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Freds sollte recht behalten.

Aber Arnold war nicht die einzige Ursache für Ärger. Meines Erachtens benahm sich Freds selbst etwas eigenartig. Doch wenn ich an die verschiedenen Schrullen dachte, die er in letzter Zeit an den Tag legte — seine Erklärung, sein Freund Kunga Norbu sei ein Tulku, und nun sein plötzliches Eintreten für die Rettet-Mallorys-Leiche-Kampagne —, konnte ich es mir einfach nicht zusammenreimen. Es ergab keinen Sinn.

Als Freds’ Trupp und meine Trekkinggruppe also am selben Morgen von Pheriche talaufwärts aufbrachen, ging ich eine Weile mit Freds zusammen. Ich wollte ihm einige Fragen stellen. Doch es waren eine Menge Leute auf dem Trail, und es war nicht einfach, einen Augenblick unter vier Augen mit ihm sprechen zu können.

Als Eröffnung sagte ich: »So, jetzt hast du also eine Frau in deinem Team.«

»Ja, Marion ist toll. Sie ist wahrscheinlich die beste Kletterin von uns allen. Und unglaublich stark. Du kennst doch diese Wände in Hallen, die sie in England zum Üben haben?«

»Nein.«

»Na ja, das Wetter ist so schlecht da, und die Kletterer sind so fanatisch, daß sie diese zehn oder zwölf Meter hohen Wände in Turnhallen aufgebaut haben, mit Mörtel überzogen und kleinen Handgriffen.« Er lachte. »Es sieht scheußlich aus — kleine alte Turnhallen mit schlechter Beleuchtung und ohne Heizung, und die ganzen Leute ziehen sich da Betonwände hoch, als sei das eine neue Foltermethode … Auf jeden Fall war ich mal in so einer Halle und hab’ mich zu einem Wettrennen mit Marion überreden lassen, die beiden steilsten Wände hinauf. Die Leute wetteten auf uns, und die Regel besagte, daß einer von uns ganz nach oben mußte, wollten die Leute die Wetteinsätze kassieren. Aber wegen einem Loch in der Decke war die Wand feucht, und ich kam etwa bis zur Hälfte hinauf. Also hatte sie gewonnen, aber wollten die anderen den Wetteinsatz kassieren, mußte sie ganz hinauf. Mit dem Leck war es wirklich unmöglich, aber alle, die auf sie gewettet hatten, riefen ihr zu, sie sollte es versuchen, und so biß sie einfach die Zähne zusammen und fing an, diese Bewegungen zu machen, Mann« — Freds ahmte sie mit der Hand in der Luft nach, während wir marschierten — »und sie machte sie ganz langsam, damit sie nicht runterfiel. Sie hing an den Fingerspitzen und Zehen da oben, und ich schwöre bei Gott, sie muß drei Stunden da gehangen haben. Alle anderen hörten mit dem Klettern auf, um ihr zuzusehen. Ein paar Jungs gingen nach Hause, ein paar baten sie, wieder runterzukommen, ein paar hatten Tränen in den Augen stehen. Schließlich kam sie dann doch noch ganz rauf und kroch zu der Leiter, um wieder runterzukommen, und die Leute haben sie auf die Schulter genommen. Sie hätten sie fast zur Königin gekrönt. Eigentlich ist sie schon Königin, zumindest, was die englischen Kletterer betrifft — wenn die echte käme, und Marion wäre da, würde niemand auf Lisbeth achten.«

Dann drängte sich Arnold zwischen uns und schaute verschwörerisch drein. »Ich halte diesen Mallory-Plan für eine tolle Idee«, flüsterte er uns mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Ich stehe völlig hinter euch, und das wird einen tollen Film geben.«

»Du hast was übersehen«, sagte ich zu ihm.

»Wir besteigen nur den Lingtren«, sagte Freds zu ihm.

Arnold runzelte die Stirn, ließ das Kinn auf die Brust fallen und kaute auf seiner Zigarre. Stirnrunzelnd ging Freds schneller, um seine Gruppe einzuholen, und sie verschwanden bald vor uns außer Sicht. Also hatte ich meine Chance vertan, mit ihm zu sprechen.

Wir kamen zum oberen Ende des Pheriche-Tals, wandten uns nach rechts und stiegen zu einem noch höher gelegenen hinauf. Das war das Tal des Khumbu-Gletschers, einer massiven Eisfläche, bedeckt mit einem Chaos aus grauem Geröll und milchigblauen Schmelzwasserteichen. Wir zogen am Rande des Gletschers entlang und folgten einem Weg über seine Seitenmoräne hinauf nach Lobuche, einem Ort, der aus drei Teehäusern und einem Zeltplatz besteht. Am nächsten Tag marschierten wir talaufwärts nach Gorak Shep.

Nun ist Gorak Shep (›Tote Krähe‹) nicht der Ort, den man auf Plakaten in Reisebüros sieht. Es liegt etwa fünftausendeinhundert Meter hoch, und da oben hat das Pflanzenleben so ziemlich aufgegeben. Der Ort besteht aus zwei zerlumpten kleinen Teehäusern unter einem monströsen Geröllhügel, direkt neben einem grauen Gletscherteich, und sieht alles in allem aus wie die Rückstände einer außergewöhnlich großen Kiesgrube.

Doch Gorak Shep hat Berge. Hohe, schneebedeckte Berge auf allen Seiten. Wie hoch? Nun ja, die Nuptse-Wand erhebt sich zum Beispiel volle zweitausend Meter über Gorak Shep. Wir sahen eine Lawine, die unter ohrenbetäubendem Donnern einen winzigen Teil dieser Wand hinabglitt und etwa doppelt so hoch wie das World Trade Center war und trotzdem winzig wirkte.

Kameras können diesen gewaltigen Anblick niemals einfangen, doch man muß es unwillkürlich versuchen, und meine Gruppe versuchte es in den Tagen, da wir dort kampierten, auf Teufel komm raus. Diejenigen, die gut mit der Höhe fertig wurden, trotteten sogar auf den Gipfel des Kala Pattar (»Schwarzer Hügel«) hinauf, einem beliebten Aussichtspunkt mit hervorragendem Blick auf die Südwestwand des Everest. Am darauffolgenden Tag führten Heather und Laure den größten Teil dieser Leute den Gletscher zum Everest Base Camp hinauf, während sich die anderen von uns ausruhten. Das Everest-Basislager, das das indische Heer am Anfang der Saison aufgebaut hatte, war praktisch ein Zeltdorf wie das unsere, aber auf dem Weg dorthin gibt es einige schöne Eisnadeln und -türme zu sehen, und als die Kunden zurückkamen, machten sie einen zufriedenen Eindruck.

Also war auch ich zufrieden. Niemandem hatte die Höhenkrankheit übermäßig zugesetzt, und wir würden uns am nächsten Morgen auf den Rückweg machen. Ich fühlte mich hervorragend, saß am Spätnachmittag auf dem Hügel über unseren Zelten und tat einfach nichts.

Doch dann kam Laure den Trail vom Base Camp hinabgeeilt, und als er mich sah, kam er direkt zu mir. »George, George«, rief er dabei lauthals.

Als er mich erreicht hatte, stand ich auf. »Was ist los?«

»Ich bleiben sprechen Freunde Träger Indisches Army Base Camp, Freds mich finden, Freds sagen sein Basislager bitte kommen du. Klettern Lho La finden Mann mit Kamera kommen mieten Sherpas fertig mit Freds, sehr schlecht folgen Freds.«

Nun ist Laures Englisch nicht sehr gut, wie Sie vielleicht festgestellt haben. Doch schließlich waren wir alle in seinem Land und sprachen meine Sprache — und für ihn kam Englisch nach Sherpa, Nepalesisch, ein paar Brocken Japanisch und Deutsch. Und wie viele Sprachen sprechen Sie?

Außerdem verstehe ich immer den Kern dessen, was Laure sagt, was man nicht unbedingt von allen Einheimischen behaupten konnte. Also rief ich: »Nein! Arnold folgt ihnen?«

»Ja«, sagte Laure. »Sehr schlimm. Freds sagen kommen bitte holen.«

»Arnold hat ihre Sherpas angeheuert?«

Laure nickte. »Sherpas fertig Träger, Arnold mieten.«

»Verdammt! Wir müssen da raufsteigen und ihn holen!«

»Ja. Sehr schlecht.«

»Wirst du mit mir kommen?«

»Was immer du wollen.«

Ich eilte zu unseren Zelten, um meine Kletterausrüstung zusammenzusuchen, und erzählte Heather, was passiert war. »Wie ist er dorthin gekommen?« fragte sie. »Ich dachte, er sei den ganzen Tag mit dir zusammen gewesen.«

»Mir hat er gesagt, er würde mit dir gehen! Er ist euch wahrscheinlich hinauf gefolgt und dann weitergegangen. Mach dir keine Sorgen, es ist nicht deine Schuld. Führe die Gruppe morgen nach Namche zurück, und wir holen euch dann später ein.« Sie nickte, wirkte aber besorgt.

Laure und ich brachen auf. Selbst bei Laures Tempo erreichten wir Freds’ Basislager erst, als der Mond schon aufgegangen war.

Ihr Lager bestand jetzt nur noch aus einem einzigen Zelt auf einem flachgetretenen Schneestreifen, direkt unter dem steilen Hang des Khumbu-Tals — der Schlucht, die Nepal von Tibet trennt. Wir öffneten den Reißverschluß des Zeltes und weckten Freds und Kunga Norbu.

»Hervorragend!« sagte Freds. »Ich bin froh, daß ihr hier seid! Echt froh!«

»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte ich.

»Na ja, dieser Arnold hat sich anscheinend hier raufgeschlichen.«

»Das weiß ich auch.«

»Und unsere Sherpas waren fertig, und wir hatten sie bezahlt, und ich glaube, er hat sie von der Stelle weg angeheuert. Sie haben jede Menge Kletterausrüstung dabei, und wir ließen Leitseile bis zum Lho La hinauf zurück, und so haben sie uns gefunden. Ich kann dir sagen, daß mir der Mund ziemlich weit aufstand, als sie im Paß auftauchten! Die Engländer wurden wütend und sagten Arnold, er solle wieder hinabsteigen, doch er weigerte sich, und, na ja, wie kann man hier oben jemanden zwingen, etwas zu tun, was er nicht will? Wenn man ihm einfach eins vor den Kopf gibt, hat er vielleicht Schwierigkeiten, wieder hinabzusteigen! Also kehrten Kunga und ich um, um dich zu holen, und wir fanden Laure im Basislager, und er sagte, er würde dich holen, während wir die Stellung hielten.«

»Arnold hat den Lho La bestiegen?« sagte ich erstaunt.

»Ich schätze, er ist ein ziemlich zäher Bursche. Hast du nicht den Film gesehen, den er von der Kajakfahrt den Baltoro hinab drehte? Ein echt radikaler Film, Mann, in der gleichen Kategorie wie Der Mann, der den Everest mit Skiern hinabfuhr, was die Radikalität betrifft. Und er hat auch ein paar andere verrückte Sachen angestellt, ist mit einem Hanggleiter vom Grand Teton geflogen und hat dabei die ganze Zeit gefilmt. Er ist zäher, als er aussieht. Ich glaube, er täuscht nur vor, so ein schlaffer Hollywood-Produzent zu sein, damit man ihn unterschätzt. Auf jeden Fall hat er ein paar ausgezeichnete Sherpas dabei, und mit ihnen und den Leitseilen kam er problemlos hinauf. Und ich glaube, er akklimatisiert sich gut; er ging rum, als sei er auf einem Strand.«

Ich seufzte. »Das nenne ich einen entschlossenen Filmemacher.«

Freds schüttelte den Kopf. »Der Bursche ist ein Parasit. Wenn wir seinen Arsch nicht wieder runterschleppen, wird er die Engländer in den Wahnsinn treiben.«

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