1. Teil Hohenmut

Der Himmel hüllt sich in Dunkelheit.

Wie Regen zu fallen ist etwas bereit.

Doch es werden keine Blumen sein.

W. H. Auden, The Two

I.

Der Geruch des Todes, der über dem Feld lag, war schwer und überwältigend – erdig, bitter und dennoch von verstörender Süße. Rauch waberte wie Nebel über dem Boden, gespeist von den brennenden Leibern der Krieger, die auf diesem Flecken Erde ihr Leben gegeben hatten, jeder für seine eigene Sache. Als sie noch lebten, hätten sie unterschiedlicher nicht sein können, doch nun, im Tode, waren sie zu Brüdern geworden und lagen dicht an dicht zwischen qualmenden Heuschobern und den Kadavern ihrer Pferde, aus denen Dutzende von Pfeilen staken wie Stacheln aus dem Rücken eines Igels. Es war unmöglich zu sagen, wie viele Opfer diese Schlacht gekostet hatte, doch es war, als bestünde der Boden bis zur Burg Mhurag-Nar, die in der Ferne als düsteres Mahnmal einem gigantischen Grabstein gleich in die Morgendämmerung ragte, aus nichts als toten Körpern, ein endloser Teppich aus Leichen, an denen sich hier und da bereits die Krähen gütlich taten, deren gieriges Krächzen die allmählich weichende Nacht erfüllte wie das kranke Echo längst verhallter Schreie.

Zara ließ den Blick über das Schlachtfeld zum Horizont schweifen, vor dem sich Mhurag-Nar mit seinen Türmen und Zinnen klar umrissen abhob, eine Festung aus massivem Stein, vor Tausenden von Jahren von den Dunkelelfen errichtet, bedrohlich und stoisch, scheinbar unbezwingbar. Doch dieser Eindruck täuschte, denn der Rauch, der in dichten Schwaden von der Burg aufstieg und in einer senkrechten Wolke gen Himmel quoll, erzählte eine andere Geschichte. Nach mehr als sechzig Tagen der Belagerung war Mhurag-Nar letzte Nacht endlich gefallen, und mit der Festung unzählige Menschen und Zwerge, die dem Ruf ihres Königs Aarnum I. gefolgt waren, um Ancaria ein für alle Mal vom Terror der Dunkelelfen zu befreien. Gleichwohl, der Preis für diesen Befreiungsschlag war hoch, nicht nur für die Gefallenen, sondern auch für all jene, die das Glück hatten, das Gemetzel der letzten Schlacht, die drei Tage und Nächte währte, zu überleben. Denn egal, wer sie gewesen sein mochten, egal, woher sie stammten oder welchen Standes sie waren – das, was sie hier gesehen und erlebt hatten, veränderte sie für immer.

Auch Zara spürte, dass sie nicht mehr die war, als die sie in diesen Krieg gezogen war, voller Enthusiasmus und Tatendrang und überzeugt davon, es würde ihrer Familie zur Ehre gereichen, wenn sie ihrem Land und ihrem König zu Diensten war. Diese Gedanken waren längst vergessen, fortgewaschen von dem Blut, das ihre Rüstung besudelte, schwarzrote Schlieren ausgelöschten Lebens. Die Klinge ihres Schwerts, einst makellos schön und sauber, war voller kleiner Kerben; dem dreifach gefalteten Stahl war es gleich, ob er durch Knochen oder Holz schnitt, so wie es Zara gleich geworden war in jener Nacht, in der sich alles, an das sie je geglaubt hatte, mit jedem Kameraden, der neben ihr fiel, in Blut und Tränen aufgelöst hatte. Der Krieg war nicht so, wie Zara ihn sich vorgestellt hatte. Ganz und gar nicht.

Zaras Blick war leer und in sich gekehrt, ebenso tot wie der Dunkelelf, der zu ihren Füßen lag, die dunklen, fast pupillenlosen Augen weit aufgerissen, die langen, spitzen Zähne selbst im Tode noch zu einem angriffslustigen Fauchen gefletscht. Während die Sonne allmählich höher stieg und der helle Schein der Dämmerung wie ein Vorhang aus Licht über das Schlachtfeld zog, stand Zara da und rührte sich nicht. Erst, als eine junge Frau mit einem Kopftuch, in die Gewänder einer Dienstmagd gehüllt, in ihrer Nähe den Leichnam ihres Liebsten entdeckte, sich in den Schmutz warf und den Toten laut jammernd in den Armen wog, schüttelte Zara ihre Lethargie ab.

Mit unbewegtem Gesicht schaute sie zu der Magd hinüber, deren Wehklagen das heisere Krächzen der Krähen übertönte, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten, so schien es ihr, spürte sie eine menschliche Regung, die über triste Gleichgültigkeit hinausging. Das Weinen der Frau war wie ein Messer, das tief in ihr Herz stach, und als Zara sich umschaute, stellte sie fest, dass die Magd nicht die Einzige war, die gekommen war, um auf dem Schlachtfeld nach ihrem Liebsten zu suchen. Überall zwischen den Toten gingen die geduckten Gestalten von Frauen und Kindern umher, manche, um voller Trauer Abschied zu nehmen, andere aber auch, um sich die Stiefel, Schwerter und Schilde der Gefallenen zu schnappen, bevor ihnen jemand zuvorkam. Zara erinnerten die Leichenfledderer unwillkürlich an die Krähen, die über die Reihen der Toten spazierten; jeder nahm sich von den Gefallenen, was er brauchte, um selbst am Leben zu bleiben.

Das war der Kreis des Seins, seit Anbeginn der Zeit.

Dennoch brachte das Leid der Magd, die ihren Liebsten beweinte, in Zara eine Saite zum Schwingen, die sie noch nie zuvor an sich wahrgenommen hatte. Sie vermochte nicht zu sagen, was genau das für ein Gefühl war, aber es war nicht unangenehm; im Gegenteil! Zum ersten Mal seit langem glaubte sie, wenigstens einen Hauch von Leben in ihrem ausgezehrten, von Entbehrung und Kampf gezeichneten Körper zu spüren, wie eine kleine Flamme irgendwo tief in ihrem Inneren, die mit jeder Träne, die die Wangen der Magd hinabrollte und weiße Spuren in den Schmutz auf ihrem Gesicht wusch, größer und heller wurde, bis die Wärme schließlich nicht nur Zaras Leib, sondern auch ihre vor Grauen erstarrte Seele wärmte. Und als wäre das nötig gewesen, um sie wieder zum Leben zu erwecken, setzte sich Zara unvermittelt in Bewegung und schritt über das Schlachtfeld auf die trauernde Magd zu, eine junge Ritterin in einer von Blut und Erde beschmierten Rüstung, auf dem Rücken ein Schild mit dem Wappen ihrer Familie.

Die Magd hob den Blick, als Zara neben ihr stehen blieb. Den wuchtigen Helm warf die Ritterin achtlos beiseite, neben die Füße eines toten Zwergs in einer ledernen Rüstung, die den Klingen der Dunkelelfen nicht hatte standhalten können.

Die Augen der Magd waren verschwommene blaue Seen in dem vom Weinen aufgedunsenen Gesicht, das trotz aller Tränen und allen Schmutzes von einigem Liebreiz war. Sie wiegte das Haupt des toten Mannes in ihrem Schoß, ein blonder Krieger aus Mascarell. Fragend schaute die Dienstmagd zu Zara auf und wich ängstlich zurück, als Zara ihr Schwert neben sich in die Erde rammte.

„Hab keine Angst, mein Kind“, sagte Zara. „Du hast von mir nichts zu befürchten.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen, sank Zara neben der Magd in die Knie. Zara erinnerte sich, die junge Frau schon im Lager gesehen zu haben; sie war eine der Dirnen, die der König mit auf den Feldzug genommen hatte, um die Männer zwischen den Kämpfen bei Laune zu halten. Ihr langes, gelocktes blondes Haar wurde im Nacken von einem eleganten Reif gehalten; vermutlich ein Geschenk des toten Offiziers, den sie so fest in den Armen hielt.

Erst jetzt, aus unmittelbarer Nähe, fiel Zara auf, wie jung die andere tatsächlich noch war, vielleicht siebzehn oder achtzehn Lenze, keinesfalls älter. Ein hübsches junges Ding vom Lande, das gehofft hatte, durch eine Liaison mit einem Offizier aus Mascarell einem Leben zwischen Schweinetrog und Heuboden zu entkommen. Doch daraus würde nun nichts mehr werden.

Die Magd starrte Zara mit furchtsamem Blick an, wie ein waidwundes Reh, dem Gefahr droht. Schließlich jedoch fasste sie sich ein Herz und sagte zögernd: „Wir ... wir wollten heiraten ...“ Sie fing an, liebevoll das Haar des Toten zu streicheln. „Er sagte, sobald Mhurag-Nar gefallen ist, kehren wir nach Mascarell zurück und treten in den heiligen Stand der Ehe. Er sagte, wir würden ... eine Familie gründen. Jetzt ist er tot, und ich ... ich ...“ Neue Tränen schossen ihr in die Augen, und sie begann bitterlich zu weinen, geschüttelt von Heulkrämpfen, die jedes weitere Wort im Keim erstickten.

„Armes Kind“, sagte Zara sanft, beugte sich vor und nahm die junge Frau in den Arm, die es willig geschehen ließ und sich an Zara klammerte wie eine Ertrinkende. „Armes, verlorenes Kind ...“

Die Magd drückte sich fest gegen Zara und ließ ihrem Kummer und ihren Tränen freien Lauf, während Zara mit ihrer im Lederhandschuh steckenden Hand beruhigend über ihren Rücken strich. Zara spürte den warmen Atem der Frau, fühlte, wie sich ihre Brust bei jedem Schluchzer hob und senkte, wie ein Blasebalg in einer Schmiede, wie ein Herz, das sich mit Blut voll saugt, um es wieder auszustoßen und den Funken des Lebens durch Venen und Arterien im ganzen Körper zu verteilen. Sie spürte den Herzschlag der anderen, rhythmisch, voller Lebenskraft...

Und plötzlich loderte die Flamme in Zaras Innerem fauchend auf und wurde zu einem alles verzehrenden Feuer, das ihren ganzen Leib erfasste und sie innerhalb von Sekundenbruchteilen vor Leben schier bersten ließ. Zaras Nasenflügel bebten, und der Geruch des Todes betörte sie wie der Duft eines teuren Parfüms, berauschend, eindringlich und im besten Sinne überwältigend.

„Armes, verlorenes Kind“, murmelte Zara wieder, doch dieses Mal lag nichts Besänftigendes mehr in ihrer Stimme, nur noch verschlagene Kälte. „Du bist noch so jung ... Du sollst nicht länger leiden ...“ Mit diesen Worten hörten Zaras Finger auf zu streicheln und gruben sich stattdessen tief in das dichte Haar der Magd. Mit einem harten Ruck riss Zara den Kopf der jungen Frau nach hinten, um ihre Kehle freizulegen.

Die Magd stieß ein überraschtes Keuchen aus, doch bevor sie überhaupt versuchen konnte, sich loszureißen, ruckte Zaras Kopf vor wie der einer angreifenden Schlange, ihr Unterkiefer klappte nach unten, weiter als es jedem normalen Menschen möglich gewesen wäre, und noch während die Magd zu begreifen versuchte, was geschah, grub Zara ihr die langen, elfenbeinfarbenen Hauer in den Hals, die ihr in Sekundenbruchteilen aus dem Kiefer wuchsen.

Blut schoss in Zaras Mund, füllte ihren gesamten Rachen und rann süß wie edler Wein durch ihre Kehle, und Zara trank mit tiefen, gierigen Zügen. Die Magd versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch Zaras Finger glichen Schraubstöcken, und während Zara das Leben aus ihrem Opfer saugte, nahm sie alles um sich herum plötzlich so viel intensiver wahr als zuvor: das hungrige Krächzen der Krähen, den öligen Gestank des Feuers, der von einer schwachen Brise in trägen Schwaden über das Schlachtfeld getrieben wurde, das Jammern und Wehklagen der anderen Frauen auf dem Acker ...

Erst als die Seele in dem Körper, den sie umklammert hielt, erloschen war, hob Zara den Kopf vom Hals ihres Opfers, das Gesicht über und über mit Blut besudelt, die Augen dunkel und glühend wie Kohlegruben.

„Das ist es, was ich bin“, murmelte Zara zufrieden, „und daran wird auch die Ewigkeit nichts ändern ...“

II.

Zara fuhr aus dem Schlaf auf, einen nur mühsam unterdrückten Schrei auf den Lippen. Die schicksalsschweren Worte, die sie im Traum aus ihrem eigenen Mund vernommen hatte, hallten in ihrem Verstand wieder wie ein Echo zwischen Berghängen.

Das ist es, was ich bin, und daran wird auch die Ewigkeit nichts ändern ...

Zara schüttelte den Kopf, als könnte sie den Albtraum auf diese Weise verscheuchen, und richtete sich mit einem resignierten Stöhnen auf ihrem Nachtlager auf. Das lange schwarze Haar fiel ihr als ungezähmte Mähe über die Schultern. Sie strich sich einige verirrte Strähnen aus dem Gesicht und blinzelte, um die letzten Reste Schlaf zu vertreiben. Beiläufig kam Zara der Gedanke, dass sie es sich eigentlich sparen konnte, sich zur Ruhe zu betten, da sie sowieso kaum jemals mehr als zwei Stunden am Stück schlief, bevor der Albtraum sie heimsuchte und sie wieder aus Morpheus’ Armen gerissen wurde. Manchmal kam es ihr vor, als wartete der schreckliche Traum in irgendeinem finsteren Winkel ihrer Seele nur darauf, über sie herzufallen, sobald sie die Augen schloss, eine wirre Mischung aus Erinnerung, Legende und Fantasterei, die Zara nun schon so lange quälte, dass sie nicht einmal mehr zu sagen vermochte, wann das Ganze angefangen hatte. Es schien Äonen her zu sein, seit sie das letzte Mal in Ruhe eingeschlafen und ebenso ruhig wieder aufgewacht war. Doch wie jedes andere Wesen brauchte auch Zara ein gewisses Maß an Schlaf, um nicht den Verstand zu verlieren. Nur fragte sie sich manchmal, ob sich ihr Los nicht einfacher ertragen ließe, wäre sie nicht mehr ganz bei Sinnen ...

Zara verdrängte den Gedanken und ließ den Blick in die Runde schweifen. Der milchige Schein des Mondes tauchte die Wildnis in düsteres Zwielicht. Das kleine Lagerfeuer war noch nicht gänzlich erloschen. Hier und da züngelten kleine rotgoldene Flammen in der Glut, und eine Windbö aus den Wäldern, die den Geruch von Schnee mit sich trug, wirbelte ein paar Funken auf. Zara hatte vielleicht eine Stunde geschlafen, keinesfalls länger.

Ein paar Schritte entfernt stand ihr schwarzer Hengst Kjell im matten Glanz des langsam ersterbenden Feuers und trabte müßig, als er bemerkte, dass Zara ihn ansah.

Zara setzte sich auf, nahm einen kleinen Stock zur Hand, der neben ihrer Decke auf dem Boden lag, und stocherte gedankenverloren in der Glut herum. Ein Schwarm Funken stob auf wie winzige Glühwürmchen und verging knisternd zu Nichts, doch Zara bemerkte es kaum. Ihr Blick war nach innen gerichtet. Auch wenn sie jedes Detail ihres immer gleichen Albtraums kannte, war sie jedes Mal geschockt darüber, wie ungemein realistisch er war. Noch immer schien es, als könnte Zara den Rauch riechen, der über das Schachtfeld zog, und die Erinnerung an das Blut der Magd, das ihre Kehle hinabströmte, bereitete ihr würgende Übelkeit. Sie versuchte, sich einzureden, dass es bloß ein Traum sei, ein Albtraum, Ausgeburt ihres gequälten Verstandes. Doch so einfach lagen die Dinge leider nicht.

Gedankenverloren starrte Zara in die schwelende Glut. Was brachte es, sich den Kopf über etwas zu zermartern, das man ohnehin nicht ändern konnte?

Nichts.

Doch ihre Gedanken drehten sich weiter im Kreis.

Das ist es, was ich bin, hörte sich Zara im Geiste selbst sagen, und daran wird auch die Ewigkeit nichts ändern ...

„Unsinn“, murmelte sie und war erschrocken, wie dünn ihre Stimme klang, fast resigniert. „Die Zeiten haben sich geändert. Ich habe mich geändert...“

Das stimmte wohl. Doch trotzdem dürstete es sie – nicht nach Blut, Gott bewahre, sondern nach menschlicher Gesellschaft, nach den Stimmen und dem Lachen und dem Lärmen anderer vernunftbegabter Wesen. Sie hatte schon seit Wochen niemanden mehr zu Gesicht bekommen, weil sie sich mit Absicht fern der Hauptreiserouten und Handelswege hielt. Doch auch Zara brauchte hin und wieder das Gefühl, nicht vollkommen allein auf der Welt zu sein; das Gefühl, dass es dort draußen noch andere gab, Menschen – Männer, Frauen und Kinder –, die einfach ihr Leben lebten und keinen Gedanken daran verschwendeten, was einst war oder vielleicht bald sein würde.

Der Augenblick war alles, was zählte.

Und das, was man daraus machte.

Zara warf den Stock in die Glut und traf eine Entscheidung: Es war an der Zeit zurückzukehren, wenn auch nur vorübergehend. Burg Hohenmut lag gut eine Tagesreise entfernt. Ein wenig Ablenkung würde ihr mit Sicherheit gut tun und sie auf andere Gedanken bringen. Und womöglich gab es in den unzähligen Spelunken und Etablissements jener Stadt ja sogar wirklich den einen oder anderen guten Tropfen ...

III.

Burg Hohenmut war Heimstatt der Herrscher von Ancaria seit den Zeiten König Aarnums I. Es schien Ewigkeiten her zu sein, seit Zara Hohenmut zum letzten Mal besucht hatte, und die Erinnerung daran war nicht gut. Blut war geflossen, es hatte viele Tote gegeben, und zum Schluss hatte sie fliehen müssen.

Seit im Königreich friedliche Zeiten eingekehrt waren, hatte sich Hohenmut zu einem Hort der Macht entwickelt, des Handels und der Kultur, reich an Tavernen, Schmieden, Stallungen und Ladengeschäften aller Art. Längst vergangen waren die Tage, als die Felder rings um die Burg blutgetränkt waren und die Luft erfüllt war vom Wehklagen der Witwen. Die Stadt war gewachsen wie ein lebendiges Wesen; immer mehr Menschen hatten sich im Schatten der uralten Trutzburg angesiedelt, die mit ihren unzähligen Türmen und Zinnen und Erkern weithin sichtbar über der Stadt aufragte. So mochten es gut und gern zehntausend Häuser sein, die sich wie Schutz suchend an den Felsen drängten, auf dem die Burg errichtet war. Aus Hunderten Schornsteinen stieg weißer Rauch in den wolkenlosen Himmel, und von den Giebeln der spitzen, schiefergedeckten Dächer hingen vereinzelt Eiszapfen. Noch war der Winter nicht mit aller Macht über das Königreich hereingebrochen, doch der Wind, der flüsternd über das Land strich, trug bereits den Duft des ersten Schnees mit sich. Nicht mehr lange, und die Frostriesen würden Ancaria in ihrem eisigen Griff gefangen halten.

Zara war den ganzen Tag geritten. Es dämmerte bereits, als sie Hohenmut erreichte. Ein Wanderzirkus hatte vor den Toren der Stadt seine Zelte aufgeschlagen, und als Zara an den Wagen, den Zelten und dem großen Festzelt vorbei dem gepflasterten Pfad zum riesigen Haupttor folgte, stieg ihr der scharfe Geruch von Raubkatzen in die Nase. Offenbar war die letzte Vorstellung des Tages gerade vorbei, denn einige Schausteller saßen in ihren aufwändig genähten Kostümen auf ein paar Holzkisten, rauchten Schnüffelkraut, einen ungemein starken, aromatischen Tabak aus dem Grenzland zur Wüste von Khorad-Nur, dem gewisse halluzinogene Eigenschaften zugeschrieben wurden, und ließen eine Flasche Selbstgebrannten kreisen. Die Männer mit ihren grell geschminkten Clownsgesichtern warfen Zara aus alkoholglänzenden Augen neugierige Blicke zu, als sie auf Kjell gemächlich an ihnen vorübertrottete. Doch trotz des Suffs wagte keiner von ihnen, Zara anzusprechen; vielleicht spürten sie instinktiv, dass dies kein so guter Einfall gewesen wäre.

Dennoch zog Zara die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht, um ihre Züge zu verbergen; es war unwahrscheinlich, dass jemand sie nach all den Jahren wiedererkannte, doch sie wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

Vor ihr wuchs das Stadttor von Hohenmut empor. Die beiden gewaltigen, zwanzig Meter hohen Torflügel standen offen; dahinter breitete sich der Marktplatz der Stadt aus, ein labyrinthisches Durcheinander aus Zelten und Ständen, in dem man für klingende Münze angeblich alles bekam. In einer Wachhütte rechts neben dem Tor kauerte ein Soldat auf einem Hocker, beide Hände um seinen Speer gelegt, den er als Stütze missbrauchte; er schnarchte mit offenem Mund. Zara bedachte den Wachmann mit einem Kopfschütteln, doch insgeheim war sie froh, keine Rechenschaft über ihre Person ablegen zu müssen und darüber, was sie nach Burg Hohenmut verschlagen hatte – nicht, weil sie gezwungen gewesen wäre, zu lügen, sondern weil ihr Verlangen nach menschlicher Nähe und Gesellschaft nicht zwangsläufig bedeutete, dass sie mit den Menschen reden wollte; sie wollte einfach nur in ihrer Mitte sein und ein wenig Leben um sich herum spüren.

Während der Torwächter weiter friedlich vor sich hinschnarchte, trabte Kjell gemächlich an ihm vorbei unter dem gewaltigen Torbogen hindurch. Obwohl Zaras letzter Besuch schon etliche Jahre zurücklag und sich seitdem einiges verändert hatte, bereitete es ihr keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Östlich des Stadttors ragten die Häuser der wohlhabenden Bürger von Hohenmut auf, während sich weiter nördlich die gepflegten mehrstöckigen Fachwerkhäuser des Mittelstands Giebel an Giebel reihten. Doch Zaras Ziel lag woanders, im Westen der Stadt, wo sich die heruntergekommenen Gebäude von Tavernen, Theatern und Freudenhäusern zu einem labyrinthischen Wirrwarr dunkler Gassen zusammenschlossen. Nach Einbruch der Nacht wurden sie bevölkert von jeder Menge zwielichtigen Gesindels, dem man bereits im Hellen besser aus dem Weg ging. Diebe, Falschspieler, Meuchelmörder oder Luden – in der Unterstadt trieben sich fast so viele zwei- wie vierbeinige Ratten herum.

Zara ritt an der Statue von Ritter Arnulf von Begonien vorbei, einer der schillerndsten Persönlichkeiten in der Geschichte Ancarias, und stellte fest, dass Arnulf nicht nur bei den hiesigen Barden sehr beliebt war, die auch achthundert Jahre nach seinem mysteriösen Verschwinden in der Ödnis des Sandes noch Verse über seine Heldentaten anstimmten, sondern ebenso sehr bei den Tauben, die dick und fett gefressen auf der weiß beklecksten Statue saßen und schläfrig vor sich hin gurrten.

Sie führte Kjell in gemächlichem Trab durch die Straßen und Gassen der Unterstadt; die Hufe des Pferdes klackten rhythmisch auf dem Kopfsteinpflaster, während sie an Ladengeschäften vorbeikamen, in denen von Waffen und Rüstungen bis hin zu obskuren Heilkräutern, Liebestränken und orkischen Schrumpfköpfen so ziemlich alles feilgeboten wurde. Doch Zara hatte für die bunten Auslagen der Geschäfte keinen Blick; ihre Aufmerksamkeit galt den Menschen in den Gassen der Unterstadt – betrunken lallende Männern und kichernde Frauen. Hinzu kam die Musik, die aus der einen oder anderen Spelunke drang. Normalerweise hätte der Lärm Zara wahnsinnig gemacht, doch nun genoss sie den Trubel – noch ein Indiz dafür, dass sie einfach zu lange allein gewesen war.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde herrschte in der Unterstadt noch immer buntes Treiben. Die Menschen bewegten sich lärmend durch die Straßen. Zara stieg der Duft gebrannter Mandeln und Maronen in die Nase, aber es roch auch nach feuchter Kleidung, altem Schweiß und faulem Gemüse; der Geruch ging teils von der Umgebung und teils von den Menschen selbst aus.

An einer Ecke stand ein Straßenmusikant, auf der Schulter ein Äffchen. Der Musikus spielte mehr schlecht als recht auf seiner Laute und gab mit schnapsschwangerer, lallender Stimme voller Inbrunst ein selbst gedichtetes Spottlied zum Besten: „Baron DeMordrey, welch ein Graus, zog in die weite Welt hinaus, sich zu verbünden aus guten Gründen mit König, Prinz und Laus. Als Feldmarschall von Königs Gnaden wollt er ein Stück vom Kuchen haben, den dieses reich gedeckte Land ‘nem anderen hat zuerkannt. So grämt er sich und bleibt allein und wartet auf das nächste Schwein, es zu binden und zu schinden und wenigstens nicht mehr spitz zu sein auf Varia von Heckenheim.“

Ein paar Umstehende lachten, und selbst Zara konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, auch wenn sie spürte, wie die Vergangenheit, seit sie wieder in Hohenmut war, von Minute zu Minute schwerer auf ihren Schultern lastete. Ihre Erinnerungen an Burg und Stadt Hohenmut waren nicht die besten, und es war ein sonderbares Gefühl, wieder durch diese Straßen zu reiten. Es erschien ihr auf seltsame Weise unwirklich, beinahe als würde sie dies alles nur träumen.

Als sie an einer dunklen, schwer einsehbaren Seitengasse vorbeiritt, schrie irgendwo eine Frau, und auf einmal zuckten Bilder durch Zaras Verstand – Bilder von lachenden jungen Männern und Frauen, von vollen purpurroten Lippen, von schimmernden elfenbeinfarbenen Zähnen und von Blut, das stoßweise auf das Pflaster pumpte, um dann in den Rinnstein zu laufen ...

Zara verdrängte die Erinnerungen, so gut sie es vermochte, und trabte weiter die Straße entlang. Zu beiden Seiten der schmalen Gasse reihten sich Tavernen und Gasthöfe aneinander, überbordend vor Leben, doch Zaras Ziel lag woanders, am Ende des Amüsierviertels, wo die Gaslaternen spärlicher wurden und die Schatten schwärzer. Zwischen den windschiefen, verwinkelten Häusern wurde der Lärm beständig leiser, als sie die belebten Straßen hinter sich ließ und durch einen steinernen Torbogen in einen kleinen Hof trabte. Der Eingang zu der Schenke, in die es Zara zog, lag hinter einem Freudenhaus, vor dem ein halbes Dutzend Dirnen auf Kundschaft warteten.

Unter einem Unterstand saß ein Freier in einem großen Waschzuber und ließ sich von einer barbusigen Dirne mit warmem Wasser begießen. Einige weitere Freudenmädchen beugten sich gelangweilt aus den Fenstern des ersten Stocks.

Keine der Dirnen sagte ein Wort, als Zara an ihnen vorbeiritt; genau wie vorhin die Schausteller schienen sie zu spüren, dass mit der Gestalt in dem weiten, wallenden Mantel und mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze etwas nicht stimmte. Etwas Dunkles, Bedrohliches schien von ihr auszugehen.

Vor der Schenke brachte Zara den Hengst zum Stehen, stieg ab und band die Zügel am Pferdepfosten fest, ehe sie auf die offene Holztür zutrat. Darüber verkündete ein an Ketten baumelndes Schild mit verblasster schnörkeliger Schrift: Ascarons Ruf.

Die Schenke befand sich am Fuße des Berges, auf dem sich Burg Hohenmut erhob – oder besser gesagt: sie befand sich im Berg, direkt im Felsen. Hinter der Holztür führten in den Stein gehauene Stufen steil in die Tiefe. Flackerndes Licht vom Ende der Treppe wies Zara den Weg.

Im Schankraum standen mindestens ein Dutzend Holztische, trotzdem tummelten sich die meisten Zecher an der Theke. Zara war das nur recht. Sie blieb einen Moment stehen, um die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Die Wände bestanden aus roh behauenem Fels, auf dem die Nässe schimmerte. Rußende Fackeln steckten in eisernen Halterungen. Die niedrige Decke wurde von dicken Balken gestützt. Der steinerne Boden war uneben.

Zara ging zu einem kleinen Ecktisch, der in einer Nische stand. Von dort hatte sie einen guten Blick über den gesamten Schankraum und war dennoch für sich. Neben dem Tisch stand ein Kohlebecken, das rötliche Wärme ausstrahlte. Es roch durchdringend nach Moder, Rauch, verschüttetem Met und geschmortem Fleisch, denn drüben bei der Theke drehte eine Magd gelangweilt ein Glorb über dem Feuer. Der dickbäuchige Wirt hinterm Tresen stach mit Hammer und Zapfhahn gerade ein neues Fass Met an, um den Durst seiner Kundschaft zu stillen, die größtenteils aus Zechbrüdern, Draufgängern, Abenteurern, Spielern und anderem lichtscheuen Gesindel bestand. Zara war schon in wesentlich schlimmere Spelunken eingekehrt; tatsächlich fand sie es in dieser Schenke sogar gemütlich.

Sie hatte kaum auf dem wackeligen Holzstuhl Platz genommen, als vor ihr bereits die Schankmagd auftauchte, eine schlanke junge Frau in Rock und Schürze, der das dunkelblonde Haar in langen, welligen Locken über die Schultern fiel; ein Hauch von Flieder stieg Zara in die Nase, süß und auf unbestimmte Weise anregend. „Guten Abend, der Herr“, grüßte die Magd und lächelte freundlich. „Schön, dass Ihr uns die Ehre gebt! Wenn es Euch nach einem Mahl verlangt, kann ich Euch den Spanglorb empfehlen, serviert mit Kartoffelknödeln und Brot, und dazu ein Maß Honigmet ...“

Während die Magd sprach, streifte Zara beiläufig die Kapuze vom Kopf.

Die Schankmagd erschrak. „Oh, bitte verzeiht, Madam“, begann sie hastig. „Ich dachte, ihr wärt ...“

„... ein Mann?“, fragte Zara.

Die Schankmagd nickte ängstlich, fast furchtsam. Offenbar war sie es nicht gewohnt, dass Frauen hierher kamen, um Geld auszugeben – höchstens, um sich bei den abgehalfterten Zechern etwas zu verdienen.

Dann fiel ihr Blicke auf die beiden Schwertgriffe, die unter dem Mantel der seltsamen Frau hervorschauten. Je ein Schwert trug sie links und rechts in den Lederscheiden der Waffengurte, die sie um die Hüfte geschnallt hatte. Die Magd trat erschrocken einen Schritt zurück.

„Nun, ein Mann bin ich nicht“, sagte Zara ruhig, „aber ich habe Durst wie einer! Bring mir einen Krug Met und etwas zu rauchen, wenn Ihr habt.“ Sie griff in die Tasche und schnippte der Magd eine Münze zu, die diese geschickt auffing.

„Sehr wohl, mein He... Madam.“ Die Magd knickste leicht und ließ Zara allein mit sich und ihren Gedanken.

Während Zara auf das Met wartete, ließ sie den Blick durch den Schankraum schweifen. Außer ihr waren noch etwa zwei Dutzend weitere Gäste zugegen, durchweg Männer. Die meisten standen an dem langen Tresen, der beinahe die gesamte Rückwand der Schenke einnahm, und einige Tische weiter war ein Quartett verwegen aussehender Gestalten in eine Partie Königspoker vertieft; der Pott zwischen ihnen auf dem Tisch bestand aus ein paar Dutzend Münzen – nicht schlecht, wenn man bedachte, dass es für kaum einen dieser Kerle eine Möglichkeit gab, auf legalem Wege an Geld zu kommen.

Entsprechend angespannt wirkten die Spieler, auch wenn jeder der vier versuchte, nach außen hin eine abgeklärte Fassade aufrechtzuerhalten. Zara jedoch konnte die Nervosität der Zocker wittern wie ein Raubtier die Beute. Es waren kleine, unscheinbare Gesten, die sie verrieten: die Art und Weise, wie der Dicke mit der Augenklappe die Spitzen seines buschigen Schnauzbarts zwirbelte, wie sich der Kerl in der speckigen Lederweste rechts von ihm die Lippen leckte oder wie der hünenhafte Glatzkopf, dem eine tätowierte Schlange den Arm hinaufkroch, seinen Bierklug umklammerte, als wolle er ihn mit einer Hand zum Zerspringen bringen. Einzig der Jungspund lächelte entspannt, ein Mann von vielleicht zwanzig Lenzen, hoch gewachsen und schlaksig, mit riesigen, weit abstehenden Ohren, lockigem braunem Haar und einem jungenhaften, beinahe spitzbübischen Gesicht. Er hatte seine Karten umgedreht vor sich auf dem Tisch liegen, lehnte lässig auf seinem Stuhl und tat so, als hätte er den Pott bereits in der Tasche. Selbst Zara vermochte nicht zu sagen, ob er tatsächlich ein gutes Blatt hatte oder nur bluffte.

Keiner der Männer sagte etwas; sie belauerten sich lediglich. Schließlich machte der Dicke mit der Augenklappe den Anfang und schob die letzten paar Münzen, die noch vor ihm lagen, in die Mitte des Tischs. „Nun, denn“, sagte er betont ruhig, „ich bringe die fünf und lege noch fünf drauf.“ Er hielt seine Spielkarten verdeckt in den Händen und schaute von einem Mitspieler zum nächsten.

Der Kerl in der Lederweste schob den Unterkiefer vor, und man konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner breiten Stirn arbeitete. Schließlich warf er seine Karten auf den Tisch und lehnte sich mit einem resignierten Schnauben zurück.

„Ich steige auch aus“, brummte der Tätowierte. „Das wird mir zu heiß.“

Der Dicke sah mit seinem einen Auge den Jungspund an, der ihm den Pott als Einziger noch streitig machen konnte. Doch wenn er darauf spekulierte, dass der ebenso den Schwanz einzog wie die anderen Mitspieler, irrte er gewaltig. Ohne dass dieses selbstgefällige, fröhliche Grinsen von seinen Zügen wich, griff der Bursche nach dem ansehnlichen Münzhäufchen, das neben seinem Bierkrug lag.

„Deine fünf, sagte der Schlaksige und warf klimpernd eine Hand voll Münzen in die Mitte, „und noch zehn zum Sehen. Da kannst du nicht mehr mithalten, fürchte ich! Na, los, Dickerchen, runter mit den Hosen!“

Der Dicke mit der Augenklappe starrte sein Gegenüber einen Moment lang ausdruckslos an, bemüht, seine ruhige Fassade beizubehalten. Dann jedoch verwandelte sich die Ausdruckslosigkeit in Wut, und er knallte sein Blatt auf den Tisch: zwei Buben, ein Ass und zwei verschiedene Augenpaare.

Der Schlaksige schnalzte mit der Zunge. „Na, da hat wohl einer versucht, den guten Falk auszubluffen, nicht wahr? Tja, nur gut, dass ich solchen Schlag bei den Damen habe.“ Mit diesen Worten deckte er nacheinander die Karten auf, die bisher umgedreht vor ihm gelegen hatten: drei Damen, ein König und ein Ass. „Ein flotter Dreier“, kommentierte Falk grinsend.

„Verdammt, das gibt’s doch nicht!“, grollte der Dicke und wurde puterrot im Gesicht. „Das war alles, was ich noch für diese Woche hatte! Jetzt bin ich blank. Wovon soll ich meine Familie ernähren?“

„Tja, das ist tragisch“, erwiderte der Jungspund fröhlich, zog den Pott zu sich heran und begann, die gewonnenen Münzen zu kleinen Türmen aufzuschichten. „Allerdings kannst du ja versuchen, deinen Einsatz zurückzugewinnen. Wenn du noch ein Spielchen wagen willst, bin ich gern bereit, dir Kredit zu gewähren. Na, wie ist es, Dickerchen?“

Der Einäugige nickte grimmig, während der Tätowierte bereits die Karten für die nächste Partie zu mischen begann.

Zara wurde von dem Geschehen am Tisch der Spieler abgelenkt; etwas schlich schnurrend um ihre Beine, und als sie den Blick senkte, sah sie eine grau-schwarz getigerte Katze mit struppigem Fell, der das halbe linke Ohr und die Schwanzspitze fehlte; vermutlich das Ergebnis von Revierkämpfen.

Die Schankmagd tauchte neben Zara auf. „Das ist Timbro“, sagte sie, als sie den Blick der Schwertkämpferin bemerkte, und stellte einen Krug Met und eine Schale mit Tabak vor Zara auf den Tisch, „unser Hauskater. Er ist so was wie das Maskottchen der Schenke. Er ist schon länger hier, als ich mich entsinnen kann, und er wird wohl auch noch hier sein, wenn wir alle längst zu Staub geworden sind.“ Sie legte lächelnd den Kopf zur Seite und schaute zu, wie Timbro ohne Scheu um Zaras Beine strich. „Er mag Euch.“

Zara erwiderte nichts, griff nach dem Bier und trank. Das Met war kalt und süßlich, wie flüssig gewordener Nektar, und rann erfrischend ihre ausgedörrte Kehle hinab. Zara trank den Krug mit zwei Zügen halb leer, stellte ihn wuchtig auf den Tisch zurück und griff nach dem Tabak, um sich die Pfeife zu stopfen.

Die Schankmagd stand noch immer an ihrem Tisch und musterte Zara neugierig. „Ihr seid nicht von hier“, sagte sie; es war keine Frage.

Zara riss am Daumennagel ein Schwefelholz an, hielt die Flamme in den Pfeifenkopf und paffte, bis blauer, aromatischer Rauch aufstieg. Sie drückte das Streichholz mit zwei Fingern aus und schüttelte den Kopf. „Nein, bin ich nicht.“

„Und woher stammt Ihr, wenn ich fragen darf?“

Zara zog an ihrer Pfeife und sah die Schankmagd aus kalten eisblauen Augen an; Kanoniersaugen hatte mal jemand dazu gesagt. Zara lag bereits auf der Zunge, die Magd solle sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern, doch dann überlegte sie es sich anders. „Aus dem Westen“, antwortete sie. „Mascarell.“

„Ah, Mascarell!“ Die Augen der Magd leuchteten auf. „Dort soll es herrlich sein. Man sagt, dass dort alle Menschen in schönen Häusern leben, es gibt genug Essen für alle, und überall blühen Blumen in allen Farben des Regenbogens. Sagt, Madam, ist es dort wirklich so?“ Die Stimme der Schankmagd klang halb hoffnungsvoll und halb ängstlich, als fürchtete sie, Zara könnte ihr ihren Traum vom Paradies auf Erden zunichte machen.

Zara nahm einen weiteren Zug aus der Pfeife und setzte gerade zu einer Antwort an, als drüben am Zockertisch mit einem Mal ungehaltene Stimmen laut wurden.

„Verdammt!“, grollte der Dicke mit der Augenklappe düster und schlug wuchtig mit der Faust auf den Tisch, sodass die Münzen sprangen. „Dieser verfluchte Schnösel hat schon wieder gewonnen! Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen! So viel Glück hat kein Mensch!“

Der Jungspund grinste. „Du sagst es, Dickerchen“, erwiderte Falk gelassen. „Hier geht es nicht um Glück, sondern um Können.

Um spielerisches Geschick. Um Taktik und Intuition. Aber davon verstehst du nichts. Also, gräm dich nicht, weil du verloren hast, sondern beweis, dass du ein Ehrenmann bist, und halt die Füße ruhig, in Ordnung?“

Er wollte gerade den Pott zu sich heranziehen, als der Kerl mit der Schlangentätowierung plötzlich nach Falks rechtem Arm griff und den Jackenärmel zurückzog – drei Asse segelten aus Falks Jackenärmel auf den Tisch, um dort für jedermann sichtbar liegen zu bleiben.

Falk erstarrte mitten in der Bewegung. Sein selbstgefälliges Grinsen fiel in sich zusammen, und aus seinem Gesicht wich alle Farbe. Schlagartig wurde es in der Schenke so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Die Welt schien den Atem anzuhalten, und sogar der Rauch, der sich aus Zaras Pfeife kräuselte, schien in der Luft zu erstarren. Alle Augen waren auf Falk und die Karten vor ihm gerichtet, und auch wenn niemand ein Wort sagte, so dachten doch alle dasselbe:

Ein Falschspieler! Der Kerl muss lebensmüde sein!

Auch Zara fragte sich, ob der Jungspund seines Lebens überdrüssig oder einfach nur dumm war, in dieser Runde zu betrügen. Die Menschen, die in diesem Viertel lebten, waren der Bodensatz der Gesellschaft, und wenn sie eins ganz und gar nicht leiden konnten, dann, wenn jemand versuchte, sie über den Tisch zu ziehen. Nicht umsonst heißt es, man solle nie versuchen, einen Dieb zu bestehlen.

Die Sekunden zogen sich zäh wie Sirup dahin. Die Spannung in der Luft war schier mit Händen zu greifen.

Schließlich schnalzte der Dickwanst triumphierend mit der Zunge, als hätte er von Anfang an gewusst, dass an Falk etwas faul war, und ebenso abrupt, wie die Welt erstarrt war, setzte sie sich auch wieder in Bewegung. „Na, sieh mal einer an. Spielerisches Können, ja? Taktik und Intuition, ja?“ Der Dickwanst erhob sich von seinem Stuhl. „Wenn es etwas gibt, das wir hier in Hohenmut noch mehr verabscheuen als Steuereintreiber und Querulanten, dann sind es Falschspieler.“ Er suchte Falks Blick, und sein eines Auge funkelte, als er lauernd fragte: „Weißt du, was wir hier in Hohenmut mit Abschaum wie dir machen?“

Falk schluckte, sein Adamsapfel hüpfte unruhig auf und ab, doch er versuchte, seine Pokermine aufrechtzuerhalten, und schüttelte den Kopf. Sein vorlautes Mundwerk war stumm geworden.

Der Dickwanst sah von Falk zu dem Kerl mit der Lederweste. „Zeig’s ihm, Brutus!“

Brutus verzog die feiste Visage zu einem diabolischfreudigen Grinsen, das zwei Reihen schiefer schwarzer Zähne sehen ließ, die wie Grabsteine auf einem Friedhof aussahen. Er griff unter seine Lederweste und zog darunter ein unterarmlanges Messer hervor. Falk riss die Augen auf und wollte zurückweichen, doch da war der tätowierte Hüne bereits hinter ihm und packte Falks rechten Arm, um ihn lang ausgestreckt auf die Tischplatte zu drücken, indes Brutus mit dem Messer gemächlich näher kam. Das Licht der Fackeln fing sich auf der scharfen, leicht geschwungenen Klinge und ließ sie unheilvoll funkeln.

„O Himmel“, flüsterte die Schankmagd mit vorgehaltener Hand. „Sie werden ihm die Hand abhacken.“

„Er hat beim Spielen betrogen“, sagte Zara, nahm noch einen Zug aus der Pfeife und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Als Einhändiger wird ihm das künftig nicht mehr so leicht fallen.“

Die Schankmagd sah Zara mit einer Mischung aus Entsetzen und Verachtung an, doch statt etwas zu erwidern, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Drama zu, das sich keine zehn Schritte von ihnen entfernt anbahnte.

Während der Tätowierte Falks Arm mit seinen riesigen Pranken auf den Tisch presste, kam Brutus mit dem Messer um den Tisch herum und stellte sich in Position. Die Beine leicht gespreizt, um einen besseren Stand zu haben, wenn er die scharfe Klinge mit einem kraftvollen Schwung niedersausen ließ, „probte“ Brutus den Hieb einmal, ohne wirklich zuzuschlagen, und nickte zufrieden. „Zwei Hiebe“, sagte er.

„Zwei Hiebe wofür?“, wollte Falk nervös wissen. „Zwei Hiebe auf den Handrücken? Also, das ist zwar hart, da ich euch ja nur mal zeigen wollte, wie man im Osten des Landes so spielt, und da der Pott natürlich ganz allein euch zusteht. Aber wenn’s nicht anders geht, füge ich mich selbstverständlich in mein Schicks...“

Der Dickwanst mit der Augenklappe unterbrach ihn. „Zwei Hiebe, um dir die Hand vom Arm zu trennen“, erklärte er mit einem süffisanten Lächeln. „Man könnte es auch mit einem Hieb schaffen, aber dann wäre der Spaß zu schnell vorbei, wenn du verstehst?“

Falks Augen weiteten sich. Sein Blick zuckte zwischen seinen Zockerkameraden und dem Messer in der Hand des Tätowierten hin und her. „Also, hört mal, Freunde, irgendwie kann ich ja nachempfinden, dass ihr ungehalten seid, vielleicht sogar verärgert. Aber findet ihr nicht, dass ihr hier ein wenig übers Ziel hinausschießt? Wie wäre es, wenn ihr mir stattdessen lieber zwei, drei Finger brecht? Soviel ich weiß, ist das ebenfalls ungeheuer schmerzhaft.“ Auf seinen Wangen blühten rote Rosen, und kalter Schweiß stand wie Tau auf seiner Stirn, während Brutus einen Schritt zurücktrat und das Messer mit der breiten, geschwungenen Klinge hob, um zu tun, was seiner Meinung nach getan werden musste. Egal, wie abgebrüht der Jungspund als Falschspieler sein mochte – er war nicht mal ein halb so harter Bursche, wie er der Welt weismachen wollte; ganz im Gegenteil. Er redete weiter, als ginge es um sein Leben und nicht nur um seine rechte Hand, und mit jedem Wort sprach er schneller, bis die einzelnen Worte zu einer einzigen Litanei verschmolzen. „Oder ihr könntet mir ein Brandzeichen einbrennen, etwas in der Art wie: Spielt nicht mit diesem Kerl. Dann weiß jeder, was für ein mieser Schuft ich bin, und ihr habt eure Genugtuung. Das wollt ihr doch, oder? Eure Genugtuung ...“

Falk verstummte schlagartig, als Brutus das Messer unvermittelt nach unten sausen ließ. Alles, was er sah, war ein stählerner Blitz, der mit einem Pfeifen niederzischte, und Falk schrie hysterisch auf, kurze, abgehackte Schreie voller Pein, die Augen so weit aufgerissen, dass das Weiße hervortrat.

Er schrie immer noch, als Brutus das Messer mit einem kräftigen Ruck wieder aus der Tischplatte zog, in die die Klinge fünf Zentimeter tief eingedrungen war. Als er sah, dass kein Blut an der Klinge klebte, und die Zockbrüder schäbig auflachten, wurde Falk klar, dass er noch einmal davongekommen war, und er atmete laut auf. Sofort witterte er wieder Morgenluft.

„Na, da habt ihr mir aber einen Schrecken eingejagt!“, brabbelte er hastig. Schweiß rann ihm in Strömen übers krebsrote Gesicht. „Ihr solltet mit der Nummer unbedingt im Varietee auftreten, so begnadete Schauspieler wie ihr seid! Einen Moment lang dachte ich wirklich, ihr wolltet mir allen Ernstes die Hand abhacken und...“

„Das war nur zur Probe“, erklärte der Dicke hämisch; es war offensichtlich, dass er die Panik des Jungspunds zutiefst genoss. „Damit Brutus weiß, wie er zuzuschlagen hat. Jetzt wird es für dich Zeit, dich mit einem Leben als Einhändiger abzufinden.“ Er wandte sich an Brutus. „Mach’s mit drei Hieben!“

Brutus grinste böse und hob das Messer.

„Bei den Alten Göttern“, keuchte die Schankmagd neben Zara fassungslos. Ihre Stimme zitterte. „O du lieber Himmel...“

Das Messer verharrte in Schulterhöhe. Brutus starrte Falks Handgelenk mit irre glitzernden Augen an.

Falk geriet in Panik und wollte zurückweichen, doch er konnte sich nicht aus dem Griff des Hünen befreien. „O bitte, tut mir nichts!“, haspelte er. Seine Augen klebten an der Klinge des Messers. „Ich bitte euch, tut mir nichts, das könnt ihr doch nicht machen, ich bin doch noch so jung! So hilf mir doch jemand!“ Er warf panisch einen Blick in die Runde, doch niemand rührte sich, nur die Schankmagd krampfte verzweifelt die Hände ineinander.

„O bitte nicht“, murmelte sie so leise, dass niemand außer Zara sie hören konnte. „Bitte, habt doch Erbarmen ...“

Doch dergleichen war Brutus fremd. Mit einem breiten Grinsen ließ er die Klinge nach unten sausen, genau auf Falks rechtes Handgelenk zu. Die rasiermesserscharfe Klinge teilte mit einem hohlen Zischen die Luft, ein metallener Blitz, auf dem sich die Lichtreflexe brachen!

Doch auf dem Weg nach unten erstarrte der muskulöse Arm des Mannes plötzlich mitten in der Bewegung, und die Klinge hing zitternd über Falks Handgelenk. Im ersten Moment mutmaßte der Jungspund, Brutus wolle seine Qual noch weiter hinauszögern, doch als er die überrascht aufgerissenen Augen des Mannes sah, wusste er, dass irgendetwas nicht stimmte – so wie Brutus, der überrascht den Kopf wandte und gerade noch sah, wie Zaras geballte Rechte einem Rammbock gleich auf sein Gesicht zuschoss, während sie mit der Linken seinen Messerarm mit einer Leichtigkeit festhielt, als wäre es der eines Kindes.

Der Hieb ließ Brutus benommen rückwärts taumeln, weg vom Tisch. Das Messer entglitt seinen Fingern und blieb mit wippendem Griff im Holzboden stecken.

Schlagartig waren alle Blicke auf Zara gerichtet, und die meisten der Anwesenden fragten sich, wie sie es wagen konnte, sich in die Angelegenheiten der Kerle einzumischen – und das als Frau. Die fassungslose Schankmagd hingegen fragte sich, wie Zara so schnell von ihrem Stuhl zum Zockertisch gelangt war, denn einen Wimpernschlag zuvor hatte sie noch an ihrem Platz gesessen und Pfeife geraucht. Brutus fing sich wieder und starrte Zara hasserfüllt an. Blut rann aus seiner gebrochenen Nase, verschmierte sein Kinn und besudelte sein Hemd; es sah aus, als hätte ihn jemand mit Tomaten beworfen.

„Du!“, grollte Brutus mit bebender Stimme und starrte Zara mit funkelnden Augen an. Die Adern an seinen Schläfen zuckten, als kröchen winzige Schlangen unter der Haut. „Wie kannst du es wagen, die Hand gegen mich zu erheben?“

„Ja“, schaltete sich jetzt auch der einäugige Dickwanst ein. „Wie kannst du es wagen?“

Zara sagte nichts, stand einfach nur da. Ihr langer Umhang verhüllte ihre große, sehnige Gestalt, und nichts an ihr ließ erkennen, dass sie nervös war oder gar Angst hatte. Sie war vollkommen ruhig, was den Zorn von Brutus offenbar noch mehr anfachte, denn er brüllte: „Dafür wirst du büßen, Drecksweib!“

Er stürmte vorwärts wie ein wütender Stier. Seine Fäuste wirbelten wie Dreschflegel auf Zara zu. Sie wich der Attacke geschickt aus, vollführte eine Pirouette – und trat noch aus der Drehung heraus zu. Der Absatz ihres Stiefels erwischte Brutus in der Magengrube und trieb ihn keuchend rückwärts.

Aus den Augenwinkeln sah sie den Tätowierten heranstürmen. Der einäugige Dickwanst griff sich eine Schnapsflasche, die er an der Tischkante zerschlug, und mit dem gezackten Flaschenhals in der Hand kam er von der anderen Seite her auf Zara zu.

Zara blieb einfach stehen und ließ die Männer kommen, die sich ihr von links und rechts näherten. Sie war vollkommen ruhig, und nur das kalte Flackern in ihren Augen verriet, dass Leben in ihr war. Dann war der Tätowierte bei Zara und schlug nach ihr. Zara tänzelte elegant zur Seite, sodass der Schlag ins Leere ging und der Tätowierte durch die Wucht seines Hiebes nach vorn taumelte, an Zara vorbei, die mit einem Satz hinter ihm war. Sie verpasste ihm mit dem Ellbogen einen kräftigen Rammstoß gegen den Hinterkopf, der den Tätowierten von den Füßen holte. Mit dem Gesicht nach unten schlug er auf den Dielenboden.

Schon war der Dickwanst heran und versuchte, Zara die gezackten Reste der Flasche in die Seite zu rammen. Zara wich aus, packte gleichzeitig den Arm des Dickwansts und hämmerte dessen Hand gegen die Kante eines Tisches. Der Rest der Flasche, den er zwischen den Fingern hielt, zersplitterte, und ein paar messerscharfe Scherben drangen tief in die fleischige Hand des Einäugigen. Er schrie auf und starrte seine glasgespickte Hand an, und schlagartig war seine Angriffslust verflogen.

Nicht so die von Brutus, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte und sich von hinten mit ausgebreiteten Armen auf Zara stürzte. Sie sah seinen Schatten über sich wachsen und wirbelte im letzten Moment zur Seite. Der Kerl mit der Lederweste stieß ein überraschtes Keuchen aus, versuchte, das Gleichgewicht zu halten, und spürte im nächsten Augenblick erneut Zaras Stiefelabsatz, diesmal in der Seite.

Der Tritt schleuderte Brutus gegen den Tisch, an dem sie zuvor zu viert Karten gespielt hatten und der nun quietschend ein Stück über den Boden rutschte. Falk sprang hastig von seinem Stuhl und wich eilig zurück, als Zara ihrem Gegner mit der Schnelligkeit einer Kobra nachstellte, sich vor ihm aufbaute und ihm abwechselnd mit der linken und rechten Hand mehrere Male hart ins Gesicht schlug. Brutus wollte den Hieben ausweichen, doch es gab kein Entkommen. Zara schlug immer wieder zu – links, rechts, links, rechts –, bis sie schließlich die rechte Hand zur Faust ballte und ihrem Gegner einen wuchtigen Hammer verpasste, der Brutus mehrere Schritte nach hinten taumeln und gegen die Theke krachen ließ, an der er benommen nach unten glitt.

Einer hin, zwei im Sinn, ging es Zara durch den Kopf. Sie wirbelte herum und sah gerade noch, wie ein Stuhl auf sie zuraste, geschwungen von dem Tätowierten, der sich wieder aufgerappelt hatte. Zum Ausweichen war es zu spät, und Zara riss instinktiv den rechten Arm hoch; sie wehrte den Stuhl mit dem Unterarm ab. Der Tätowierte hatte all seine Kraft in den Schlag gelegt, und der Stuhl zersplitterte beim Aufprall knirschend in seine Einzelteile. Holzstaub, Trümmer und Splitter stoben davon. Zara wurde ein Stück zurückgeschleudert, doch sie war völlig unverletzt. Der Tätowierte konnte es zunächst nicht fassen.

Dann aber überwand er seine Verwunderung, und er sprang erneut auf Zara zu, um ihr den Rest zu geben. Sie tauchte elegant wie eine Tänzerin unter seinem Hieb weg, kam wieder hoch, packte den Kerl mit einer Hand in seinem Stiernacken und knallte seinen Kopf auf die Tischplatte. Fröhlich klimperten die Münzen darauf, und der Tätowierte brach mit einem leisen Seufzer zu Boden.

Zara wandte sich dem Dickwanst zu, der als Einziger der drei noch stand. Noch immer war sie vollkommen ruhig; nicht einmal ihr Atem ging schneller.

Der Einäugige wich ängstlich zurück, seine verletzte Hand in sein Hemd gepresst. Auf seinen pausbäckigen Wangen zeichneten sich hektische rote Flecken ab, und kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Sie schaute ihn siegessicher und überheblich an, bevor ihr Blick weiter nach unten glitt, zu seiner verletzten Hand, von der das Blut zu Boden tropfte.

Und plötzlich zuckte es in ihren aristokratisch blassen Zügen. Falk, der sie beobachtete, sah es und fragte sich, was es war, das sich für Sekundenbruchteile in Zaras Miene widerspiegelte. War es ... Gier?

Blutgier?

Einen Augenblick lang stand Zara da und starrte auf die verletzte blutige Hand des Einäugigen. Dann riss sie sich mit Gewalt, so schien es, von diesem Anblick los, wirbelte auf dem Absatz herum und eilte auf die steinernen Stufen zu, die nach oben führten. Vor der ersten blieb sie noch einmal stehen, wandte den Kopf und sah sich nach der Schankmagd um; die Blicke der beiden Frauen trafen sich für einen Moment, und die Magd nickte der fremden Frau dankbar und erleichtert zu.

Dann eilte Zara die Stufen hoch und hinaus in die Nacht, und ihr Mantel bauschte sich hinter ihr auf wie die Flügel einer riesigen Fledermaus.

IV.

„Warte!“

Als Zara den Ruf vernahm, hielt sie, die Zügel in der Hand, kurz inne, einen Fuß bereits im Steigbügel. Sie wandte nicht den Kopf; sie wusste auch so, wer sie gerufen hatte. Sie saß auf und schaute kühl auf den Jungspund hinab, der neben ihrem Hengst stehen blieb.

Falk sah zu ihr auf, seine Wangen waren noch immer gerötet, doch seine Furcht war verflogen. Dafür war da etwas anderes in seinem Blick: Respekt.

Respekt vor ihr.

„Was willst du?“, sagte Zara knapp.

„Dir meinen Dank sagen“, erklärte Falk und strich sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht; von seiner schlichten Kleidung ging der Geruch von Schweiß und fauligem Stroh aus. „Dafür, dass du mir geholfen hast.“

„War keine Absicht“, brummte Zara, schnalzte mit der Zunge und führte Kjell in einem gemächlichen Halbkreis auf den Torbogen zu. Eigentlich ging sie davon aus, dass die Angelegenheit damit erledigt war, doch Falk war hartnäckig und ging mit großen Schritten neben dem Pferd her. Erst jetzt fiel Zara auf, wie riesig seine Ohren wirklich waren; wenn der Wind stark von Norden blies, musste der Bursche vermutlich Acht geben, dass er nicht von einer Bö davongetragen wurde.

„Und? Wie lange verdingst du dich schon als Amazone?“

Zara sah Falk an und runzelte die Stirn. „Amazone?“

„Du bist doch eine“, war Falk überzeugt, während er unbeirrt neben dem Pferd herging. „Selbst ein Blinder würde sehen, dass du eine von diesen kampfgierigen Kriegerbräuten aus dem Norden bist, die nichts lieber tun, als miesen Kerlen das Fell über die Ohren zu ziehen. Ihr sollt ja richtige Männermörder sein, wie man so hört.“

„Hört man das, ja?“

„Allerdings. Es gibt jede Menge Geschichten über euch Weiber, doch ich gestehe, dass ich die meisten davon nicht geglaubt habe, bis ich dich heute Abend kämpfen sah.“

„Ich bin keine Amazone“, erklärte Zara. „Aber wenn du mir weiterhin nachläufst wie ein räudiger Köter, der hofft, dass für ihn ein Knochen abfällt, könnte ich trotzdem zur Männermörderin werden.“

Falk riss die Augen auf. „He, du würdest doch keinem Unschuldigen ein Leid zufügen, oder?“

„Einen Unschuldigen habe ich noch nie getroffen. Und jetzt troll dich, Bursche, bevor ich die Geduld verliere.“ Ohne den jungen Mann noch eines Blickes zu würdigen, stieß sie Kjell die Hacken in die Flanken und trieb das Pferd zu einem zügigen Galopp an. Mit wehendem Mantel ritt sie unter dem Torbogen hindurch, vorbei an den neugierig gaffenden Dirnen, und ließ Falk ebenso hinter sich wie die Schenke Ascarons Ruf, um im Wirrwarr der zahlreichen Gassen des Viertels unterzutauchen.

Sie war froh, als das Licht der Laternen dunklen Schatten wich, und sofort fühlte sie sich wieder besser, auch wenn der Gedanke an ihr nagte, einen Fehler begangen zu haben.

Sie hätte sich nicht in die Sache einmischen sollen. Egal, was die anderen Glücksspieler mit dem Jungspund hatten anstellen wollen, es ging sie nichts an, ganz davon abgesehen, dass der einäugige Dickwanst und seine Kumpane im Recht waren. Falk hatte beim Spielen betrogen. Das musste Konsequenzen nach sich ziehen, und Falk konnte von Glück sagen, dass sie ihm nur die Hand abhacken wollten; es gab Gegenden in Ancaria, etwa in Krähenfels, wo man für derlei an der höchsten Burgzinne aufgehängt wurde, damit die Krähen einem die Augen auspickten. Auch wenn weder das eine noch das andere allzu erstrebenswert war, sie hätte nicht eingreifen dürfen. Wer war sie, dass sie über Recht und Unrecht entschied?

Das stand allein den Alten Göttern zu.

Dennoch, hier in Hohenmut konnte sie nicht länger bleiben. Auch wenn der Dickwanst und seine Zechkumpane nicht den Eindruck erweckt hatten, in dieser Gegend allzu beliebt zu sein, stand zu befürchten, dass sie doch irgendwo ein paar miese Schläger kannten, die ihnen noch einen Gefallen schuldig waren, und bis die Ratten aus ihren Löchern gekrochen kamen, wollte Zara unbedingt aus der Stadt verschwunden sein. Nicht, weil sie den Kampf scheute, sondern weil sie aus Erfahrung wusste, dass derart öffentliche Auseinandersetzungen zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenkten – und damit auf sie –, und das konnte sie nicht riskieren. Die Gefahr, dass man sich an sie erinnerte, dass die Bürger herausfanden, was sie wirklich war, war zu groß.

Im Stillen verfluchte Zara sich selbst. Weil sie das mitleidvolle Gehabe der Schankmagd nicht einfach ignoriert hatte, war sie gezwungen, Hohenmut schon wieder den Rücken zu kehren, kaum dass sie eingetroffen war. Doch das war nun nicht mehr zu ändern, daher trieb sie Kjell in zügigem Trab durch verlassene Nebenstraßen zum Stadttor zurück. Als sie wenig später durch das Portal ritt, kauerte der Torwächter noch immer in seinem Wachhäuschen und schlief den Schlaf des Gerechten. Auch die Schausteller saßen noch immer um ihre Feuer und warfen der Reiterin neugierige Blicke zu, als sie an ihnen vorbeitrabte. Doch Zara schenkte ihnen keine Beachtung. Ihr Ziel war der Wald weiter im Südosten, jenseits des Flusses, der die Provinzen Hohenmut und Hohenwall als natürliche Grenze voneinander trennte. Im Grunde war es nicht von Bedeutung, in welche Richtung sie sich wandte, da sie nirgends von jemandem erwartet wurde und es keinen Ort in ganz Ancaria gab, den sie ihr Zuhause nannte. Sie war wie ein Blatt, das sich vom Wind hierhin und dorthin tragen ließ, ohne Ziel, eine Wanderin zwischen den Welten, die das Einzige, was sie in Ancaria suchte, auch nach all den Jahren noch nicht gefunden hatte ...

Vergebung.

Wahrscheinlich würde sie die auch nie finden, doch sie hatte sich geschworen, danach zu suchen, solange sie auf Ancarias Boden wandelte, und das würde sie auch tun. Mit diesem Gedanken fasste sie die Zügel fester, beugte sich nach vorn und schnalzte kurz mit der Zunge. Kjell ging vom Trab ohne nennenswerten Übergang in einen gestreckten Galopp über und preschte den Weg zwischen den abgeernteten Getreidefeldern entlang. Erde und Gras stoben unter den hämmernden Hufen des Pferdes auf, als Zara mit wild um ihren Kopf flatterndem Haar nach Osten ritt. Ein leichter Nieselregen setzte ein und traf Zara wie mit eisigen Nadelstichen ins Gesicht, doch sie achtete nicht darauf und jagte unter dem düsteren wolkenverhangenen Firmament dahin, immer am Waldrand entlang nach Osten. Sie trieb Kjell in rasantem Galopp über die Felder und Wiesen. Nach einer Weile blieben die Mauern, Türme und Zinnen von Burg Hohenmut hinter ihr in der Dunkelheit zurück.

Kjell preschte durch die Nacht wie ein Schatten innerhalb von Schatten, ein dunkler Schemen vor dem Hintergrund des Waldes. Weißer Atem drang aus den Nüstern des Tiers wie Rauch aus den Nasenlöchern eines Drachen. Zara passte sich dem Rhythmus des Pferdes an und ließ sich durch die Nacht tragen, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, um dem eisigen Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Links und rechts von ihr huschten Bäume, Sträucher, Zäune und Schuppen vorbei, doch schon bald wurden die Zeugnisse der Zivilisation spärlicher, und als sie beim ersten blassen Licht des neuen Tages die breite rote Steinbrücke überquerte, die über den Fluss führte, hatte sie Hohenmut und alles, was damit zusammenhing, schon beinahe aus ihrem Gedächtnis verbannt.

Gleich jenseits der Brücke begann der Dunkelforst, ein gewaltiger, von riesigen Nadelbäumen beherrschter Wald, der sich im Westen bis zur Einöde von Shaddar-Nur und im Osten bis weit hinter die äußersten Grenzen des Königreichs erstreckte. Hier und da ragten bewachsene Hügel und Berge aus dem Grün der Baumwipfel, und im allmählich zunehmenden Schein der Morgensonne stieg Nebel auf. Damals, als Zara noch ein Kind gewesen war – vor so langer Zeit, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte –, hatte ihre Großmutter ihr immer erzählt, dass der Dunst, der vom Wald aufstieg, wenn es wärmer wurde, von den Kochtöpfen der Hexen stammte, die tief in den Wäldern wohnten. Heute konnte sie über diese Vorstellung nur müde grinsen, doch damals, als die Welt aus kaum mehr als dem elterlichen Anwesen bestand und sie Krieg und Armut nur aus den Erzählungen ihres Vaters kannte, hatte sie der Gedanke schier zu Tode geängstigt.

Doch auch wenn sie über solche Ammenmärchen mittlerweile hinaus war, war der Dunkelforst alles andere als ein ungefährliches Fleckchen Erde. Große Teile davon gehörten zu den Dunklen Gebieten, einer der trostlosesten und menschenfeindlichsten Gegenden Ancarias, seit jeher ein Quell unheimlicher Gerüchte. Das hing zum einen damit zusammen, dass im Nordosten das Gebiet der Dunkelelfen an die Dunklen Gebiete angrenzte, und zum anderen hatte es damit zu tun, dass die dichten, dunklen Wälder so weitläufig waren, dass in ihnen alles Mögliche lauern konnte. Hinzu kam noch, dass es hier außer Wäldern und Sümpfen nichts gab, das dem Gebiet nennenswerte wirtschaftliche Bedeutung verliehen hätte. Noch vor gut dreihundert Jahren war das anders; damals kam den seinerzeit neu gegründeten Siedlungen Torffingen und Finsterwinkel durch den Torfabbau zur Bau- und Brennstoffgewinnung große wirtschaftliche Bedeutung zu, doch später hatten die stetig zunehmende wirtschaftliche Macht des Hauses Mascarell und die Einführung neuer Holzbaustoffe aus den Gebieten Mascarell und DeMordrey der Provinz zunehmend ihre Bedeutung geraubt. Heute waren die Dunklen Gebiete allenfalls noch für den Moorbrucher Whiskey bekannt, der durch die Destillation mit Moorwasser seine besondere Würze erhielt.

Sobald sie die Brücke hinter sich hatte, ging Zara in einen leichten Trab über und trottete gemächlich auf den Wald zu. An einer Stelle hatten verkrüppelte, ineinander verwachsene Kiefern im Laufe der Jahrhunderte einen bogenförmigen Durchgang geschaffen, der beinahe wie ein Tor in eine andere Welt wirkte. Dort führte der Pfad in den Forst, um schon nach wenigen Metern hinter einer Biegung zu verschwinden. Laub bedeckte den Boden wie ein natürlicher Teppich, um die Hufschläge des Pferdes nahezu gänzlich zu verschlucken. Über dem Blätterdach stieg die Morgensonne zunehmend höher, doch unter dem dichten Baldachin der Bäume, der nur hier und da von vereinzelten Strahlen durchdrungen wurde, herrschte ewiges Zwielicht, während sich links und rechts des Weges dicht an dicht Büsche und Sträucher drängten, sodass der Pfad eine Art natürlichen Tunnel durch den Wald bildete. Fast konnte man den Eindruck haben, durch einen Wandelgang im Park zu reiten und nicht durch einen Wald.

Zara ritt auf Kjells starkem Rücken den Pfad entlang, sog die nach Laub, Kiefernnadeln und Baumharz duftende Luft tief in ihre Lungen und genoss nun die Stille und Einsamkeit des Waldes. Auch wenn sie gern noch länger in der Stadt geblieben wäre, so fühlte sie sich der Natur doch weit stärker verbunden als dem, was sich Zivilisation schimpfte. Hier draußen war es belanglos, welches Amt man innehatte, aus was für einer Familie man stammte oder was man aus seinem Leben gemacht hatte. In den Augen von Mutter Natur waren alle Lebewesen gleich, und irgendwie fand Zara diesen Gedanken tröstlich.

Hier und da tropfte Wasser vom dichten Blätterdach auf den Weg, doch obwohl das stete Trommeln hoch über ihrem Kopf verriet, dass der Regen zugenommen hatte und der Himmel bittere Tränen weinte, war der mit einem dichten Teppich aus Laub und Tannennadeln bedeckte Waldboden so trocken, als hätte seit Jahrzehnten kein Wassertropfen mehr die Erde des Pfades benetzt. Unwillkürlich kam Zara der steinerne Boden der Schenke in den Sinn, auf den das Blut von der Hand des Einäugigen getropft war wie roter Regen, und sie spürte, wie sie jene verderbliche Erregung überkam, die mit dem Roten Durst einherging. Wie hypnotisiert hatte sie das tropfende Blut angestarrt, und einen grausamen Moment lang war sie versucht gewesen, den Roten Durst einfach die Oberhand gewinnen zu lassen, wie es in alten Tagen so oft geschehen war. Doch dann hatte sie sich von dem Anblick losgerissen und war geflohen. Hätte sie ihm nachgegeben, hätte niemand außer ihr Ascarons Ruf lebend wieder verlassen. Nicht einmal der Kater Timbro ...

V.

Zara war dem Pfad bereits eine gute Stunde hinein in den Dunkelforst gefolgt, als sie hinter sich unvermittelt gedämpftes Hufgetrappel vernahm, erst leise, dann immer lauter werdend. Doch obwohl der Wald berüchtigt dafür war, ein Zufluchtsort für Ausgestoßene und Banditen zu sein, die sich in den unüberschaubaren Wäldern vor dem Gesetz verborgen hielten, warf Zara keinen Blick zurück, um zu sehen, wer ihr folgte. Sie wusste auch so, dass es der Jungspund aus der Taverne war. Der Kerl ritt mit dem Wind, und der Geruch nach Schweiß und fauligem Stroh, den sie bereits in der Nacht vor der Taverne wahrgenommen hatte, wehte ihm voraus wie ein Banner. Ohne sich umzudrehen, ritt sie weiter, während Falk aufschloss und sich schließlich neben sie gesellte. Er saß auf einem grauen Wallach, dessen Flanken im Zwielicht des Waldes vor Schweiß glänzten. Wie es schien, hatte Falk dem Pferd einiges abverlangt.

„Da konnte es wohl jemand kaum erwarten, aus Hohenmut zu verduften“, sagte Zara, ohne Falk anzusehen. Sie hielt die Zügel mit einer Hand, den Blick vor sich auf den Weg gerichtet.

„Das könnte man ebenso von dir sagen“, erwiderte Falk und schenkte ihr von der Seite her ein breites Grinsen. „Du bist geritten, als wäre eine Horde Dunkelelfen hinter dir her. Der gute Sasha ist ganz erschöpft. Ein Wunder, dass er es überhaupt bis hierher geschafft hat.“

„Ein Wunder vielleicht“, murmelte Zara, „aber kein gutes.“

„Übrigens“, sagte der Jungspund und tat so, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört, „gestatte, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Falk. Und wie ist deiner?“

Sie sah den jungen Mann kühl an. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

Falk ließ sich nicht beirren. „Tja, ich dachte nur, es wäre nett, zu wissen, wie ich dich anreden soll, jetzt, da wir miteinander reiten.“

Zara runzelte die Stirn. „Wie meinen?“ Sie glaubte, sich verhört zu haben, doch Falk nickte nachdrücklich.

„Ich werde mit dir kommen“, erklärte er. „Weißt du, ich glaube an Karma, und ich bin überzeugt, dass es kein Zufall war, dass wir uns getroffen haben. Die Alten Götter haben uns zusammengebracht, damit wir fortan Seite an Seite reiten und unser Leben teilen wie Brüder.“ Er warf beiläufig einen Blick auf Zaras frauliche Rundungen, die sich deutlich unter ihrem Umhang abzeichneten. „Oder meinetwegen auch wie Bruder und Schwester.“

Zara sah Falk an und suchte in seinem Gesicht nach Hinweisen darauf, dass er ihr einen Bären aufbinden wollte. „Warum willst du mit mir kommen?“, fragte sie schließlich.

„In Hohenmut kann ich nicht bleiben“, sagte Falk. „Der einäugige Dicke und seine Kumpane werden diese Schmach mit Gewissheit nicht auf sich sitzen lassen, und wenn sie mich in die Finger kriegen ...“ Er vollführte mit dem Zeigefinger eine Geste, als würde er sich die Kehle durchschneiden. „Dort ist es für mich zu gefährlich.“

„Die Welt dort draußen ist noch gefährlicher“, sagte Zara.

„Durchaus“, stimmte Falk zu, „aber nicht, wenn ich an deiner Seite bin.“

Zara warf ihm einen abschätzigen Blick zu, den Falk mit einem treudoofen Dackelblick erwiderte. Sie schüttelte müde den Kopf. „Wenn du nicht beim Spielen betrogen hättest, würdest du jetzt nicht in dieser Klemme stecken. Warum versuchst du es zur Abwechslung nicht mal mit ehrlicher Arbeit?“

„Ehrliche Arbeit?“ Falk verzog das Gesicht. „Ehrliche Arbeit ... das ist nur eine andere Bezeichnung für elende Plackerei, und davon hatte ich in meinem Leben schon mehr als genug.“

Zara warf beiläufig einen Blick auf Falks glatte, langfingrige Hände, die keinerlei Schwielen oder Vernarbungen aufwiesen. „Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Tag ehrlich gearbeitet“, erklärte Zara.

„Vielleicht nicht körperlich“, stimmte Falk zu. „Aber ich habe mehr als einmal darüber nachgegrübelt, und allein das war so kräftezehrend, dass es mir am Ende so vorkam, als hätte ich Tag und Nacht in einem fort geknechtet.“

Zara seufzte. „Nie um eine Ausrede verlegen, was?“

Falk grinste. „Wenn das so wäre, wäre ich längst tot.“ Er griff in seine linke Satteltasche und holte eine flache braune Flasche daraus hervor. Nachdem er mit den Zähnen den Korken aus dem Flaschenhals gezogen hatte, nahm er einen tiefen Schluck. Er setzte die Flasche ab, verzog ob des Brennens, das sich den Weg durch seine Eingeweide bahnte, das Gesicht und hielt Zara die Flasche hin. „Na, auch ein Schlückchen?“

Zara schüttelte den Kopf.

„Du hältst nicht viel von Menschen, hm?“, wollte er wissen.

Zara schwieg.

„Also, da geht’s dir so wie mir. Ich habe auch nicht viel für unsereins übrig“, plapperte Falk vor sich hin und genehmigte sich einen weiteren Schluck. „Menschen sind verlogen, arrogant, hinterhältig, falsch und raffgierig. Ganz anders als Tiere. Tiere töten nicht aus Habgier, sondern aus Notwehr oder um zu fressen, und sie verstellen sich nicht, um sich als etwas darzustellen, was sie nicht sind, oder um jemandem Zuneigung vorzuheucheln, den sie eigentlich nicht leiden können. Nicht umsonst sagt man, Tiere seien die besseren Menschen.“ Falk warf Zara einen fragenden Blick zu. „Was sagst du dazu?“

Zara funkelte ihn an. „Ich sage, du tätest gut daran, auf der Stelle kehrtzumachen und mich nicht weiter zu belästigen! Was auch immer mich in diese Schenke geführt hat, mit Karma hatte es nichts zu tun. Und jetzt troll dich und fall jemand anderem auf die Nerven!“

Falk setzte bereits zu einer Erwiderung an, doch Zara hob ruckartig den Zeigefinger und brachte ihn mit dieser Geste abrupt zum Schweigen. „Ich warne dich, Bürschchen: Allmählich beginne ich zu glauben, dass es ein Fehler war, dich vor dem Dickwanst und seinen Kumpanen bewahrt zu haben. Doch das ist ein Fehler, der sich leicht korrigieren lässt.“ Mit diesen Worten schloss sie die Finger demonstrativ um den Griff eines ihrer Schwerter; um bequemer reiten zu können, hatte sie beide Waffengurte abgeschnallt und am Sattel befestigt.

Falk schluckte trocken, sein fröhliches Grinsen verschwand und machte einer Mischung aus Bedauern und Verzweiflung Platz. Zara kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Es war die Miene von jemandem, dem die Hoffnung unter den Füßen weggezogen worden war. Doch wie konnte sie jemandem Hoffnung geben, wenn sie selbst keine hatte? Wie konnte sie sich anmaßen, andere zu belehren, wie sie ihr Leben zu führen hatten, wo sie nicht einmal mit ihrem eigenen zurechtkam?

Sie sah Falks traurige Miene, und er kam ihr vor wie ein geprügelter Hund, der mit eingezogenem Schwanz in irgendeiner Ecke Schutz vor dem Stock suchte. Irgendwo in ihr begann eine Saite zu klingen, die lange Zeit geschwiegen hatte, und obgleich sie sich nach Kräften bemühte, sie zu ignorieren, gelang es ihr nicht, sodass sie schließlich resigniert seufzte. Einen Augenblick lang sah sie Falk schweigend an. Dann sagte sie knapp: „Zara.“

Falk sah sie überrascht an. „Wie meinen?“ „Zara“ wiederholte sie. „Das ist mein Name.“ Bevor Falk darauf irgendetwas erwidern konnte, schnalzte Zara mit der Zunge, trieb Kjell ihre Hacken in die Flanken und schoss davon. Falk trabte gemächlich weiter dahin und sah Zara nach, die in gestrecktem Galopp durch den Wald jagte, und genauso schlagartig, wie das Grinsen vorhin aus seinen Zügen verschwunden war, kehrte es jetzt auf sein Gesicht zurück, bis es schier von einem Ohr zum anderen reichte. „Also dann, Zara“, murmelte er zufrieden. „Lass uns reiten!“ Lächelnd gab er seinem Pferd die Sporen und ritt hinter Zara her.

Hätte er zu diesem Zeitpunkt geahnt, wie dramatisch sich sein Leben in den nächsten Tagen und Wochen wandeln würde, er hätte sich vermutlich anders entschieden. Doch so folgte er Zara tiefer in den Dunkelforst...

VI.

Hoch über den Baumwipfeln näherte sich die Sonne allmählich dem Zenit, doch unter dem dichten Dach der Bäume herrschte noch immer das gleiche düstere Zwielicht wie am Morgen. Nur hier und da durchbrachen vereinzelte Sonnenstrahlen das Blätterdach, um als schräge Lichtbalken zu Boden zu fallen, in denen Staubkörner und Insekten zu einer unhörbaren Melodie tanzten. Die Luft war trocken und kühl, die Farne am Wegesrand wiegten sich in einer sanften Brise, die von überall und nirgends zu kommen schien, ein paar Schritte weiter wuselte ein Eichhörnchen mit einem buschigen flammenroten Schwanz den Stamm einer Kiefer hinauf, und wenn Falks pausenloses Geplapper nicht gewesen wäre, hätte die Szene beinahe idyllisch gewirkt.

Doch Falks Mundwerk schien niemals für länger als ein paar Sekunden stillzustehen, als stünde er unter dem inneren Zwang zu reden, um seine Umgebung mit seinem nicht enden wollenden Gebrabbel in den Irrsinn zu treiben. Zaras Zeitgefühl sagte ihr, dass es noch keine drei Stunden her war, seit Falk sie mit seinem Dackelblick dazu gebracht hatte, ihn nicht fortzujagen, doch ihr kam es vor, als wären seitdem Äonen vergangen. Ganz gleich, zu welchem Thema, der junge Bursche hatte zu allem eine Meinung, die er lautstark und wortreich kundtat, egal, ob es um die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Filzläusen für die Wollgewinnung ging oder darum, wie man durch den Handel mit Yakurin ein Vermögen machen konnte, indem man das Zeug als magischen Heilsaft an reiche Adelige verkaufte. Eines jedoch blieb dabei stets gleich, nämlich Falks offensichtliche Begeisterung für weltliche Güter. Gleichgültig ob Land, Gold oder Vieh, seine Faszination für alles Materielle war allgegenwärtig, ebenso wie sein Wunsch, seinem armseligen Dasein als Falschspieler eines Tages zu entkommen und ein Leben in Saus und Braus zu führen. Er schwadronierte gerade in aller Breite darüber, dass eine Legende in Ancaria besagte, irgendwo in den Dunklen Gebieten gebe es einen uralten Drachen, der einen noch älteren Schatz bewache, und was er mit diesem unermesslichen Reichtum alles anstellen würde, wenn er den Schatz finde, als Zara schließlich nicht mehr anders konnte, als ihrem Unmut laut seufzend Luft zu machen.

„Bei allen Göttern“, brummte sie gereizt. „Steht dein Mundwerk eigentlich auch irgendwann mal still?“

„Hin und wieder“, erwiderte Falk fröhlich. „Meistens, wenn ich schlafe. Ansonsten aber eher nicht. Das war allerdings schon immer so, selbst, als ich noch ein Kind war. Meine Mamuschka hat immer zu mir gesagt, Falk, hat sie gesagt, wenn du eines Tages mal den Löffel abgibst und dich anschickst, den Alten Göttern auf den Nerv zu fallen, müssen sie dein Mundwerk extra totschlagen.“ Falk grinste fröhlich, doch seine Begleiterin ließ sich davon nicht anstecken. Sie starrte ihn nur einen Moment lang ungläubig an und schüttelte dann entgeistert den Kopf.

„Das kommt davon“, murmelte Zara resigniert in den Schatten ihrer Kapuze, mehr zu sich selbst als zu Falk. Sie verfluchte sich dafür, ihm in Hohenmut beigestanden zu haben. Stattdessen hätte sie dem Einäugigen und seinen Kumpanen raten sollen, Falk nicht die Hand abzuhacken, sondern ihm lieber die Zunge herauszuschneiden, dann wäre wenigstens Ruhe gewesen. Doch sie musste ja unbedingt den guten Samariter spielen, und jetzt hing Falk an ihr wie eine Zecke, die an einer Stelle saß, an die man nicht reichen konnte, und labte sich an ihr. Mit einem resignierten Seufzer schüttelte sie den Kopf und trabte weiter den Pfad entlang, der ein paar Schritte weiter vorn um eine enge Biegung führte.

Kaum hatten sie die Biegung erreicht, als Kjell unvermittelt zu scheuen begann und leise wieherte.

Zara brachte das Pferd mit einem kurzen Ruck am Zügel zum Stehen, und ihre Rechte zuckte instinktiv zum Griff eines ihrer Schwerter, die in den Lederscheiden am Sattel steckten. Als sie jedoch den Blick den Pfad hinunterwandern ließ, beruhigte sie sich. Die Gefahr drohte nicht ihnen, sondern einem jungen Bursche von vielleicht zwanzig Lenzen, der ein Stück weiter den Pfad hinab von einer Gruppe Wegelagerer übel in die Mangel genommen wurde. Der Gaul, auf dem der Bursche allem Anschein nach aus der entgegengesetzten Richtung gekommen war, lag tot am Boden, durchbohrt von einem halben Dutzend Pfeilen. Doch indes das Pferd das Schlimmste bereits hinter sich hatte, stand dieses Schicksal seinem Herrn noch bevor, und das in nicht allzu ferner Zukunft, denn die fünf Schurken ließen ihren Aggressionen freien Lauf und traten lachend und johlend auf den jungen Mann ein, der sich zwischen ihnen auf dem Boden wand und verzweifelt versuchte, mit den Händen seinen Kopf zu schützen. Es war, als würde man einer Katze zusehen, die mit ihrem Essen spielte; die Wegelagerer hielten es noch nicht einmal für nötig, ihre Waffen zu ziehen, von denen jeder der zerlumpten Burschen mindestens eine bei sich trug: Schwerter, nagelgespickte Keulen, Pfeil und Bogen, eine große Streitaxt mit breiter halbrunder Klinge. Alles, was sie für den geschundenen Burschen übrig hatten, waren Tritte, und mehr war auch gar nicht nötig.

Nicht mehr lange, und der junge Bursche hatte es hinter sich.

Dennoch war er nicht bereit, aufzugeben. Während die Wegelagerer ihn mit Tritten malträtierten, konnte Zara über das Lachen und Johlen seiner Peiniger hinweg seine Stimme hören, schwach und brüchig zwar, doch noch nicht am Ende. „Bitte“, flehte er und streckte die Hände nach dem kleinen Lederbeutel aus, den einer der Halunken fröhlich vor seiner Nase durch die Luft hüpfen ließ, nur um ihn stets im letzten Moment mit einem gehässigen Lachen wieder wegzuziehen; das leise, verheißungsvolle Klimpern von Goldmünzen wehte an Zaras Ohr. „Bitte, nehmt mir nicht das Gold. Es gehört nicht mir, sondern den Menschen des Ortes, aus dem ich komme! Wir sind arm und brauchen Hilfe!“

„Jetzt gehört das Gold uns!“, sagte einer der Wegelagerer, ein stämmiger Kerl mit einem zerbeulten Metallhelm auf dem Kopf. „Wir sind nämlich auch arm und hilfebedürftig!“

Seine Kumpane grölten vor Lachen und traten weiter auf den jungen Mann ein. Es war ein wilder Haufen abgehalfterter Gestalten, gehüllt in zerlumpte, notdürftig geflickte Klamotten, mit schmutzigen Gesichtern, langen Rauschebärten und verfilzten Haaren. Einige von ihnen trugen Helme und alte Armeejacken, was Zara vermuten ließ, dass die Horde aus Fahnenflüchtigen bestand, die sich hier in den Wäldern vor den Nachstellungen der königlichen Garde verbargen und sich ihren kargen Lebensunterhalt damit verdienten, ahnungslosen Reisenden aufzulauern, sie auszuplündern und anschließend irgendwo in den Wäldern zu verscharren, auf dass sie nie wieder gesehen wurden.

Neben Zara brachte Falk sein Pferd zum Stehen. Noch hatten die Wegelagerer die Neuankömmlinge nicht bemerkt, weil sie vollauf mit ihrem Opfer befasst waren, aber das konnte sich jeden Augenblick ändern, und dann, daran hatte Zara keinen Zweifel, würde es Ärger geben.

Falk sah entsetzt, wie die Räuber den jungen Burschen mit Tritten quälten, und zischte angespannt: „Verdammt, die prügeln ja den letzten Lebensfunken aus dem armen Burschen heraus!“

Zara sagte nichts.

Dreißig Schritte weiter vorn beschloss der Behelmte, dass es nun an der Zeit wäre, ernst zu machen, und zog sein Schwert aus der Scheide. Die anderen Männer wichen einige Schritte zurück. Breitbeinig stand der Wegelagerer mit dem Helm über dem am Boden liegenden jungen Mann, packte das Schwert mit beiden Händen und sagte fröhlich: „Keine Sorge, Bürschchen. Es wird nicht wehtun – oder zumindest nicht lange.“ Er lachte hämisch, und seine Kumpane stimmten ein.

„Bei allen Göttern, die werden ihn umbringen!“, raunte Falk. „Das können wir nicht zulassen! Wir müssen ihm helfen!“

„O nein, das müssen wir nicht“, entgegnete Zara ebenso leise. „Es gibt keinen Grund, sich einzumischen. Er kannte die Gefahr, die in diesen Wäldern lauert.“

„Aber die bringen ihn um!“, beharrte Falk.

„Das geht uns nichts an“, sagte Zara. „Egal, was diese Männer miteinander zu regeln haben, es ist ihre Angelegenheit. Ganz abgesehen davon habe ich meine gute Tat für heute bereits geleistet. Schon vergessen?“

Falk sah Zara einen Moment lang an, und man konnte erkennen, dass Zara in seiner Achtung eine Stufe tiefer sank. Doch das war ihr gleichgültig; sie legte keinen Wert darauf, ihm zu gefallen, noch irgendjemand anderem auf der Welt. Sie tat nur das, was sie tun wollte, und dass sie allen Widrigkeiten zum Trotz noch immer über dem Boden Ancarias wandelte, war ein unleugbarer Beleg dafür, dass diese Taktik aufging.

„Bitte“, bettelte der junge Bursche ein Stück weiter den Pfad hinab mit schwacher Stimme; er hatte kaum noch die Kraft zu sprechen. Er röchelte, als hätte er Schwierigkeiten zu atmen. „Ich muss nach Hohenmut. Die Menschen in Moorbruch brauchen Hilfe. Die Bestie ...“

„Das ist nun nicht länger deine Sorge“, erwiderte einer der Strolche ungerührt, während er den Beutel mit dem Gold an seinem Gürtel befestigte.

„Mach dich bereit, deinen Ahnen gegenüberzutreten, Bürschchen!“, sagte der Kerl mit dem Schwert, und er hob die scharfe Waffe zum Schlag ...

Doch bevor er dazu kam, die Klinge niedersausen zu lassen, bäumte sich Falks Gaul plötzlich mit lautem Wiehern auf, stieg auf die Hinterläufe und preschte unvermittelt vorwärts, geradewegs auf die Gruppe der Wegelagerer zu.

„Zum Angriff!“, brüllte Falk lauthals, zog den Dolch, den er am Gürtel getragen hatte, stieß ihn wie ein Offiziersschwert in die Luft und jagte mit Sasha auf die Wegelagerer zu. Deren Köpfe ruckten herum, und sofort griffen sie nach ihren Waffen.

„O nein“, murmelte Zara und seufzte. „Nicht auch das noch...“

Die Wegelagerer postierten sich mit militärischer Präzision in einem Halbkreis: vorne die Kerle mit den Hieb- und Stichwaffen, dahinter die beiden Bogenschützen, die in ihre Köcher griffen und Pfeile auf ihre Bögen spannten. Keiner der Kerle sagte ein Wort, jeder von ihnen wusste genau, was er zu tun hatte.

Nicht so Falk, der blindwütig wie ein Berserker vorpreschte und seinen Dolch schwang wie ein Schwert. Er war noch zehn Schritte von den Männern entfernt, als einer der beiden Bogenschützen den Pfeil von der Sehne zischen ließ.

Der Pfeil drang mit einem harten Laut fast bis zum gefiederten Schaft in den Hals des heranstürmenden Pferdes.

Dieses stieß ein schrilles, schmerzerfülltes Wiehern aus, strauchelte. Falk riss entsetzt die Augen auf und schaffte es gerade noch, sich an Sashas Mähne festzuklammern, ehe das Pferd schwer stürzte und mit der Brust zuerst zu Boden krachte, wo es schnaubend liegen blieb. Die Hufe schlugen zuckend auf die harte Erde.

Falk schrie auf, als er in einem hohen Satz vom Rücken des Tiers geworfen wurde. Der Aufprall war so heftig, dass es ihm alle Luft aus den Lungen trieb. All seine Glieder schmerzten. Benommen blinzelnd, hob Falk den Kopf- und riss abwehrend die Arme hoch, als einer der Wegelagerer, ein stämmiger Bursche mit einer wulstigen Narbe quer über der linken Wange, mit seiner Streitkeule auf ihn zusprang und die mit langen Eisennägeln gespickte Waffe schwang.

Da traf ihn unversehens der Griff eines Wurfmessers mit solcher Wucht am Kopf, dass er benommen nach hinten taumelte, und sofort stand nicht mehr Falk im Mittelpunkt des Interesses, sondern Zara, die rasch auf Kjell näher trabte.

„Haltet ein!“, rief sie in dem Versuch, die Situation zu schlichten und eine Katastrophe abzuwenden. Sie ließ den Blick über die Schurken gleiten und behielt vor allem die beiden Bogenschützen unauffällig im Auge, die ihre Pfeile bereits wieder schussbereit auf den Sehnen liegen hatten. „Wenn euch euer Leben lieb ist, legt die Waffen nieder. Hier ist heute schon genug Blut vergossen worden!“

Die Wegelagerer starrten sie an, ein wilder Haufen ehemaliger Söldner, die Begriffe wie Anstand und Ehre schon vor langer Zeit aus ihrem Wortschatz gestrichen hatten. Die Waffen drohend erhoben, standen sie im Halbkreis um den am Boden liegenden Falk, der sich möglichst klein machte und so tat, als wäre er gar nicht da. Ein paar Schritte weiter lag der junge Bursche, den die Banditen überfallen hatten, und stöhnte leise.

„Zu dem Blut, das hier heute noch vergossen wird, wird auch deins gehören, wenn du dich nicht trollst!“ Der Kerl mit der nagelgespickten Keule hatte sich wieder gefangen und funkelte sie unter seinen buschigen Augenbrauen heraus böse an. Der Griff des Messers hatte auf seiner Stirn einen kleinen, kreisrunden Abdruck hinterlassen, der bereits die Farbe einer überreifen Pflaume annahm. Es schien, als wäre er der Anführer der Bande. „Das hier ist nichts für dich. Wenn du klug bist, reitest du dorthin zurück, wo du herkommst, und vergisst, dass du jemals hier warst. Scher dich zurück an den Herd, oder wir bringen dir bei, wie man hier bei uns mit aufmüpfigen Weibern umgeht! Nicht wahr, Männer?“

Die anderen Wegelagerer bekundeten grinsend Zustimmung. Einer der Kerle, dem jahrelange Trunksucht ein dichtes Netz aus geplatzten roten Äderchen auf die Nase gezaubert hatte, leckte sich voller Vorfreude über die Lippen. Sein gieriger Blick interessierte sich mehr für Zaras weibliche Rundungen unter dem Lederkostüm als für die beiden Schwerter, die in den Lederscheiden am Sattel steckten. „Wir werden es dir gut besorgen“, versprach er. „Es ist schon viel zu lange her, seit wir das letzte Mal eine Frau hatten.“

„He!“, rief Falk entrüstet vom Boden her. „Schämt ihr euch nicht, so mit einer Dame zu sprechen?“

Der Straßenräuber mit der Stachelkeule grinste und entblößte dabei einen Mund voll schlechter Zähne. „Tut mir Leid, Jungchen, aber ich sehe hier weit und breit keine Dame!“ Er wandte sich an seine Kumpane. „Ihr etwa?“ Sie schüttelten grinsend die Köpfe. Auch wenn sie instinktiv einen gewissen Respekt vor Zara empfanden, so schienen sie in der hoch gewachsenen jungen Frau doch keine nennenswerte Bedrohung zu sehen. Im Gegenteil: Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurden die Blicke der Männer gieriger, verlangender, und Zara wurde klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die zerlumpten Gesellen wie ein Rudel ausgehungerter Hyänen über sie herfielen.

„Ich warne euch“, sagte sie eindringlich. „Erhebt eure Waffen gegen mich, und euer Leben ist verwirkt.“ Sie sagte es vollkommen ruhig; es war eine Feststellung, nichts weiter.

Doch die Wegelagerer grinsten bloß dreckig, und dann brach unvermittelt die Hölle los, als sie wie auf ein unhörbares Kommando hin zum Angriff übergingen.

Zara sah, wie die beiden Bogenschützen nahezu gleichzeitig ihre Pfeile abschossen, doch damit hatte sie gerechnet. Sie sah die Pfeile heranzischen wie schwarze Blitze und wich dem ersten geschickt aus, indem sie sich zur Seite beugte, um sofort wieder hochzukommen und schnell wie eine angreifende Königskobra nach dem zweiten Pfeil zu greifen, der direkt auf ihren Kopf zuschoss. Sie bekam den Pfeil zu fassen, als die eiserne Spitze des Pfeils nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. Sie zerbrach den Pfeil mit einer Hand und schleuderte die beiden Stücke achtlos zu Boden, ehe sie die Wegelagerer wieder düster anstarrte, die drohend ihre Waffen schwangen. Die Bogenschützen legten bereits neue Pfeile auf die Sehnen ihrer Bögen.

„Das“, sagte Zara fast bedächtig, „war ein Fehler.“

Dann sprang sie mit einem Satz vom Rücken des Pferdes, kam federnd neben Kjell auf dem Boden auf, richtete sich auf und sah, wie die Kerle wie ein Mann auf sie zustürmten. Sie gab Kjell einen Hieb auf die Flanke, damit er sich entfernte, und wandte sich den Angreifern zu.

Ein Langspeer schoss auf sie zu. Zara warf sich zur Seite, und die Speerspitze bohrte sich in die Erde und blieben wippend im Waldboden stecken. Mit einem Satz sprang Zara wieder auf. Es gelang ihr gerade noch, sich umzudrehen, bevor der erste Angreifer bei ihr war.

Mit einem heiseren Keuchen riss der Schurke sein Kurzschwert in die Höhe und ließ es in einem schrägen Bogen niedersausen. Geschickt wich Zara der scharfen Klinge aus, während sie gleichzeitig ausholte, um dem Angreifer die Faust direkt unterhalb der Brust in den Körper zu rammen. Die Wegelagerer trugen, so schien es, mehrere Schichten Stoff übereinander, um sich vor der Witterung zu schützen, doch Zara hatte viel Kraft in den Schlag gelegt. Der Strauchdieb stieß einen quiekenden Laut aus und schwankte, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Zara setzte sofort nach und schleuderte den Kerl mit einem wuchtigen Tritt nach hinten; er stürzte rücklings zu Boden, direkt neben den jungen Burschen, den die Banditen überfallen hatten und der sich nun mühsam aufraffte und versuchte, aus der Gefahrenzone zu kriechen.

Zara blieb keine Zeit zum Verschnaufen, denn schon waren die nächsten beiden Strolche heran. Sie kamen von links und von rechts, um sie in die Zange zu nehmen, die Schwerter in den Händen. Zaras Blick zuckte zwischen den Männern hin und her, doch nichts an ihr ließ erkennen, dass sie Furcht verspürte. Sie war vollkommen ruhig, so, als gehörte dergleichen zu ihrem Leben wie Essen, Trinken und Atmen. Dabei war sie unbewaffnet; ihr beiden Schwerter steckten in den Scheiden an ihrem Sattel, für Zara jetzt unerreichbar.

Als einer der Schurken, ein relativ junger Bursche, unvermittelt seine Klinge nach vorne stieß, war Zara darauf vorbereitet. Sie tänzelte zur Seite, versetzte dem Mann einen wuchtigen Tritt gegen das Schienbein und sprang nach hinten, als der zweite Angreifer sich keuchend auf sie stürzte. Die breite Schneide einer Streitaxt zuckte auf sie zu. Zara tauchte darunter weg und warf sich nach vorn, direkt auf den Angreifer.

Der ehemalige Soldat stieß einen überraschten Laut aus. Plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. In einem wüsten Knäuel aus Armen und Beinen stürzten die beiden zu Boden, die Axt fiel dem Schurken aus den Händen.

Zara wälzte sich auf ihren Gegner und schlug mit der geballten Faust nach seinem Gesicht. Sofort schoss Blut aus seiner Nase, besudelte warm und klebrig Zaras Handballen – und tat tief in Zaras Innerem eine Tür auf, die Zara sonst bedachtsam verschlossen hielt, aus Furcht vor dem, was passierte, wenn sie ganz geöffnet wurde. Jetzt sprang sie auf, lediglich einen Spaltbreit zwar, doch das genügte.

Zara gab alle Zurückhaltung auf und schlug erneut zu, diesmal noch härter und gegen die Stirn des Mannes. Der Strauchdieb stöhnte und wand sich am Boden. Erst als Zara ein drittes Mal zuschlug, brach sein Blick, und er lag still.

Zara ließ von dem Toten ab und sprang eilig auf – keine Sekunde zu früh, denn der jüngere der Banditen stürmte mit gezücktem Schwert auf sie zu. Ein irrer Glanz lag in seinen Augen.

Zara ging mit vor der Brust geballten Fäusten in Abwehrstellung, ihr Leib angespannt wie eine Stahlfeder, den Blick auf die Schwertklinge gerichtet, als sie aus dem Augenwinkel eine vage Bewegung bemerkte.

Ihr Kopf zuckte herum.

Ein anderer Wegelagerer kam von rechts auf sie zugerannt, das Schwert zum Schlag erhoben, ein heiseres Keuchen auf den Lippen. Seine Lederstiefel wirbelten Erde und Laub auf. Die Schwertklingen zuckten von beiden Seiten heran, irrsinnig schnell. Dann waren die Banditen bei ihr. Beinahe gleichzeitig ließen sie ihre Waffen durch die Luft pfeifen.

Zara sprang hastig einen Schritt zurück und entging der ersten Klinge um Haaresbreite, doch die zweite schnitt quer über ihren linken Oberarm. Das Leder ging in Fetzen. Sofort quoll Blut hervor, schwarz und dick wie das von Käfern.

Zara stöhnte auf, verschwendete jedoch keine Zeit damit, sich Gedanken über die Wunde zu machen; sie würde es überleben. Stattdessen rammte sie dem ersten Gegner den Ellbogen in die Seite, stieß ihn weg und packte die Axt, die neben dem toten Wegelagerer lag.

Mit einem Wutschrei riss sie die Axt hoch und stürmte auf die beiden Männer zu. Mit voller Wucht ließ sie die Klinge auf sie herabsausen und traf das Schwert des jüngeren Banditen. Funken schlugen, als die Axt auf das Schwert krachte. Der Hieb schleuderte den Gegner nach hinten. Leichtfüßig wirbelte Zara herum und schlug nach dem anderen Wegelagerer, der reflexartig sein Schwert hochriss. Singend trafen ihre Klingen aufeinander. Und noch einmal. Und noch einmal, bis der Kerl unvermittelt einen raschen Ausfallschritt zur Seite machte und Zara ins Leere schlug. Die Schneide der Axt zischte durch die Luft, ohne auf den erwarteten Widerstand zu treffen.

Überrascht taumelte Zara einen Schritt nach vorn, bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Darauf hatte der Strolch nur gewartet. Mit zum Schlag erhobenem Schwert setzte er nach und schwang die Klinge in einem Bogen, um Zara der Länge nach aufzuschlitzen. Zara sprang hastig zurück und schaffte es, dem Hieb um Haaresbreite zu entgehen. Dann sah sie aus dem Augenwinkel eine weitere Schwertklinge auf sich zurasen und duckte sich; direkt über ihrem Haupt trafen sich die Klingen der Angreifer mit einem harten Klirren, so dicht über Zaras Kopf, dass einige Haare zu Boden fielen. Erneut stoben Funken. Zara warf sich zur Seite, rollte sich geschickt auf dem Pfad ab, und noch während sie neben den beiden Männern wieder auf die Füße kam, fasste sie die Axt mit beiden Händen fester und führte einen kraftvollen Hieb von unten nach oben.

Einer der Angreifer wurde getroffen, die Schneide der Axt grub sich tief in seinen Leib. Schreiend fiel er zu Boden, doch er musste nicht lange leiden, denn schon war Zara über ihm, riss die Axt hoch und ließ sie mit einem gepressten Keuchen niedersausen.

Statt aus dem Tod ihrer beiden Kameraden ihre Lehre zu ziehen und den Rückzug anzutreten, beschlossen die Wegelagerer, aufs Ganze zu gehen. Sie hatten diesen seltsamen Glanz in den Augen; Zara hatte ihn schon des Öfteren gesehen – bei Menschen, die den Punkt erreicht hatten, an dem ihnen mit einem Mal alles gleichgültig wurde und Leben und Tod ihre Bedeutung verloren.

Für diese Männer zählte nur noch eins.

Sie wollten Blut sehen.

Zaras Blut!

Hass und Zorn schossen wie Adrenalin durch ihre Körper und ließen sie handeln. Gleichzeitig schössen zwei der Männer heran, um Zara in die Zange zu nehmen. Zara schaffte es, abzutauchen, einem der Angreifer die Beine unter dem Körper wegzuhebeln und ihn zu Boden zu schicken, doch dabei war sie gezwungen, dem anderen Gegner für einen Sekundenbruchteil ihren Rücken zuzudrehen. Der nutzte seine Chance und versetzte ihr einen Hieb mit dem Ende des Schwertgriffs. Hart donnerte der Griff gegen Zaras Schädel. Schlieren der Benommenheit tanzten vor ihren Augen, aber sie kämpfte dagegen an und wich hastig einen Schritt zurück, um dem zweiten Hieb zu entgehen. Doch der Bandit setzte sofort nach. Wie durch eine Nebelwand sah Zara den Mann auf sich zukommen, und für eine Sekunde keimte so etwas wie Furcht in ihr auf.

Doch ehe der Wegelagerer zuschlagen konnte, erfüllte plötzlich ein lautes Wiehern die Luft.

Die Augen des Schurken glitten zur Seite. Weiteten sich.

In dieser Sekunde trafen ihn Kjells Vorderhufe gegen die Brust. Das Knacken der Rippen ging in dem überraschten Schrei unter, den der Wegelagerer ausstieß, als er brutal von den Füßen gerissen wurde. Die Schwertklinge zuckte hoch gen Himmel, ohne Schaden anzurichten. Einige Schritte weiter krachte der Mann zu Boden. Sogleich war Kjell über ihm, ein riesiger schwarzer Leib, der sich auf die Hinterbeine aufbäumte und die Hufe einen Moment lang fast provozierend über seinem Opfer schweben ließ. Dann, begleitet von einem wütenden Wiehern, sausten die Vorderläufe nach unten. Der Wegelagerer riss die Arme hoch, doch er hatte keine Chance. Der rechte Vorderhuf traf seinen Schädel, und die Schreie des Schurken brachen mit einem feuchten Gurgeln ab.

Für einen Moment schien die Welt mitten in der Bewegung erstarrt. Keiner der Wegelagerer, die noch übrig waren, rührte sich. Sie standen einfach da wie Statuen, während sie verzweifelt zu begreifen versuchten, wie drei von ihnen durch ein Weib und einen Gaul hatten zu Tode kommen können.

Der junge Bursche, den sie überfallen hatten, war inzwischen zum Rand des Pfads gekrochen und hockte angeschlagen gegen einen Baum gelehnt, und auch Falk verhielt sich ruhig.

Schließlich war es der heisere Wutschrei des Kerls mit der Keule, der die Stille durchbrach und die Welt wieder in Bewegung setzte. Mit vor Hass verzerrtem Gesicht sprang er über einen seiner am Boden liegenden Kameraden hinweg, riss seine nagelgespickte Keule hoch und stürmte damit auf Zara zu.

Zara reagierte, ohne zu überlegen. Mit beiden Händen hob sie die schwere Streitaxt, holte aus – und schleuderte die Waffe dem heranrennenden Banditen entgegen.

Das scharfe Schneideblatt drang tief in die Brust des Mannes, er flog nach hinten und stürzte auf den Rücken. Der zerbeulte Helm glitt von seinem Kopf und enthüllte einen spärlichen Kranz brauner Haare. Sein Blick war nach oben gerichtet, zum Blätterdach, doch er nahm längst nichts mehr wahr.

Zara richtete sich keuchend auf, als sie rechts von sich mit einem Mal eine Bewegung gewahrte, und da wusste sie, dass es noch nicht vorbei war. Noch war einer der fünf Männer auf den Beinen! Sie wirbelte herum, um sich dem Feind zu stellen, doch da war es bereits zu spät.

Der Pfeil bohrte sich tief in ihre rechte Seite.

Zara stieß einen Schrei aus, in dem sich Überraschung und Schmerz die Waage hielten. Unwillkürlich glitten ihre Hände zur Wunde. Nur wenig Blut floss, doch die Schmerzen waren überwältigend. Die Knie wurden ihr weich, als hätte sie zu viel Met getrunken. Sie taumelte mühsam vorwärts, auf den Wegelagerer zu, der in den Köcher an seiner Hüfte griff und mit grausamer Gelassenheit einen weiteren Pfeil auf die Sehne seines kurzen Kampfbogens spannte. Die Entfernung zwischen ihnen betrug höchstens acht oder zehn Schritte.

Der Kerl konnte Zara gar nicht verfehlen.

Dennoch kämpfte sie verbissen gegen die Benommenheit an. Sie sah das Schwert eines der toten Halunken am Boden liegen, bückte sich und hob es auf. Sie drehte sich gerade zu ihrem Feind um, als sie der zweite Pfeil traf.

Diesmal bohrte sich die Eisenspitze in ihren Oberschenkel. Zara stöhnte auf und fiel auf die Knie. Noch mehr Schmerz brandete über sie hinweg wie eine Flutwelle. Mühsam gelang es ihr, wieder auf die Beine zu gelangen. Die Pein machte sie schwindeln. Wie durch eine Wand aus Nebel sah sie, dass der letzte der Wegelagerer bereits einen dritten Pfeil auf die Sehne legte, und sein boshaftes Grinsen brachte den Hass in Zara zum Kochen wie eine alles verzehrende Flamme, die aus den Tiefen ihrer Eingeweide ihre Wirbelsäule hinaufkroch und ihr neue Kraft verlieh. Sie biss die Zähne zusammen und hob das Schwert, das auf einmal Zentner zu wiegen schien. Die Pfeile steckten tief in ihrem Fleisch, und vor allem der in ihrer Seite schmerzte höllisch. Bei jeder Bewegung glaubte sie, die Spitzen der Pfeile in ihrem Körper herumrucken zu spüren.

Der Pfeil lag auf der Sehne.

Zielte direkt auf ihr Herz.

Noch sechs Schritte trennten die beiden Kämpfenden.

Der Strauchdieb spannte den Bogen.

Fünf Schritte.

Zara taumelte vorwärts.

Vier...

Das Grinsen des Wegelagerers zeigte irren Triumph. Seine Kameraden mochten alle tot sein, doch nicht er, o nein, er nicht! Er würde diesem Miststück aus der Hölle schon zeigen, mit wem sie sich eingelassen hatte, so wahr ihm die Alten Götter halfen!

Als Zara nur noch drei Schritte von ihm entfernt war, kaum imstande, das Schwert in Brusthöhe zu halten, schoss der Wegelagerer. Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, die das eingekerbte Ende des Pfeils hielten, entspannten sich.

Doch kurz bevor der Pfeil von der Bogensehne schwirrte, grub sich die beidseitig geschliffene Klinge von Falks Dolch in den Unterschenkel des Bogenschützen. Der Bärtige schrie auf, der Pfeil geriet aus der Bahn und schoss hinauf zum Himmel, während der Schurke halb in die Knie brach. Entsetzt blickte er an sich herab, sah, dass der Dolch in seinem Bein steckte, und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Zorns. Falk versuchte noch, zurückzukriechen, doch der Bärtige riss das Messer mit einem Ruck aus seinem Bein, funkelte Falk an und wollte sich gerade auf ihn stürzen, als Zara mit einem Satz die letzten Schritte überwand und zuschlug.

Der Straubdieb kam nicht einmal dazu, aufzuschreien. Die scharfe Klinge bohrte sich in seinen Körper, durchtrennte seinen Lebensfaden, und er kippte um wie ein gefällter Baum.

Zara blickte Falk an, der sich mühsam aufrappelte. Der junge Mann, der überfallen worden war, hockte am Wegesrand, den Rücken gegen den Baumstamm gelehnt, und schaute Zara fast flehentlich an. Sie nickte ihm beruhigend zu und gab ihm damit zu verstehen, dass sie ein Freund war, und der Ausdruck in seinem zerschlagenen Gesicht entspannte sich.

Zara ließ das Schwert fallen. Die Pfeile, die ihr in Oberschenkel und Seite steckten, schmerzten, doch aus den Wunden rann kaum noch Blut. Keuchend griff Zara nach dem Pfeil in ihrem Schenkel. Sie brach ihn ab, verzog einen Moment lang schmerzerfüllt das Gesicht und warf das Ende des Pfeils von sich, ehe sie mit dem in ihrer Seite ebenso verfuhr. Dann holte sie sich eines ihrer eigenen Schwerter, zog es aus der Scheide an ihrem Sattel.

Erschöpft taumelte sie zu Sasha hinüber. Falks Gaul hatte schier unglaubliche Kraft und Lebenswillen. Noch immer atmete das Pferd, doch sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, und bei jedem Senken pumpte neues Blut aus der Halswunde, in der noch immer der Pfeil steckte. Die Hufe zuckten auf dem Boden. Die großen braunen Augen des Pferdes öffneten und schlössen sich mühsam, und das gequälte Schnauben, das jeden Atemzug begleitete, ging Zara durch Mark und Bein. Benommen baute sie sich über dem Pferd auf und hob das Schwert. Sie vermied es, dem Tier in die Augen zu schauen, als sie die Klinge mit einem angestrengten Keuchen niedersausen ließ.

Die Hufe des Pferdes hörten auf zu zucken. Ein letztes, fast erleichtertes Schnauben war zu hören. Dann lag das Tier still und regte sich nicht mehr.

Zara zog das Schwert aus der Brust des Pferdes, rammte es neben sich in den Boden und löste mit zitternden Fingern die Knoten von Falks Bündel, das quer über dem Rücken des toten Tiers hing. Sie warf dem fassungslosen Falk das Bündel wütend gegen die Brust, der sich mit Tränen in den Augen daran festzuklammern schien.

„Das war eigentlich deine Aufgabe“, zischte Zara zornig. „Du hättest dem Tier diese Gnade erweisen müssen. Es war dein Pferd.“ Sie humpelte an Falk vorbei, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, und sagte im Weggehen: „Vielleicht überlegst du es dir beim nächsten Mal zweimal, ob du wirklich den Helden spielen willst.“

Falk sah ihr betreten nach.

Zara blieb neben dem Halunken stehen, der dem jungen Mann zu Beginn des Gemetzels den Todesstoß versetzen wollte. Schwerfällig beugte sie sich über ihn, drehte den Mann auf den Rücken und riss ihm den Lederbeutel vom Gürtel, ehe sie zu dem Burschen hinüberhumpelte, der noch immer mit dem Rücken gegen den Stamm einer Kiefer lehnte. Zara kniete schwerfällig vor dem Mann nieder und betrachtete ausdruckslos sein zerschlagenes Gesicht.

„Keine Angst“, sagte Zara, während sie ihm den Beutel mit dem Gold in die Hand drückte. „Es ist vorbei.“

Der junge Mann umklammerte den Beutel mit aller Kraft, wie ein heiliges Relikt, das ihm die Erlösung bringen würde. Zara stellte fest, dass er tatsächlich höchstens zwanzig Lenze zählte, ein fescher junger Bursche mit grünen Augen, einer geschwungenen Aristokratennase und schulterlangem blondem Haar. Vermutlich gab es in dem Ort, aus dem er stammte, jede Menge junge Mädchen, die sich nach ihm verzehrten. Sein Gesicht zeigte jetzt zwar üble Schwellungen, und die Unterlippe war aufgeplatzt, doch seine Verletzungen würden schnell verheilen.

Obwohl er am Ende seiner Kräfte war, nickte er Zara kurz zu und murmelte mit schwacher Stimme: „Danke ...“

Zara sah ihm noch einen Moment lang tief in die Augen. Schließlich richtete sie sich mit einem Ruck auf und pfiff nach Kjell, der sofort herbeigetrottet kam und auffordernd wieherte. Zara packte den jungen Mann, um ihn mit einer Leichtigkeit, die man ihr selbst ohne ihre Verletzungen nicht zugetraut hätte, über den breiten Rücken des Pferdes zu wuchten. Der Bursche keuchte schmerzerfüllt, ließ es jedoch geschehen. Als er quer über dem Rücken des Pferdes lag, fasste Zara nach den Zügeln und führte Kjell humpelnd den Weg hinab. Falk starrte ihr nach und fragte sich, woher, um alles in der Welt, diese seltsame Frau die Kraft nahm, sich noch aufrecht zu halten. Etwas an Zara flößte ihm Angst ein, doch da war auch eine verhaltene Neugierde in ihm, die zu wissen verlangte, was es mit dieser sonderbaren Frau aus der Fremde auf sich hatte. Nach einem letzten traurigen Blick auf Sasha fasste er sein Bündel fester und folgte Zara.

VII.

Zara fand das Lager der Räuberbande schneller, als sie zu hoffen gewagt hatte. Es lag nicht weit von jener Stelle entfernt, wo sie dem jungen Mann auf dem Pfad aufgelauert hatten, auf einer kleinen Lichtung inmitten der üppig wuchernden Vegetation. Unter einem provisorischen Unterstand aus Ästen und Zeltplane lagen Proviant, Kleidung, Waffen und die Hinterlassenschaften ihrer Opfer, und neben der Feuerstelle in der Mitte der Lichtung thronte ein Fass Met. Fünf Pferde waren an die Bäume gebunden und schnaubten nervös, als Zara Kjell durch die Büsche auf die Lichtung führte. Sie brachte das Tier neben dem erloschenen Feuer zum Stehen und hob den verletzten Jungen behutsam vom Pferd, um ihn unter dem Unterstand auf eine Decke zu betten. Sie war froh, dass sie mit ihrer Annahme, dass die Wegelagerer hier irgendwo im Nirgendwo ein Quartier haben mussten, Recht gehabt hatte, denn sie hoffte, dass sie hier das eine oder andere finden würde, um ihre eigenen Wunden und die des jungen Mannes zu versorgen.

Zara ging langsam neben dem jungen Mann in die Knie, griff nach einer Wasserflasche, die an einem der Haltepfosten an einem Nagel baumelte, und begann schweigend, das von Blut und Dreck schmutzige Gesicht des Überfallenen zu reinigen. Es zeigte sich, dass die Verletzungen wirklich nicht allzu schlimm waren. Die Abschürfungen würden heilen, die Blutergüsse und Schwellungen abklingen. Auch an der Brust hatte er einiges abgekriegt, doch zum Glück war nichts gebrochen.

Nachdem sie sich einen Eindruck von den Verletzungen des jungen Mannes verscharrt hatte, machte sie sich in der Nähe des Lagers auf die Suche nach verschiedenen Pflanzen und Kräutern, die sie zur Behandlung brauchte. Glücklicherweise musste sie nicht lange suchen, bis sie eine Eiche entdeckte, aus deren Stamm sie einige Stücke Rinde schnitt, und auch den Bockshornklee und die Kamille fand sie schnell. Sie kehrte ins Lager zurück, griff nach einer Decke, riss sie in längliche Streifen, legte die Heilkräuter auf den Brustkorb des Mannes und begann, ihn zu verbinden. Jedes Mal, wenn Zara seine Brust berührte, zuckte der Junge mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, denn auch dort hatte er einige Blutergüsse, doch er sagte nichts und ließ Zara gewähren. Als Zara schließlich fertig war und sich abwandte, um hinüber zum Lagerfeuer zu gehen, griff er nach Zaras Hand.

Zara drehte sich fragend um.

„Mein Name ist Jahn“, erklärte der Bursche. „Und wer bist du?“

„Zara“, sagte sie knapp, bevor sie Jahn allein ließ. Sie legte mehrere Äste und Zweige, die die Wegelagerer neben der Feuerstelle aufgeschichtet hatten, auf die Asche und holte den Feuerstein aus ihrer Tasche. Inzwischen hatte auch Falk den Weg in das Lager gefunden, doch er hielt sich im Hintergrund, und Zara schenkte ihm keine Beachtung, als sie sich daran machte, das Feuer zu entfachen. Als schließlich die Flammen prasselten, durchsuchte sie die in mehreren Beuteln und Kisten verstauten Habseligkeiten der Wegelagerer. Außer Kleidung, Münzen, gepökeltem Fleisch, Brot, Wasser, einer Flasche Weizenschnaps und einem Paar Stiefel fand sie auch einen Dolch.

Sie zog das Messer aus der Scheide und betrachtete die schlanke, scharfe Klinge einen Moment lang nachdenklich, bevor sie damit zum Feuer zurückkehrte und die Schneide tief in die rote Glut schob. Dann ließ sie sich am Rande des Feuers nieder, entkorkte den Tonkrug mit dem Schnaps und setzte die Öffnung an die Lippen, um einen kräftigen Schluck zu nehmen.

Zara spürte, wie der Alkohol ihre Speiseröhre hinabkroch und in ihrem Magen ein unangenehmes Brennen entfachte, das jedoch half, die pochenden Schmerzen zu verdrängen, die in ihrem Oberschenkel und ihrer Seite wüteten. Auch wenn sie gelernt hatte, Schmerzen als etwas ganz Natürliches hinzunehmen, empfand sie sie doch. Zara nahm Schmerzen zwar anders wahr als normale Menschen, das bedeutete jedoch nicht, dass sie für sie angenehm waren. Ganz im Gegenteil. So nahm sie einen weiteren tiefen Zug von dem scharfen Schnapfes und schüttelte sich, als der Alkohol allmählich ihre Sinne zu vernebeln begann und sich eine angenehme Schwere ihrer Glieder bemächtigte. Erst dann stellte sie den halb leeren Krug zur Seite, riss mit einem Ruck die Naht ihrer Hosen auf und enthüllte ihren Oberschenkel.

Der abgebrochene Pfeil steckte mindestens drei Fingerbreit in ihrem Fleisch. Die Wunde war nicht sehr groß und hatte auch kaum geblutet, doch die Pfeilspitze musste raus. Entschlossen griff sie nach dem Messer und zog es aus der Glut des Feuers.

Die Spitze der Klinge glomm in tiefem Rot; Rauch stieg davon auf. Zaras Rechte schloss sich fester um den Griff, indes sich die Finger der Linken um das abgebrochene Ende des Pfeils krampften. Zögernd richtete sie die Messerspitze auf die Wunde. Die Hitze, die von dem glühenden Eisen ausging, wärmte die Haut ihres verletzten Oberschenkels.

Die Spitze des Dolchs verharrte wenige Zentimeter über der Pfeilwunde. Kalter Schweiß rann Zara übers Gesicht. Zwar war sie schon des Öfteren von Pfeilen getroffen worden, einmal sogar gefährlich nahe im Bereich des Herzens, doch bislang war sie nie gezwungen gewesen, die Spitzen allein zu entfernen. Sie konnte bloß hoffen, dass die Pfeile keine Widerhaken hatten.

Dieser Gedanke ließ sie einen Augenblick lang zögern. Dann gab sie sich einen Ruck, atmete tief durch – und senkte die rot glühende Klinge, um die Pfeilwunde durch einen raschen Schnitt zu vergrößern.

Der Schmerz war gewaltig, eine Explosion aus Qual, die durch ihren gesamten Körper toste und sie aufstöhnen ließ. Sie führte den Schnitt mit zusammengebissenen Zähnen zu Ende, zog das Messer zurück und riss mit der Linken ruckartig an dem Pfeil, um ihn herauszuziehen. Wenn er tatsächlich Widerhaken hatte, war das der kritische Moment, der über Wohl und Wehe entschied, doch die dreieckige Eisenspitze ließ sich ohne Schwierigkeiten aus ihrem Schenkel ziehen. Gleichwohl, diesmal war die Pein so gewaltig, dass Zara die Zähne fest zusammenbeißen musste, um nicht laut zu schreien.

Benommen schleuderte sie den abgebrochenen Pfeil beiseite, rammte das Messer in den Boden und presste eine Hand voll Kräuter auf die Wunde, ehe sie hastig einen der Wollstreifen ergriff, die sie aus der Decke gerissen hatte, und ihr Bein stramm verband. Dann fiel sie erschöpft nach hinten, kalten Schweiß auf der Stirn.

Der Schmerz hatte die Barriere aus Alkohol verbrannt, doch die Benommenheit war so groß wie nie zuvor, und der Geruch ihres eigenen verbrannten Fleisches weckte ungute Erinnerungen an Tage voller Tod und Blut. Wenn sie jetzt einnickte, würde sie die nächsten paar Tage durchschlafen, ohne von ihren Albträumen gepeinigt nach ein paar Stunden wieder aufzuwachen. Müde legte sie den Kopf in den Nacken, schloss für einen Moment die Augen und genoss das Gefühl, wie der Schmerz allmählich nachließ. Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder. Sie war noch nicht fertig. Benommen griff sie nach dem Tonkrug und nahm einen weiteren kräftigen Schluck. Dann übergoss sie die abkühlende Klinge mit dem Schnaps, säuberte das Messer an ihrem Umhang und schob die Klinge zurück in die Glut, ehe sie erneut aus dem Krug trank. Der Pfeil in ihrer Seite sandte einen pochenden Schmerz durch ihren ganzen Körper, doch das würde sich bald ändern.

Zara starrte in die Glut und sah, wie die scharfe Messerklinge wieder zu glühen begann. Irgendwo im Hintergrund vernahm sie Jahns ruhigen, regelmäßigen Atem; sie nahm an, dass der junge Mann eingeschlafen war, und sie wünschte, sie könnte es ihm gleichtun.

Doch sie hatte noch etwas zu erledigen.

Zara wartete, bis die Klinge rot glühte. Dann schob sie ihr Hemd über die abgebrochene Pfeilspitze hoch, um die Wunde in ihrer linken Seite, zwei Handbreit unter ihrer Brust, zu entblößen. Dünne Blutfäden waren von der Wunde nach unten gelaufen wie Regen, rotbraune Schlieren auf Zaras porzellanweißer Haut. Ein Blick genügte, um Zara zu zeigen, dass diese Pfeilspitze ein ganzes Stück tiefer steckte. Nach einem letzten Schluck aus dem Krug zog Zara das Messer aus dem Feuer und setzte ohne Zögern zu einem tiefen Schnitt an.

Diesmal war der Schmerz so groß, dass Zara die Tränen in die Augen schossen. Er war so enorm und allumfassend, dass ihr Bewusstsein davon ausgeblasen wurde wie eine Kerze im Sturm. Sie spürte, wie sie der Welt entrückte, ihr Geist schien plötzlich kein Teil ihres Körpers mehr zu sein, und für einen Moment schoss ihr durch den Kopf, dass sich der Tod so ähnlich anfühlte – beruhigend, auf sonderbare Weise vertraut, wie ein Loslassen von Dingen, die eigentlich keine Bedeutung hatten. Trotzdem gelang es ihr irgendwie, die Pfeilspitze aus ihrer Seite zu ziehen, dann sank sie erschöpft zurück, am Ende ihrer Kraft. Bevor ihr Blick dunkel wurde, sah sie verschwommen das hagere Gesicht von Falk über sich auftauchen, besorgte Augen unter buschigen Brauen.

Ihr Leib gab der Erschöpfung nach, und Zara versank in tröstlicher Dunkelheit, wie ein Stein, der in den tiefen Wassern eines nächtlichen Sees versinkt.

VIII.

Als Zara wieder zu sich kam, ging der Tag bereits in den Abend über. Die Sonne hing tief über den Wipfeln der Bäume, ein vages helles Rund jenseits des dichten Blätterdachs. Langsam krochen die Schatten aus dem Dickicht, und das Lagerfeuer flackerte fröhlich vor sich hin. Die Wärme der Flammen kroch über Zaras Gesicht, doch im ersten Moment vermochte sie nicht zu sagen, wo sie sich befand. Erschrocken schoss sie auf ihrem Lager hoch, als würde sie aus ihrem ewig wiederkehrenden Albtraum erwachen, die Hand automatisch auf dem Weg zum Knauf eines ihrer Schwerter. Sie zuckte zusammen, als aus Schenkel und Seite ein dumpfer Schmerz durch ihren Körper fuhr – keine siedende Pein wie in dem Moment, als sie die Pfeilspitzen aus ihrem Fleisch gerissen hatte, sondern ein eher unterschwelliger Schmerz, wie man ihn verspürt, wenn man eine Wunde im Mund hat und mit der Zungenspitze danach tastet, um zu erfahren, ob sie noch wehtut. Dennoch, angenehm war es nicht, und Zara ließ ein leises, nur halb unterdrücktes Stöhnen hören. Auf einmal war Falk bei ihr. „Nur ruhig“, sagte er und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Du darfst dich nicht anstrengen. Ruh dich aus und erhol dich. Du bist verletzt.“ Er wollte sie behutsam zurück auf das Deckenlager drücken, das er für sie neben der Feuerstelle hergerichtet hatte, doch Zara schüttelte seine Hand ab.

„Nur keine Umstände“, brummte sie. „Meine Wunden heilen schnell.“

„Das mag wohl sein“, sagte Falk. „Verbunden habe ich sie aber dennoch.“

Zara blickte stirnrunzelnd an sich herab und stellte fest, dass der Verband an ihrem Schenkel erneuert worden war, und auch um ihren Leib spannte sich mit sanftem Druck ein Verband aus Stoffstreifen und Heilkräutern.

Bevor sie dazu ein Wort verlieren konnte, erklang aus dem Unterholz mit einem Mal das verstohlene Knacken eines Zweigs, der unter einem Fuß zerbrach, und schlagartig war Zara hellwach. Doch im nächsten Moment beruhigte sie sich wieder, denn sie sah, wie Jahn aus den Büschen humpelte, in der Hand eine Waldschnepfe, deren langer bunter Hals leblos nach unten hing. Obwohl sich der junge Mann vorsichtig bewegte, sah er doch schon viel besser aus als am Vormittag, als Zara seine Wunden versorgt hatte. Die Schwellungen in seinem Gesicht waren bereits am Abklingen. Beim Gehen hielt er eine Hand behutsam gegen die Brust gedrückt, als müsste er seine Rippen an Ort und Stelle halten, doch er befand sich ohne Zweifel auf dem Wege der Besserung.

Als Jahn Zara sah, schenkte er ihr ein kleines, dankbares Lächeln. „Etwas zu essen“, verkündete er und hielt das Huhn an der Schlinge, mit der er das Tier gefangen hatte, in die Höhe wie eine Trophäe. „Nicht besonders viel dran, aber als Appetithappen reicht’s.“ Er ließ sich neben ihr nieder und begann, das Huhn zu rupfen. „Wir haben uns um Euch gesorgt“, sagte er ruhig.

Zara winkte ab. „Es geht schon wieder.“

Jahn lachte leise. „Nein, verglichen mit den Wunden, die Eure Gegner davongetragen haben, seid Ihr wahrlich gut davongekommen.“ Er verzog kurz das Gesicht, weil ihm beim Lachen die Rippen schmerzten. „Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde es nicht glauben. Eine Frau, die es allein mit einem halben Dutzend bewaffneter Halsabschneider aufnimmt – und triumphiert.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Ihr seid eine große Kriegerin, Zara.“

„Oh, das ist sie!“, bestätigte Falk eifrig. „Du hättest sehen sollen, wie sie mich in Hohenmut aus den Klauen einer Bande heimtückischer, blutgieriger Halunken gerettet hat. Die Kerle wollten mir aus unerfindlichen Gründen die Hand abhacken, und obwohl ich mich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Schurken zur Wehr setzte und mehrere von ihnen mit meinen eigenen Fäusten zu Boden schickte, ist es am Ende doch nur ihr zu verdanken, dass ich noch beide Hände habe – und das, ohne dass sie selbst zur Waffe gegriffen hätte.“ Er grinste. „Glaub mir, von dieser Schmach werden sich diese Schurken in tausend Jahren nicht erholen! Ist es nicht so, Zara?“ Er schaute sie fragend an, doch Zara rümpfte nur abfällig die Nase und schwieg.

„Ich bin sicher, es war ein denkwürdiges Bild“, sagte Jahn. Für einen Mann, der kaum älter war als Falk, wirkte er sehr abgeklärt und ruhig; Zara nahm an, dass er es gewohnt war, Verantwortung zu tragen. Er sah Zara von der Seite her an, und ein seltsamer Ausdruck trat in seinen Blick. „Mir scheint, als wärt Ihr nicht nur eine große Kriegerin, sondern zudem auch noch ein Mensch mit vielen lobenswerten Tugenden.“

„Zu viel der Ehre“, brummte Zara. „Tugenden bedeuten mir nichts, ebenso wenig wie Dank oder Ansehen. Ich tat, was erforderlich war, auch wenn ich einiges davon jetzt gern ungeschehen machen würde.“ Sie bedachte Falk mit einem galligen Blick, und der schaute verlegen zu Boden.

Jahn bemerkte die Spannungen zwischen den beiden, ging aber nicht darauf ein. „Wie auch immer“, sagte er, rupfte der Schnepfe ein weiteres Bündel Federn aus und warf sie neben sich auf den Boden. „Ich verdanke Euren Kampfkünsten mein Leben, und ich würde Euch meine Dankbarkeit gern durch mehr zeigen als nur durch bloße Worte. Doch alles Gold, das ich dank Euch noch bei mir trage, ist für einen anderen Zweck bestimmt.“ Er tätschelte den Lederbeutel an seinem Gürtel. Das leise Klimpern der Goldstücke darin klang süß und verlockend, und Falk hob sofort wieder den Blick.

Zara winkte ab. „Ich will dein Gold nicht. Wenn dem so wäre, hätte ich es mir einfach genommen.“

Jahn nickte. „Das ist mir bewusst. Allerdings gibt es für Euch vielleicht einen Weg, es auf ehrbare Weise zu erlangen.“ Jahn hatte das Huhn inzwischen komplett gerupft und griff nach dem Messer, das neben dem Feuer im Boden steckte, um das Tier aufzuschneiden und auszunehmen.

Falk war ganz Ohr. „Wie das?“

„Nun, es hat mich nicht zufällig in diese Gegend verschlagen“, erklärte Jahn bedächtig. „Der Bürgermeister von Moorbruch, dem Ort, aus dem ich stamme, hat mich mit einer wichtigen Aufgabe versehen.“ Er machte eine kleine Pause, um seine Gedanken zu sammeln. Dann fuhr er mit leiser, fast unheilvoller Stimme fort: „Ich bin auf dem Weg nach Hohenwall, um in der Stadt Jäger oder Söldner zu verpflichten, die eine grausame Bestie zur Strecke bringen sollen, die seit mehreren Wochen rings um Moorbruch ihr Unwesen treibt und bereits viele unserer Frauen und Kinder gemordet hat. Immer wieder wurden in den umliegenden Wäldern die verstümmelten Leichen unserer Liebsten gefunden, von jungen Frauen, die keiner Menschenseele je ein Leid getan haben. Wir haben versucht, das Untier auf eigene Faust zur Strecke zu bringen, doch ohne Erfolg, und da wir auch von unserem geliebten König Aarnum auf unser Hilfegesuch bislang keine Antwort erhalten haben, will ich Söldner oder professionelle Jäger verpflichten, die Bestie zu erlegen, bevor sie noch mehr Menschenleben fordert. Dafür ist das Gold bestimmt; wir sind einfache Leute, aber jeder hat gegeben, was er konnte, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Die Menschen in Moorbruch leben in Angst und Schrecken; nach Einbruch der Dunkelheit traut sich kaum jemand mehr nach draußen, so groß ist die Furcht, der Bestie zum Opfer zu fallen. Glaubt mir, Zara, die Menschen würden auf ewig in der Schuld desjenigen stehen, dem es gelingt, der Bestie den Garaus zu machen.“

Zara hatte schweigend Jahns Ausführungen gelauscht. Nun sagte sie: „Ich bin sicher, Ihr werdet in Hohenwall jemanden finden, der Euch helfen kann. Wenn es irgendwo im Land fähige Jäger und Fallensteller gibt, dann dort.“ Jahns betretene Miene verriet, dass das nicht die Antwort war, auf die er gehofft hatte.

„Ja“, sagte er dennoch, „ich denke, Ihr habt Recht. Hoffen wir nur, dass es mir gelingt, dort jemanden zu finden, bevor sich die Bestie ihr nächstes Opfer holt.“ Seine Worte klangen ruhig und gefasst, doch unter der Oberfläche brodelte es. Bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, schnitt Jahn der Schnepfe den Kopf ab und spießte das ausgeweidete Tier auf einen Ast. Ohne Zara anzusehen, hielt er den Stock mit der Schnepfe ins Feuer, drehte diesen bedächtig hin und her und starrte wortlos in die Flammen. Seine Ehre gebot es ihm, zu schweigen und Zara nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, indem er sie bedrängte, den Einwohnern von Moorbruch zu helfen; sie hatte bereits mehr für ihn getan, als er jemals wieder gut machen konnte.

Falk war weit weniger Ehrenmann als der junge Bursche. Er sah Zara eindringlich an. „Also, in meinen Ohren klingt das, als würden die armen Leute von Moorbruch unverzüglich Hilfe brauchen – die Hilfe von jemandem, der selbst weiß, wie man Blut vergießt. Denk doch nur, die armen jungen Frauen, grausam dahingeschlachtet von diesem tollwütigen Tier, und niemand ist da, um diesen bemitleidenswerten, ehrbaren Menschen zur Seite zu stehen.“ Er seufzte schwer. „Manchmal sind die Götter grausam ...“

Zara starrte Falk durchdringend an, der tat, als ginge ihm das Schicksal der Menschen von Moorbruch tatsächlich zu Herzen; sie vermochte nicht zu sagen, ob dem wirklich so war oder ob Falk einfach besser schauspielern als falsch spielen konnte. Sie ließ den Blick von ihm zu Jahn schweifen, der bedächtig die Schnepfe am Stock drehte, tanzende Reflektionen des Feuers in seinen Augen. Die traurige Resignation in seinen Zügen schmerzte Zara mehr als der dumpfe, pochende Schmerz ihrer Wunden. Sie wusste so gut wie nichts über diesen jungen Mann, doch irgendetwas tief in ihr, das sie nicht näher in Worte zu fassen vermochte, sagte ihr, dass sie womöglich die Einzige war, die ihm helfen konnte. Schließlich verdrehte sie gequält die Augen und seufzte laut.

„Wohlan denn“, brummte sie, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte. „Eins sollte dir klar sein: Ich bin kein Jäger, und auch aufs Fallenstellen verstehe ich mich nur bedingt. Ich kann dir und deinen Leuten nichts versprechen, doch wenn du meinst, meine Hilfe ist für euch von Nutzen, dann will ich mit dir nach Moorbruch gehen, um zu tun, was ich kann, um dem Blutvergießen ein Ende zu bereiten.“

Ein Lächeln breitete sich über Jahns Gesicht aus. Wortlos griff er nach dem Lederbeutel mit dem Gold und warf ihn Zara zu. Sie fing den klirrenden Beutel mit einer Hand auf, wog ihn einen Moment lang abschätzend in der Hand und warf ihn dann zu Jahn zurück, der Zara verwirrt anstarrte, ebenso wie Falk, der nicht recht wusste, ob er sich ärgern oder freuen sollte. Freuen darüber, dass Zara sich auf die Sache einließ; ärgern darüber, dass sie das Gold zurückwies.

„Später“, kommentierte Zara, „wenn alles erledigt ist.“

Jahn nickte. „Wann brechen wir auf?“, fragte er. „Bis nach Moorbruch sind es zwei Tagesritte von hier.“

„Wir werden heute Nacht hier rasten und machen uns morgen in aller Frühe auf den Weg“, erklärte Zara. „Wir sollten keine Zeit verlieren.“

Falk klatschte grinsend in die Hände. „Na, dann werden wir der Bestie mal zeigen, wo der Hammer hängt, nicht wahr?“

Zara warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ich kann mich nicht entsinnen, dass irgendjemand dich um deine Hilfe gebeten hätte.“

Falk runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“

„Das bedeutet“, sagte Zara ruhig, „dass sich unsere Wege hier trennen. Nimm eins der Pferde der Wegelagerer und verschwinde. Und gib Acht, dass sich unsere Wege nie wieder kreuzen; es könnte böse für dich enden.“ Sie sagte es ganz ruhig, doch die Drohung, die in ihren Worten mitschwang, war scharf und kalt wie eine Messerklinge.

„Das kannst du nicht machen!“, rief Falk aufgebracht. „Ich habe dir das Leben gerettet! Ohne mich wärst du jetzt tot! Nur wegen mir sind wir überhaupt hier! Ich habe deine Wunden versorgt und über dich gewacht, als du ohnmächtig warst.“

„Ohne dich“, sagte Zara gefährlich ruhig, „wäre ich überhaupt nicht in diesen Schlamassel hineingeraten. Also erwarte nicht zu viel Dankbarkeit.“

„Aber ich kann dir beistehen!“, beharrte Falk. „Ich bin mutig!“

„O ja, ich war Zeugin deines Mutes“, erwiderte Zara spöttisch. „O bitte, tut mir nichts, ich bin doch noch so jung!“, äffte sie Falk mit weinerlicher Fistelstimme nach. Sie schnaubte abfällig, obwohl sie genau wusste, dass sie ungerecht zu ihm war, denn durch seinen – wenn auch nicht besonders klugen – Angriff auf die Räuber hatte er durchaus Mut bewiesen, so schwer es Zara auch fiel, sich das einzugestehen. Doch Falk wusste nicht, wie die Welt dort draußen war; sie musste ihn vor sich selbst schützen. „Du hast gebettelt wie ein Weib. Jeder Ork hat mehr Ehrgefühl und Tapferkeit im Leib.“

„Also, so kannst du das nicht sehen“, widersprach Falk trotzig. „Ich gebe ja zu, dass meine Strategie für Uneingeweihte auf den ersten Blick diesen Eindruck erwecken kann, aber das ist alles eine ausgeklügelte Methode, um den Gegner in Sicherheit zu wiegen und dann zuzuschlagen, wenn er es am wenigsten erwartet. Glaub mir, ich wäre dir eine große Hilfe!“ Er blickte Zara fast flehend an.

Zara bedachte Falk mit einem Blick, der Falk durch Mark und Bein ging; es war, als würde die Schwertkämpferin bis in die Tiefen seiner Seele schauen, auf all die Sünden und Geheimnisse, die er mit sich herumtrug. Dann jedoch seufzte Zara. „Nun, gut. Du kannst mit mir reiten, wenn du willst. Doch ich warne dich: Stell keine Fragen und komm mir nicht in die Quere, sonst bist du einen Kopf kürzer.“

Falks Mundwinkel schnellten nach oben. „Ich wusste doch, dass du ein Herz hast! Jemand, der böse Buben hasst, kann nicht ganz schlecht sein.“ Er sah grinsend zu Jahn. „Ich hoffe, ihr habt bei euch in Moorbruch ordentlich Whiskey eingelagert, denn wenn wir erst mal dort sind, wird es nicht lange dauern, bis es was zu feiern gibt. Wir werden diese Bestie erlegen und sie am Schwanz durch den Ort schleifen, bevor die Woche um ist. Nicht wahr, Zara?“

Doch Zara schwieg. Schon jetzt bereute sie ihre Entscheidung, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Doch sie hatte Jahn ihr Wort gegeben, ihn nach Moorbruch zu begleiten. Da war kein anderer Ort, zu dem es sie ansonsten hinzog, da war niemanden, der irgendwo auf sie wartete. Also war Moorbruch so gut wie jeder andere Ort in Ancaria; nein, sogar besser, denn dort erwartete sie zumindest eine Aufgabe.

Eine Aufgabe ... das war mehr, als sie seit Jahren gehabt hatte, als sie ziellos durch die Lande geirrt war, eine rastlose Wanderin auf der Suche nach etwas, von dem sie nicht einmal genau wusste, was es eigentlich war. Vielleicht hatte das den Ausschlag dafür gegeben, dass sie zugestimmt hatte, Jahn nach Moorbruch zu begleiten – endlich wieder eine Aufgabe zu haben.

Aber tief in ihr gab es noch einen anderen Grund. Einen Grund, den sie sich selbst kaum eingestand.

Es lag lange zurück, dass sie zum letzten Mal einen Menschen getroffen hatte, der Hoffnung und Vertrauen in sie setzte.

Und dass jemand das Gute in ihr sah ...

IX.

Über dem dichten Dach des Waldes streckte die Morgendämmerung ihre ersten zartrosa Finger nach dem Horizont aus, als Falk, Jahn und Zara alles zusammenrafften, was sie im Lager der Wegelagerer an Brauchbarem fanden, sich auf die Pferde schwangen und dem Pfad durch den Wald weiter nach Südosten folgten. Während Zara auf Kjell vorausritt, saßen Falk und Jahn auf zwei Pferden der Wegelagerer; die restlichen Gäule der Banditen führte Falk an einer langen Leine mit sich, die er hinten an seinem Sattel festgebunden hatte. Zara hatte vorgehabt, die Gäule freizulassen, doch Falk vertrat die Ansicht, man wisse nie, wozu drei zusätzliche Reittiere gut sein mochten. Zara nahm an, dass er versuchen würde, die Pferde unterwegs zu Gold zu machen, doch das war seine Sache; solange er sich um die Pferde kümmerte und sie damit nicht behelligte, konnte er ihretwegen einen Pferdehandel aufmachen.

Nach ihrem Gespräch gestern Abend, als Zara sich bereit erklärt hatte, Jahn nach Moorbruch zu begleiten, hatte keiner von ihnen mehr viel gesprochen. Sie hatten schweigend die Schnepfe verzehrt und zugesehen, wie die Nacht immer näher an das Lagerfeuer herangerückt war. Auch jetzt verloren sie keine großen Worte, als sie in aller Herrgottsfrühe die Reise nach Moorbruch antraten. Zaras Wunden taten nicht mehr weh, und auch Jahn hielt sich wacker.

Während sie auf dem Pfad dahinritten, stieg die Sonne langsam höher, und hier und da fielen senkrechte Lichtbalken durch das Blätterdach und zauberten verschlungene Muster auf den Pfad. Leichter Bodennebel waberte, der bei jedem Schritt der Pferde verwirbelte wie Rauch. Selbst die Tiere des Waldes verhielten sich ruhig, und nur von Zeit zu Zeit sah Zara aus dem Augenwinkel, wie ein Eichhörnchen mit aufgestelltem rotem Schwanz einen Baumstamm hinauflief.

Bis zur Mittagszeit trabten sie schweigend dahin; dann ritt Falk nach vorn, schloss zu Zara auf und sagte: „Nun, was meinst du? Sollten wir nicht eine Rast einlegen, um den Pferden eine Verschnaufpause zu gönnen und uns zu stärken?“

Zara warf ihm einen Seitenblick zu. „Wenn du essen willst, iss.“ Sie griff in ihren Beutel und warf ihm und anschließend auch Jahn je ein Stück Brot zu. Jahn fing es geschickt auf und nickte ihr dankbar zu. Gemächlich kauend, eine Hand am Zügel, trabte er auf einem gescheckten Braunen schräg hinter Zara her, bis sich Falk, ebenfalls kauend, neben ihn zurückfallen ließ. Falk schluckte den letzten Bissen Brot hinunter und meinte: „Also, Jahn, jetzt, wo wir unterwegs nach Moorbruch sind, wie sieht es da mit Einzelheiten über die Bestie aus? Ich meine, was weiß man über das Untier?“

„Zumindest, dass es bislang zehn Menschen zerrissen hat“, antwortete Jahn düster, während er wieder mit beiden Händen die Zügel ergriff.

Zara wandte überrascht den Kopf. „Zehn!“

Jahn nickte. „Alles junge Frauen aus Moorbruch und Umgebung“, bestätigte er. „Die älteste zählte einundzwanzig Lenze, die jüngste gerade vierzehn. Das erste Opfer hieß Svenja und verdingte sich als Torfstecherin. Eines Abends ging sie noch einmal ins Moor, um Torf fürs Feuer zu stechen, und kehrte nicht wieder heim. Ihre Familie machte sich große Sorgen, und eine Suchmannschaft durchkämmte in dieser Nacht mit Fackeln und Hunden das umliegende Moor, doch ohne Erfolg. Wir fanden sie erst am nächsten Morgen, steifgefroren und beinahe bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.“ Er verstummte, und seine Mundwinkel zuckten, als er daran dachte. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln und fortzufahren. „Zuerst waren die Einwohner von Moorbruch der Ansicht, ein tollwütiger Wolf habe das Mädchen angefallen, doch seit jenem Tag hat die Bestie alle zwei bis drei Tage ein neues Opfer gefunden, meistens in den Zeiten der Dämmerung. Ich kannte jede von ihnen. Mit zweien habe ich noch am Tag ihres Todes gesprochen, und eine brachte mir nur Stunden vor ihrem Tod noch ein Glas Gurken vorbei. Ihr Name war Katie; ein liebes, unbeschwertes Ding, das nie jemandem etwas getan hat. Sie hat mir immer erzählt, dass sie eines Tages aus Moorbruch fortgehen würde, um als Zofe am Hof des Königs zu dienen. Stattdessen wurde sie ein Opfer dieser grausamen Bestie.“ Er seufzte. „Wer weiß, wen sich das Ungeheuer noch geholt hat in der Zeit meiner Abwesenheit.“ Er verstummte, und sein Blick schweifte sorgenvoll in die Ferne, als er an jene Lieben dachte, die er daheim zurückgelassen hatte.

Zara überließ Jahn einen Moment seinen düsteren Gedanken. Dann sagte sie: „Diese Frauen ... Hatten sie noch mehr gemeinsam als ihr Geschlecht und ihre Jugend?“

Jahn nickte düster. „Die Bestie hat allen das Herz aus dem Leib gerissen.“

„Und hat man die Herzen bei den Opfern gefunden?“

Jahn schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Zehn Opfer“, murmelte Zara. „Alles junge Frauen, denen das Herz herausgerissen wurde ... Das klingt nicht gerade nach einem Tier. Die wenigsten Tiere greifen Menschen an, und dann auch noch grundlos, und auch wenn jedes Tier eine bestimmte Beute bevorzugt, dann sind die Gemeinsamkeiten keineswegs so offensichtlich wie in diesem Fall.“ Sie sah Jahn an. „Woher wisst ihr überhaupt, dass ihr es mit einem Tier zu tun habt?“

„Ein paar Menschen haben die Bestie gesehen“, erklärte Jahn. „Einmal ist ein Jäger dazugekommen, als das Untier gerade sein Opfer zerfleischte, und obwohl die Bestie ein gutes Stück weit weg war und geflohen ist, konnte er sie im Mondlicht gut erkennen. Er sagte, die Bestie sei fast so groß wie ein Mann, mit einem wuchtigen Schädel, riesigen Klauen und einem gewaltigen Maul voller langer, scharfer Zähne. Und die Augen der Kreatur glühten in der Dunkelheit wie Kohlengruben. Der Jäger sagte, dass er noch nie einen so riesigen Wolf gesehen hat, doch andere sind der Meinung, dass es etwas anderes sein muss als ein Wolf, etwas, das uns noch nie untergekommen ist, eine Kreatur, so bösartig, gemein und brutal, dass dagegen selbst der schlimmste tollwütige Wolf ein treues Hündchen ist. Selbst die Alten können sich an nichts erinnern, das mit dem Wüten der Bestie vergleichbar wäre.“ Er hob das letzte Stück Brot zum Mund, doch bevor er es sich zwischen die Zähne steckte, überlegte er es sich anders und ließ es stattdessen in seinem Beutel verschwinden; offenbar war ihm der Appetit bei seinen eigenen Ausführungen vergangen.

Zara konnte es ihm nicht verdenken; das alles klang nicht sehr anheimelnd. „Du sagtest, ihr habt Jagd auf die Bestie gemacht?“

Jahn nickte düster. „Mehrmals. Zweimal haben wir alle Männer von Moorbruch zusammengetrommelt und mit Hunden und Fackeln das gesamte Moor durchstreift, kurz nachdem die Bestie zugeschlagen hatte. Doch obwohl die Hunde ein ums andere Mal eine Spur aufgenommen hatten, verlor sie sich irgendwann, ohne dass wir von der Bestie auch nur ein Haar gesehen hätten. Es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden. Deshalb haben wir auf eine List zurückgegriffen, in der Hoffnung, die Bestie aus ihrem Versteck zu locken.“

„Was habt ihr gemacht?“, wollte Falk wissen. „Euch als Weiber verkleidet?“

Zu seiner Überraschung nickte Jahn. „Mehrere Männer aus Moorbruch haben sich in Frauenkleider und Perücke geworfen und sind in dieser Aufmachung im Moor auf Patrouille gegangen, in der Hoffnung, die Bestie würde sich zeigen und sie angreifen. Doch das Biest ist nicht dumm; es geht mit großem Geschick und Bedacht vor und hat die Falle sofort gewittert. Statt sich auf die Lockvögel zu stürzen, ist die Bestie in dieser Nacht nur einen Steinwurf vom letzten Posten entfernt über ein vierzehnjähriges Mädchen hergefallen, das entgegen aller Vernunft hinausgegangen war, um sich die Sterne anzusehen, die in dieser Nacht so klar waren wie seit Jahrzehnten nicht.“ Seine Stimme wurde hart, als er sagte: „Wir fanden ihren Körper draußen bei den Stallungen, doch ihr Kopf lag dreißig Schritte weiter neben einem Futtertrog.“

Falk schluckte trocken; sein Adamsapfel hüpfte.

„Die Bestie entkam so unbemerkt, wie sie gekommen war“, führ Jahn leise fort, als fiele es ihm schwer, darüber zu sprechen. „Sie ließ kurz nach der Bluttat aber ein unheilvolles Heulen hören, so, als würde sie uns für unsere Naivität verspotten, und vielleicht tat sie sogar recht daran. Denn was wäre gewesen, wenn es uns wirklich gelungen wäre, die Bestie anzulocken? Vermutlich hätte es dann nur noch mehr Tote in Frauenkleidern gegeben. Denn egal, was die Bestie auch ist, sie ist nicht nur groß, mächtig und gerissen, sondern nach allem, was man hört, auch unverwundbar.“

Zara runzelte die Stirn. „Unverwundbar? Wie kommst du darauf?“

„Zwei Männer behaupten unabhängig voneinander, sie wären in den Wäldern zufällig auf die Bestie gestoßen und hätten auf sie geschossen, ebenso wie der Jäger, der dazukam, als die Bestie sein Opfer gerade zerriss. Alle sagen, sie hätten sorgsam gezielt, und jeder schwört, er hätte der Bestie mindestens eine Kugel verpasst, doch das Ungetüm ließ sich davon nicht aufhalten, und wir haben an den Stellen, an denen sich die Zwischenfälle ereigneten, auch keine Blutspuren gefunden oder überhaupt irgendwelche Spuren, die auf die Bestie hingewiesen hätten. Deshalb sind einige auch der Ansicht, diese Kreatur sei nicht von dieser Welt.“

„Es gibt nichts außerhalb dieser Welt“, sagte Zara unheilvoll. „Doch das ist auch gar nicht nötig. Denn glaub mir, das, was in dieser Welt lauert, reicht bereits vollauf, um deine schlimmsten Albträume wahr werden zu lassen.“

„Mein schlimmster Albtraum ist bereits wahr geworden“, entgegnete Jahn mit belegter Stimme. „Die Vierzehnjährige, die die Bestie vor einer Woche am Ortsrand von Moorbruch gemordet hat...“ Er stockte, und seine Stimme klang dünn, als er fortfuhr: „Sie war meine jüngste Schwester. Ihr Name war Myra.“ Er brach ab, um zu verhindern, dass Tränen seine Worte trübten, doch Zara konnte seine Trauer beinahe körperlich spüren. Jetzt verstand sie, warum er so versessen darauf war, die Bestie zur Strecke zu bringen.

Er wollte Rache.

Rache für seine tote Schwester.

Rache für die anderen neun toten jungen Frauen.

Er wollte, dass in Moorbruch wieder die Normalität einkehrte und man sich nicht mehr fürchten musste, aus dem Haus zu gehen; dass Frauen und Kinder wieder sicher waren und das Morden endlich aufhörte. Aber das war noch nicht alles, wurde Zara klar. Da war noch etwas anderes, das sie vorhin schon bemerkt hatte, als Jahns Blick in die Ferne geschweift war, zu jenen, die er daheim zurückgelassen hatte, als er aufbrach, um Hilfe zu holen.

Auf einmal wusste sie, was es war.

„Wie heißt sie?“, fragte sie ungewohnt sanft.

Jahn antwortete nicht sofort. Es dauerte einen Augenblick, bis er seine Ängste soweit in den Griff bekommen hatte, dass er Zara wieder ansehen konnte. „Wanja“, sagte er, und die Art, wie er den Namen aussprach – so voller Gefühl und Hingabe –, machte deutlich, was er für sie empfand. „Wir sind verlobt.“ Voller Stolz hielt er seine linke Hand hoch und zeigte den schlichten Kupferring. „Sobald der Winter vorüber ist, wollen wir heiraten.“

„Ihr wird schon nichts passiert sein“, sagte Falk. „Mach dir keine Sorgen. Wir werden dafür sorgen, dass dieser Spuk so schnell vorüber ist, wie er begonnen hat, und niemand muss mehr sterben. Nicht wahr, Zara?“ Falk warf ihr einen eindringlichen Blick zu, der sie bat, ihm zuzustimmen, einfach, damit Jahn sich besser fühlte.

Doch Zara war keine Freundin von derlei Augenwischereien. Woher sollte sie wissen, ob Wanja wohlaufwar? Jahn war nach eigenem Bekunden bereits seit zwei Tagen fort, und in dieser Zeit konnte alles Mögliche passiert sein.

Alles Mögliche...

Sie ließ Kjell ein paar schnelle Schritte vortraben, um Abstand zu den beiden jungen Männern zu gewinnen. Sie war sich nicht sicher, was sie von alldem halten sollte. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Jahns Geschichte im besten Falle merkwürdig klang, ja, absurd geradezu. Eine Bestie, die eines Tages aus dem Nichts auftaucht, um jungen Frauen das Herz aus der Brust zu reißen ... Ein Wolf, der sich immer dieselbe Art Opfer sucht und seinen verkleideten Häschern wie ein Geist entkommt, um sie zu verhöhnen ... Eine Bestie, der Kugeln nichts anhaben können ... Das klang alles recht seltsam, zumal Zara fast gänzlich ausschließen konnte, dass es sich um einen Wolf handelte, denn wenn sich in dem Gebiet um Moorbruch ein tollwütiger Wolf herumtrieb, dann wäre das Tier inzwischen längst an der Tollwut verendet, spätestens nach zehn Tagen. Doch die Bestie trieb ihr Unwesen schon länger als einen Monat. Das konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder hatten sie es nicht mit einem tollwütigen Wolf zu tun – oder sie hatten es überhaupt nicht mit einem Wolf zu tun!

Aber wenn es kein Wolf war, was war die Bestie dann?

Zwar teilte Zara den Aberglauben nicht, dass es sich bei der Bestie um eine Kreatur aus einer anderen Welt handelte. Doch sie weilte inzwischen lange genug auf Ancarias Boden, um zu wissen, dass es weit mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als sich die Schulweisheit träumen ließ; sie selbst war dafür der beste Beweis.

Sie wurde in ihren Grübeleien unterbrochen, als Falk zu ihr aufschloss. „Was hältst du davon?“, fragte er. „Von dem unverwundbaren riesigen Ungeheuer aus einer anderen Welt? Ich meine, wer glaubt schon an Ungeheuer? Diese Tage sind längst vorbei.“ Vor ein paar Stunden noch hätte er die Frage wohl flapsiger formuliert, doch Zara nahm an, er fürchtete, Jahn könnte ihn hören und zurechtweisen, wenn er sich zu respektlos zu dem Thema äußerte.

Zara warf ihm einen unterkühlten Blick zu. „Bist du dir da so sicher?“

„Naja.“ Falk schob die Unterlippe vor. „Zumindest ist es ein Zeitalter her, dass man zuletzt einen Drachen in Ancaria gesehen hat, und auch die Dunkelelfen haben sich seit einem Jahrtausend nicht mehr blicken lassen. Und abgesehen von dem einen oder anderen Halsabschneider, der mir aus unerfindlichen Gründen an die Gurgel will, weil er meint, ich hätte ihn beim Spielen betrogen, wüsste ich nicht, dass es Ungeheuer gibt.“

„Ungeheuer können vielerlei Form und Gestalt haben“, sagte Zara. „Wer glaubt, dass Ungeheuer wie in Märchen aussehen und auf den ersten Blick zu erkennen sind, ist entweder ein Narr oder schwachsinnig.“ Sie sah Falk herausfordernd an. „Oder beides.“

Falk zog eine Grimasse, sagte jedoch nichts. Beleidigt ließ er sich wieder zurückfallen. Zara führte ihren Hengst weiter durch den Forst, gefolgt von Jahn, der mit düsterer Miene an all das Grauen dachte, das Moorbruch heimgesucht hatte. Vielleicht fragte er sich, was die anständigen, hart arbeitenden Menschen dort getan hatten, um so ein grausiges Schicksal zu verdienen, doch Zara wusste, dass solche Gedanken müßig waren. Leiden kann bloß, wer auch liebt, hatte einmal ein weiser Mann gesagt. Zaras Meinung nach war zu lieben vermutlich die größte Schwäche von allen. Andererseits war die Liebe auch der Quell der Hoffnung, die Saat, aus der alles Gute erwuchs. Ohne Liebe gab es keine Hoffnung, und wenn es keine Hoffnung mehr gab, verschwand die Grenze zwischen Gut und Böse und mit ihr alle Menschlichkeit.

Zara musste es wissen.

Auch dafür war sie der beste Beweis.

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