse

folgten ihnen. Herr Wiedmann schaltete eine höhere Ge-

schwindigkeit ein.

Es dämmerte.

Im Autobus war es warm und gemütlich.

Die Kinder saßen müde und sehr glücklich auf ihren

Plätzen.

Der Arzt untersuchte während der Fahrt Helmuts Bein.

Es war nichts Schlimmes. Er machte ihm einen Verband

und sagte, Helmut müsse nun erst einmal ein oder zwei

Tage im Bett liegen. Dann werde er wieder gesund sein.

Draußen wanderten die hohen Schneeberge vorüber, wel-

che die Fräse der Feuerwehr neben der Straße aufgetürmt

hatte. Tante Beate drehte sich zu den Kindern um und

sagte: »Ich danke euch, daß ihr so brav und klug gewesen

seid, während ihr allein wart, und ich habe eine Bitte:

Vergeßt nie, was ihr hier zusammen erlebt habt! Vergeßt

nicht, daß ihr einander alle fremd wart, als ihr diesen

Autobus bestiegt, und daß ihr trotzdem eure Decken und

euer Essen miteinander ehrlich geteilt habt; vergeßt nicht,

daß Thomas einen Weg gefunden hat, das ausgerissene

Schaf einzufangen, und daß Martin sein Essen hergab,

obwohl er doch immer hungrig ist; vergeßt nicht, daß ihr

euch selber einen Jungen gewählt habt, der euer Vertrau-

en besaß und der euch geführt hat; vergeßt nicht, wenn

ihr groß sein werdet, wie ihr gewacht habt, damit die an-

deren ruhig schlafen können; und vergeßt vor allem

nicht, daß ihr alle miteinander zweien von euch das Leben

gerettet habt. Das ist das Allerwichtigste, was ihr euch

merken sollt: daß man immer verloren ist, wenn man sich

absondert und allein bleibt, und daß einem gar nichts ge-

schehen kann, wenn man einander hilft und zusammen-

141

bleibt!« Tante Beate unterbrach sich kurz und legte Hel-

mut eine Hand auf das Haar. »Ich bin überzeugt, daß

auch Helmut das alles nicht vergessen wird und daß er

von nun an euer guter Freund sein will. Nicht wahr, Hel-

mut?«

Und Helmut nickte und sagte schnell: »Ja, Tante Beate!«

»Fein«, sagte der dicke Martin. »Und wenn dein Bein erst

wieder gut ist, dann ringe ich auch mit dir! Aber nur zum

Spaß! Und weil ich endlich einmal wissen will, ob du

wirklich so stark bist!«

»Einverstanden«, sagte Helmut und lächelte. Dann gaben

sie einander die Hand.

»Ihr wart bloß neunzehn Kinder in einem roten Auto-

bus«, sagte Tante Beate laut. Man konnte sie nur undeut-

lich sehen, es war schon sehr dunkel geworden. Herr

Wiedmann schaltete die Scheinwerfer ein. »Aber hier im

Autobus war es genauso wie draußen in der großen

Welt. Auch dort müssen die Menschen zusammenhalten

und einander helfen, wenn sie nicht wollen, daß ein Un-

glück geschieht. Und darum bitte ich euch, vergeßt nie,

was ihr erlebt habt. Denn wenn ihr es auch als Erwachse-

ne nicht vergeßt, dann werdet ihr auch als Erwachsene so

handeln wie heute, und dann wird die ganze Welt viel-

leicht einmal ein Autobus sein, in dem die ganze Mensch-

heit sitzt und in dem alle Menschen einander helfen. Ich

stelle ihn mir gerne vor, diesen Autobus, der so groß sein

wird wie die Welt.«

Tante Beate schwieg, und niemand sprach. Die Kinder

sahen in die Dunkelheit hinaus. Und auch sie dachten alle

an dasselbe: an den großen Autobus, in dem vielleicht

eines Tages die Menschen aller Länder und aller Rassen

sitzen würden . . .

142

Draußen tauchte ein einsames Haus am Straßenrand auf.

Herr Wiedmann bremste und hupte laut. Die Tür des

Hauses öffnete sich, und die Kinder sahen einen alten

Mann, der ins Freie trat. »Wie geht's?« rief Herr Wied-

mann.

Der alte Mann kam ein paar Schritte näher. Die Kinder

kannten ihn nicht. Es war der alte Mann, den Herr Wied-

mann schon zweimal vom Schlafen abgehalten hatte.

»Mir würde es gut gehen«, rief der alte Mann, »wenn Sie

nicht immer auftauchen wollten, sobald ich schlafen ge-

hen möchte!«

Herr Wiedmann lachte.

»Das war das letztemal!« rief er. »Gute Nacht!«

143

j

<

»Gute Nacht!« rief auch der alte Mann. »Und glückliche

Reise!«

Er sah dem Autobus nach, wie er wieder anfuhr. Die

Schneefräse und der Polizeiwagen folgten. Der alte Mann

stand in der Tür seines einsamen Hauses und winkte. Die

drei Wagen wurden schnell von der Dunkelheit ver-

schluckt. Bald waren nur noch die roten Schlußlichter zu

sehen, und zuletzt verschwanden auch sie.

»Glückliche Reise!« sagte der alte Mann noch einmal leise,

dann trat er in sein Haus und schloß die Tür hinter sich.

Mit 19 Kindern, einer Kindergärtnerin, einem Chauffeur und einem

schwarzen Schaf namens Josef fährt der Autobus in die winter-

lichen Berge, wo die Kinder sich erholen sollen. Aber welche Aben-

teuer passieren da bei diesem Ausflug! Das Schaf Josef reißt aus,

zwei Lawinen donnern zu Tal, der Autobus bleibt stecken, ein Bub

wird lebensgefährlich krank, die Großen versuchen, Hilfe zu holen,

und die Kinder bleiben allein. Die Situation zwingt sie, die Spielregeln eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen zu lernen. Und ihr

Autobus wird dadurch so groß wie die Welt.


Загрузка...