VI

Die unheildrohende Krümmung der Tentakel des hudlarischen Kindes kündigten O’Mara erneutes Gebrüll an. Mit grimmiger Miene stemmte er sich abermals auf die Ellbogen, um wieder Streicheleinheiten austeilen zu können. Obwohl er von der Sinnlosigkeit seines Unterfangens überzeugt war, mußte man dem Kind wenigstens eine Chance geben. Wollte er seine Behandlung ohne Unterbrechung beenden, brauchte er Zeit, und deshalb mußte er jetzt die Fragen des Monitors ausführlich und zufriedenstellend beantworten, denn sobald das Baby wieder zu schreien anfangen würde, wäre er dazu nicht mehr in der Lage.

„…um Ihnen die Zusammenarbeit ein wenig zu erleichtern, möchte ich zunächst einmal gerne eine Erklärung für Ihren plötzlichen Persönlichkeitswandel von Ihnen hören“, sagte der Major.

„Ich hab mich einfach gelangweilt, weil ich hier nicht genug zu tun hatte“, entgegnete O’Mara. „Vielleicht bin ich dadurch ein wenig aggressiv und auch verbiestert geworden. Aber der Hauptgrund, daß ich mich hier manchmal wie ein Kotzbrocken aufgeführt hab, lag an der Arbeit, die von einem netten Typ gar nicht hätte erledigt werden können. Ich hab viel studiert und halte mich für einen recht guten, praxisbezogenen Psychologen.“

Plötzlich geschah die Katastrophe. Der Ellbogen, auf dem O’Mara sich abstütze, als er gerade nach dem Halteseil griff, rutschte ab, und er wurde aus einer Höhe von einem halben Meter zu Boden geschmettert. Bei drei Ge entsprach dies einem Fall aus über zwei Meter Höhe. Zum Glück trug er einen schweren Anzug mit einem gepolsterten Helm, so daß er nicht das Bewußtsein verlor. Aber er schrie auf und hielt sich beim Fallen instinktiv am Seil fest.

Das war sein Fehler.

Ein Gewicht stürzte herab, das andere schoß zu weit nach oben und schlug krachend gegen die Decke, wobei es den Leichtmetallträger aus seiner Verankerung riß, der es abstützte. Die gesamte Konstruktion begann abzusacken, rutschte heraus und krachte schließlich bei vier Ge auf das Kind herab. In seinem benommenen Zustand konnte O’Mara nur erahnen, mit welcher Wucht das Gewicht auf das Kind herabgestürzt sein mußte. Danach war das Baby jedenfalls völlig still, was ihn verständlicherweise beunruhigte.

„…zum drittenmal“, brüllte der Monitor, „was, zum Teufel, geht dort eigentlich vor?“

O’Mara murmelte irgend etwas vor sich hin, was selbst in seinen eigenen Ohren ziemlich dämlich klang.

Dann mischte sich Caxton wieder ein. „Da ist doch irgendwas faul, und ich wette, es hat etwas mit dem Kind zu tun! Ich mache mich jetzt auf den Weg und werde mal nachsehen.“

„Nein, warten Sie!“ wandte O’Mara verzweifelt ein. „Geben Sie mir noch sechs Stunden.“

„In zehn Minuten bin ich bei Ihnen“, ließ Caxton nicht locker.

„Caxton!“ schrie O’Mara. „Wenn Sie durch meine Luftschleuse kommen, bringen Sie mich um! Ich werde die Innenluke geöffnet und fest verkeilt haben, und wenn Sie die Außenluke öffnen, wird die Luft herausströmen. Glauben Sie mir, dann hat der Major niemanden mehr, den er verhaften kann.“

Plötzlich herrschte Schweigen, dann fragte der Major gefaßt: „Wozu brauchen Sie denn die sechs Stunden?“

O’Mara versuchte den Kopf zu schütteln, um wieder klare Gedanken fassen zu können, aber da sein Schädel jetzt das Dreifache wog, verrenkte er sich lediglich den Hals. Als er sich umsah, fragte er sich selbst, wozu er diese sechs Stunden eigentlich noch brauchte, denn sowohl die Spritzpistole als auch der mit ihr verbundene Wasserbehälter waren durch den von der Decke fallenden Flaschenzug demoliert worden. Also konnte er das Baby weder füttern oder waschen, noch konnte er es unter den herabgestürzten Trümmern überhaupt sehen. Folglich blieb ihm nichts anderes übrig, als sechs Stunden lang auf ein Wunder zu warten.

„Ich mach mich jetzt auf den Weg“, beharrte Caxton.

„Sie bleiben hier, Caxton!“ befahl der Major im höflichen, aber bestimmten Ton. „Ich will der Sache auf den Grund gehen. Sie warten jetzt draußen, bis ich mit O’Mara allein gesprochen hab. Also, O’Mara, schießen Sie los! Was… geht…bei… Ihnen… vor?“

Wieder flach auf dem Rücken liegend, kämpfte O’Mara darum, genug Atem zu bekommen, um ein ausgedehntes Gespräch führen zu können. Er hatte sich entschieden, dem Monitor am besten die ganze Wahrheit zu sagen und ihn dann zu bitten, ihm auf die einzig mögliche Weise zu helfen, durch die das Kind gerettet werden könnte — nämlich ihn sechs Stunden lang allein zu lassen. Aber während O’Mara erzählte, fühlte er sich im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört, und sein Blick war so verschwommen, daß er manchmal selbst nicht sagen konnte, ob seine Augenlider offen oder geschlossen waren. Er sah allerdings, wie jemand dem Major eine Nachricht übergab, die Craythorne aber erst las, als O’Mara zu Ende gesprochen hatte.

„Sie haben leider Pech“, sagte Craythorne schließlich, wobei er kurz so etwas wie Mitleid durchblicken ließ, dann aber wurde seine Stimme wieder strenger. „Normalerweise würde ich mich gezwungen sehen, Ihrem Vorschlag zu folgen und Ihnen die sechs Stunden zu bewilligen. Schließlich haben Sie das Buch und sind deshalb besser unterrichtet als wir. Aber die Lage hat sich in den letzten Minuten schlagartig geändert. Ich bin gerade unterrichtet worden, daß zwei Hudlarer eingetroffen sind, von denen einer Arzt ist. Sie sollten lieber aufgeben, O’Mara. Sie haben wirklich alles versucht, aber jetzt überlassen Sie es bitte den Fachleuten, die Situation zu retten. um des Kindes willen“, fügte er hinzu.

Mittlerweile waren drei Stunden vergangen. Caxton, Waring und O’Mara saßen dem Monitor, der gerade hereingekommen war, am Tisch gegenüber.

„Die nächsten Tage hab ich eine Menge um die Ohren, also lassen Sie uns die Angelegenheit rasch klären“ sagte Craythorne geschäftig. „Zuerst der Unfall. O’Mara, Ihr Fall hängt allein von der Aussage Warings ab. Ihrerseits scheint es da einige sehr fragwürdige Gedankengänge zu geben. Ich hab Warings Zeugenaussage bereits gehört, aber um meine eigene Neugier zu befriedigen, möchte ich gern wissen, was er Ihrer Meinung nach gesagt hat.“

„Er hat meine Aussage bestimmt bestätigt“, sagte O’Mara gleichgültig. „Schließlich hatte er gar keine andere Wahl.“ Er blickte auf seine Hände und mußte immer noch an das schwerkranke Baby denken, das er in seinem Quartier zurückgelassen hatte. Immer wieder versuchte er, sich einzureden, für die Vorkommnisse nicht verantwortlich zu sein, aber tief im Innern spürte er, daß das Kind jetzt wohlauf gewesen wäre, wenn er mehr geistige Flexibilität bewiesen und mit der Druckbehandlung früher begonnen hätte.

„Und warum glauben Sie, daß Waring keine andere Wahl hatte?“ drängte der Monitor.

Caxton saß mit offenem Mund da und wirkte verwirrt. Waring war schon die ganze Zeit O’Maras Blick ausgewichen und errötete jetzt.

„Als ich hierherkam“, begann O’Mara lustlos, „hab ich mich nach einer zweiten Aufgabe umgesehen, um meine Freizeit besser auszufüllen. Dabei kam heraus, daß ich mich an Warings Fersen geheftet hab. Er ist der Grund, weshalb ich hier so verhaßt bin. Auf der anderen Seite war das die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen. Aber um das zu verstehen, müßte ich etwas weiter ausholen.

Wegen des Kernreaktorunfalls“, fuhr O’Mara fort, „standen alle Männer seines Abschnitts tief in Warings Schuld — wahrscheinlich kennen Sie mittlerweile die Einzelheiten. Waring selbst war übel dran. Körperlich war er am Ende. Ihm mußten Spritzen verabreicht werden, um sein Blutbild aufrechtzuerhalten, und physisch war er gerade noch kräftig genug, um an seinem Kontrollpult zu arbeiten. Ansonsten schwelgte er in Selbstmitleid. Seelisch war er ein Wrack. Trotz Pellings Versicherungen, die Spritzen seien nur noch ein paar Monate notwendig, war er davon überzeugt, unter bösartiger Anämie zu leiden. Außerdem hat er trotz gegenteiliger Aussagen des Arztes geglaubt, er sei zeugungsunfähig geworden. Und aus dieser Überzeugung heraus nahm er ein so merkwürdiges Verhalten an, daß man als normaler Mensch eine Gänsehaut bekam — zumal alles nur auf Einbildung beruhte und ihm in dieser Hinsicht überhaupt nichts fehlte. Als ich mitbekam, wo der Hase lang lief, begann ich, ihn bei jeder sich mir bietenden Gelegenheit lächerlich zu machen und hab ihm gnadenlos nachgestellt. Deshalb hatte er meiner Meinung nach gar keine andere Wahl, als meine Darstellung der Ereignisse zu bestätigen — schon aus bloßer Dankbarkeit.“

„Langsam geht mir ein Licht auf“, warf der Major ein. „Aber erzählen Sie bitte weiter.“

„Wie gesagt, die Männer in Warings Umgebung standen tief in seiner Schuld“, fuhr O’Mara fort. „Aber anstatt ihn zu bremsen und sich vernünftig mit ihm zu unterhalten, überhäuften sie ihn mit Mitleid. Sie ließen ihn jeden Streit, jedes Kartenspiel und was sonst noch alles gewinnen und behandelten ihn ganz generell wie einen kleinen Gott. Ich hab da nicht mitgemacht. Jedesmal, wenn er lispelte oder stotterte oder sich sonst wie tölpelhaft aufführte, hab ich ihn gnadenlos heruntergemacht — egal, ob es sich dabei um eine sich selbst eingeredete psychische Behinderung handelte oder um eine körperliche, für die er nichts konnte. Vielleicht bin ich manchmal zu grob mit ihm umgegangen, aber bedenken Sie, daß ich als einzelner einen Schaden ungeschehen machen wollte, der von fünfzig Leuten angerichtet worden war. Natürlich konnte mich Waring auf den Tod nicht ausstehen, aber bei mir wußte er wenigstens immer genau, wo er dran war. Und ich hab ganz schön vom Leder gezogen. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo er es schaffte, mich einmal unterzukriegen, hatte er trotz meines erbitterten Widerstands wirklich gewonnen, und das wußte er — ganz im Gegensatz zu seinen Freunden, die sich von ihm in allem schlagen ließen, wodurch seine vermeintliche Überlegenheit völlig bedeutungslos wurde. Dabei brauchte er aber gerade jemanden, der ihn schikanierte, ihn aber auch als Gleichberechtigten behandelte und keinerlei Zugeständnisse machte. Als dann diese schlimme Geschichte passierte“, schloß O’Mara, „war ich mir ziemlich sicher, er würde — bewußt wie auch unbewußt -

allmählich kapieren, was ich für ihn getan hab, und neben der Tatsache, daß er im Grunde ein anständiger Kerl ist, aus bloßer Dankbarkeit keine Beweise zurückhalten, die meine Unschuld untermauern. Hab ich recht behalten?“

„Ja“, bestätigte der Major. Er hielt kurz inne, um auf Caxton beschwichtigend einzuwirken, der protestierend aufgesprungen war, und fuhr dann fort: „Wobei wir bei dem kleinen FROB wären. Offenbar hat sich Ihr Baby eine der leichten, aber seltenen Krankheiten eingefangen, die nur auf seinem Heimatplaneten erfolgreich behandelt werden können.“ Craythorne grinste plötzlich. „Jedenfalls wurde das bis vor ein paar Stunden von unseren hudlarischen Freunden so angenommen. Jetzt aber haben die beiden verlauten lassen, daß die richtige Behandlung von Ihnen bereits eingeleitet worden ist und sie nur noch ein paar Tage abzuwarten brauchen, bis das Kind wieder völlig gesund sein wird. Aber die beiden sind auch ziemlich sauer auf Sie, O’Mara“, fuhr der Monitor fort. „Die Hudlarer behaupten, Sie hätten irgendein spezielles Gerät zusammengebastelt, um das Kind streicheln und besänftigen zu können. Sie sollen das aber viel öfter getan haben, als es zu wünschen gewesen wäre. Das Baby sei schrecklich verwöhnt und zudem überfüttert, sagen die beiden, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß es derzeit Menschen den Angehörigen seiner eigenen Spezies vorzieht.“

Plötzlich schlug Caxton mit der Faust auf den Tisch.

„Sie werden ihn doch wohl nicht so einfach davonkommen lassen!“ brüllte er mit puterrotem Gesicht. „Waring weiß einfach nicht, was er manchmal sagt.“

„Mister Caxton!“ unterbrach ihn der Major scharf. „Sämtliche uns zur Verfügung stehenden Beweise belegen, daß man Mister O’Mara nichts vorwerfen kann, sowohl was den Unfall angeht als auch die spätere Pflege des Kindes. Trotzdem bin ich mit ihm hier noch nicht fertig. Vielleicht wären Sie beide deshalb jetzt erst einmal so freundlich und gehen hinaus.“

Caxton ließ sich nicht lange bitten und stürmte wütend nach draußen.

Waring folgte ihm gemächlich. Dann drehte er sich an der Tür noch einmal um, warf O’Mara einen druckreifen und drei nicht druckreife Ausdrücke an den Kopf und verschwand schließlich mit einem zufriedenen Grinsen.

Der Major seufzte nur und sagte streng: „O’Mara, Sie haben wieder einmal Ihren Job verloren. Zwar gebe ich in der Regel keine ungebetenen Ratschläge, möchte Sie aber an einige grundlegende Dinge erinnern. In wenigen Wochen wird hier das Personal samt Wartungsingenieuren für dieses Hospital eintreffen, und es wird praktisch aus sämtlichen bekannten Spezies dieser Galaxis zusammengesetzt sein. Meine Aufgabe besteht nun darin, allen bei der Eingewöhnung behilflich zu sein und eventuell auftretende Reibereien gleich im Keim zu ersticken, damit sie letztendlich als Team zusammenarbeiten werden. Bis jetzt gibt es noch keine schriftlich fixierten Verhaltensmaßregeln für dieses Problem, aber meine Vorgesetzten haben mir vor meiner Abreise gesagt, daß es einen guten, praxisorientierten Psychologen mit einer Menge gesundem Menschenverstand erfordere, der sich nicht scheut, hin und wieder ein kalkuliertes Risiko einzugehen. Ich brauche Ihnen gegenüber wohl nicht zu erwähnen, daß zwei solche Psychologen weit mehr erreichen könnten als einer und.“

O’Mara hörte dem Monitor nur mit einem Ohr zu, weil er daran denken mußte, wie Waring ihn beim Hinausgehen angegrinst hatte. Sowohl das Kind als auch Waring waren jetzt auf dem Weg der Besserung, dessen war er sich sicher, und in seinem gegenwärtigen Zustand der Glückseligkeit konnte er niemandem etwas abschlagen. Aber anscheinend hatte der Major seine Geistesabwesenheit falsch gedeutet.

„…verdammt, O’Mara! Ich biete Ihnen einen Job an. Sie gehören und passen hierher! Kapieren Sie das nicht, Mann? Das hier ist ein Hospital, und Sie haben unseren ersten Patienten geheilt.!“

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