Wolfgang Neuser, Kaiserslautern (Deutschland) Strukturwandel in der posttraditionellen Gesellschaft

Strukturwandel gehört gegenwärtig zu den größten Herausforderungen unserer Gesellschaft, das sind: Wertewandel in der säkularen Gesellschaft, deren religiöse Tradition sich aufzulösen scheint; Globalisierungsprozesse einer Weltwirtschaft, in der sich die Rolle der Nationalstaaten neben weltumspannenden Unternehmen als global players wandelt; moderne Kommunikationstechnik, die das Arbeitsleben in rasantem Tempo verändert; soziale Spannungen und ethisch–religiöse Konflikte, die die nationale und individuelle Sicherheit bedrohen; Produktionsfortschritte, die mit Qualitätsgewinnen und–verlusten im privaten und öffentlichen Leben einhergehen; u.a.

Der gegenwärtige weltweit beobachtbare Strukturwandel muss als die Endphase einer 100–150 Jahre währenden Übergangsphase von einer traditionellen zu einer posttraditionellen Gesellschaft verstanden werden, die sich strukturell ähnlich auch historisch in der Spätantike oder in der Renaissance abgespielt haben und die auch zu ähnlichen Erscheinungen, wie der Auflösung politischer Hegemonialstrukturen (Zerfall des römischen Reichs, Zerfall der Kirchenmacht, Reorganisation Europas in Konkurrenz zu dem USA), Niedergang kultureller Traditionen und ihrer Ersetzung durch andere (Christianisierung statt lokaler Priester, Rationalismus und Empirismus statt Aristotelismus), der Umwertung von ethischen Normen (Betonung der Subjektverantwortung), oder kriegerischen Auseinandersetzungen (Vandaleneinfälle, Bürgerkriege und Terrorismus) geführt haben. Sie haben auch eine strukturähnliche Ursache.

Auch wenn die politisch–gesellschaftlichen Umbrüche auf den ersten Blick der Motor dieses Wandels zu sein scheinen, stellen sie jedoch nur Erscheinungsformen einer Veränderung der Gesellschaft dar, die ihren Grund in der Änderung von Verstehensprozessen in der Gesellschaft haben — wie ich im folgenden zeigen will.

Ich will die Instrumente entwickeln, diese Verstehensprozesse ihrerseits zu verstehen und zu analysieren, um den Strukturwandel und die Auswirkungen des Strukturwandels auf den Wertewandel und die unternehmerische Wertschöpfung begreifen zu können, um eine angemessene Reaktion auf den Strukturwandel konzipieren zu können und um deren Umsetzung im Unternehmenskontext skizzieren zu können.


1. Verstehenssubtitlerozesse der Gesellschaft

In der gegenwärtigen Gesellschaft lässt sich ein Strukturwandel beobachten, dessen Erscheinung von wirtschaftlichen Veränderungen über technologische Veränderungen bis hin zur Annahme eines Alterungsprozesses einer Zivilisation reichen, die aber ihren Grund in der Änderung von Verstehensprozessen der Gesellschaft haben. Diese Veränderungen folgen aus Handlungen, die auf den veränderten Auffassungen davon beruhen, wie und welche wirtschaftliche Zusammenhänge die Gesellschaft prägen, oder wie und welchen technischen Zusammenhänge nützlich für die Gesellschaft sind, oder welchen moralischen Regeln eine Gesellschaft folgen will oder sollte.

Was sind «Verstehensprozesse der Gesellschaft“, die sich ändern? Können nicht nur individuelle Menschen verstehen, sondern ganze Gesellschaften? Sicher geht das Verstehen von Sachverhalten von Individuen aus. Verstehen heißt aber, dass Zusammenhänge begriffen werden und dann mit anderen Menschen kommuniziert werden.

Diese begrifflichen Zusammenhänge, die das Verstehen ausmachen, können nicht beliebig sein; sie müssen einen breiten gesellschaftlichen Konsens anstreben, weil sie nur dann kommunizierbar sind.

Einzelne Begriffe sind normalerweise dabei immer ohne größere Rückwirkungen auf den Konsens wandelbar, weil ihre Veränderung kommuniziert werden kann. Aber das Gros der Begriffe, zumindest aber sehr grundlegende Begriffe, deren Änderungen wertreichende Bedeutung für das Verstehen von Welt hätte, verhalten sich träge gegenüber Veränderungen. Ihre Veränderungen werden von der Community nicht problemlos akzeptiert. Durch diese nur in mittleren Zeitskalen veränderbaren Begriffen, an denen fast alle Mitglied einer Verstehensgemeinschaft teilhaben, kann man so etwas wie Rahmenbedingungen für ein mögliches Verstehen von Welt, das einer Gesellschaft zur Verfügung steht, konstatieren. Da das spezielle Begriffsgefüge, das zur Verfügung steht, das Verstehen in der Gemeinschaft beschränkt, kann und wird nicht jederzeit von einer Gesellschaft jeder mögliche Gedanke gedacht werden, sondern nur die, die im Kontext der in einer Zeit genutzten Begriffsgefüge formulierbar sind.

Jeder Strukturwandel einer Gesellschaft gründet im Wandel der dem Weltverständnis in der Gesellschaft zugrundeliegenden Begriffsgefüge und damit der Handlungen, die aus diesem Weltverständnis abgeleitet werden. So kann man durch eine philosophische Untersuchung den Status des Verstehens einer Gesellschaft konstatieren, indem man die Veränderungen der Begriffe und ihres Kontextes untersucht, nach Gesetzmäßigkeiten forscht, die hinter den Veränderungen der Begriffsgefüge stehen, und dann mögliche zukünftige Entwicklungen der Begriffsgefüge vorhersagen.

Die Gegenstände jeder philosophischen Untersuchung des gesellschaftlichen Wandels sind daher die grundlegenden Begriffe einer Zivilisation, deren Wandel eine tiefgreifende Änderung des Weltverständnisses, der Orientierung in der Welt und der Wertungen des Handelns nach sich zieht. Wenngleich dieser Wandel in den meisten historischen Zeiten kontinuierlich, nur für den aufmerksamen Beobachter merklich ist, und mit geringen Veränderungen geschieht, so gibt es doch immer wieder historisch hervorragende, relativ kurze Zeiträume (100 bis 150 Jahre), in denen akzelerierend Begriffe und damit Weltverständnisse geändert werden und die zu einer weitgehend neuen Sicht der Welt und damit neuen Begriffsgefüge führen. Diesen Wandel bezeichne ich als den Übergang von einer traditionellen Gesellschaft zu einer posttraditionellen Gesellschaft.[7]

Diese posttraditionelle Gesellschaft ist eine transeunte und sehr labile Kulturform, die, wenn sie zu ihrem Ende hin zu einer in sich gefügten stabileren Gesellschaftsform geführt hat, wieder zu einer nun neu gefügten traditionellen Gesellschaft führt.

Wir leben heute in einer solchen posttraditionellen Gesellschaft und ihr Studium kann uns zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Entwicklungsmöglichkeiten auf eine zukünftige traditionelle Gesellschaft hin führen.


2. Was charakterisiert eine traditionelle Gesellschaft?

Der gesellschaftliche Wandel, von dem im folgenden die Rede sein soll, hat sich in der Geschichte des Abendlandes zweimal vollzogen und ist zur Zeit wieder im Gange: Diese historischen posttraditionellen Phasen sind die Spätantike und die Renaissance. Die traditionellen Phasen sind also vom Typ der antiken Gesellschaft, der mittelalterlichen Gesellschaft und der Gesellschaft der Neuzeit.

Traditionelle Gesellschaften wandeln sich demnach durchaus, aber so, dass ihr grundsätzliches Weltverständnis in kleinen Zeiträumen nicht wesentlich geändert wird. Kriegerische, wirtschaftliche Ereignisse und epidemische Krankheiten können in der traditionellen Gesellschaft zu gravierenden soziologischen Verwerfungen führen, sie ändern jedoch nichts an der Stabilität der Begriffsgefüge und daran, dass die Gesellschaft «philosophische Stabilität“ behält.

Stabil ist die traditionelle Gesellschaft, im philosophischen Sinne, weil die Art, wie die Welt erklärt wird, welche Fragen man an die Welt stellt oder welches Wissen man über sie hat, unverändert bleibt, und weil der Erfahrungsraum, die Summe der Erfahrungen, die der Welterklärung zugrunde liegen, über jedem kleineren Wandel unverändert bleiben und deshalb auch das Handeln der Einzelnen und der Gesellschaft in einem ähnlichen Rahmen verbleibt.

Unverändert bleibt dies, weil die grundlegenden Begriffe unverändert bleiben, und dies geschieht, weil das Gefüge von Welterklärung und Erfahrung sowie Handeln konsistent bleibt und keine nennenswerten Widersprüche oder Unentscheidbarkeiten im Handeln auf Grund der Erklärung der Erfahrung auftreten. Die Menschen empfinden ihr Verhalten dann als nicht mit ihrem Wissen konfligierend.

Insofern existiert ein stiller und nicht abgesprochener Konsens. Im Rahmen einer geringfügigen Variabilität sind Handlungen konsent, oder es ist wenigstens konsent, dass und welche Handlungen auf keinen Fall akzeptiert werden sollen. Veränderungen im Verständnis sind in das bestehende Begriffsgefüge integrierbar. Im allgemeinen herrscht in der traditionellen Gesellschaft keine Uneinigkeit über Bewertungen oder Werte.

Mit dem sehr weitgehenden homogenen Verständnis von Welt geht damit eine weitgehende Übereinstimmung von Werten, Normen und deren Begründung bzw. Rechtfertigung einher. Die traditionelle Gesellschaft tradiert ihre Kultur über mehrere Generationen unverändert; Begrifflichkeiten, Werte und Normenbegründung wandeln sich außerordentlich langsam und sind deshalb über große Zeiträume weitgehend stabil. Ja, die Stabilität von Begriffen und Werten ist selbst ein Wert der traditionellen Gesellschaft.

Auch in der traditionellen Gesellschaft werden Beobachtungen, Entdeckungen und Erfahrungen gemacht, die über den überlieferten Erfahrungsraum hinausgehen. Solange sie durch geringfügige Änderungen von Begriffen integriert werden können und auf die Änderung einzelner Begriffe beschränkt bleiben, wird dies die traditionelle Gesellschaft nicht ändern. Zu ihrem zeitlichen Ende hin treten aber in der traditionellen Gesellschaft Änderungen auf, wenn grundlegende Begriffe geändert werden und in der Folge davon zunehmend weitere Begriffe geändert werden müssen, um eine innere Konsistenz der Erklärungen des Erfahrungsraumes zu erreichen. Dann wandeln sich auch Normen. Insbesondere gilt es dann nicht mehr als akzeptabel, Begriffe, Werte und Normen stabil zu halten. Stabilität — im philosophischen Sinne — gilt nun nicht als ein wünschenswerter Wert. «Änderung“ wird mehr und mehr zu einem angestrebten Wert. Das scheint unmittelbar plausibel, weil dann, wenn neue Erfahrungen oder neue Erweiterungen des Erfahrungsraumes zwingen, auch die erklärenden Begriffe und die bewertenden Normen zu ändern, und insbesondere, wenn die Begriffe, die von den bereits geänderten grundlegenden Begriffen nachrangig abhängig sind, ihrerseits geändert werden müssen, um Inkonsistenzen der Erklärung zu vermeiden, dann liegt das einzige stabilisierende Verhalten der Verstehensgemeinschaft Nachkorrigieren und Ändern von Begriffen und Werten: Das «Ändern“ und die «Bereitschaft zum Umdenken“ werden stabilisierende Werte. Dann aber befinden wir uns bereits auf dem Weg zu einer «posttraditionellen Gesellschaft“.


3. Was charakterisiert die subtitleosttraditionelle Gesellschaft?

Die posttraditionelle Gesellschaft ist – philosophisch gesehen – eine Kulturform, die in einem engen Zeitraum von wenigen (100–150) Jahren die vollständige Umstellung eines Erklärungskonzeptes von Welt vollzieht – und zwar für alle Existenzbereiche, die als erklärenswert angesehen werden. Dabei wird auf einen Teilbereich des bisherigen Erfahrungsraumes verzichtet, und es bleiben Phänomene, die man zuvor mit dem alten Erklärungskonzept erklären konnte, unerklärt. Das neue Erklärungskonzept einer zukünftigen traditionellen Gesellschaft wird in der posttraditionellen Gesellschaft vorbereitet, und die Zeit der posttraditionellen Gesellschaft markiert den Übergang von einem früheren zu einem vollständig neuen Erklärungskonzept.

Es ist die Aufgabe der posttraditionellen Gesellschaft, die in Inkonsistenz geratenen Erklärungskonzepte für die vorhandenen Erfahrungen in einen neuen stabilen Zustand, d.h. zu neuen Erklärungskonzepten zu führen.

Damit ist die posttraditionelle Gesellschaft davon geprägt, dass kein einheitliches Erklärungskonzept akzeptiert wird, wohl aber eine Vielzahl von Versuchen, Konsistenz zwischen Erklärung und Erfahrungen zu schaffen, nebeneinander existieren.

Es ist deshalb auch eine größere Toleranz gegenüber ausgefallenen Konzepten notwendig und üblich. Damit geht einher, dass es nur einen geringen Konsens über allgemein gültige Erklärungen und Werte gibt. Wenn es ihn gibt, dann nur in soziologisch umschreibbaren engen Gruppen. Nur für wenige Fragestellungen haben diese Gruppen eine Identität. Die übrigen Erklärungen und Werte werden von den einzelnen Mitgliedern einer Verstehensgemeinschaft in der posttraditionellen Gesellschaft nicht immer als konsistent erlebt. Begriffe und damit die Erklärungskonzepte wandeln sich ständig. Bildungssysteme können bereits während ihrer Entwicklung und Modifikation veralten. Der Begriffs–und Wertewandel akzeleriert.

Die Tradierung von Wissen und Bildung wird nicht mehr über mehrere Generationen geführt, sondern kann sich punktuell in der gleichen Generation zu unterschiedlichen, ja sich ausschließenden Konzepten wandeln.

Wenn die posttraditionelle Gesellschaft zu konsistenten für alle Erfahrungsbereiche konvergenten Erklärungen und Begriffen kommt, führt sie vorwärts in eine traditionelle Gesellschaft, die sich aber grundlegend von derjenigen unterscheidet, von der diese posttraditionelle Gesellschaft startete.


4. Was bewirkt den Wandel? Was macht den Strukturwandel aus?

Die Kultur einer Gesellschaft ist wesentlich davon getragen, wie Erfahrungen, deren theoretische Erklärung und das daraus folgende Handeln miteinander verbunden werden.

Dem Alltagsleben, wie auch der Wissenschaft, sowohl den Geistes–als auch den Naturwissenschaften, liegt ein Beziehungsgeflecht von Erfahrung, Erklärung und Handeln zu Grunde, die sich nicht einzeln konstituieren, sondern immer nur in ihrem Verbund sind, was sie sind. Durch Handeln erwerben wir Erfahrungen, die nur deshalb, weil wir ihnen – implizit oder explizit – eine Erklärung zugrunde legen, erfahrbar sind. Erfahrungen aber gehen auch jeder Handlung voraus, die wir nur vollziehen, weil wir aus unserer bisherigen Erfahrung und deren theoretischer Erklärung erwarten dürfen, dass sie zukünftig ein bestimmtes Resultat bewirken. Die theoretischen Erklärungen müssen jeder Handlung vorausgehen, damit wir das Handlungsresultat überhaupt als Resultat unserer Handlung und damit als Grundlage und Prognoseinstrument für weitere Handlungen verstehen können. Das Zusammenwirken konsistenter Handlung, Begriffen und Erfahrung, die immer zugleich auftreten, ist grundlegend für jede menschliche Existenz. Vorausgesetzt wird dabei nicht, dass die Konsistenzüberlegungen bei jeder Handlung im einzelnen rational vollzogen werden, vielmehr gilt für die alltäglichen Handlungen, dass sie routiniert über eingefahrene Schemata ablaufen. Fast immer verhalten wir uns, wie wir uns verhalten, weil wir uns in vergleichbaren Situationen schon immer so verhalten. Wir können dieses Verhalten ex post erklären und eine Konsistenz sowohl mit den übrigen Erklärungskonzepten, den Begriffen, die wir haben, feststellen, als auch mit den übrigen Erfahrungen, die uns präsent sind und deren Erklärung die Kohärenz unserer Handlungen überprüfbar macht.

Das, was die kohärenten Einzelelemente unseres Wissens sind, macht kontinuierliche Räume aus: den Erfahrungsraum, den Handlungsraum und das Gefüge der zu Theorien verdichteten Begriffe. Während jeder ihrer Handlungen freilich überprüfen Individuen implizit ihre Schemata und verändern sie geringfügig. Dies geschieht, wenn unser Erfahrungsraum erweitert wird. Wenn wir häufiger Erfahrungen machen, die uns so bislang nicht bekannt sind, suchen wir nach neuen Erklärungen, um mögliche zukünftige Handlungen vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen absehbar zu machen. Wir erweitern unseren Erfahrungsraum. Zunächst sucht man in dem bestehenden Wissensbestand, ob für diese Erfahrungen bereits von anderen Individuen der Verstehensgemeinschaft Erklärungen (Begriffe) bekannt sind. Wenn dies nicht der Fall ist, wird für die Erfahrung, wegen der möglichen sich daraus ergebenden Handlungen von Individuen, eine neue Erklärung oder neue Begriffe gesucht. Wenn darüber hinaus diese den Kulturträgern der Gesellschaft interessant genug erscheint, dürfen wir erwarten, dass diese veränderten Erklärungen hinreichend in der Gesellschaft kommuniziert werden und zum Allgemeingut werden. Die «Gesellschaft“ hat wieder etwas neu verstanden. Dies kann aus allen Kulturbereichen heraus geschehen und in allen Kulturbereichen beginnen. Dieser Wandel zählt zu dem Alltagsgeschäft des Versehens in der traditionellen Gesellschaft.

Geringfügige Änderungen verträgt das Erklärungssystem, d.h. das Gefüge von Begriffen und Theorien, ohne dass es als ein neues Erklärungskonzept erscheint, denn Modifikationen von Bedeutungen und Bewertungen sind Teil des aktiven Verstehens. Begriffe, und das sind die Elemente der Erklärungskonzepte, sind – in Grenzen – bedeutungsunscharf ausgelegt. Mit jedem Begriff denken wir eine explizite Bedeutung und einen impliziten Bedeutungsgehalt. Die explizite Bedeutung bezeichnet den gedachten Sachverhalt. Der implizite (oder latente) Bedeutungsgehalt enthält Hinweise auf Konnotationen, Kontexte, und Verwendungsmöglichkeiten, unter denen wir die Begriffe konsistent mit der Erfahrung und anderen Begriffen nutzen dürfen. Auch eine Bewertung wird mit dem Begriff verbunden: Unter dieser Werthaltung assoziieren wir den Rang des Begriffs in der Begriffshierarchie der Erklärungen und auch die Wertigkeit, die die Erklärung für eine mögliche Handlung aufgrund der in diesem Begriff enthaltenen Konsequenz hat.[8]

Alle drei Aspekte, die explizite Bedeutung, der implizite Bedeutungsgehalt und die Werthaltung haben wir auf einen Schlag vor unserem Denken, wenn wir Schemata, die auf dem oder den Begriffen beruhen, bei einer Handlung folgen. Dabei erlauben die Begriffe geringe Bedeutungsverschiebungen, deren Grenzen durch den impliziten Bedeutungsgehalt (Kontext, Konnotation) gegeben werden. Wir können und werden wegen dieser Zusammenhänge Handlungen aufgrund von Ähnlichkeiten zu früheren Handlungen ausführen, weil unsere Erklärungskonzepte auf diese zuvor unbekannten Ähnlichkeiten hin orientiert sind. Die Grenzen der Ähnlichkeitsbestimmung werden durch den impliziten Bedeutungsgehalt der Begriffe gegeben.

Mit einem Wandel des Erfahrungsraumes muss daher ein Wandel der Handlungen und der Begriffe einher gehen. Dies ist der Verstehensprozess in der traditionellen Gesellschaft. Dieser «normale“ Wandel von Erfahrungsraum, Handlungsraum und Begriffsgefüge unter dem alltäglichen Verstehen wird in der traditionellen Gesellschaft über viele Jahrhunderte ablaufen, um Neues handhabbar zu machen.

Erst wenn die Erfahrungen, die man macht, überhaupt nicht mehr im bestehenden Begriffsgefüge erklärbar sind, und damit Handlungen eher einem Wunder ähneln, als einem absehbaren Vollzug absehbarer Folgen, dann bedarf es der Änderung grundlegender Begriffe und grundlegender Erklärungskonzepte. Dies hat dann möglicherweise zur Folge, dass alle oder fast alle Begriffe geändert werden müssen. Das hat dann auch zur Folge, dass der Erfahrungsraum einer Gesellschaft sich verschiebt. Manches, was bislang erklärbar war, ist dann mit dem neuen Begriffsgefüge nicht mehr erklärbar, was allerdings nicht bedauert wird, weil man diese (alten) Erfahrungen auch nicht mehr erklären will. Der Erfahrungsraum und der Handlungsraum sind eben völlig verändert. Dieser akzelerierende Wandel von Begriffen und Werten führt zu einer Vielzahl von Erklärungsversuchen, die aber der Konsistenz–und Kohärenzforderung von Handlung und Erfahrungsraum auf die Dauer nicht alle stand halten können. Die Phase, in der dieser akzelerierende Wandel vollzogen wird, ist die Phase einer posttraditionellen Gesellschaft. Sie beginnt mit einer Zunahme der Geschwindigkeit des im übrigen unproblematischen Wandels von Erfahrungsraum, Handlungsraum und deren Erklärungskonzepte den Begriffsgefügen. Die posttraditionelle Phase endet mit einem neuen kohärenten und konsistenten Gefüge von Erfahrungsraum, Handlungsraum und Begriffsgefügen. Sie führt dann zu einer neuen traditionellen Gesellschaft, die den vorherigen traditionellen Gesellschaften nicht mehr ähnelt.


5. Was können wir für den Wertewandel in der subtitleosttraditionellen Gesellschaft daraus schließen?

Unser zentrales Instrument zur Beschreibung des Strukturwandels in der philosophisch erfassten posttraditionellen Gesellschaft ist für den Philosophen der Begriff, der für einen Augenblick das Gefüge aus Erfahrung, Handeln und Erklären festhält. Auf ihm beruht unser Wissen und aus ihm folgt unser Handeln, wie er seinerseits auf unserem Vorwissen und unserem früheren Handeln beruht. Mit unserem Handeln verbinden wir Wertungen, die wir entweder unmittelbar mit diesem Handeln verbinden, oder die wir in der Reflexion mit einem möglichen und projektierten Handeln verbinden wollen. Unter Umständen ist uns unmittelbar einleuchtend, eine Handlung zu begehen oder zu unterlassen. Unter Umständen wird uns dies aber auch erst nach einer längeren und ausführlicheren Reflexion oder auch Kommunikation einleuchtend und erstrebenswert. Sowohl bei unmittelbarer als auch bei mittelbarer Adaptation von Bewertungen mit Handlungen oder Handlungsfolgen verbinden wir die Werte mit Schemata, die unser Handeln steuern. Mit den einzelnen Begriffen, auf denen Schemata beruhen, verbinden wir ja Werthaltungen. Selbst wenn wir auf Grund einer Gesinnungsethik unsere moralischen Maßstäbe entwickeln, kann das doch nur geschehen, weil diese Wertmaßstäbe im Kontext mit unserem Weltverständnis fest mit Schemata verbunden. Sie sind Teil unserer Begriffe, die unseren Erfahrungsraum erklären und unser Handeln steuern. Mit dem Begriff verbinden wir einen expliziten Bedeutungsgehalt, der uns eine Zuordnung an einen materialen Referenten markiert, einen impliziten Bedeutungsgehalt, der uns sagt, welche Kontexte mit dem expliziten Bedeutungsgehalt gemeint sind oder gemeint sein können. Der Kontext referenziert auf eine Abstraktionsgeschichte des Begriffs, insofern bei Begriffen zunächst unmittelbare Handlungszusammenhänge gemeint sind, und dann in einer Anwendungsgeschichte Übertragungen dieser Zusammenhänge vorgenommen werden, wobei der Begriff von dem ursprünglichen Kontext abstrahieren mag. Damit verbunden liegt im Begriff, eine Werthaltung vor. Diese Werthaltung kann an den ursprünglichen Erklärungskontext gebunden sein, oder auch an eine spätere Verwendungsgeschichte des Begriffs. Die Werthaltung mag an den expliziten oder den impliziten Bedeutungsgehalt gebunden sein; sie mag bei einem bestimmten Begriff veränderbar oder unveränderbar sein. In jedem Fall sind alle Begriffe emotiv über diese Werthaltung gebunden. Je stärker die Werthaltung an einen expliziten Bedeutungsgehalt gebunden ist, um so weniger ist der Begriff veränderbar und umso folgenschwerer für das gesamte Weltbild einer Gesellschaft sind Änderungen an diesem Begriff, dessen expliziter Bedeutungsgehalt unmittelbar mit einer Werthaltung verbunden ist.

In der philosophisch als traditionell aufgefassten Gesellschaft sind die Wertungen in hohem Maße feststehend und auch an bestimmte Bedeutungsgehalte gebunden. Verschiebungen der Wertungen finden selten statt. Ethische Normen, nach denen sich unsere moralischen Maßstäbe, d.h. unsere Regeln für unser Handeln orientieren, sind fest mit den Schemata verbunden. Die posttraditionelle Gesellschaft wird dadurch charakterisiert, dass der Wandel von Bedeutungsgehalten und Werthaltungen von Begriffen nicht in großen Zeitskalen geschieht, wie in der traditionellen Gesellschaft, sondern akzelerierend erfolgt – und zwar so schnell, dass eine langfristige Gültigkeit von Werten und Bedeutungsgehalten von Begriffen nicht mehr erlebt wird.

Normen kollabieren unter diesen Bedingungen schließlich rasch; niemand vermag sie mehr als dauerhaft geltend und bindend zu erleben. Da aber ohne Werthaltung niemand verstehen und niemand handeln kann, werden individuelle Substitute für die begrifflichen Werthaltungen gesetzt, für die ein gesellschaftlicher Konsens aber nicht erreicht werden kann. Dies hat meist auch soziale Verwerfungen in der Gesellschaft zur Folge.

Da in der posttraditionellen Gesellschaft die Dynamik und der Wandel selbst zu einem Wert wird, wird es sogar dazu kommen, dass der Wertewandel als ein Wert angesehen wird: Der Tabubruch wird zum Wert der posttraditionellen Gesellschaft. Die Kultur, die zuvor Träger einer konsenten Erklärung und Bewertung in der traditionellen Gesellschaft war, wird nun in der posttraditionellen Gesellschaft davon geprägt, dass sie im Tabubruch die Geltung noch bestehender und u. U. nicht mehr kohärenter Werte bewusst macht und einer expliziten Reflexion unterzieht — wie Filmindustrie und Literatur heute augenfällig machen. Die technischen und naturwissenschaftlichen Neuerungen, die auch mit dem Begriffswandel in der posttraditionellen Gesellschaft einhergehen, haben zusätzlich zur Folge, dass Wertsetzungen und Werthaltungen mit den (neuen) Begrifflichkeiten des veränderten Erfahrungsraums kollidieren. Die Anwendung von ansonsten akzeptierten ethischen Normen wird dann zu einem Problem, wie wir z. B. in der Medizin und der Gen–und Biotechnologie heute erleben.


6. Welche Aufgaben ergeben sich daraus für eine Ethik?

Die Ethik ist die wissenschaftliche Disziplin, die die methodischen Instrumentarien zur Verfügung stellen, um einer Gesellschaft rationale moralische Kriterien an die Hand zu geben. Die Ethik entwickelt als wissenschaftliche Disziplin Normen des Verhaltens und begründet diese Normen und spezifiziert deren Beziehungen untereinander. Ethik überprüft und schafft Konsistenz unter den Normen. Die geschriebenen und ungeschriebenen Kodizes (Recht und Moral) müssen widerspruchsfrei anwendbar sein, wenn sie Handlungen leiten sollen. Die darin liegenden Beziehungen zwischen Normen im Bereich von Sitte, Sittlichkeit und Moral auf der einen Seite und des Rechts auf der anderen Seite sind in der späten oder alten traditionellen Gesellschaft in aller Regel kohärent und widerspruchsfrei. Dort, wo sie es nicht sind, wird nachkorrigiert werden, damit das intuitive Rechtsempfinden in Gleichklang mit der Moral kommt. Die wissenschaftliche Disziplin, die in der traditionellen Gesellschaft diese Kohärenz der religiösen oder weltanschaulichen Normen in aller Regel zeigt und sicherstellt, ist die Ethik. Ihre Aufgabe beschränkt sich auf die Prüfung der Kohärenz der Normen. Die weitgehend konsenten Normen müssen nicht geschaffen werden, sondern allenfalls explizit dargestellt werden. Als konsente Normen erscheinen sie aber in der traditionellen Gesellschaft als weitgehend unveränderbar und nicht hintergehbar.

In der posttraditionellen Gesellschaft fehlen fast immer in großem Maße die Normen selbst. Jetzt wird die Begründung und Schaffung von Normen zur zentralen Aufgabe der Ethik. Die ethische Herausforderung liegt in der posttraditionellen Gesellschaft, darin, dass der Wandel der Werte, die Normverletzung, der Tabubruch, nun zum Wert wird, und Normen allenfalls zeitweilig Geltung gewinnen, sofern sie begründet werden können. Die Ethik hat also in der posttraditionellen Gesellschaft neben der Prüfung der Normenkohärenz zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Kodizes die Aufgabe, Normen selbst zu entwickeln und zu begründen.

Im Bereich der Wirtschaft ist diese Struktur der posttraditionellen Gesellschaft u. a. als Akzeptanzproblem in vielfältiger Weise virulent: Lebenslanges Lernen ist erforderlich, um dem Wandel der wissenschaftlich–technischen, organisatorischen Normen bis hin zu den kommunikativen Normen bewältigen zu können; und die Diskussion um Globalisierung, Wirtschaftsstandort und Sozialversicherungsstandards sind «Verstehensprozesse einer Gesellschaft“ im Kontext von Werthaltungen. So werden sie Gegenstand der Untersuchungen der Ethik. Um ihre Begründung und Schaffung bemüht sich in der posttraditionellen Gesellschaft die Ethik. Bei allem Normenwandel bleiben diese Verstehensprozesse selbst innerhalb philosophisch begründeter Begriffsrahmen — im Sinne unserer obigen Darstellung — rational verankert. Deshalb bietet die Wirtschaftsethik eine Chance: Ein Unternehmen kann — bei aller gesellschaftlich gebotenen Flexibilität — damit eine Stabilität hinsichtlich der Verbindlichkeit der individuellen und kollektiven Handlungen trotz des Fehlens eines allgemeinen Normenkonsenses erreichen, indem es sein eigenes Wertesystem individuell in der posttraditionellen Gesellschaft formuliert und seinen Partnern gegenüber garantiert. Dieses System von Werten muss eine Reihe nicht leicht zu erreichender Bedingungen erfüllen: Der zu erwartende Wertewandel muss so antizipiert werden, dass das Wertesystem nicht schon überholt ist, wenn es im Unternehmen konsent eingeführt ist. Gleichzeitig muss es verbindlich sein. Da der Konsens über die Werte in der posttraditionellen Gesellschaft nicht trivialerweise zu erlangen ist, muss eine Beteiligung aller Betroffenen bei der Formulierung der Werte sichergestellt sein, ohne die Funktion der Werte in den Handlungsfolgen aus dem Auge zu verlieren. Die Kohärenz der Werte, auch mit den nationalen und internationalen Rechtssystemen, sowie den Handlungsräumen der Mitbewerber muss bedacht sein.

Um dies alles zu erreichen, entwickelt die Philosophie die angemessenen methodischen Instrumente.


Філософія. Культура. Життя.

Вип. 22, Дніпропетровськ, 2003.


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