Zweiter Teil DEZEMBER

Ach, Geliebte, laß uns doch ehrlich zueinander sein!

Diese Welt, die wie ein Land von Träumen vor uns liegt,

so vielfältig, so neuartig und schön,

hat doch keine Liebe für uns, keine Freude und kein Licht,

keine Gewißheit, keinen Frieden und keinen Trost für unser Leid.

Wir sind wie auf einer finsteren Ebene,

heimgesucht von verwirrten Armeen in Kampf und Flucht,

Armeen, die bei Nacht blind aufeinanderstoßen.

MATTHEW ARNOLD

Dover Beach

5. Dezember 1973

Er trank seinen Privatdrink, Seven-up und Southern Comfort, und sah sich eine Fernsehsendung an, deren Titel er vergessen hatte. Der Held war entweder ein V-Mann oder ein Privatdetektiv. Er hatte gerade eins über den Schädel gekriegt. Auf diese Art kam der V-Mann (oder Privatdetektiv) auf die Idee, daß er einer heißen Sache auf der Spur sei. Bevor er aber sagen konnte, um was es ging, wurde er von der Reklame unterbrochen. Der Reklamemensch stellte eine synthetische Bratensoße vor, die man nur mit warmem Wasser mischen mußte. Er fragte das Fernsehpublikum, ob die Masse in der roten Schüssel nicht genau wie Bratensoße aussähe. Barton George Dawes fand, daß sie eher wie Durchfall aussähe, den jemand in einen roten Hundenapf geschissen hätte. Dann ging der Film weiter. Der Privatdetektiv (oder V-Mann) fragte einen schwarzen Barkeeper aus, der eine Latte von Vorstrafen hatte. Der Barkeeper sagte hau ab. Der Barkeeper sagte verpiß dich. Der Barkeeper nannte ihn einen Idioten.

Es war ein sehr salopper Barkeeper. Aber Barton George Dawes dachte, na gut, so hat der Privatdetektiv (oder V-Mann) wenigstens seinen Auftritt gehabt.

Er war ziemlich betrunken und saß nur in seiner Unterhose vor dem Fernseher. Im Haus war es sehr warm. Er hatte den Thermostat auf 28° hochgedreht, als Mary ihn verlassen hatte, und da war er seitdem geblieben. Energiekrise? Was für eine Energiekrise? Ich scheiß’ auf dich, Dick. Und auf das Pferd, auf dem du immer angeritten kommst. Und ich scheiß’ auch auf Checkers. Nachdem er auf die Autobahn eingebogen war, hatte er den Wagen auf hundert beschleunigt und allen Autofahrern, die ihn angehupt hatten, damit er langsamer fahre, bedeutet, sie sollten ihn sonstwo lecken. Die vom Präsidenten eingesetzte Verbraucherexpertin, eine Frau, die aussah, als wäre sie in den dreißiger Jahren einer von diesen Kinderstars gewesen, bevor sie sich in eine hermaphroditische Politikerin verwandelt hatte, war vor zwei Abenden im Fernsehen erschienen und hatte über die Möglichkeiten!! gesprochen. DU & ICH können überall im Haus Elektrizität sparen!! Sie hieß Virginia Knauer und machte unheimlich viel Getue um die verschiedenen Möglichkeiten, wie DU & ICH Energie sparen könnten, denn die Krise sei ein schreckliches Unglück und wir seien alle davon betroffen. Als ihr Auftritt vorbei war, war er sofort in die Küche gegangen und hatte den elektrischen Mixer angestellt, denn Mrs. Knauer hatte gesagt, daß Küchenmixer die zweitgrößten Stromverschwender von allen Kleingeräten seien. Er hatte den Mixer die ganze Nacht laufen lassen, und als er am nächsten Morgen aufgewacht war - das war gestern morgen gewesen -, war der Motor durchgebrannt. Die größten Stromverschwender waren nach Mrs. Knauer diese kleinen elektrischen Heizgeräte. Leider hatte er keines, aber er spielte mit dem Gedanken, sich extra eines zu besorgen, damit er es Tag und Nacht laufen lassen könnte, bis auch da der Motor durchbrannte. Vielleicht verbrannte der ihn gleich mit, wenn er betrunken genug war, um die Besinnung zu verlieren. Das würde diesem ganzen unglückseligen Selbstmitleidtheater endlich ein Ende bereiten.

Er goß sich noch einen Drink ein und verfiel in ein trauriges Brüten über die alten Fernsehprogramme, die damals gelaufen waren, als er und Mary noch jungverheiratet waren und sich eine brandneue RCA-Fernsehtruhe geleistet hatten-der gute alte Schwarzweißfernseher. Da hatte es noch was zu glotzen gegeben. Das Jack Benny Program zum Beispiel, oder Amos and Andy, die beiden originellen, schlitzohrigen Nigger. Da gab es noch Dragnet, das originale Dragnet mit Ben Alexander als Joe Fridays Partner und nicht mit diesem neuen Typ, diesem Harry sonstwie. Da hatte es noch High-way Patrol gegeben mit Broderick Crawf ord, der in sein Auto-mikrophon brummte, und alle Leute waren in den alten Buicks herumgefahren, die mit den Bullaugen an den Seiten.

Your Show of Shows. Your Hit Parade mit Gisele MacKenzie, die damals solche Lieder wie Green Door und Stranger in Paradise gesungen hatte. Diese Sendung hatte der Rock ‘n’ Roll aus dem Weg geräumt. Und dann die alten Quizsendungen. Ja, was war damit? Tic-Tac-Dough und Twenty One jeden Montag abend mit Jack Berry als Quizmaster. Leute, die in schalldichte Kabinen geführt wurden, wo sie sich Kopfhörer wie bei den UNO-Versammlungen aufsetzten und unglaubliche Fragen gestellt bekamen, für die sie die Antworten vor der Sendung erfahren hatten. The 64000 Question mit Hal March.

Leute, die mit Armen voller Nachschlagewerke von der Bühne stolperten. Dotto mit Jack Narz. Und dann die Sonn-abendvormittagssendungen wie Annie Oakley, die ihren kleineren Bruder Tag immer aus fürchterlichen Situationen retten mußte. Er hatte sich des öfteren gefragt, ob das Balg nicht in Wirklichkeit ihr Sohn wäre. Oder Rin-Tin-Tin, der vom Fort Apache aus operierte. Sergeant Preston, der vom Yukon aus operierte - er hatte so eine Art Späheraufgabe. Range Rider mit Jock Mahoney. Wild Bill Hickok mit Guy Mason und Andy Fevine als Jingles. Mary hatte immer zu ihm gesagt, Bart, wenn die Leute wüßten, daß du dir all diese Sendungen ansiehst, würden sie dich für schwachsinnig halten. Ehrlich, ein Mann in deinem Alter! Aber er hatte ihr darauf immer geantwortet, ich will mich mal mit meinen Kindern unterhalten können, Kindchen. Nur, daß es dann keine Kinder gegeben hatte - keine richtigen. Das erste war bloß ein toter Klumpen gewesen, und das zweite war Charlie, an den er lieber nicht denken sollte. Wir sehen uns später, wenn ich träume, Charlie. Er und sein Sohn trafen sich jetzt fast jede Nacht in dem einen oder anderen Traum. Barton George Dawes und Charles Frederick Dawes, wiedervereint durch die Wunder des persönlichen Unterbewußtseins. Und hier sind wir wieder, liebe Freunde, auf geht’s zur neuesten Disney-World-Reise, ein Ausflug in das Land des Selbstmitleids. Sie können hier auf dem Kanal der Tränen gondeln, das Museum der Alten Schnappschüsse besuchen oder sich von Fred MacMurray in seinem wundervollen Nostalgiemobil durch die Gegend fahren lassen. Die letzte Station dieser Reise ist diese wunderbare Nachbildung der Crestallen Street West. Sie steckt gleich hier, in der Southern-Comfort-Flasche, wo sie für alle Zeiten aufbewahrt wird. Ja, so ist es richtig, Madam, Sie müssen den Kopf ein bißchen einziehen, wenn Sie durch den engen Hals schlüpfen, aber es wird gleich weiter. Und dies ist das Haus von Barton George Dawes, dem letzten Anwohner der Crestallen Street. Sie können gleich hier durchs Fenster gucken. Wart einen Augenblick, mein Sohn, ich heb’ dich gleich hoch. Ja, genau, da sehen Sie George, wie er in Unterhosen vor seinem Farbfernseher sitzt, einen Drink kippt und heult. Er heult? Natürlich, was sollte er im Land des Selbstmitleids denn sonst tun? Er heulte die ganze Zeit.

Sein Tränenstrom wird von unserem WELTBERÜHMTEN

INGENIEURSTEAM gesteuert. Am Montag tröpfelt es nur ein bißchen, da ist hier nicht soviel los. Aber an den anderen Wochentagen heult er so richtig los. An den Wochenenden fließt er richtig über, und zu Weihnachten spülen wir ihn vielleicht ganz weg. Sicher, er ist vielleicht ein bißchen abstoßend, aber er ist einer der meistgefragten Einwohner im Selbstmitleidsland, gemeinsam mit unserer King-Kong-Nachbildung, die Sie gleich hier auf der Spitze des Empire-State-Gebäudes sehen. Er…

Er warf seinen Drink gegen den Fernseher.

Aber er verfehlte ihn. Das Glas prallte gegen die Wand, fiel auf den Boden und zersplitterte. Er brach erneut in Tränen aus.

Heulend dachte er: Seht mich an, seht mich doch an, Gott, was bin ich abscheulich. Ich bin ein solch verdammtes Arschloch, es ist kaum zu glauben. Ich hab’ mir mein ganzes Leben zerstört und Marys noch dazu, und jetzt sitze ich auch noch hier rum und reiße Witze darüber. Ich bin ein gräßlicher Abfallhaufen. Jesus, Jesus, Jesus…

Er war schon auf dem halben Weg zum Telefon, als er sich gerade noch zurückhalten konnte. Gestern abend hatte erbetrunken und heulend bei Mary angerufen und sie angefleht zurückzukommen. Er hatte solange gebettelt, bis sie anfing zu weinen und den Hörer auflegte. Er grinste verlegen und wand sich in seinem Sessel, als er daran dachte. Wie hatte er sich nur so verdammt dämlich benehmen können. Richtig peinlich.

Er ging in die Küche, holte sich Handfeger und Schaufel und ging damit ins Wohnzimmer zurück. Dort stellte er den Fernseher ab und fegte die Scherben auf. Er brachte sie leicht schwankend in die Küche und warf sie in den Mülleimer. Dann stand er da und fragte sich, was er als nächstes tun könnte.

Er lauschte auf das insektenartige Brummen des Kühlschranks. Es machte ihm angst. Er ging ins Bett. Und er träumte.

6. Dezember 1973

Es war halb vier Uhr nachmittags, und er raste mit hundert Sachen über die Autobahn nach Hause. Der Tag war strahlend klar und kalt, Temperaturen um den Gefrierpunkt. Er machte jetzt jeden Tag, seit Mary ihn verlassen hatte, einen Ausflug auf der Autobahn - es war so eine Art Ersatz für seine Arbeit geworden. Es beruhigte ihn. Wenn die Straße sich so unendlich vor ihm erstreckte, an beiden Seiten klar von den Schneewällen begrenzt, die die Räumfahrzeuge aufgehäuft hatten, mußte er nicht nachdenken und fühlte sich mit sich selbst im Einklang. Manchmal sang er auch lauthals die Lieder aus dem Radio mit. Oft dachte er sich, daß er einfach immer so weiterfahren könnte, immer der Straße nach. Unterwegs würde er sich Benzin auf Kreditkarten kaufen. Er würde immer nach Süden fahren, bis die Straßen oder das Land aufhörten. Ob man wohl bis zur Spitze von Südamerika durchfahren konnte? Er wußte es nicht.

Aber er kehrte immer wieder nach Hause zurück. Vorher aß er noch in irgendeinem Autobahnrestaurant ein paar Hamburger und Pommes frites, dann bog er in die Stadt ab und war jeweils bei Sonnenuntergang oder kurz danach zu Hause.

Er nahm jedesmal die Stanton Street, parkte den Wagen und sah sich die täglichen Fortschritte der 784-Autobahn an.

Die Baufirma hatte extra eine Plattform für die Gaffer aufstellen lassen - hauptsächlich Rentner und Leute, die beim Einkaufen eine Minute übrig hatten -, und sie war den ganzen Tag voll besetzt. Sie reihten sich alle am Geländer auf wie Enten in der Schießbude, den weißen Dunst ihres Atems vor den Mündern, und glotzten auf die Bulldozer und Bagger, auf die Landvermesser mit ihren Sextanten und Dreifußstativen hinunter. Er hätte sie alle erschießen können!

Aber am Abend, wenn das Thermometer auf -10° sank, wenn der Sonnenuntergang einen schmutzig-orangen Streifen am westlichen Horizont bildete und die Sterne schon kalt am Himmel blinkten, konnte er die Baufortschritte allein und ungestört begutachten. Die Augenblicke, die er auf der Plattform verbrachte, wurden ihm immer wichtiger - er vermutete, daß sie ihm auf eine geheime Art Kraft gaben und ihn mit einer Welt verbanden, die wenigstens zur Hälfte noch gesund war. In diesen Augenblicken, bevor er in seine allabendliche Betrunkenheit versank, bevor er den unvermeidlichen Drang bekämpfte, Mary anzurufen, bevor die abendli-chen Vorstellungen im Selbstmitleidsland wieder anfingen -

war er vollkommen er selbst, fühlte er sich kalt und stocknüchtern. Er umklammerte das Eisengeländer mit bloßen Händen und starrte auf die Baustelle hinunter, bis seine Finger so gefühllos wie das Eisen wurden und er nicht mehr unterscheiden konnte, wo seine Welt - die Welt der menschlichen Dinge - endete und wo die Außenwelt der Bagger und Kräne und Aussichtsplattformen begann. In diesen Augenblicken mußte er nicht mehr flennen oder über die Katastrophe in der Vergangenheit nachgrübeln, die sein ganzes Leben durcheinandergebracht hatte. In diesem Augenblick spürte er, wie sein Selbst warm in der gleichgültigen Kälte des frühen Winterabends pulsierte, und er war ein wirklicher Mensch, vielleicht sogar ein gesunder.


Jetzt, als er mit hundert Stundenkilometern über die Autobahn raste, sah er plötzlich, noch gut vierzig Meilen von der Westgate-Zahlstelle entfernt, eine eingemummte Gestalt auf dem Seitenstreifen stehen, als er gerade die Ausfahrt 16 passiert. Sie hatte einen dicken Armeemantel an und eine schwarze Strickmütze auf dem Kopf, und sie hielt ein Schild in die Höhe, auf dem (erstaunlich, in all dem Schnee) LAS VEGAS stand. Darunter stand trotzig geschrieben: ODER VERPISS DICH!

Er trat auf die Bremse und spürte, wie der Sitzgurt ihm durch die abrupte Verlangsamung in die Seite schnitt. Dann ein hysterisches Kreischen seiner Räder auf dem Asphalt.

Gut zwanzig Meter hinter der Gestalt hielt er am Straßenrand. Sie steckte schnell das Schild unter den Arm und kam auf ihn zugerannt. Etwas an der Art, wie sie rannte, sagte ihm, daß sein Anhalter ein Mädchen sei.

Sie öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

»Hallo, danke schön.«

»Bitte.« Er warf einen Blick in den Rückspiegel und fuhr auf die rechte Spur. Schnell beschleunigte er wieder auf hundert. Die Straße erstreckte sich wie immer vor ihm. »Ziemlich langer Weg nach Las Vegas«, bemerkte er.

»Das kann man wohl sagen.« Sie warf ihm ein Lächeln zu, ihr Standardlächeln für alle Leute, die ihr sagten, wie weit es noch bis Las Vegas sei, und zog ihre dicken Handschuhe aus.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«

»Nein, nein, rauchen Sie nur.«

Sie holte eine Schachtel Marlboro hervor. »Möchten Sie auch eine?«

»Nein, danke.«

Sie steckte sich die Zigarette in den Mund, kramte eine Schachtel Küchenstreichhölzer aus ihrer Manteltasche hervor, zündete ihre Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch aus, der für einen Augenblick die Windschutzscheibe vernebelte. Dann steckte sie die Marlboro-Schachtel und die Streichhölzer wieder weg, löste den blauen Wollschal um ihren Hals und sagte: »Ich bin Ihnen wirklich dankbar, daß sie mich mitnehmen. Ganz schön kalt da draußen.«

»Haben Sie lange gewartet?«

»Ungefähr eine Stunde. Der letzte Kerl war betrunken. Gott, war ich froh, aus seinem Wagen rauszukommen.«

Er nickte. »Ich nehme Sie bis zum Ende der Autobahn mit.«

»Ende?« Sie sah ihn verblüfft an. »Fahren Sie ganz bis nach Chicago?«

»Was? Oh, nein.« Er nannte ihr seine Stadt.

»Aber die Autobahn geht doch direkt durch Ihre Stadt.«

Sie zog eine Straßenkarte aus ihrer anderen Manteltasche, die vom häufigen Gebrauch überall Eselsohren aufwies.

»Jedenfalls steht das hier in der Karte.«

»Falten Sie sie noch mal auf und sehen Sie genau hin.«

Sie tat es.

»Welche Farbe hat der Autobahnabschnitt, auf dem wir gerade fahren?«

»Grün.«

»Und welche Farbe hat der Abschnitt, der durch die Stadt führt?«

»Grün gepunktet. Sie wird … ach, verdammt! Sie wird noch gebautl«

»Richtig. Der weltberühmte 784-Autobahnausbau. Sie werden nie nach Las Vegas kommen, Kindchen, wenn Sie Ihre Karte nicht genau lesen.«

Sie beugte sich so weit über die Karte, daß ihre Nase fast das Papier berührte. Ihre Haut war sehr hell, vielleicht sogar milchig-weiß, aber im Augenblick hatte die Kälte ihr eine zarte Röte auf die Wangen und die Stirn getrieben.

Ihre Nasenspitze war ganz rot, und neben dem linken Nasenloch hing ein Wassertropfen. Ihr Haar war kurzgeschnitten, aber es war ein schlechter Schnitt. Eine Pfusch-arbeit. Es hatte eine schöne kastanienbraune Farbe. Viel zu schade, um es zu schneiden, schlimmer noch, es so schlecht schneiden zu lassen. Wie war noch mal diese Weihnachtsgeschichte von O’Henry? ›Das Geschenk der Drei Weisen.‹ Für wen hast du eine Uhrkette gekauft, kleine Vagabundin?

»Die durchgehende grüne Linie fängt wieder an einem Ort an, der Landy heißt«, sagte sie. »Wie weit ist das von der Stelle entfernt, an der sie aufhört?«

»Zirka dreißig Meilen.«

»Verdammt.«

Sie beugte sich wieder über die Karte. Die Ausfahrt 15 flog an ihnen vorbei.

»Und wie ist die Umgehungsstraße?« fragte sie nach einer Weile. »Sie kommt mir ziemlich chaotisch vor.«

»Route 7 wird für Sie das beste sein«, antwortete er. »Es ist die letzte Ausfahrt, sie heißt Westgate.« Er zögerte. »Aber es wäre wohl am besten, wenn Sie’s für heute abend aufgeben.

Es gibt dort ein Holiday Inn. Wir werden kaum vor dem Dunkelwerden da sein, und Sie wollen doch bestimmt nicht im Dunkeln trampen.«

»Warum nicht?« Sie sah ihn an. Ihre Augen waren von einem verwirrenden Grün; eine Farbe, von der man mal liest, die man aber selten zu sehen bekommt.

»Es ist eine Stadtumgehung«, erklärte er und bog auf die linke Spur, um mehrere Wagen zu überholen, die nur sechzig fuhren. Einige hupten wütend. »Vier breite Spuren mit einem schmalen Mittelstreifen. Zwei führen westwärts nach Landy, zwei nach Osten in die Stadtmitte. Eine Menge Einkaufszentren, Hamburgerbuden, Bowlingbahnen und all das. Die Leute fahren nur kurze Strecken und halten gar nicht erst an.«

»Ja«, seufzte sie. »Fährt vielleicht ein Bus nach Landy?«

»Es gab da mal einen Bus, aber die Firma ist pleite gegangen. Vielleicht fährt der Greyhound.«

»Ach, Scheiße.« Sie knüllte die Karte zusammen und steckte sie in die Manteltasche zurück. Dann starrte sie müde und etwas besorgt vor sich auf die Straße.

»Können Sie sich kein Motelzimmer leisten?«

»Mister, ich hab’ gerade dreizehn Dollar bei mir. Ich könnte mir nicht mal ‘ne Hundehütte mieten.«

»Sie können bei mir übernachten, wenn Sie wollen.«

»Ja, und vielleicht lassen Sie mich gleich hier aussteigen.«

»Vergessen Sie’s, ich ziehe das Angebot zurück.«

»Außerdem, was würde Ihre Frau davon halten?« Sie blickte herausfordernd auf den Ehering an seinem Finger.

Der Blick schien anzudeuten, daß sie ihn für einen von den Kerlen hielt, die sich nachmittags in den Schulhöfen herumdrücken, wenn der Hausmeister gegangen ist.

»Meine Frau und ich leben getrennt.«

»Seit kurzem?«

»Ja. Seit dem ersten Dezember.«

»Und jetzt haben Sie all diese Komplexe, bei denen Sie Hufe gebrauchen könnten«, sagte sie. In ihrer Stimme lag Verachtung, aber es war ein altes Gefühl, das sich nicht speziell gegen ihn richtete. »Besonders die von einem jungen Küken.«

»Ich habe nicht die Absicht, jemanden aufs Kreuz zu legen«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Ich glaube nicht mal, daß ich ihn hochkriegen würde.« Ihm fiel auf, daß er zwei Ausdrücke gebraucht hatte, die er noch nie in Gegenwart einer Frau gesagt hatte, aber es schien ganz in Ordnung zu sein. Weder gut noch schlecht, einfach ganz in Ordnung.

Wie ein Gespräch über das Wetter.

»Soll das eine Herausforderung sein?« fragte sie und nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Wieder vernebelte der Rauch die Scheibe.

»Nein«, antwortete er. »Es ist wohl eher eine Floskel, wenn Sie so wollen. Ich nehme an, daß ein Mädchen, das allein durch die Gegend trampt, ständig auf so was gefaßt ist.«

»Und jetzt kommt wohl Nummer drei«, sagte sie. Immer noch lag Feindseligkeit und Verachtung in ihrer Stimme, aber sie schien auch eine gewisse, müde Belustigung über ihn zu empfinden. »Wie kommt so ein nettes Mädchen wie Sie in einen Wagen wie diesen?«

»Ach, zum Teufel«, rief er. »Sie sind unmöglich.«

»Ja, das bin ich.« Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und rümpfte plötzlich die Nase. »Nun sehen Sie sich das an. Voller Bonbonpapier, Cellophan und was weiß ich noch alles. Warum besorgen Sie sich nicht eine Mülltüte?«

»Weil ich nicht rauche. Wenn Sie mich vorher angerufen und mit gesagt hätten, Bart, alter Junge, ich werde heute an der Autobahn stehen, du wirst mich doch sicher mitnehmen, oder? Und, übrigens, ich habe die Absicht zu rauchen, also leer vorher deinen Aschenbecher aus, klar? - dann hätte ich ihn sicher vorher geleert. Schmeißen Sie das Zeug doch einfach aus dem Fenster.«

Sie lächelte. »Sie haben einen netten Sinn für Humor.«

»Das liegt an meinem traurigen Leben.«

»Wissen Sie, wie lange es dauert, bis Zigarettenkippen biologisch abgebaut sind? Zweihundert Jahre. Bis dahin sind Ihre Enkelkinder schon tot.«

Er zuckte die Achseln. »Es macht Ihnen nichts aus, mir mit Ihren ausgeatmeten Krebserregern meine Lunge zu verderben, aber Sie wollen nicht einen einzigen Zigarettenfilter auf die Autobahn hinauswerfen. Mir soll’s recht sein.«

»Was soll das denn nun wieder heißen?«

»Nichts.«

»Hören Sie, wollen Sie, daß ich aussteige?«

»Nein«, sagte er. »Lassen Sie uns einfach über neutrale Themen reden. Den Stand des Dollars. Den Zustand der Union. Den Staat Arkansas.«

»Ich würde lieber ein bißchen schlafen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sieht so aus, als ob ich die ganze Nacht auf den Beinen sein werde.«

»Auch gut.«

Sie zog sich die Mütze über die Augen, verschränkte die Arme und wurde ruhig. Nach einer Weile hörte er ihre langen, gleichmäßigen Atemzüge. Er warf ihr immer wieder einen kurzen Blick zu und versuchte, sich ein Bild von ihr zu machen. Sie hatte enge Blue Jeans an. Sie waren verblichen und sehr dünn. Sie schmiegten sich so dicht an ihre Beine, daß er sehen konnte, daß sie keine langen Unterhosen oder noch eine Jeans drunter trug. Ihre Beine, die sie im Augenblick bequem unter dem Armaturenbrett verstaut hatte, waren lang und mußten jetzt krebsrot sein und fürchterlich jucken. Er wollte sie schon fragen, ob ihre Beine juckten, machte sich dann aber klar, daß sich das im Moment etwas seltsam anhören würde. Bei der Vorstellung, daß sie sich die ganze Nacht an der Route 7 rumtreiben, ab und zu eine kurze Mit-fahrgelegenheit aufgabeln oder auch sitzenbleiben würde, fühlte er sich unwohl. Nacht, dünne Jeans, Temperaturen um minus zehn Grad. Na ja, das war ihre Sache. Wenn es ihr zu kalt wurde, konnte sie ja irgendwo hingehen und sich aufwärmen. Kein Problem.

Sie fuhren an den Ausfahrten 14 und 13 vorbei. Er hörte damit auf, sie immer wieder zu betrachten, und konzentrierte sich auf die Straße. Die Tachonadel blieb stur auf hundert, und er blieb stur immer auf der Überholspur. Des öfteren wurde er angehupt. Als sie an der Ausfahrt 12 vorbeikamen, hupte ein Kombiwagen mit einem ›FAHREN SIE IMMER 60‹-Aufkleber energisch und blinkte mit der Lichthupe. Er zeigte dem Fahrer den Mittelfinger.

Mit geschlossenen Augen sagte sie: »Sie fahren zu schnell. Deshalb hupen sie alle.«

»Ich weiß, warum sie das tun.«

»Und es ist Ihnen egal?«

»Ja.«

»Und wieder einer unserer besorgten Bürger, die ihren Teil dazu beitragen, Amerika aus der Energiekrise zu retten.«

»Ich scheiß’ auf die Energiekrise.«

»Ja, ja, das behaupten sie alle.«

»Ich bin auf der Autobahn immer achtzig gefahren. Nicht mehr und nicht weniger. Das war für meinen Wagen die beste Verbrauchsgeschwindigkeit. Aber jetzt protestiere ich gegen diese Hundedressurethik. Darüber haben Sie doch sicher in Ihren Soziologiekursen gehört. Oder liege ich da falsch? Ich gehe davon aus, daß Sie Studentin sind.«

Sie setzte sich auf. »Das stimmt, ich habe Soziologie studiert. Eine Zeitlang jedenfalls. Aber von der Hundedressurethik habe ich nie etwas gehört.«

»Weil ich sie selbst erfunden habe.«

»Ach so, ein Aprilscherz.« Entrüstung. Sie rutschte in ihren Sitz zurück und zog die Mütze wieder über die Augen.

»Die Hundedressurethik, die Barton George Dawes Ende 1973 entwickelt hat, liefert uns eine vollständige Erklärung für solch mysteriöse Dinge wie die Finanzkrise, die Inflation, den Vietnamkrieg und die gegenwärtige Energiekrise. Nehmen wir die Energiekrise als Beispiel. Das amerikanische Volk wird dressiert wie Hunde. In diesem Fall wird es darauf dressiert, sich in große, Benzin fressende Fahrzeuge zu verlieben, als da sind Autos, Schneemobile, große Boote, Sandbuggies, Motorräder, Wohnmobile und vieles mehr. Zwischen den Jahren 1973 und 1980 wird das amerikanische Volk allerdings umdressiert, damit es dieses Spielzeug in Zukunft verachtet. Das amerikanische Volk liebt es geradezu, auf diese Art erzogen zu werden. Es wedelt mit dem Schwanz. Verbrauche möglichst viel Energie. Verbrauche überhaupt keine Energie. Geh und pinkel auf die Zeitung. Ich habe nichts dagegen, Energie zu sparen, aber ich bin gegen diese Dressur.«

Er mußte plötzlich an Mr. Piazzis Hund denken, der zuerst aufgehört hatte, mit dem Schwanz zu wedeln, dann angefangen hatte, mit den Augen zu rollen, und schließlich Luigi Bronticelli an die Kehle gesprungen war.

»Es ist wie bei Pawlows Hunden«, fuhr er fort. »Sie wurden darauf dressiert, beim Klingeln einer Glocke den Speichel laufen zu lassen. Und wir wurden darauf trainiert, daß uns beim Anblick von teuren Wagen oder eines Zenith-Farbfernsehers mit automatischer Antenne der Speichel im Mund zusammenlief. Ich hab’ so einen Fernseher zu Hause. Er hat sogar einen kleinen Telecommander. Man kann bequem in seinem Sessel sitzen bleiben und die Programme wechseln, ihn laut oder leise stellen oder ihn abschalten. Ich hab’ mir das Ding mal in den Mund gesteckt und auf einen der Knöpfe gedrückt, und der Kasten ist tatsächlich angesprungen. Das Signal ist direkt durch mein Gehirn gegangen, und es hat funktioniert. Technik ist doch eine wundervolle Sache.«

»Sie sind verrückt.«

»Ja, das bin ich wohl.« Sie kamen an der Ausfahrt 11 vorbei.

»Ich denke, ich schlafe jetzt weiter. Wecken Sie mich, wenn wir zum Autobahnende kommen.«

»Ist gut.«

Sie verschränkte wieder ihre Arme vor der Brust und schloß die Augen.

Sie kamen an der Ausfahrt 10 vorbei.

»Es ist nicht mal so sehr die Dressur, die mir etwas ausmacht«, redete er weiter. »Aber es macht mich rasend, daß die Dompteure alles geistige, moralische und seelische Idioten sind.«

»Sie versuchen doch nur, mit einer Menge Rhetorik Ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Fahren Sie doch einfach 60, und es wird Ihnen viel besser gehen.«

»Es wird mir nicht besser gehen!« Er spuckte die Worte so heftig aus, daß sie verblüfft auffuhr und ihn anstarrte.

»Fehlt Ihnen was?«

»Nein, mir fehlt nichts. Ich hab’ nur meine Frau und meine Arbeit verloren, weil entweder ich oder die anderen verrückt geworden sind, und jetzt sitze ich hier mit einer Tramperin-einem neunzehnjährigen Kind, verdammt noch mal, eins von der Sorte, das sich daran gewöhnt haben sollte, daß die Welt verrückt geworden ist -, und was will es mir klarmachen? Daß die Welt vollkommen in Ordnung sei. Nicht mehr viel Öl, na ja, aber ansonsten ist alles vollkommen in Ordnung.«

»Ich bin einundzwanzig.«

»Wie schön für Sie«, entgegnete er bitter. »Wenn die Welt wirklich so in Ordnung ist, was suchen Sie dann hier draußen in der Kälte und fahren mitten im Winter nach Las Vegas? Warum wollen Sie die ganze Nacht an der Route 7 verbringen in der Hoffnung, daß jemand Sie mitnimmt? Sie werden Frostbeulen an den Beinen kriegen, weil Sie unter Ihrer Jeans nichts weiter anhaben.«

»Na, hör’n Sie mal, ich habe etwas unter meiner Jeans an.

Wofür halten Sie mich?«

»Ich halte Sie für blöd!« brüllte er. »Sie werden sich den Arsch abfrieren!«

»Und dann werden Sie kein Stück mehr davon abkriegen, nicht wahr?« flötete sie mit süßer Stimme.

»Junge, Junge«, murmelte er kopfschüttelnd.

Sie rasten an einem Sedan vorbei, der stete 60 fuhr. Der Fahrer betätigte die Lichthupe. »Fahr zur Hölle!« schrie er.

»Lassen Sie mich bitte sofort aussteigen!« sagte sie ruhig.

»Vergessen Sie’s. Ich werde schon keinen Unfall bauen.

Schlafen Sie weiter.«

Sie sah ihn lange mißtrauisch an. Dann verschränkte sie wieder die Arme und machte die Augen zu. Sie fuhren an Ausfahrt 9 vorbei.

Um fünf nach vier erreichten sie Ausfahrt 2. Die Schatten auf der Straße waren länger geworden und hatten eine bestimmte blaue Färbung angenommen, die es nur während der Wintermonate zu geben schien. Venus stand schon am Osthimmel. In Stadtnähe wurde der Verkehr dichter.

Er blickte zu ihr hinüber und sah, daß sie sich aufgerichtet hatte und die auf der Gegenfahrbahn vorbeiflitzenden Wagen betrachtete. Der Wagen direkt vor ihnen hatte einen Weihnachtsbaum auf dem Dach. Die grünen Augen des Mädchens waren jetzt weit aufgerissen, und einen Augenblick versank er in ihnen. Für eine Sekunde überfiel ihn ein Gefühl vollkommenen Mitempfindens, dessen die Menschen nur manchmal, in gnädigen Momenten, fähig sind. Er stellte sich vor, was sie bei all diesen Autos empfinden mußte, die ein warmes Zuhause als Ziel hatten, die irgendwo hinfuhren, wo es Geschäfte zu erledigen oder Freunde zu be-grüßen gab oder wo eine ganz normale Familie auf sie wartete. Er verstand ihre Gleichgültigkeit gegenüber all diesen Fremden. Und einen kurzen, glasklaren Augenblick lang begriff er, was Thomas Carlyle mit der großen, toten Lokomotive Welt gemeint hatte, die weiter und weiter stampfte.

»Sind wir bald da?« fragte sie.

»In fünfzehn Minuten.«

»Hören Sie, wenn ich unhöflich zu Ihnen war …«

»Nein, ich war sehr unhöflich zu Ihnen. Wissen Sie, icfr habe heute abend nichts Bestimmtes vor. Ich fahr’ Sie rüber nach Landy.«

»Nein …«

»Oder ich stecke Sie für die Nacht ins Holiday Inn. Ohne Gegenleistung. Einfach nur fröhliche Weihnachten und so.«

»Leben Sie wirklich von Ihrer Frau getrennt?«

»Ja.«

»Und erst so kurz?«

»Ja.«

»Hat sie die Kinder?«

»Wir haben keine Kinder.« Sie fuhren jetzt auf die Mautstelle zu. Zwei grüne Ampellichter blinkten gleichgültig im Zwielicht.

»Dann nehmen Sie mich mit nach Hause.«

»Sie müssen nicht. Ich meine, Sie müssen nicht …«

»Es war’ mir heute ganz recht, mit jemandem zusammenzusein«, unterbrach sie ihn. »Ich mag nicht gern bei Nacht trampen. Es ist irgendwie unheimlich.«

Er hielt neben dem Schalter und drehte das Fenster herunter. Kalte Luft strömte in den Wagen. Er reichte dem Kassierer seine Karte und einen Dollar neunzig und fuhr langsam weiter. Vor ihnen stand ein großes, reflektierendes Schild:

WIR DANKEN IHNEN FÜRS SICHERE FAHREN!

»In Ordnung«, sagte er vorsichtig. Er wußte, daß es vermutlich nicht richtig war, sie immer wieder zu beruhigen - es würde wahrscheinlich das Gegenteil bewirken -, aber er konnte nicht anders. »Sehen Sie, es ist nur, daß ich mich zu Hause recht einsam fühle. Wir können zusammen essen und uns dann mit Popcorn vor den Fernseher setzen. Sie schlafen oben im Schlafzimmer, und ich werde …«

Sie lachte leise, und er spähte vorsichtig zu ihr hinüber, während er die große Schleife der Ausfahrt hinunterfuhr.

Aber er konnte sie im Dämmerlicht kaum mehr erkennen.


Sie war nur eine dunkle Gestalt. Sie hätte auch ein Traum sein können. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht.

»Hören Sie, ich sag’s ihnen lieber gleich«, begann sie. »Erinnern Sie sich an den betrunkenen Kerl, von dem ich erzählt habe? Ich hab’ mit ihm die Nacht zusammen verbracht. Er hat mich bis Stilson gebracht. Das war sein Preis.«

Er hielt vor der roten Ampel am Fuß der Schleife.

»Meine Zimmernachbarin hat mich gewarnt, daß es so kommen würde, aber ich wollte ihr nicht glauben. Ich würde mich niemals quer durchs Land ficken, ich nicht.« Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, aber er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Es ist nicht, so, daß man von den Leuten dazu gezwungen wird«, fuhr sie fort. »Man fühlt sich so losgelöst von allem, als würde man im Weltraum herumspazieren. Man kommt in eine fremde Stadt und denkt an all die Leute, die darin leben, und man möchte am liebsten weinen. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Es kann so schlimm werden, daß man sogar mit einem Kerl voller Pickel mitgehen würde, nur damit man nachts jemanden neben sich atmen hört und damit man reden kann.«

»Es interessiert mich nicht, mit wem Sie geschlafen haben«, sagte er und fädelte sich in den Verkehr ein. Er war wieder automatisch auf die Grand Street abgebogen, um zur Baustelle zu fahren.

»Dieser Geschäftsmann«, erzählte sie weiter. »Er ist vierzehn Jahre lang verheiratet gewesen. Das hat er immer wieder gesagt, während er auf mir drauflag. Vierzehn Jahre, Sharon, hat er gesagt, vierzehn Jahre, vierzehn Jahre. Er ist schon nach vierzehn Sekunden gekommen.« Sie lachte kurz auf. Es klang traurig und reuevoll.

»Ist das Ihr Name?« fragte er. »Sharon?«

»Nein. Ich glaube, so hieß seine Frau.«

Er hielt am Straßenrand.

»Was machen Sie da?« fragte sie, wieder mißtrauisch geworden.

»Nichts besonderes«, antwortete er. »Es ist nur ein Teil meines Heimwegs. Steigen Sie aus, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen etwas zeigen.«

Sie stiegen aus und gingen zur Aussichtsplattform hinüber, die jetzt verlassen dastand. Er legte wie immer seine bloßen Hände ums Geländer und sah nach unten. Sie hatten heute die Straße grundiert. Während der letzten drei Arbeitstage hatten sie das Bett mit Kies ausgefüllt, heute war die Grundierung drangekommen. Die verlassenen Baumaschinen - LKW’s, Kräne, gelbe Bagger - standen reglos im Abendlicht wie Ausstellungsstücke in einem Naturkundemuseum. Dinosaurier. Hier haben wir den riesigen Vegeta-rier, den Stegosaurus, dort drüben den fleischfressenden Triceratops und da hinten den furchtbaren, Erde verschlingenden Dieselschaufelsaurier. Bon appetit.

»Was halten Sie davon?« fragte er sie.

»Soll ich etwas davon halten?« gab sie abwehrend zurück, unsicher, was die Situation zu bedeuten hatte.

»Sie müssen doch irgend etwas denken.«

Sie zuckte die Achseln. »Straßenbauarbeiten, was sonst?

Man baut hier eine Straße in einer Stadt, die ich vermutlich nie wiedersehen werde. Was soll ich also davon halten? Ich finde es häßlich.«

»Häßlich«, wiederholte er erleichtert.

»Ich bin in Portland in Maine aufgewachsen«, erzählte sie.

»Wir haben in einem riesigen Hochhaus gewohnt, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein großes Einkaufszentrum gebaut …«

»Haben sie dafür etwas abgerissen?«

»Hm?«

»Haben sie …«

»Oh. Oh, nein. Es war vorher ein leerer Platz mit einem großen Feld dahinter. Ich war damals gerade sechs oder sieben. Es kam mir so vor, als ob sie da in alle Ewigkeit den Boden aufreißen und umgraben und umpflügen würden. Und das einzige, was mir dazu einfiel … es ist schon komisch … das einzige, was ich damals dachte, war: Arme, alte Erde, sie geben dir einfach eine Klistierspritze, ohne dich zu fragen, ob du willst oder ob du überhaupt krank bist. Ich hatte in diesem Jahr eine Darminfektion und ich war Experte in bezug auf Klistierspritzen.«

»Oh«, sagte er.

»Wir sind mal an einem Sonntag, als sie nicht gearbeitet haben, rübergegangen und haben uns die Baustelle angesehen. Sie sah genauso aus wie diese hier. Sehr still, wie eine Leiche in einem Bett. Sie hatten das Fundament schon halb tätig, und es steckten überall so gelbe Metalldinger im Zement …«

»Verstrebungen.«

»Was auch immer. Und dann waren da noch eine Unmenge von Rohren und Drähten zu sehen, die in durchsichtige Plastikhüllen eingewickelt waren, und überall lag eine Menge von rohem Dreck rum. Das klingt komisch, denn gekochten Dreck gibt’s wohl nicht, aber genau so hat es ausgesehen. Roh. Wir haben dort oft Verstecken gespielt, bis meine Mutter eines Tages rübergekommen ist und mich und meine Schwester entsetzlich ausgeschimpft hat. Meine kleine Schwester war erst vier Jahre alt und hat geheult wie ein Schloßhund. Komisch, jetzt nach all der langen Zeit daran zu denken. Können wir wieder ins Auto? Mir ist kalt.«

»Sicher«, sagte er, und sie gingen zurück.

Als sie weiterfuhren, sagte sie: »Ich hätte nie gedacht, daß aus dem Ganzen mal was anderes herauskommt als ein großes Chaos. Aber dann, eines Tages, stand das fertige Ein-kaufszentrum vor uns. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem sie den Parkplatz asphaltiert haben. Ein paar Tage später kam ein Mann mit einem kleinen Wägelchen vorbei und zog überall gelbe Linien. Dann veranstalteten sie eine große Party, und irgend so ein hohes Tier schnitt ein Band durch, und dann fingen alle an, dort einzukaufen. Es war so, als wäre es nie gebaut worden, als hätte es immer schon da gestanden. Es hatte auch einen Namen, sie nannten es Mammoth Mart, und meine Mutter ist ständig dorthin gegangen. Manchmal, wenn Angie und ich mit ihr dort einkaufen waren, mußte ich heimlich an all die gelben Metall-streben denken, die jetzt wohl irgendwo im Keller steckten.

Es war so etwas wie mein Geheimnis.«

Er nickte. Er kannte sich in Geheimnissen aus.

»Was für eine Bedeutung hat es für Sie?« wollte sie wissen.

»Das versuche ich immer noch herauszufinden«, antwortete er.

Er wollte ihnen ein TV-Dinner warm machen, aber sie warf einen Blick in den Kühlschrank, entdeckte den Schweinebraten und schlug vor, ihn zuzubereiten, wenn er warten wolle, bis er gar sei.

»Klar«, antwortet er erfreut. »Ich wußte bloß nicht, wie lange man ihn braten muß oder bei welcher Temperatur.«

»Sie vermissen Ihre Frau, nicht wahr?«

»Ja, sehr.«

»Weil Sie nicht mal wissen, wie man einen Schweinebraten macht?« hakte sie nach, aber darauf antwortete er nicht. Sie buk noch ein paar Kartoffeln dazu und kochte den tiefgefrorenen Mais. Sie aßen in der Frühstücksecke, und sie langte kräftig zu. Sie schaffte vier dicke Fleischscheiben, zwei Kartoffeln und zwei Portionen Mais.

»Ich habe schon seit einem Jahr nicht mehr so gut gegessen«, erklärte sie dann, zündete sich eine Zigarette an und blickte zufrieden auf ihren leeren Teller. »Jetzt habe ich mich vermutlich überfressen.«

»Wovon haben Sie sich ernährt?«

»Erdnußflips.«

»Was?«

»Erdnußflips.«

»Ich dachte doch, daß ich das gehört hätte.«

»Sie sind billig«, verteidigte sie sich. »Und sie füllen den Magen. Außerdem haben sie auch Nährstoffe, das steht jedenfalls auf der Packung.«

»Nährstoffe, daß ich nicht lache! Davon kriegst du höchstens Pickel, Mädchen. Dafür bist du wirklich zu alt. Komm mit.«

Er führte sie ins Wohnzimmer und öffnete Marys Geschirrschrank. Dort holte er eine silberne Schüssel hervor und zog einen Haufen Geldscheine heraus. Sie riß die Augen auf.

»He, Mister, wen haben Sie überfallen?«

»Meine Versicherung. Ich hab’ mir die Police auszahlen lassen. Hier sind zweihundert Dollar. Kaufen Sie sich was zu essen.«

Sie faßte das Geld nicht an. »Sie sind verrückt«, sagte sie.

»Was wollen Sie für zweihundert Dollar bei mir erreichen?«

»Nichts.«

Sie lachte.

»Na gut.« Er legte das Geld auf die Kommode und stellte die Schüssel in den Schrank zurück. »Wenn Sie das Geld morgen früh nicht mitnehmen, spül’ ich’s die Toilette hinunter.« Aber er glaubte selbst nicht, daß er das tun würde.

Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »Wissen Sie was? Ich glaube, dazu wären Sie fähig.«

Er schwieg.

»Wir werden sehen«, lenkte sie ein. »Morgen früh.«

»Morgen früh«, wiederholte er.

Er sah sich die Sendung To Tell the Truth an. Zwei Frauen erzählten einem Rateteam, daß sie beide Weltmeisterin im Mustang-Zureiten wären, aber nur eine sagte die Wahrheit. Das Rateteam, bestehend aus Soupy Sales, Bill Cullen, Arlene Dahl und Kitty Carlisle, mußte herausfinden, welche von beiden log. Garry Moore, der wohl einzige dreihunderrjährige Quizmaster der Welt, lächelte, riß seine Witze und klingelte mit einem Glöckchen, wenn die Ratezeit eines Kandidaten vorbei war.

Das Mädchen stand am Fenster und sah hinaus. »Sagen Sie mal, wer wohnt hier eigentlich?« fragte sie ihn. »Die Häuser sind ja alle dunkel.«

»Die Dankmans und ich«, antwortete er. »Und die Dankmans ziehen am fünften Januar aus.«

»Warum?«

»Die Straße«, sagte er. »Wollen Sie einen Drink?«

»Was soll das heißen, die Straße?«

»Sie führt genau hier durch. Dieses Haus wird meiner Schätzung nach irgendwo im Mittelstreifen liegen.«

»Haben Sie mir deshalb die Baustelle gezeigt?«

»Ich glaube, ja. Ich habe früher in einer Wäscherei gearbeitet, die zwei Meilen von hier entfernt liegt. Die Blue-Ribbon-Wäscherei. Sie steht der Straße auch im Weg.«

»Und deshalb haben Sie Ihre Arbeit verloren? Weil die Wäscherei zugemacht hat?«

»Nein, nicht ganz. Ich sollte eine Option auf eine Fabrik außerhalb der Stadt unterschreiben. Die Waterford-Fabrik. Aber ich hab’s nicht getan.«

»Warum nicht?«

»Ich konnte es nicht ertragen«, antwortete er schlicht.

»Möchten Sie einen Drink?«

»Sie brauchen mich nicht betrunken zu machen.«

»Oh, nein!« er verdrehte die Augen. »Sie können wohl auch bloß in die eine Richtung denken, was?«

Einen Augenblick herrschte eine unangenehme Stille.

»Es gibt eigentlich nur einen Drink, den ich mag. Screwdrivers. Haben Sie Wodka und Orangensaft?«

»Ja.«

»Ich nehme an, Sie haben kein Hasch?«

»Nein, ich nehme nie welches.«

Er ging in die Küche und machte ihr einen Screwdriver. Sich selbst mixte er einen Southern Comfort mit Seven-up. Mit beiden Drinks kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Sie spielte mit dem Telecommander und wechselte von Kanal zu Kanal, bis sie alle siebenunddreißig durchhatte: To Teil the Truth, Pfeffer und Salz, I Dream of Jeannie, Gilligan’s Island, Pfeffer und Salz, I Love Lucy, Pfeffer und Salz, Julia Child, die etwas aus Avocados zubereitete, das an einen Haufen Hundeschiet erinnerte, The New Price is Right, Pfeffer und Salz, und dann zurück zu Gary Moore, der sein Rateteam jetzt fragte, wer von seinen drei Kandidaten der wirkliche Autor eines Buches sei, das darüber berichtete, wie man sich fühlte, wenn man einen Monat lang durch die Wälder von Saskatchewan geirrt ist.

Er gab ihr ihren Drink.

»Haben Sie unterwegs Käfer gegessen, Nummer zwei?« fragte Kitty Carlisle.

»Was ist eigentlich mit euch hier los?« wollte das Mädchen wissen. »Habt ihr kein Raumschiff Enterprise? Seid ihr Heiden?«

»Das kommt nachmittags um vier. Auf Kanal acht.«

»Sehen Sie sich das an?«

»Manchmal. Meine Frau sieht immer Merv Griffin.«

»Ich habe keine Käfer gesehen«, antwortete Nummer zwei. »Aber wenn ich sie gesehen hätte, hätte ich sie bestimmt gegessen.« Das Publikum lachte herzlich.

»Warum ist sie ausgezogen? Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn Sie nicht wollen.« Sie sah ihn aufmerksam an, als wäre der Preis für sein Bekenntnis außerordentlich hoch.

»Derselbe Grund, warum man mich gefeuert hat«, antwortete er und setzte sich hin.

»Weil Sie keine neue Fabrik gekauft haben?«

»Nein, weil ich kein neues Haus gekauft habe.«

»Ich stimme für Nummer zwei«, erklärte Souply Sales. »Er sieht so aus, als ob er die Käfer wirklich gegessen hätte, wenn er sie gefunden hätte.« Das Publikum lachte herzlich.

»Sie haben … oooh. Ooooh.« Sie musterte ihn über ihr Glas hinweg, und ihre Augen bewegten sich nicht. In ihnen lag eine Mischung aus Staunen, Bewunderung und Entsetzen. »Und was werden Sie jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie arbeiten nicht?«

»Nein.«

»Was tun Sie dann den ganzen Tag?«

»Ich fahre auf der Autobahn.«

»Und abends sehen Sie fern?«

»Und ich trinke. Manchmal mache ich mir Popcorn. Nachher werde ich uns Popcorn machen.«

»Ich esse kein Popcorn.«

»Dann werde ich es essen.«

Sie drückte auf den AUS-Knopf des Telecommanders (er bezeichnete ihn manchmal insgeheim als ›Modul‹, denn heutzutage war man geneigt zu glauben, daß alle Dinge, die etwas an- oder ausschalteten, Module sein müßten), und das Fernsehbild zog sich zu einem winzigen Punkt zusammen und verschwand schließlich ganz.

»Ich will mal sehen, ob ich das in eine Reihe kriege«, sagte sie. »Sie haben also Ihre Frau und Ihre Arbeit sausen lassen und …«

»Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«

»Ist ja egal. Sie haben Sie wegen dieser Straße verloren, ist das richtig?«

Er blickte unsicher auf den leeren Bildschirm. Obwohl er den Sendungen niemals konzentriert folgte, fühlte er sich doch äußerst unwohl, wenn der Kasten nicht lief. »Ich weiß nicht, ob das so richtig ist«, sagte er. »Man braucht eine Sache nicht immer gleich zu verstehen, nur weil man sie getan hat.«

»War es aus Protest?«

»Ich weiß es nicht. Wenn man gegen etwas protestiert, dann doch darum, weil man etwas anderes für besser hält.

All diese Leute haben doch gegen den Krieg protestiert, weil sie den Frieden für viel besser halten. Die Leute protestieren gegen die Rauschgiftgesetze, weil sie denken, daß andere Rauschgiftgesetze fairer seien oder mehr Spaß brächten oder weniger Schaden anrichten würden oder … ich weiß nicht.

Machen Sie doch bitte den Fernseher wieder an.«

»Einen Augenblick noch.« Ihm wurde wieder bewußt, wie grün ihre Augen waren, durchdringend wie die einer Katze.

»Haben Sie das getan, weil Sie die Straße hassen? Die technisierte Gesellschaft, die sie repräsentiert? Die dehumanisierende Wirkung der …«

»Nein«, sagte er. Es war so schwierig, ehrlich zu sein, und er fragte sich, warum er sie nicht einfach mit einer Lüge abspeiste, die die Diskussion schnell beenden würde. Sie war genau wie all die anderen jungen Leute, wie Vinnie Mason, die alle glaubten, daß die Wahrheit in der Bildung läge. Sie wollte Propaganda mit Schaubildern und allem Drum und Dran, aber keine Antwort. »Ich habe die Leute mein ganzes Leben lang Straßen und Häuser bauen sehen. Ich habe nie besonders darüber nachgedacht. Es war bloß immer ärgerlich, eine Umleitung benutzen oder auf der anderen Straßenseite gehen zu müssen, weil sie den Bürgersteig aufgerissen haben oder ein Gebäude abrissen oder …«

»Aber als es Ihr Heim traf … Ihr Haus und Ihre Arbeit, da haben Sie plötzlich nein gesagt.«

»Ja, gut, ich habe nein gesagt.« Aber er wußte nicht, zu was er nein gesagt hatte. Oder hatte er nicht eher ja gesagt? Hatte er nicht endlich einem zerstörerischen Impuls nachgegeben, den er schon immer in sich herumgetragen hatte, genauso wie der eingebaute Selbstzerstörungsmechanismus von Charlies Gehirntumor? Er wünschte sich sehnlichst, daß Freddy sich mal wieder meldete. Freddy hätte ihr alles sagen können, was sie hören wollte. Aber Freddy hatte sich offenbar ganz zurückgezogen.

»Sie sind entweder verrückt oder eine wirklich bemerkenswerte Persönlichkeit«, sagte sie.

»Nur die Personen in Büchern sind bemerkenswert«, erwiderte er. »Machen Sie jetzt den Fernseher wieder an.«

Sie gehorchte. Er ließ sie das Programm wählen.

»Was trinken Sie da eigentlich?«

Es war Viertel vor neun. Er war ein bißchen beschwipst, aber lange nicht so betrunken, als wenn er jetzt allein gewesen wäre. Er stand in der Küche und machte Popcorn. Es gefiel ihm zuzusehen, wenn die Körner in der Glasschüssel aufgingen. Sie schoben sich mit einer Gewalt nach oben wie ein Schneesturm, der allerdings nicht von oben fiel sondern von unten hochstieg.

»Southern Comfort mit Seven-up«, antwortete er.

»Was?«

Er lachte verlegen.

»Darf ich das mal probieren?« Sie hielt ihm ihr leeres Glas hin und lächelte. Es war das erste völlig ungezwungene Lächeln, seit sie in sein Auto gestiegen war. »Sie mixen einen lausigen Screwdriver.«

»Ich weiß«, sagte er. »Southern Comfort und Seven-up ist mein Privatdrink. In der Öffentlichkeit trinke ich Scotch. Aber ich hasse Scotch.«

Das Popcorn war fertig, und er schüttete es in eine große Plastikschüssel.

»Kann ich einen haben?«

»Natürlich.«

Er mixte ihr einen Southern Comfort mit Seven-up und ließ dann ein großes Stück Butter über dem Popcorn schmelzen.

»Das wird Ihnen eine Menge Cholesterin in den Blutkreislauf jagen«, bemerkte sie. Sie lehnte sich an den Türrahmen zwischen Eßzimmer und Küche und nippte vorsichtig an ihrem Drink. »He, das schmeckt mir.«

»Selbstverständlich. Bewahren Sie es als Geheimnis, und Sie sind den anderen immer eine Nasenlänge voraus.«

Er salzte das Popcorn.

»Das Cholesterin blockiert Ihr Herz«, dozierte sie weiter.

»Die Blutgefäße werden enger und enger und dann, eines Tages … aaaarrrggghhh!« Sie faßte sich dramatisch an die Brust und verschüttete dabei etwas von ihrem Drink.

»Mein Stoffwechsel arbeitet das alles auf«, beruhigte er sie und ging durch die Tür. Mit einem Arm streifte er ihren Busen (züchtig von einem BH verhüllt, wie er feststellte), als er an ihr vorbeikam. Er hatte eine Empfindung, die Marys Busen ihm schon seit Jahren nicht mehr gegeben hatte. Aber es war vielleicht nicht so gut, in diese Richtung weiterzudenken.

Sie aß das meiste von dem Popcorn.

Während der Elf-Uhr-Nachrichten, die sich hauptsächlich mit der Energiekrise und den Nixon-Tonbändern befaßten, fing sie an zu gähnen.

»Gehen Sie nach oben«, sagte er zu ihr. »Gehen Sie ins Bett.«

Sie warf ihm einen komischen Blick zu.

Aufgebracht sagte er: »Wir werden uns niemals richtig vertragen, wenn Sie nicht endlich aufhören, jedesmal wie ein gehetztes Reh zu gucken, wenn ich das Wort ›Bett‹ auch nur erwähne. Der wesentliche Zweck des Großen Amerikanischen Bettes ist der Schlaf, nicht der Geschlechtsverkehr.«

Darüber mußte sie lächeln.

»Wollen Sie nicht mal die Bettdecke aufschlagen?«

»Sie sind doch ein großes Mädchen.«

Sie sah ihn ruhig an. »Sie können mit mir raufkommen, wenn Sie möchten. Ich hab’ das vor einer Stunde beschlossen.«

»Nein … aber Sie haben keine Ahnung, wie attraktiv diese Einladung für mich ist. Ich hab’ in meinem ganzen Leben nur mit drei Mädchen geschlafen, und bei zweien ist es so lange her, daß ich mich kaum noch daran erinnern kann. Das war noch vor meiner Ehe.«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Ganz und gar nicht.«

»Hören Sie, es ist nicht, weil Sie mich mitgenommen haben oder mich hier übernachten lassen. Es ist auch nicht wegen des Geldes, das Sie mir angeboten haben.«

»Es ist nett von Ihnen, das zu sagen«, sagte er und stand auf. »Aber gehen Sie jetzt lieber nach oben.«

Sie blieb sitzen. »Sie sollten wissen, warum Sie es nicht tun.«

»Sollte ich das?«

»Ja. Wenn Sie etwas tun, was Sie sich nicht erklären können - so, wie Sie es vorhin geschildert haben -, mag das ganz in Ordnung sein, weil es sowieso geschehen würde. Aber bevor Sie sich entschließen, etwas nicht zu tun, sollten Sie wissen, warum.«

»Also gut«, willigte er ein und nickte zum Eßzimmer hinüber, wo das Geld immer noch auf der Kommode lag. »Es ist wegen des Geldes. Sie sind noch zu jung, um sich als Hure durchzuschlagen.«

»Ich werde es nicht nehmen«, antwortete sie prompt.

»Das weiß ich. Deshalb werde ich es auch nicht tun. Ich möchte, daß Sie das Geld nehmen.«

»Weil Sie dann netter sind als all die anderen Kerle?«

»Genau.« Er sah sie herausfordernd an.

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und stand auf. »Na gut.

Aber Sie sind ein Burgeois, ist Ihnen das klar?«

»Ja.«

Sie kam auf ihn zu und küßte ihn auf den Mund. Er roch ihren Duft, und der war sehr angenehm. Er hatte sofort eine Erektion.

»Gehen Sie,«

»Wenn Sie es sich heute nacht noch anders überlegen sollten …«

»Das werde ich nicht.« Er sah ihr nach, wie sie barfüßig die Treppe hinaufstieg. »He?«

Sie drehte sich noch mal um und zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Wie heißen Sie?«

»Olivia, wenn’s gefällig ist. Ein dämlicher Name, nicht wahr? Wie Olivia de Havilland.«

»Nein, gar nicht. Ich finde ihn schön. Gute Nacht, Olivia.«

»Gute Nacht.«

Sie ging hinauf. Er hörte, wie sie das Licht einschaltete, genauso wie er es immer gehört hatte, wenn Mary vor ihm zu Bett gegangen war. Wenn er genau hinhörte, könnte er vielleicht sogar das erregende Knistern ihres Pullovers wahrnehmen, wenn sie ihn über den Kopf zog. Oder das Klicken ihrer Gürtelschnalle, die die Jeans über ihrer Hüfte zusammen-hielt …

Sein Penis richtete sich vollends auf, und das war unangenehm. Er wölbte sich gegen den Schritt seiner Hose. Mary hatte das manchmal den Stein vieler Zeitalter genannt. Oder die Schlange, die plötzlich zu Stein wird. Das war, als sie noch jung waren und das Bett für sie nichts als eine Spielwiese bedeutet hatte. Er fummelte an seiner Unterhose herum, aber als es dadurch nicht besser wurde, stand er auf.

Nach einer Weile ging die Erektion zurück, und er setzte sich wieder hin.

Als die Nachrichten vorbei waren, kam ein Spielfilm - John Agar in Brain from Planet Arous. Er schlief vor dem Fernseher ein, den Telecommander lose in einer Hand haltend. Kurze Zeit später rührte sich etwas hinter seiner Hosenklappe, und die Erektion kehrte zurück, heimlich, wie ein Mörder, der den Ort eines früheren Verbrechens wieder aufsucht.

7. Dezember 1973

Er ging in dieser Nacht doch zu ihr.

Er hatte wieder von Mr. Piazzis Hund geträumt und war diesmal sicher gewesen, daß der zutrauliche Junge, der den Hund streicheln wollte, Charlie war. Er wußte es noch bevor der Hund aufsprang, und das machte es noch schlimmer. Als die Bestie an Charlies Kehle hing, rappelte er sich aus dem Schlaf hoch wie ein Mann, der sich aus einer flachen, sandi-gen Grube freizuschaufeln versucht.

Halb schlafend, halb wach griff er mit den Händen ins Leere und verlor schließlich das Gleichgewicht auf der Couch, auf der er sich letztendlich doch zusammengerollt hatte. Einen Augenblick hing er hin- und herschwankend über der Kante, desorientiert und entsetzt über den Tod seines Sohnes, der in seinen Träumen immer wieder sterben mußte.

Dann fiel er, schlug mit dem Kopf auf und verletzte sich an der Schulter. Doch nun war er wach genug, um festzustellen, daß er sich in seinem Wohnzimmer befand und daß der Traum vorbei war. Die Realität war elendig, aber nicht so beängstigend.

Was machte er hier? Ihn überkam eine realistische Vision von dem, was er mit seinem Leben getan hatte, und es war ein unheimlicher Anblick. Er hatte es wie einen alten Lumpen in der Mitte durchgerissen. Nichts war mehr in Ordnung. Er litt. Er hatte einen faulen Southern-Comfort-Geschmack im Mund und stieß plötzlich eine saure Magenflüssigkeit auf, die er angeekelt hinunterschluckte.

Dann fing er fürchterlich an zu zittern und umklammerte seine Knie, damit es aufhörte. Was machte er hier auf dem Fußboden in seinem Wohnzimmer, seine Knie umklammernd und zitternd wie ein Alkoholiker in der Gosse? Oder ein Geisteskranker, ein bescheuerter Psychopath, das kam der Sache wohl näher. War er das wirklich? War er geisteskrank? Nicht so etwas Komisches und Harmloses wie ein Spinner oder ein Knallkopf oder einfach nur ein Verrückter, sondern ein wirklicher, echter Psychopath? Der Gedanke erfüllte ihn erneut mit Schrecken. War er wirklich zu einem Berufsverbrecher gegangen, um sich den Sprengstoff zu besorgen? Hatte er wirklich zwei Gewehre in seiner Garage versteckt, von denen eins groß genug war, um einen Elefanten zu töten? Ein hoher, wimmernder Ton entschlüpfte seiner Kehle, und er versuchte vorsichtig aufzustehen. Seine Knochen knackten wie die eines sehr alten Mannes.

Er torkelte die Treppen hinauf, wobei er sich jeden weiteren Gedanken verbot, und trat ins Schlafzimmer. »Olivia?«

Es war volkommen lächerlich, wie in einem altmodischen Rudolph-Valentino-Film. »Bist du noch wach?«

»Ja«, antwortete sie, kein bißchen schläfrig. »Die Uhr hat mich nicht einschlafen lassen. Diese Digitaluhr. Sie hat ständig klick gemacht. Ich hab’ den Stecker rausgezogen.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er. Lächerlich, einfach lächerlich. »Ich habe schlecht geträumt.«

Die Bettdecke wurde zurückgeschlagen. »Komm«, sagte sie. »Komm zu mir.«

»Ich …«

»Willst du wohl den Mund halten.«

Er schlüpfte ins Bett. Sie war nackt. Sie liebten sich und danach schliefen sie ein.

Am nächsten Morgen herrschten draußen immer noch zehn Grad minus. Sie fragte, ob er eine Zeitung ins Haus bekäme.

»Früher mal«, antwortete er. »Kenny Upslinger hat sie immer ausgetragen. Seine Familie ist jetzt nach lowa gezogen.«

»Iowa, immerhin«, bemerkte sie und drehte das Radio an.

Sie hörten gerade noch den Wetterbericht. Es würde ein kalter, klarer Tag werden.

»Möchtest du ein Spiegelei?«

»Zwei, wenn du soviel hast.«

»Sicher. Hör mal, wegen gestern nacht …«

»Mach dir keine Sorgen deswegen. Ich bin gekommen. Das ist bei mir sehr selten. Es hat mir gefallen.«

Er war insgeheim stolz darauf, aber vielleicht wollte sie genau das erreichen. Er briet die Eier, zwei für sie und zwei für sich. Kaffee und Toast. Sie trank drei Tassen mit Zucker und Sahne.

»Was wirst du jetzt tun?« fragte sie, als sie beide ihr Frühstück beendet hatten.

»Ich bring’ dich nach Landy«, antwortete er prompt.

Sie fuhr ungeduldig mit einer Hand durch die Luft. »Das meine ich nicht. Was fängst du mit deinem Leben an?«

Er grinste. »Das klingt verdammt ernst.«

»Nicht für mich«, entgegnete sie, »sondern für dich.«

»Ich hab’ noch nicht darüber nachgedacht. Weißt du, ehe« - er betont das ›ehe‹ leicht, als wolle er damit andeuten, daß sein gesamtes Leben und alles, was dazugehörte, bis ans Ende der Welt weggesegelt war - »ehe dieses Beil auf mein Glück gefallen ist, habe ich mich wie ein zum Tode Verurteil-ter in der Todeszelle gefühlt. Nichts war mehr real. Ich kam mir vor wie in einem gläsernen Traum, der niemals aufhören würde. Aber letzte Nacht … das war sehr real.«

»Ich bin froh«, sagte sie und sie sah auch froh aus. »Aber was wirst du jetzt tun?«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Ich finde es traurig«, sagte sie.

»Ist es das?« Es war eine ehrlichgemeinte Frage.

Sie saßen wieder im Wagen und fuhren auf der Route 7 nach Landy. Der Stadtverkehr war zähflüssig, die Leute waren auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Als sie an der Baustelle vorbeikamen, fingen die täglichen Arbeiten dort gerade an. Männer mit gelben Sturzhelmen und grünen Gummistiefeln kletterten auf ihre Maschinen. In der Kälte hing ihr gefrorener Atem in weißen Wölkchen vor ihren Mündern. Der Motor eines orangefarbenen LKWs röhrte auf, blieb still, röhrte nochmals und sprang mit einem explosionsartigen Geräusch an. Dann hustete er wieder, bis er in ein ungleichmäßiges Tuckern fiel.

Der Fahrer trat ein paarmal aufs Gaspedal, und der Auspuff ballerte los wie ein Maschinengewehr.

»Von hier oben sehen sie aus wie kleine Jungen, die mit ihren Lastern im Sandkasten spielen«, sagte sie.

Draußen vor der Stadt war der Verkehr nicht mehr so dicht. Sie hatte die zweihundert Dollar ohne Verlegenheit und ohne Zögern genommen - aber sie war dabei auch nicht besonders eifrig gewesen. Sie hatte eine Naht ihres Armeemantels aufgetrennt, die beiden Geldscheine hineingeschoben und sie dann mit einer Nadel und einem blauen Faden aus Marys Nähkästchen wieder zugenäht. Sein Angebot, sie zum Busbahnhof zu fahren, hatte sie mit der Begründung abgelehnt, daß das Geld länger reichen würde, wenn sie weiter trampte.

»Also, was macht denn nun so ein nettes Mädchen wie du in einem Auto wie diesem?« fragte er sie.

»Ha?« Sie sah ihn, aus ihren Gedanken gerissen, verwirrt an.

Er lächelte. »Warum du? Warum Las Vegas? Du lebst genau wie ich am Rande der Gesellschaft. Erzähl mir was von dir.«

Sie zuckte die Achseln. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen.

Ich war Studentin an der Universität von New Hampshire in Durham. Das liegt in der Nähe von Portsmouth. Ich hab’ im letzten Jahr dort angefangen und außerhalb des Campus mit einem Kerl zusammengewohnt. Wir sind da in eine schlimme Drogensache hineingeraten.«

»Meinst du etwa Heroin?«

Sie lachte belustigt. »Nein, ich hab’ nie jemanden kennengelernt, der Heroin spritzt. Wir netten kleinen Mittelklassefi-xer bleiben lieber bei den Halluzinogenen. Lysergsäure, Meskalin, manchmal auch Peyote und LSD. Chemische Drogen eben. Zwischen September und November hatte ich so sechzehn oder achtzehn Trips.«

»Wie ist das denn so?« wollte er wissen.

»Meinst du damit, ob ich einige Horrortrips hatte?«

»Nein, das habe ich überhaupt nicht gemeint«, antwortete er abwehrend.

»Ich hatte einige schlechte Trips, aber die hatten auch schöne Teile. Und ich hatte einige gute Trips mit schlechten Phasen. Einmal habe ich mir eingebildet, ich hätte Leukämie.

Das war unheimlich. Im großen und ganzen sind alle Trips seltsam. Aber ich habe nie Gott gesehen und wollte nie Selbstmord begehen und habe auch nie versucht, jemanden umzubringen.«

Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Ich finde, daß die Leute in bezug auf chemische Drogen fürchterlich übertreiben. Die gutbürgerlichen wie Art Linkletter sagen, daß sie einen umbringen. Die Freaks wiederum behaupten, daß sie einem alle Türen öffnen, die man in sich öffnen muß. Als ob man in sich einen Tunnel zu seinem wahren Selbst finden könnte. Und als ob die Seele so etwas wie ein Schatz aus einem Roman von H. Rider Haggard sei. Hast mal was von ihm gelesen?«

»Ich hab’ mal She gelesen, als ich noch ein Kind war. Ist das von ihm?«

»Ja. Glaubst du, daß die Seele so etwas ist wie ein Smaragd auf der Stirn irgend eines Götteridols?«

»Darüber hab’ ich nie nachgedacht.«

»Ich glaube das nicht«, sagte sie. »Ich werde dir den besten und den schlechtesten Trip erzählen, den ich mit dem Zeug hatte. Der beste war, als ich einmal in unserer Wohnung ausgeflippt bin und die ganze Zeit die Tapete angeschaut habe.

Sie hatte überall so kleine, runde Punkte, und .für mich wurden sie plötzlich zu Schnee. Ich saß über eine Stunde im Wohnzimmer und beobachtete den Schneesturm an der Wand. Plötzlich sah ich, wie sich ein kleines Mädchen durch den Schnee kämpfte. Es hatte ein Taschentuch über dem Kopf, ein sehr großes Tuch wie aus Sackleinen, und sie hielt es etwa so …« Sie hob eine Faust unters Kinn, als würde sie das Tuch festhalten. »Ich dachte mir, daß es nach Hause wollte, und, zack, ich hab’ tatsächlich eine richtige Straße an der Wand gesehen, die über und über mit Schnee bedeckt war. Das Mädchen stapfte die Straße entlang und verschwand dann in einem richtigen Haus. Das war der beste Trip. In unserem Wohnzimmer zu sitzen und Wandvision zu genießen. Jeff hat es später Kopfvision genannt.«

»Ist Jeff der Typ, mit dem du zusammengelebt hast?«

»Ja. Der schlimmste Trip war, als ich eines Tages das Abflußrohr von unserem Waschbecken reinigen wollte. Man kommt manchmal schon auf komische Ideen, wenn man auf einem Trip ist, aber in dem Augenblick kommt einem das völlig normal vor. Ich mußte dieses Abflußrohr unbedingt absaugen. Ich holte mir also den Sauger und fing damit an … und, dann stieg auf einmal all dieser Dreck hoch. Ich hab’ heute noch keine Ahnung, wieviel ich mir davon nur eingebildet habe und wieviel echt war. Kaffeesatz. Ein alter Hemdfetzen.

Große geronnene Fettklumpen. Eine rote Flüssigkeit, die wie Blut aussah. Und dann die Hand. Eine Männerhand.«

»Eine was?«

»Eine Hand. Ich rief sofort nach Jeff und wollte ihm sagen: ›He, da hat jemand einen Mann in unserem Abfluß runtergespült.‹ Aber Jeff war weggegangen, und ich stand ganz allein da. Ich habe wie der Teufel mit dem Sauger gearbeitet, bis ich den ganzen Arm draußen hatte. Die Hand lag jetzt im Waschbecken, völlig verdreckt mit Kaffeesatz und all dem Zeug, und der Arm steckte noch im Abflußrohr. Ich ging noch mal ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob Jeff endlich nach Hause gekommen war, und als ich in die Küche zurückkam, war die Hand und der Arm verschwunden. Es hat mich irgendwie beunruhigt. Heute träume ich manchmal noch davon.«

»Das ist verrückt«, sagte er und nahm das Gas weg, weil sie gerade über eine Brücke fuhren, an der gebaut wurde.

»Dieses Zeug macht einen verrückt«, erwiderte sie.

»Manchmal ist es eine gute Sache. Aber meistens ist es das nicht. Jedenfalls steckten wir meiner Meinung nach zu tief drin. Hast du mal so ein Atommodell gesehen. Mit dem Kern in der Mitte und den Protonen und Elektronen, die drum herum kreisen?«

»Ja.«

»Mir kam es mit der Zeit so vor, als sei unsere Wohnung der Atomkern, und all die Leute, die dort ständig ein und aus gingen, seien die Protonen und Elektronen. Sie tauchten einfach auf und verschwanden wieder und hatten überhaupt keine Verbindung miteinander. Wie in Manhattan Transfer.«

»Das habe ich nicht gelesen.«

»Solltest du mal. Jeff hat immer gesagt, Dos Passos wäre der Subkulturjournalist. Ein ausgeflipptes Buch. Wie dem auch sei, wir saßen abends vor dem Fernseher, hatten den Ton abgeschaltet und dazu eine Platte laufen lassen, und knallten uns die Birne voll. Im Schlafzimmer lagen sie auf dem Bett und vögelten, und ich hatte nie eine Ahnung, wer, zum Teufel, all diese Leute waren. Verstehst du, was ich meine?«

Er dachte an die Partys, auf denen er betrunken und so verwirrt wie Alice im Wunderland herumgelaufen war, und sagte: »Ja.«

»An einem Abend lief die Bob-Hope-Spezialshow. Alle saßen sie um den Fernseher herum, alle waren sie high und lachten sich über seine blöden Witze halbtot. Alle hatten sie denselben dämlichen Gesichtsausdruck und machten ihre wohlwollenden Scherze über die machthungrigen Idioten in Washington. Sie saßen genauso da wie ihre alten Mammies und Daddies zu Hause, und ich dachte mir, dafür sind wir also durch den Vietnamkrieg gegangen, damit Bob Hope den Generationsunterschied ausgleicht. Es ist nur die Frage, auf welche Art man high wird.«

»Und du warst dafür zu ehrlich?«

»Ehrlich? Nein, das war nicht der Grund. Ich hab’ nachgedacht und mir die letzten fünfzehn Jahre wie ein Monopolyspiel vorgestellt. Francis Gary Powers auf der Straße erschossen. Eine Runde aussetzen. Negeraufstand in Selma mit Wasserwerfern aufgelöst. Gehen Sie direkt ins Gefängnis.

Friedensprotestler in Mississippi niedergeschossen, Märsche, Aufstände, Lester Maddox mit seinem Axtschaft, Kennedy in Dallas erschossen, Vietnam, wieder Friedensmärsche, Kent State, Studentenunruhen, Frauenbefreiungsbewegung, und wofür das alles? Damit so ein paar Idioten an-geturnt in einer vergammelten Wohnung vor dem Fernseher sitzen und sich Bob Hope reinziehen? Nein! Deshalb bin ich abgehauen.«

»Und was ist mit Jeff?«

Sie zuckte die Achseln. »Er hat ein Stipendium und er ist ziemlich gut. Er sagt, er will nächsten Sommer Examen machen, aber ich werde nicht nach ihm suchen.« Ihr Gesicht nahm einen eigenartig enttäuschten Ausdruck an, so als empfinde sie innerlich eine abgestumpfte Nachsicht für ihn.

»Vermißt du ihn?«

»Jede Nacht.«

»Warum nach Las Vegas? Kennst du dort jemanden?«

»Nein.«

»Ich finde, das ist ein seltsamer Ort für eine Idealistin.«

»Hältst du mich für eine Idealistin?« fragte sie lachend und zündete sich eine Zigarette an. »Vielleicht bin ich das. Aber ich glaube nicht, daß ein Ideal eine bestimmte Umgebung braucht. Ich möchte mir die Stadt ansehen. Sie ist so verschieden von dem Rest dieses Landes, daß es bestimmt gut wird.

Aber ich werde dort nicht spielen. Ich suche mir einfach ‘ne Arbeit.«

»Und dann?«

Sie stieß den Rauch aus. Draußen flog ein Schild vorbei: LANDY 5 MEILEN

»Ich werde versuchen, mir etwas zusammenzusparen. Ich werde mir keine Drogen mehr reinknallen und ich werde auch versuchen, damit aufzuhören.« Sie hielt die Zigarette in die Luft und beschrieb mit ihr einen unfreiwilligen Kreis. Es sah so aus, als ob ihre Zigarette es besser wüßte. »Ich werde damit aufhören, mir immer wieder vorzumachen, daß mein Leben noch gar nicht angefangen hätte. Es hat angefangen, und zwanzig Prozent davon sind schon vorüber. Ich habe den Rahm schon abgeschöpft.«

»Da vorne ist die Autobahnauffahrt.«

Er fuhr den Wagen an die Seite und hielt.

»Und was ist nun mit dir? Was wirst du in Zukunft tun?«

Vorsichtig antwortete er: »Mal sehen, wie sich das so entwickelt. Mir alle Möglichkeiten offenhalten.«

»Du bist in keiner guten Verfassung, wenn ich dir das mal so sagen darf.«

»Du darfst.«

»Hier, nimm das.« Sie hielt eine Kugel aus Aluminiumfolie zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand.

Er nahm sie und betrachtete sie fragend. Die Folie reflektierte ein paar Sonnenstrahlen, die auf sein Gesicht fielen.

»Was ist das?«

»Synthetisches Meskalin. Man nennt es Produkt Vier. Die sauberste und stärkste chemische Droge, die je hergestellt worden ist.« Sie zögerte einen Augenblick. »Vielleicht solltest du sie einfach in der Toilette hinunterspülen, wenn du nach Hause kommst. Aber sie könnte dir auch helfen. Ich hab’ schon öfters gehört, daß es hilft.«

»Hast du es auch gesehen?«

Sie lächelte bitter. »Nein.«

»Würdest du mir einen Gefallen tun? Wenn du kannst?«

»Wenn ich kann.«

»Ruf mich am Heiligen Abend an.«

»Warum?«

»Du bist für mich wie ein Buch, das ich nicht ausgelesen habe. Ich möchte ein bißchen mehr darüber wissen, wie es ausgeht. Melde es als R-Gespräch an, hier, ich geb’ dir schnell die Nummer.«

Er wollte schon sein Notizbuch aus der Tasche holen, aber sie sagte: »Nein.«

Er sah sie verwirrt und verletzt an. »Nein?«

»Ich kann mir die Nummer von der Auskunft geben lassen, wenn ich sie brauche. Aber vielleicht ist es das beste, wenn ich es nicht tue.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Ich mag dich, aber es kommt mir so vor, als hätte dich jemand mit einem rätselhaften Leiden geschlagen.

Ich kann das nicht weiter erklären. Ich habe das Gefühl, als würdest du bald etwas ganz Wahnsinniges tun.«

»Du hältst mich also für einen Spinner«, murmelte er.

»Scheiße.«

Sie wurde steif und stieg aus dem Wagen. Er beugte sich hinüber. »Olivia …«

»Vielleicht heiße ich gar nicht so.«

»Vielleicht aber doch. Bitte, ruf mich an.«

»Sei vorsichtig mit dem Zeug«, warnte sie ihn, auf das Aluminiumpäckchen zeigend. »Du spazierst ebenfalls frei im Weltraum herum.«

»Wiedersehen. Paß auf dich auf.«

»Aufpassen? Was ist das?« Wieder war das bittere Lächeln da. »Auf Wiedersehen, Mr. Dawes. Und vielen Dank. Sie sind verdammt gut im Bett, darf ich Ihnen das sagen? Es stimmt. Auf Wiedersehen.«

Sie knallte die Tür zu, überquerte die Route 7 und stellte sich am Fuß der Auffahrtsrampe auf. Er beobachtete, wie sie ein paar vorbeikommenden Wagen den Daumen entgegen-streckte. Keiner hielt. Dann war die Straße frei, und er kehrte den Wagen in einem großen Bogen. Als er wieder an ihr vorbeifuhr, hupte er noch mal kurz. Im Rückspiegel sah er ihre immer kleiner werdende Gestalt, die ihm nachwinkte.

Dumme Pute, lachte er. Total eingebildet und voll der seltsamsten Vorurteile in dieser Welt. Doch als er die Hand ausstreckte, um das Radio einzuschalten, merkte er, wie sie zitterte.

Er fuhr durch die Stadt zurück und wieder auf die Staatsautobahn, auf der er gut zweihundert Kilometer mit Tempo hundert dahinraste. Einmal hätte er das kleine Aluminiumpäckchen fast aus dem Fenster geworfen. Ein anderes Mal war er versucht, sich das Zeug in den Mund zu stecken. Schließlich ließ er es einfach in seine Manteltasche gleiten.

Als er nach Hause kam, war er müde und leer, er empfand keine Gefühle mehr für sie. Der Ausbau der 784 war diesen Tag zügig vorangegangen. In einer Woche war die Wäscherei dran. Sie hatten schon alle schweren Maschinen rausgeräumt. Tom Granger hatte es ihm bei einem seltsam gespreizten Telefongespräch vor drei Abenden erzählt. Er wollte rausfahren und den ganzen Tag dabei zusehen, wie sie sie einrissen. Er würde sich sogar ein Picknick mitnehmen.

Von Marys Bruder in Jacksonville war ein Brief gekommen. Dann wußte er also noch nichts von ihrer Trennung.

Er legte ihn zerstreut auf den Stapel mit der anderen Post für Mary; er vergaß immer wieder, sie ihr nachzusenden.

Er schob sich ein TV-Dinner in den Herd und überlegte, ob er sich einen Drink machen sollte. Dann beschloß er, das heute abend nicht zu tun. Er wollte lieber an die sexuelle Begegnung mit dem Mädchen denken, sie noch einmal ausko-sten, die verschiedenen Nuancen erforschen. Wenn er sich dabei betrank, würde das Erlebnis die unnatürlichen, übertriebenen Farben eines Sexfilmes annehmen, und er wollte nicht in dieser Weise an sie denken.

Aber die Erinnerung wollte nicht kommen, jedenfalls nicht so, wie er sich das vorstellte. Er konnte das Gefühl ihrer festen Brüste nicht mehr empfinden, und auch der delikate Geschmack ihrer Brustwarzen fiel ihm nicht mehr ein.

Er wußte nur noch, daß der eigentliche Akt des Geschlechtsverkehrs mit ihr schöner gewesen war als mit Mary. Olivias Scheide hatte ihn enger umfaßt, und einmal war er mit einem hörbaren Geräusch herausgerutscht, wie der Korken aus dem Hals einer Champagnerflasche. Er konnte aber nicht mehr genau sagen, was denn nun eigentlich schöner gewesen war. Statt sich hineinzufühlen, hatte er plötzlich das Bedürfnis, sich selbst zu befriedigen. Der Wunsch ekelte ihn an. Schlimmer noch, sein Ekel stieß ihn ab. Schließlich war sie keine Heilige, versicherte er sich, als er sich mit dem Essen vor den Fernseher setzte. Sie war nichts weiter als eine Tramperin unterwegs. Noch dazu nach Las Vegas. Er spürte in sich den Wunsch, den ganzen Vorfall durch Magliores zynische Augen sehen zu können, und das ekelte ihn am meisten.

Später am Abend betrank er sich doch, trotz seiner guten Vorsätze, und gegen zehn Uhr quälte ihn wieder der vertraute, sentimentale Drang, Mary anzurufen. Statt dessen masturbierte er vor dem Fernseher und kam in dem Augenblick, als ein Ansager dem Publikum klarmachte, daß Anacin mit Abstand das beste und stärkste Schmerzmittel von allen sei.

8. Dezember 1973

Am Samstag fuhr er nicht auf die Autobahn hinaus. Statt dessen wanderte er ziellos im Haus herum und schob alles vor sich her, was eigentlich dringend erledigt werden mußte. Schließlich rief er bei seinen Schwiegereltern an.

Lester und Jean Calloway, Marys Eltern, gingen beide auf die Siebzig zu. Ein paar seiner früheren Anrufe hatte Jean (Charlie nannte sie immer ›Mamma Jean‹) beantwortet, und ihre Stimme war jedesmal zu Eis gefroren, wenn sie festgestellt hatte, daß er am anderen Ende war. Für sie und zweifellos auch für Lester war er so etwas wie ein wildes Tier, das plötzlich durchgedreht war und ihre Tochter gebissen hatte. Und jetzt rief dieses Tier immer wieder bei ihnen an, heulte ihnen betrunken etwas vor und wollte ihr kleines Mädchen zurück, damit es sie wieder beißen konnte.

Doch diesmal war Mary selbst am Telefon: »Hallo?«, und er war so erleichtert, daß er mit normaler Stimme sagen konnte:

»Mary? Ich bin’s.«

»Oh, Bart. Wie geht es dir?« Ihre Stimme verriet ihm nichts.

»Einigermaßen.«

»Und? Reichen deine Southern-Comfort-Vorräte noch aus?«

»Mary, ich bin nicht betrunken.«

»Und, bist du da besonders stolz darauf?« Ihre Stimme war kalt, und das gab ihm einen Stich. In ihren Augen stand er denkbar schlecht da. Konnte ihm ein Mensch, den er so lange gekannt hatte und von dem er geglaubt hatte, ihn wirklich gut zu kennen, so schnell entgleiten?«

»Ich glaube, so ist es«, antwortete er gedehnt.

»Ich habe gehört, daß die Wäscherei schließen mußte«, sagte sie.

»Wahrscheinlich nur vorübergehend«, wandte er ein. Er hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, als würde er sich mit einer Fremden in einem Fahrstuhl unterhalten, die seine Konversation ausgesprochen langweilig fand.

»Das ist aber nicht das, was Tom Grangers Frau mir erzählt hat.« Endlich, der Vorwurf. Vorwürfe waren besser als gar nichts.

»Für Tom ist das überhaupt kein Problem. Die Konkurrenz ist schon seit Jahren hinter ihm her. Die Brite-Kleen-Leute.«

Er glaubte, sie seufzen zu hören. »Warum hast du mich angerufen, Bart?«

»Ich finde, daß wir uns mal sehen sollten«, antwortete er vorsichtig. »Wir müssen endlich mal darüber sprechen, Mary.«

»Du meinst, über die Scheidung?« fragte sie. Ihre Stimme klang zwar ruhig, aber er vermeinte nun bei ihr einen Anflug von Panik zu hören.

»Willst du denn eine?«

»Ich weiß nicht, was ich will.« Ihre Ruhe war verschwunden, und sie klang plötzlich verärgert und ängstlich. »Ich hatte gedacht, alles wäre in Ordnung. Ich war glücklich, und ich dachte, du wärst es auch. Und dann, auf einmal, war alles verändert.«

»Du hast gedacht, alles wäre in Ordnung?« wiederholte er aufgebracht. Plötzlich war er wütend auf sie. »Dann mußt du ziemlich blöd gewesen sein. Hast du etwa geglaubt, ich schmeiße meine Arbeit einfach aus Spaß hin wie ein Highschool-Junge, der eine Stinkbombe in die Schultoilette wirft?«

»Aber was war es dann, Bart? Was ist geschehen?«

Seine Wut fiel in sich zusammen wie ein schmutziger Schneehaufen im Frühling, und er entdeckte, daß sich darunter Tränen verbargen. Er kämpfte grimmig dagegen an und fühlte sich irgendwie betrogen. So etwas durfte nicht passieren, wenn er nüchtern war. Wenn man nüchtern war, sollte man, verdammt noch mal, in der Lage sein, sich zu beherrschen. Aber da stand er nun und hatte den einzigen Wunsch, ihr sein ganzes Leid zu klagen und sich in ihrem Schoß auszuheulen wie ein kleines Kind mit einem kaputten Rollschuh und einem aufgeschlagenen Knie. Er konnte ihr nicht sagen, was schiefgelaufen war, denn er wußte es ja selbst nicht, und ohne Grund zu heulen erweckte den Eindruck, daß er reif fürs Irrenhaus sei.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich.

»War es Charlie?«

Hilflos erwiderte er: »Wenn das ein Teil davon war, wie konntest du dann nur so blind für den Rest sein?«

»Ich vermisse ihn auch, Bart. Immer noch. Jeden Tag.«

Wieder empfand er Auflehnung. Dann hast du aber eine komische Art, es zu zeigen.

»So hat es keinen Sinn«, sagte er endlich. Die Tränen ran-nen ihm die Wange hinunter, aber er versuchte krampfhaft, sich nichts anmerken zu lassen. Meine Herren, ich glaube, wir haben die Sache im Griff, dachte er und hätte fast darüber gelacht. »Nicht am Telefon. Ich wollte dir vorschlagen, daß wir uns am Montag zum Lunch treffen. Bei Handy Andy’s!«

»Gut. Um welche Zeit?«

»Ist mir egal. Ich kann mir von der Arbeit freinehmen.« Der Witz verpuffte wirkungslos.

»Um eins?« schlug sie vor.

»Gut. Ich besorg’ uns einen Tisch.«

»Laß lieber einen reservieren. Du brauchst nicht schon um elf dazusein und dich zu betrinken.«

»Das werde ich nicht«, entgegnete er demütig, aber wahrscheinlich würde er gerade das tun.

Eine Pause entstand. Offenbar gab es nichts mehr zu sagen. Im Rauschen des Äthers unterhielten sich geisterhafte Stimmen über geisterhafte Dinge. Und dann sagte sie etwas, das ihn vollkommen überraschte.

»Bart, du solltest zu einem Psychiater gehen.«

»Zu einem, was?«

»Psychiater. Ich weiß, es klingt komisch, wenn ich dich einfach so damit überfalle, aber ich möchte dir sagen, daß ich nicht zu dir zurückkommen werde, egal, was wir beschlie-

ßen, wenn du nicht bereit bist, einen aufzusuchen.«

»Wiedersehen Mary«, sagte er langsam. »Bis Montag.«

»Bart. Du brauchst Hilfe, die ich dir nicht geben kann.«

Darauf bedacht, ihr das Messer so schmerzhaft in die Brust zu stechen, wie es über zwei Meilen Entfernung möglich war, sagte er: »Das wußte ich sowieso schon, Mary. Auf Wiedersehen.«

Er legte auf, bevor er ihre Reaktion hören konnte, und er freute sich. Spiel, Satz, Sieg. Er warf einen Plastikbecher durch die Küche und bedauerte es, nichts Zerbrechliches erwischt zu haben. Er öffnete den Küchenschrank und schmiß die beiden ersten Gläser, die er zu fassen kriegte, auf den Boden. Sie zerbrachen.

Baby, du verdammtes, beschissenes Baby! schrie er sich selbst an. Du Narr! Halt doch einfach die Luft an und warte, bis du endlich BLAU bist!

Er schlug mit der Faust gegen die Wand, um die schreiende Stimme abzutöten, und schrie dann erst recht vor Schmerzen auf. Er hielt sich die verletzte Rechte mit der linken Hand und stand zitternd in der Küche. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, nahm er eine Schaufel und einen Besen und kehrte die Scherben zusammen. Er fühlte sich ängstlich, seiner selbst überdrüssig und verkatert.

9. Dezember 1973

Er bog auf die Autobahn ein, fuhr hundertfünfzig Meilen und kehrte wieder um. Er wagte es nicht weiterzufahren.

Heute war der erste autofreie Sonntag, und alle Autobahntankstellen waren geschlossen. Und er hatte keine Lust zu laufen. Siehst du? sagte er sich. Auf diese Art kriegen sie auch so kleine Scheißer wie dich zu fassen, Georgie.

Fred? Bist du das wirklich? Was verschafft mir die Ehre deines Besuches, Freddy?

Ach, laß mich in Ruhe.

Auf dem Heimweg hörte er die Nachrichten im Radio:

›Sie machen sich also auch Sorgen wegen des Benzinmangels und Sie wollen sichergehen, daß Sie und Ihre Familie in diesem Winter nicht zu kurz kommen. Und jetzt sind Sie also auf dem Weg zu der nächsten Tankstelle in Ihrer Nachbarschaft und wollen sich Ihr Dutzend Zwanzigliterkanister auffüllen lassen. Wenn Sie sich wirklich Sorgen um Ihre Familie machen, dann kehren Sie lieber gleich wieder um und fahren Sie nach Hause zurück. Denn die unsachgemäße Lagerung von Benzin ist gefährlich. Sie ist außerdem illegal, aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Aber denken Sie daran: Wenn Benzindunst an die Luft kommt und sich mit ihr vermischt, wird er explosiv. Ein Zwanzigliterkanister Benzin hat die Explosionskraft von zwölf Stäben Dynamit. Denken Sie mal darüber nach, bevor sie die Kanister auffüllen lassen. Und denken Sie auch an Ihre Familie. Sie sehen also, wir wollen, daß Sie überleben.

Dies war eine Durchsage der WLDM. Die Musikfirma möchte Sie daran erinnern, die Benzinaufbewahrung denen zu überlassen, die etwas davon verstehen und die die richtige Ausrüstung dafür haben.‹

Er stellte das Radio ab, bremste den Wagen auf 60 Stundenkilometer ab und ordnete sich in die rechte Spur ein. »Zwölf Stäbe Dynamit«, sagte er. »Mann, das ist ja erstaunlich.«

Wenn er jetzt in den Rückspiegel geblickt hätte, hätte er gesehen, daß er grinste.

10. Dezember 1973

Er kam um kurz nach halb zwölf zu Handy Andy’s, und der Oberkellner gab ihm einen Tisch neben den wie Fledermaus-flügel gestalteten Schwingtüren, die zum Hinterzimmer führten. Es war kein besonders guter Tisch, aber einer der wenigen, die noch frei waren. Das Restaurant war um diese Zeit ziemlich voll. Handy Andy’s hatte sich auf Steaks, Koteletts und Andyburger spezialisiert, eine Art Hamburger, der mit einem ›Chefsalat‹ garniert zwischen zwei Sesambrötchenhälften steckte, die von einem Zahnstocher zusammengehalten wurden. Wie alle großen Restaurants im Geschäftsviertel der Stadt hatte auch dieses seine bestimmten ›In‹- und ›Out‹-Zeiten, die in undefinierbaren Zyklen wechselten. Er hätte vor zwei Monaten um die Mittagszeit hier aufkreuzen und sich den Tisch nach seinem Geschmack wählen können, und in zwei Monaten könnte es wieder genauso sein. Für ihn war es eins der kleineren Geheimnisse des Lebens wie die Ereignisse in den Büchern von Charles Fort oder wie der Instinkt der Schwalben, der sie immer wieder nach Capistrano zurückfliegen ließ.

Der Kellner stand sofort neben ihm. »Einen Drink, Sir?«

»Ja bitte, einen Scotch on the Rocks.«

»Sehr wohl, Sir.«

Er blieb bis zwölf beim ersten Drink, trank bis halb eins noch zwei weitere und bestellte sich dann aus reiner Sturheit einen Doppelten. Er war gerade beim letzten Tropfen angekommen, als er Mary entdeckte. Sie blieb im Windfang vor der Glastür zum Restaurant stehen und sah sich suchend nach ihm um. Einige Köpfe drehten sich nach ihr um, und er dachte: Mary, du solltest mir eigentlich dankbar sein - du bist wunderschön. Er hob die rechte Hand und winkte ihr zu.

Sie winkte zurück und kam an seinen Tisch, Sie hatte ein knielanges, graugemustertes Wollkleid an, und ihr Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr bis auf die Schulter reichte.

Er hatte diese Frisur noch nie bei ihr gesehen (was wohl auch der Grund war, warum sie ihn heute trug). Sie wirkte viel jünger, und plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke an Olivia, mit der er in dem Bett geschlafen hatte, das er so lange mit Mary geteilt hatte.

»Hallo, Bart«, begrüßte sie ihn.

»Hallo. Du siehst fantastisch aus.«

»Danke.«

»Möchtest du einen Drink?«

»Nein … nur einen Andyburger. Wie lange bist du schon hier?«

»Oh, nicht allzulange.«

Die meisten Mittagsgäste waren inzwischen gegangen, und so kam der Kellner sofort zu ihnen. »Möchten Sie jetzt bestellen, Sir?«

»Ja. Zwei Andyburger. Ein Glas Milch für die Dame und für mich noch einen Doppelten.« Er warf Mary einen kurzen Blick zu, aber ihr Gesicht blieb gleichgültig. Das war schlecht.

Hätte sie protestiert, dann hätte er den zweiten Doppelten wohl sein lassen. Er hoffte, daß er nicht aufs Klo mußte, denn er war nicht sicher, ob er noch ohne zu schwanken gehen konnte. Das wäre natürlich ein gefundenes Fressen für die Alten zu Hause gewesen. Oh, bring mich nach Hause ins alte Virginia, dachte er und hätte fast gekichert.

»Nun, du bist noch nicht betrunken, aber du bist auf dem besten Wege dahin«, bemerkte sie, während sie ihre Serviette auseinanderfaltete.

»Das ist ein ziemlich guter Satz«, spottete er. »Hast du ihn geprobt?«

»Bart, laß uns nicht streiten.«

»Ist schon gut«, sagte er beschwichtigend.

Sie spielte mit ihrem Wasserglas, er mit seinem Pappuntersatz.

»Nun?« fragte sie schließlich.

»Was nun?«

»Du wolltest mir doch etwas sagen, als du angerufen hast.

Also, da du dir ja genug Mut angetrunken hast, was ist es?«

»Deine Erkältung ist besser geworden«, sagte er dämlich und bohrte ein Loch in den Untersatz, ohne daß er das eigentlich wollte. Er konnte ihr das, was ihn gerade am meisten beschäftigte, nicht sagen: wie sehr sie sich verändert hatte, wie gepflegt und - gefährlich sie auf einmal auf ihn wirkte, wie eine Sekretärin auf Männersuche, die extra spät zum Lunch gekommen war und von keinem Mann einen Drink akzeptieren würde, der nicht mindestens einen Vierhundert-Dollar-Anzug trug, was sie sofort am Schnitt erkennen konnte.

»Was wirst du jetzt tun, Bart?«

»Ich werde zu einem Psychiater gehen, wenn du willst«, antwortete er leise.

»Wann?«

»Bald.«

»Du kannst dir noch heute nachmittag einen Termin geben lassen, wenn du willst.«

»Ich kenne keinen Seelenklemp-ich kenne keinen.«

»Schau auf den Gelben Seiten nach.«

»Das scheint mir eine reichlich blöde Art zu sein, sich einen Seelenklempner zu suchen.«

Sie sah ihn nur an und blickte dann peinlich berührt zur Seite.

»Du bist böse auf mich, nicht wahr?« fragte sie.

»Na ja, ich habe zur Zeit keine Arbeit. Fünfzig Dollar pro Stunde sind für einen arbeitslosen Angestellten viel Geld.«

»Was glaubst du eigentlich, wovon ich jetzt lebe?« fragte sie wütend. »Von der Wohltätigkeit meiner Eltern. Und die leben, wie du weißt, von ihrer Rente.«

»Soweit ich informiert bin, besitzt dein Vater genug Vermögen in Wertpapieren, um euch alle drei noch bis ins nächste Jahrhundert hinein gut zu versorgen.«

»Bart, das stimmt nicht.« Sie klang schockiert und beleidigt.

»Ach Quatsch, das stimmt nicht. Sie sind letztes Jahr im Winter nach Jamaika gefahren und im Jahr davor nach Miami ins Hotel Fountainbleau, darunter ging gar nichts, und davor waren sie in Honolulu. Das schafft keiner bloß vom Altersgeld eines Ingenieurs. Also hör auf mit dem Verarmungs-wahn, Mary …«

»Bart, sei still! Du bist schon ganz grün vor Neid.«

»Ganz zu schweigen von ihren Cadillac Gran De Ville und ihrem Bonneville-Kombiwagen. Nicht schlecht. Mit welchem holen sie sich eigentlich ihre Lebensmittelmarken ab?«

»Sei still!« zischte sie ihn an. Ihre Lippen waren leicht zu-rückgezogen und gaben ihre kleinen, weißen Zähne preis, mit den Händen umklammerte sie die Tischkante.

»’tschuldigung«, flüsterte er.

»Da kommt das Essen.«

Ihre aufgebrachten Gemüter beruhigten sich etwas, während der Kellner ihnen die beiden Andyburger vorsetzte und das Gemüse, bestehend aus kleinen Erbsen und Silberzwiebeln, auf den Tisch stellte. Dann zog er sich diskret zurück.

Sie aßen eine Weile schweigend und konzentrierten sich darauf, nichts von der Sauce auf ihr Kinn oder in den Schoß kieckern zu lassen. Ich frage mich, wie viele Ehen so ein Andyburger wohl schon gerettet hat, dachte er. Einfach durch die glückliche Fügung, daß man nicht weiterreden konnte, wenn man sich mit ihm beschäftigte.

Sie legte ihren halb verzehrten Andyburger auf den Teller zurück, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und sagte: »Schmeckt immer noch so gut, wie ich es in Erinnerung habe. Bart, hast du überhaupt einen vernünftigen Vorschlag zu machen, was wir jetzt tun können?«

»Natürlich habe ich das«, antwortete er verletzt. Aber er hatte keine Ahnung, wie dieser Vorschlag aussehen sollte.

Wenn er sich noch einen Doppelten hätte bestellen können, wäre ihm vielleicht etwas eingefallen.

»Willst du die Scheidung?«

»Nein.« Es schien einfach notwendig, etwas Positives zu sagen.

»Willst du, daß ich zu dir zurückkomme?«

»Willst du das denn?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Soll ich dir mal was sagen, Bart? Ich mache mir Sorgen um mich. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren habe ich Angst um mich selbst. Ich muß mich allein durchbringen.« Sie nahm den Andyburger in die Hand, um noch einen Bissen zu nehmen, legte ihn dann aber zurück. »Weißt du eigentlich, daß ich dich fast nicht geheiratet hätte? Ist dir dieser Gedanke eigentlich schon mal gekommen?«

Sein überraschtes Gesicht schien sie zu befriedigen.

»Das dachte ich mir doch. Ich war schwanger, also wollte ich dich natürlich heiraten. Aber irgend etwas in mir wollte es nicht. Es flüsterte mir immer wieder zu, daß das der größte Fehler in meinem Leben sein könnte. Ich habe drei Tage lang darüber nachgebrütet und mich jeden Morgen beim Aufwachen übergeben, und dafür habe ich dich gehaßt. Ich hab’ mir alle Möglichkeiten überlegt: abhauen, eine Abtreibung, das Baby bekommen und zur Adoption freigeben, das Baby bekommen und es allein großziehen. Aber schließlich habe ich mich entschieden, das einzig Vernünftige zu tun. Das Vernünftige!« Sie lachte traurig. »Und dann habe ich es verloren.«

»Ja, das hast du«, murmelte er und wünschte insgeheim, daß sie sich über andere Dinge unterhalten könnten. Es war so, als öffnete man einen lange verschlossenen Schrank und müßte sich durch all den darin verborgenen Unrat wühlen.

»Aber ich bin glücklich mit dir gewesen, Bart.«

»Warst du das?« fragte er automatisch. Am liebsten wäre er davongelaufen. Die Sache mußte schiefgehen. Für ihn allemal.

»Ja. In einer Ehe geschieht etwas mit einer Frau, was einem Mann nie passiert. Kannst du dich noch daran erinnern, wie es war, als du ein Kind warst und dir nie über deine Eltern Gedanken gemacht hast. Du hast einfach erwartet, daß sie für dich da sind, und sie waren immer da, genauso wie das Essen und die Kleidung.«

»Ich glaube schon. Klar.«

»Und ich dumme Kuh hab’ mich schwängern lassen. Und für drei Tage hat sich mir eine völlig neue Welt eröffnet.« Sie beugte sich mit glänzenden Augen vor, und er stellte erschrocken fest, daß diese Erinnerungen wichtig für sie waren.

Das hatte für sie mehr Bedeutung gehabt als die Zusammenkünfte mit ihren kinderlosen Freundinnen oder die Entscheidung, welche Hose sie sich bei Banberry’s kaufen sollte, oder die Frage, welche Gäste Merv Griffin wohl heute abend in seiner Sendung vorführen würde. Hatte sie wirklich zwanzig Jahre ihrer Ehe mit diesem einen, wichtigen Gedanken verbracht? Hatte sie das? Sie hatte ja fast so etwas gesagt. Oh, mein Gott. Ihm wurde auf einmal übel. In seiner Erinnerung gefiel ihm das Bild von dem fröhlichen Mädchen, das triumphierend auf der anderen Straßenseite mit der gefundenen Pfandflasche winkt, viel besser.

»Ich habe mich plötzlich als unabhängigen Menschen gesehen«, fuhr sie fort. »Ich brauchte niemandem mehr etwas zu erklären, mich niemandem mehr unterzuordnen. Niemand war mehr da, der versuchen würde, mich zu ändern, denn ich glaube, ich war sehr leicht zu beeinflussen. In der Hinsicht war ich schon immer schwach. Aber andererseits wäre dann auch niemand mehr dagewesen, auf den ich mich hätte verlassen können, wenn ich mal krank wäre oder Angst hätte oder wenn’s mir schlecht ginge. Also habe ich mich für das Vernünftige entschieden. Wie meine Mutter und ihre Mutter und alle meine Freundinnen. Ich hatte es langsam satt, Brautjungfer zu spielen und immer wieder zu versuchen, den Brautstrauß einzufangen. Also sagte ich ja, wie du es erwartet hast, und alles war in Ordnung. Ich hatte keine Sorgen mehr, und als das Baby dann starb und danach Charlie, warst du immer für mich da. Und du warst gut zu mir.

Das weiß ich zu schätzen. Aber ich lebte in einer völlig abgeschlossenen Umgebung. Ich hörte auf zu denken. Ich glaubte zwar, daß ich nachdachte, aber das stimmte nicht. Und jetzt tut das Nachdenken weh. Es tut weh.« Sie sah ihn eine.Minute lang voller Ablehnung an, doch dann wurde ihr Gesicht weicher. »Ich bitte dich also, für mich mitzudenken, Bart. Was sollen wir jetzt tun?«

»Ich suche mir eine Arbeit«, log er.

»Eine Arbeit.«

»Und ich werde zu einem Psychiater gehen. Mary, es wird alles wieder gut, ehrlich. Ich war ein kleines bißchen aus der Bahn geworfen, aber jetzt ist es wieder gut. Ich werde …«

»Möchtest du, daß ich wieder zu dir nach Hause komme?«

»Klar, in ein paar Wochen. Ich muß mich nur noch ein bißchen fangen und dann …«

»Nach Hause? Wovon rede ich eigentlich? Sie reißen es ja bald ab. Was für ein Blödsinn - nach Hause!« Sie stöhnte auf.

»Oh, was für ein Durcheinander. Wie konntest du mich nur in so ein Durcheinander hineinziehen, Bart?«

Er konnte sie so nicht ertragen. Es war überhaupt nicht mehr die Mary, die er kannte. »Vielleicht reißen sie es ja gar nicht ab, Mary«, sagte er und langte über den Tisch, um ihre Hand zu nehmen. »Vielleicht ändern sie ihre Meinung doch noch, wenn ich zu ihnen gehe und die Sache noch mal durchspreche, wenn ich ihnen die Situation erkläre …«

Sie entriß ihm ihre Hand und starrte ihn entsetzt an.

»Bart«, flüsterte sie.

»Was ist?« fragte er unsicher. Was hatte er gesagt? Was konnte es, um Gottes willen, gewesen sein, daß sie auf einmal so furchtbar bleich aussah?

»Du weißt, daß sie das Haus abreißen werden. Du hast es schon sehr lange gewußt. Und jetzt sitzen wir hier und drehen uns immer wieder im Kreis, und …«

»Nein, das tun wir nicht«, widersprach er. »Ganz und gar nicht. Wir … wir …« Aber was taten sie dann? Ihm erschien plötzlich alles so unwirklich.

»Bart, ich glaube, ich gehe jetzt lieber.«

»Ich suche mir eine Arbeit …«

»Wir reden später miteinander.« Sie stand hastig auf und stieß mit der Hüfte gegen die Tischkante. Die Teller klirrten.

»Ich gehe zu einem Psychiater, Mary, ich verspreche dir …«

»Mama wollte, daß ich noch etwas für sie einkaufe …«

»Dann hau doch ab, du blöde Ziege!« brüllte er los. Mehrere Köpfe drehten sich nach ihnen um. »Sieh zu, daß du hier rauskommst, du Hexe! Du hast alles von mir gekriegt, und was bleibt nur jetzt? Ein Haus, das die Stadt bald abreißen wird. Verschwinde!«

Sie floh. Im Restaurant herrschte eine furchtbare Stille, die eine Ewigkeit zu dauern schien. Dann wurden die Gespräche vereinzelt wieder aufgenommen. Er blickte zitternd auf seinen halbverzehrten Andyburger hinab und fürchtete, daß er sich gleich übergeben würde. Als der Anfall vorbei war, bezahlte er und verließ das Lokal, ohne sich umzublicken.

12. Dezember 1973

Er hatte in der letzten Nacht (betrunken) eine Liste mit Weihnachtsgeschenken zusammengestellt, und jetzt war er mit einer rigide gekürzten Version in der Stadt, um seine Einkäufe zu erledigen. Die vollständige Liste war umwerfend gewesen - über einhundertundzwanzig Namen, wobei er an alle nahen und entfernten Verwandten von Mary und sich gedacht hatte, an alle gemeinsamen Freunde und Bekannten, und ganz unten hatte er noch - Gott erhalte den König - Steve Ordner mitsamt seiner Frau und seinem Dienstmädchen draufgesetzt.

Die meisten Namen hatte er wieder ausgestrichen und dabei irritiert über sich selbst gelacht. Jetzt schlenderte er langsam an den Schaufenstern voller Weihnachtsgeschenke vorbei, die alle im Namen eines vor langer Zeit verstorbenen deutschen Diebes verteilt werden sollten, der durch den Kamin in die Häuser geklettert war und den Leuten alles gestohlen hatte, was sie besaßen. Mit einer Hand streichelte er einen Packen von fünfhundert Dollar in Zehndollarscheinen in seiner Manteltasche.

Er lebte jetzt ganz von seinem Versicherungsgeld, und die ersten tausend Dollar waren mit erstaunlicher Geschwindigkeit ausgegeben. Er schätzte, daß das Geld, wenn er so weitermachte, höchstens bis Mitte März kommenden Jahres reichen würde, vermutlich nicht einmal so lange. Aber das bereitete ihm kein großes Kopfzerbrechen. Der Gedanke an den März und was er dann machen würde war ihm ebenso unverständlich wie Integralrechnungen.

Er betrat ein Juweliergeschäft und kaufte eine silberne An-stecknadel für Mary. Sie hatte die Form einer Eule, deren Augen aus kalt blinkenden Diamanten bestanden, und kostete ihn einhundertfünfzig Dollar plus Mehrwertsteuer. Die Verkäuferin gab sich überschwenglich. Sie sei sicher, daß seine Frau die Brosche lieben würde. Er lächelte ihr zu. Das waren mindestens drei Stunden bei Dr. Psycho, Freddy. Wie findest du das?

Freddy sprach wieder nicht mit ihm.

Er ging in ein großes Kaufhaus und fuhr mit dem Fahrstuhl zur Spielzeugabteüung hinauf, die von einer riesigen Anlage mit einer elektrischen Modelleisenbahn beherrscht wurde.

Grüne Plastikhügel, die von Tunneln durchzogen und mit Unter- und Überführungen, Plastikbahnhöfen, Signalen und Weichen gespickt waren, und durch das Ganze kämpfte sich eine kleine Lokomotive, die synthetische graue Rauchfäden aus dem Schornstein stieß und eine Unmenge von Güterwagen hinter sich herzog: B & O, SOO LINE, GREAT NORTHERN, GREAT WESTERN, WARNER BROTHERS (WARNER BROTHERS ??), DIAMOND INTERNATIONAL, SOUTHERN PACIFIC. Kleine Jungen standen mit ihren Vätern am Zaun, der die Anlage umgab, und er spürte plötzlich eine Welle von warmherziger Zuneigung für sie, die nicht von Neidgefühlen getrübt war. Er wäre am liebsten auf sie zugegangen, um seine Liebe und Dankbarkeit auszudrücken, die er sowohl für sie als auch für die schöne Vorweihnachtszeit empfand. Und er hätte sie gewarnt, daß sie bloß vorsichtig sein sollten.

Er schlenderte durch die Puppenabteilung und wählte jeweils eine Puppe für seine drei Nichten aus: Chatty Cathy für Tina, Maisie, die Akrobatin, für Cindy und eine Barbie-Puppe für Sylvia, die gerade elf geworden war. Danach kaufte er einen GI Joe für Bill und, nach einiger Überlegung, ein Schachspiel für Andy. Andy war jetzt zwölf und bereitete seinen Eltern in letzter Zeit ziemliche Sorgen. Die gute alte Bea aus Baltimore hatte Mary anvertraut, daß sie in letzter Zeit immer wieder nasse Flecken in Andys Bettwäsche entdeckte. War das möglich? So früh schon? Mary hatte ihr erklärt, daß die Kinder heutzutage immer frühreifer würden. Bea glaubte, daß es an der vielen Milch läge, die sie immer trinken würden, und natürlich an den Vitaminen, aber sie wünschte sich sehnlichst, daß Andy sich mehr für Sport interessieren würde oder fürs Sommerlager oder fürs Reiten oder was auch immer.

Mach dir nichts draus, Andy, dachte er und schob die Schachkassette unter seinen Arm. Ab jetzt übst du eben den Rösselsprung und Dame auf 6-A, und masturbierst dabei unterm Tisch, wenn du das Verlangen danach hast.

Vor der Spielzeugabteilung stand ein großer Thron für den Weihnachtsmann, aber er war leer. Auf dem leeren Sitz lag ein Schild:


DER WEIHNACHTSMANN ISST GERADE

IN UNSEREM BERÜHMTEN GRILLRESTAURANT

LEISTEN SIE IHM DOCH GESELLSCHAFT!


Ein junger Mann in einer Jeansjacke stand mit den Armen voller Pakete vor dem Thron und betrachtete ihn nachdenklich. Als er sich umdrehte, erkannte er Vinnie Mason.

»Vinnie!« rief er.

Vinnie lächelte ihm zu und wurde ein bißchen rot, als ob er bei einem Streich erwischt worden wäre. »Hallo, Bart«, sagte er und kam zu ihm herüber. Sie brauchten sich über das Händeschütteln keine Gedanken zu machen, dazu waren sie beide zu bepackt.

»Machst du ein paar Weihnachtseinkäufe?« fragte er Vinnie.

»Ja.« Vinnie lachte verlegen. »Letzten Samstag habe ich Sharon und Bobbie - das ist meine kleine Tochter Roberta - hergebracht. Sie ist jetzt drei. Wir wollten, daß sie sich zusammen mit dem Weihnachtsmann fotografieren läßt, aber sie wollte nicht. Sie machen das immer samstags, weißt du, kostet nur einen Dollar. Jedenfalls hat sie geschrien wie am Spieß. Sharon war das etwas peinlich.«

»Na ja, das ist ja auch ein großer, fremder Mann mit einem unheimlichen Bart. Davor haben die Kleinen manchmal Angst. Vielleicht schafft ihr’s nächstes Jahr.«

»Ja, vielleicht.« Vinnie lächelte kurz.

Er lächelte ebenfalls und dachte, daß es mit Vinnie jetzt viel leichter ging. Er hätte ihm gerne gesagt, daß er ihn nicht zu sehr hassen solle. Er wollte ihm sagen, daß es ihm leid tue, wenn er sein Leben zu sehr durcheinandergebracht hätte.

»Und, was machst du jetzt so?« fragte er statt dessen.

Vinnie fing an zu strahlen. »Du wirst es kaum glauben, mir geht’s ausgezeichnet. Ich bin jetzt Manager von einem Kino. Im nächsten Sommer kommen noch drei hinzu.«

»Etwa bei Media Associates?« Das war eine von Amrocos Firmen.

»Ja, genau. Wir gehören zu einer Kinokette. Der Verleih schickt uns alle Filme … alles Kassenschlager. Aber das Westfall-Kino leite ich ganz selbständig.«

»Und sie geben dir noch ein paar Kinos dazu?«

»Ja. Kino II und III im nächsten Sommer. Und dann noch das Beacon-Autokino, das übernehme ich auch.«

Er zögerte. »Vinnie, sag’s mir, wenn ich zu weit gehen sollte, aber ich frage mich, wenn die Gesellschaft alle Filme auswählt und dir zuschickt … was hast du dann eigentlich noch zu tun?«

»Ich verwalte das Geld, was denn sonst? Und ich erledige alle Besorgungen. Weißt du, daß man allein von den Einnahmen des Bonbonkiosks die Miete für einen ganzen Abend bestreiten kann, wenn man’s richtig macht? Dann sind da noch die Wartungsarbeiten und …« er schluckte vernehmlich

»…die Personalverwaltung. Ich werde ganz schön zu tun haben. Sharon gefällt es, denn sie ist ein richtiger Kinofan.

Für Paul Newman und Clint Eastwood schwärmt sie besonders. Und mit gefällt es, weil ich statt neuntausend nun elftausendfünfhundert Dollar verdiene.«

Er musterte Vinnie mürrisch und fragte sich, ob er es ihm sagen sollte. Das war also Ordners Preis. Braves Hündchen, komm her, hier ist dein Knochen.

»Sieh zu, daß du da raus kommst, Vinnie«, sagte er. »So schnell wie möglich.«

»Aber Bart?« Vinnie runzelte ehrlich verwirrt die Augenbrauen.

»Weißt du, was das Wort Gofer bedeutet, Vinnie?«

»Gopher? Na klar, das sind so kleine Erdhörnchen, die überall Löcher in die Erde buddeln …«

»Nicht mit ph, mit f. G-o-f-e-r.«

»Keine Ahnung, Bart. Ist das was Jüdisches?«

»Es bedeutet, ein niederer Angestellter zu sein. Einer, der Befehle ausführen muß. Ein Laufbursche. Geh, hol mir ‘nen Kaffee! Bring mir ein paar Sandwiches! Geh doch kurz mal um den Block für mich!«

»Bart, wovon redest du eigentlich? Ich meine …«

»Ich meine, daß Steve Ordner sich deines Falles angenommen und ihn dem Aufsichtsrat - den Leuten, auf die es eigentlich ankommt - unterbreitet hat. Hört mal her, Leute, wir müssen was mit diesem Mason unternehmen, eine deli-kate Sache. Er hat uns gewarnt, daß dieser Dawes eine krumme Sache im Schilde führt. Er hat zwar nicht stark genug auf die Pauke gehauen, daß wir rechtzeitig hätten ein-schreiten können, bevor die Wäscherei kaputtging, aber wir sind ihm trotzdem etwas schuldig. Natürlich können wir ihm nicht zuviel Verantwortung überlassen. Und weißt du auch, warum, Vinnie?«

Vinnie sah ihn böse an. »Ich weiß, daß ich mir deinen Mist nicht mehr gefallen lassen muß, Bart. Das habe ich nicht mehr nötig.«

Er machte ein ernstes Gesicht. »Ich will dich nicht reinlegen, Vinnie. Was du tust oder läßt, geht mich nichts mehr an.

Aber, um Himmels willen, Vinnie, du bist noch jung. Ich kann nicht mitansehen, wie du dir dein Leben auf diese Weise vermiesen läßt. Der Job, den sie dir da gegeben haben, ist zwar auf kurze Sicht eine Riesenorange, aber auf lange Sicht wird er sich als Zitrone erweisen. Die verantwortungsvollste Entscheidung, die du je zu treffen haben wirst, wird sein, ob du mehr Pappbecher oder Milkyways für den Automaten bestellen sollst. Und Ordner wird dafür sorgen, daß es immer so bleibt. Jedenfalls solange du bei dieser Gesellschaft bleibst.«

Die Vorweihnachtsfreude, wenn es das überhaupt gewesen war, war aus Vinnies Augen verschwunden. Er umklammerte seine Pakete so fest, daß das Papier bei einigen zerriß, und seine Augen wurden grau vor Ärger. Das Bild eines jungen Mannes, der in freudiger Erwartung auf sein Mädchen das Haus verläßt und feststellen muß, daß jemand alle vier Reifen seines Wagens aufgeschlitzt hat. Er hört mir gar nicht zu. Ich könnte es ihm immer wieder auf Tonband vorspielen, er würde nicht daraufhören.

»Wie sich herausgestellt hat, hast du das Richtige getan«, fuhr er fort. »Ich weiß zwar nicht, was die Leute über mich reden …«

»Sie halten dich alle für verrückt, Bart«, zischte Vinnie mit spitzer, feindseliger Stimme.

»Ist ja auch egal. Jedenfalls hattest du recht. Aber in anderer Hinsicht hattest du auch wieder unrecht. Du hast mich verraten. Und Verrätern geben sie keine hohen Positionen, nicht einmal, wenn sie der Gesellschaft einen Dienst erwiesen haben, und auch dann nicht, wenn die Gesellschaft - falls sie geschwiegen hätten - besonders geschädigt worden wäre. Diese Leute in der vierzigsten Etage sind wie die Ärzte, Vinnie. Sie mögen es nicht, wenn über Interna geredet wird, genausowenig wie die Ärzte es leiden können, wenn man sich über einen Kollegen das Maul zerreißt, der im Suff einen Patienten falsch operiert hat.«

»Du hast dir allen Ernstes vorgenommen, mein Leben kaputtzumachen, nicht wahr?« fragte Vinnie ihn. »Aber ich arbeite nicht mehr für dich, Bart. Geh und verspritz dein Gift woanders.«

Der Weihnachtsmann kam vom Mittagessen zurück. Er trug einen riesigen Sack über der Schulter, lachte gutmütig und zog eine Reihe von kleinen Kindern wie eine bunte Papierschlange hinter sich her.

»Vinnie, sei doch nicht blind! Sie haben dir nur die bittere Pille versüßt. Klar, du verdienst jetzt elftausendfünfhundert im Jahr, und im nächsten, wenn die drei Kinos hinzukommen, werden es vielleicht vierzehntausend sein. Aber dabei wirst du dann auch die nächsten zwölf Jahre bleiben. Und dann kriegt man nicht mal mehr ‘ne Cola für lausige dreißig Cents. Besorgen Sie uns einen neuen Teppich. Kümmern Sie sich um den Bezug der Sitze. Schicken Sie diese Filmrollen zurück, die sind nur aus Versehen hier gelandet. Willst du diesen Mist immer noch machen, wenn du vierzig bist? Ohne Zukunftsaussichten außer einer goldenen Uhr zum Firmenjubiläum?«

»Immer noch besser als das, was du tust.« Vinnie drehte sich abrupt um und wäre fast mit dem Weihnachtsmann zusammengestoßen, der unter seinem Bart gar nicht so freundlich murmelte: »Können Sie nicht aufpassen, Sie Idiot?«

Er lief hinter Vinnie her. Etwas an seinem Gesichtsausdruck hatte ihm verraten, daß er doch zu ihm durchgedrun-gen war, trotz seiner abweisenden Haltung. Lieber Gott, bitte, laß ihn mich anhören.

»Laß mich in Ruhe, Bart. Hau ab!«

»Gib den Job auf«, wiederholte er. »Wenn du bis zum nächsten Sommer wartest, könnte es schon zu spät sein. Der Arbeitsmarkt wird so eng wie ein Keuschheitsgürtel werden, wenn das mit der Energiekrise so weitergeht, Vinnie. Es könnte deine letzte Chance sein. Es …«

Vinnie fuhr herum. »Ich sage es dir zum letzten Mal, Bart!«

»Du spülst deine wertvolle Zukunft im Klo hinunter, Vinnie. Dazu ist das Leben zu kurz. Was wirst du deiner Tochter sagen, wenn du …«

Vinnie schlug ihn direkt aufs Auge. Ein greller Schmerz durchzuckte ihn, und er stolperte mit rudernden Armen zurück. Die Kinder, die dem Weihnachtsmann gefolgt waren, fielen über die Spielsachen, die er gekauft hatte - Puppen, GI Joe, Schachspiel - und die jetzt in hohem Bogen durch die Luft flogen. Er fiel in ein Regal mit Spieltelefonen, die sich über den Boden verstreuten. Ein kleines Mädchen schrie auf wie ein verwundetes Tier, und er dachte: Weine nicht, meine Kleine, es ist nur der alte George, der fällt auch zu Hause öfter mal um. Jemand anderer, vielleicht der liebe, gute Weihnachtsmann, fluchte und rief nach dem Hausdetektiv. Dann lag er auf dem Boden inmitten von Plastikgehäusen, Telefondrähten, herausgefallenen Batterien und losen Hörern. Aus einem sagte eine Stimme wieder und wieder in sein Ohr: Möchtest du mit mir in den Zirkus gehen? Möchtest du mit mir in den Zirkus gehen? Möchtest du …‹

17. Dezember 1973

Das Schrillen des Telefons riß ihn aus einem unruhigen Mittagsschlaf. Er hatte geträumt, daß ein junger Wissenschaftler die Möglichkeit entdeckt hätte, durch eine Änderung der chemischen Zusammensetzung von Erdnüssen unbegrenzte Mengen von umweltfreundlichem Benzin zu erzeugen. Das schien sämtliche Probleme zu lösen, die nationalen wie die persönlichen, und der Traum hatte ihn in eine Stimmung von aufkeimender Freude versetzt. Das Telefon hatte allmählich einen Kontrapunkt dazu gebildet, der ihm immer mehr ins Bewußtsein gedrungen war, bis der Traum sich schließlich aufgejöst und der unwillkommenen Realität Platz gemacht hatte.

Er rappelte sich von der Couch auf, schlurfte zum Apparat hinüber und nahm den Hörer ab. Sein Auge tat nicht mehr weh, aber im Spiegel konnte er immer noch das Veilchen erkennen.

»Hallo?«

»Hallo Bart, hier ist Tom.«

»Oh, Tom. Wie geht es dir?«

»Ganz gut. Hör mal, Bart, ich dachte, du würdest es gern wissen. Sie reißen morgen das Blue Ribbon ab.«

Er riß die Augen weit auf. »Morgen? Das kann doch nicht sein. Sie … Himmel, es ist doch bald Weihnachten.«

»Gerade darum.«

»Aber sie sind doch noch gar nicht soweit.«

»Es ist das letzte Geschäftsgebäude, das ihnen noch im Weg steht. Sie wollen es noch wegräumen, bevor sie in die Weihnachtsferien gehen.«

»Bist du sicher?«

»Ja, sie habe es heute morgen in den lokalen Nachrichten gebracht.«

»Wirst du dir das ansehen?«

»Sicher. Ich hab’ zu viele Jahre meines Lebens in den alten Mauern verbracht, um mir das entgehen zu lassen.«

»Dann sehe ich dich wohl morgen.«

»Das nehme ich an.«

Er zögerte einen Augenblick. »Hör mal, Tom, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich glaube nicht, daß sie das Blue Ribbon wieder aufmachen werden, weder in Waterford noch sonstwo. Wenn ich dein Leben völlig durcheinandergewor-fen habe …«

»Nein, nein, mir geht es gut. Ich bin jetzt Techniker bei den Brite-Kleen-Leuten. Kürzere Arbeitszeit, bessere Bezahlung. Ich hab’ wohl die Rose auf dem Misthaufen gefunden.«

»Wie ist es da?«

Tom seufzte durch die Leitung. »Nicht sehr schön. Aber ich bin schon über fünfzig, da ist es schwierig, sich umzugewöhnen. In Waterford wäre es wohl dasselbe gewesen.«

»Tom, was ich getan habe …«

»Ich will nichts davon hören, Bart. Das ist eine Sache zwischen dir und Mary und geht mich nichts an.«

»In Ordnung.«

»Eh … kommst du zurecht?«

»Klar. Ich hab’ da so einiges in Aussicht.«

»Freut mich zu hören.« Tom schwieg, bis die Stille belastend wurde, und er wollte ihm schon für den Anruf danken und auflegen, als Tom plötzlich weitersprach: »Steve Ordner hat mich deinetwegen angerufen. Direkt hier bei mir zu Hause.«

»Oh, tatsächlich? Wann?«

»Letzte Woche. Er ist verdammt sauer auf dich, Bart. Er hat immer wieder gefragt, ob einer von uns etwas davon gewußt hat, daß du das Waterford-Geschäft platzen lassen wolltest.

Aber das war nicht alles. Er wollte alles mögliche wissen.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Ob du mal was aus dem Geschäft mit nach Hause genommen hättest, Büromaterial oder was weiß ich. Ob du jemals Geld aus der Kasse genommen hast, ohne einen Beleg hin-einzutun, oder ob du deine Privatwäsche auf Geschäftskosten gewaschen hast. Er hat mich sogar gefragt, ob du mit einigen Motels vielleicht Extra vertrage gehabt hast.«

»Dieser Hurensohn«, sagte er nachdenklich.

»Wie ich schon sagte, dieser Mistkerl sucht nach einem dicken Kolben, mit dem er dir das Maul stopfen kann, Bart.

Ich glaube, er hofft, dir was Kriminelles anhängen zu können, um dich dranzukriegen.«

»Das wird ihm nicht gelingen. Es bleibt alles in der Familie. Und die ist auseinandergebrochen.«

»Sie ist schon vor langer Zeit kaputtgegangen«, sagte Tom gelassen. »Als Ray Tarkington gestorben ist. Ich kenne sonst niemanden, der sauer auf dich ist, außer eben Ordner. Diese Kerle in der Verwaltung … für die zählen nur Dollars und Cents. Sie haben keinen blassen Schimmer vom Wäschereigeschäft, und sie wollen auch gar nichts davon wissen.«

Darauf fiel ihm nichts zu sagen ein.

»Also …« Tom seufzte. »Ich dachte, das solltest du wissen. Sag mal, hast du das von Johnny Walkers Bruder gehört?«

»Arnie? Nein, was ist mit ihm?«

»Er hat sich umgebracht.«

»Was?«

Tom machte ein Geräusch, als würde er Luft durch seine Vorderzähne saugen. »Er hat einen Schlauch vom Auspuffrohr durch das Fenster seines Wagens geführt und alles dichtgemacht. Der Zeitungsjunge hat ihn gefunden.«

»Heiliger Jesus«, flüsterte er und dachte an Arnie, wie er auf dem Krankenhausstuhl gekauert und gezittert hatte.

»Das ist ja schrecklich.«

»Ja …« Tom machte wieder dieses saugende Geräusch.

»Wir sehen uns dann morgen, Bart.«

»Klar. Danke, daß du angerufen hast.«

»Bitte, bitte. Wiedersehen.«

Er legte langsam den Hörer auf und dachte immer noch an Arnie und an das hohe, wimmernde Weinen, in das Arnie ausgebrochen war, als er den Priester gesehen hatte.

Jesus, er hat seine Hostien dabei, haben Sie das gesehen?

»Das ist eine Schande«, sagte er ins leere Wohnzimmer, und die Worte hallten tot von den Wänden zurück. Dann ging er in die Küche und mixte sich einen Drink.

Selbstmord.

Das Wort hatte einen zischenden, bedrängenden Klang wie eine Schlange, die sich durch einen engen Spalt windet.

Es schlüpfte wie ein entfliehender Sträfling zwischen der Zunge und dem Gaumen hervor.

Selbstmord.

Seine Hand zitterte, als er den Southern Comfort ins Glas schüttete, und der Flaschenhals klapperte gegen den Glasrand. Warum hat er das getan, Freddy? Sie waren doch nur zwei alte Kumpel, die eine gemeinsame Wohnung hatten. Jesus Christus, warum tut jemand so was?

Aber er glaubte, daß er den Grund kannte.

18.-19. Dezember 1973

Er kam schon morgens um acht zur Wäscherei. Obwohl die Abbrucharbeiten nicht vor neun beginnen würden, stand schon eine ansehnliche Menschengruppe herum, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und den Atem in weißen Wölkchen vor den Mündern wie Sprechblasen. Tom Granger, Ron Stone, Ethel Diment, die Hemdenbüglerin, die sich während der Mittagspause meistens betrank und dann den ganzen Nachmittag über sämtliche Hemdenkrägen verbrannte, Gracie Floyd und ihre Cousine Maureen, die beide an den Heißmangeln gearbeitet hatten, und noch zehn oder fünfzehn andere.

Die Straßenbaubehörde hatte gelbe Sägeböcke und Warnblinker sowie große orangefarbene Schilder mit schwarzer Schrift aufstellen lassen:

UMLEITUNG

Die Schilder lenkten den Verkehr um den Block herum. Auch der Bürgersteig gegenüber der Wäscherei war abgesperrt.

Tom Granger grüßte ihn kurz mit einem Kopfnicken, kam aber nicht zu ihm herüber. Die anderen von der Wäscherei warfen ihm neugierige Blicke zu und steckten die Köpfe zusammen.

Verfolgungswahn, Freddy. Wer wird der erste sein, der auf mich zugeht und mir j’accuse ins Gesicht brüllt?

Aber Freddy sagte heute wieder nichts.

Um Viertel vor neun fuhr ein brandneuer Toyota Corolla vor, der das Zehn-Tage-Probefahrt-Schild noch im Rückfenster kleben hatte, und Vinnie Mason stieg aus. Er war elegant gekleidet, wirkte aber noch etwas unsicher in dem teuren Ka-melhaarmantel und mit den Lederhandschuhen. Er warf ihm einen wütenden Blick zu, der selbst Stahlnägel verbogen hätte, und ging auf die Gruppe zu, in der Ron Stone, Dave und Pollack zusammenstanden.

Um zehn vor neun kam der Kran die Straße herauf. Die große Stahlkugel baumelte wie eine riesige, vom Körper losgetrennte äthiopische Titte vom Kranhals herab. Der Kran rollte langsam und betulich auf seinen schweren, brusthohen Rädern daher, und das Dröhnen des Dieselmotors hämmerte wie der Meißel eines Bildhauers, der eine Skulptur aus einem unförmigen Block herausschlägt, in die kühle, silbrige Morgenluft.

Ein Mann mit einem gelben Sturzhelm lotste ihn über den Randstein auf den Parkplatz hinauf; oben in der Kabine konnte er einen zweiten Mann erkennen, wie er die Gänge wechselte und die Kupplung mit seinem großen, klobigen Fuß betätigte. Aus dem Schornstein pufften braune Rauchwolken empor.

Seit er seinen Wagen drei Blocks entfernt geparkt und hierhergelaufen war, hatte ihn ein eigenartiges, schleichendes Gefühl befallen, das er sich nicht ganz erklären konnte. Als er jetzt beobachtete, wie der Kran vor dem alten Ziegelsteinbau direkt in der früheren Ladezone hielt, wurde es ihm plötzlich klar. Es war, als käme man zum letzten Kapitel eines Romans von Ellery Queen, in dem alle Hauptpersonen versammelt sind, um den Hergang des Verbrechens erklärt zu bekommen, bis der Schurke entlarvt wird. Gleich würde jemand - höchstwahrscheinlich Steve Ordner-aus der Menge heraustreten, mit dem Finger auf ihn zeigen und Der ist es! Bart Dawes! Er hat das Blue Ribbon umgebracht! brüllen. Dann würde er seine Pistole ziehen, um den Rächer zum Schweigen zu bringen, statt dessen aber selbst von Polizeikugeln durchlöchert werden.

Die Vorstellung verwirrte ihn. Er blickte die Straße hinunter, um sich zu beruhigen, aber sein Magen sank einen Stock tiefer, als er plötzlich Ordners flaschengrünen Delta 88 entdeckte, der mit laufendem Motor direkt hinter der gelben Absperrung stand. Steve Ordner musterte ihn ruhig durch die polarisierten Gläser seiner Brille.

In diesem Augenblick schwang die Stahlkugel in einem flachen, kreischenden Bogen, und die Menge stieß einen Seufzer aus, als sie gegen die Ziegelmauer traf und mit dem hohlen, donnernden Detonationsgetöse einer Kanonenkugel hindurchschlug.

Um vier Uhr am Nachmittag war vom Blue Ribbon nur noch ein unordentlicher Haufen aus Glas und Ziegelbrocken übrig, aus dem die ehemaligen, jetzt zerschmetterten Stützbalken wie das Skelett eines ausgegrabenen Dinosauriers herausragten.

Was er später tat, geschah, ohne daß er sich Gedanken darüber machte, was für Folgen es haben könnte. Er befand sich dabei in einem ähnlichen Geisteszustand wie einen Monat zuvor, als er die Gewehre in Harveys Waffengeschäft gekauft hatte. Nur brauchte er jetzt nicht mehr die Sicherung herauszudrehen. Freddy sagte nichts mehr.

Er fuhr zur Tankstelle und ließ den LTD volltanken. Der Himmel hatte sich im Laufe des Tages bewölkt, und im Radio wurde ein Schneesturm angekündigt - fünfzehn bis zwanzig Zentimeter Neuschnee. Er kam nach Hause, stellte den Wagen in der Garage ab und ging in den Keller hinunter.

Unter der Treppe standen zwei große Kartons voller leerer Soda- und Bierflaschen, die mit einer zentüneterdicken Staubschicht bedeckt waren. Einige der Flaschen waren wohl schon über fünf Jahre alt. Selbst Mary mußte sie während des letzten Jahres vergessen haben, denn sie hatte aufgehört, ihn zu drängen, er solle sie endlich zum Laden zurückbringen.

Die meisten Geschäfte nahmen heute ja sowieso keine Pfandflaschen mehr an. Gebrauchen und wegwerfen war die Devise. Zum Teufel damit.

Er stellte einen Karton auf den anderen und trug sie zur Garage hinauf. Als er in die Küche ging, um ein Messer, Marys Trichter und ihren Putzeimer zu holen, hatte es zu schneien angefangen.

Er drehte das Garagenlicht an und holte den grünen Gartenschlauch vom Nagel, wo er seit der dritten Septemberwoche gehangen hatte. Er schnitt die Düse ab, die mit einem unbedeutenden Klick auf den Zementfußboden fiel. Dann maß er zirka drei Fuß ab und schnitt ihn noch mal durch. Den Rest stieß er mit dem Fuß zur Seite und betrachtete das Stück, das er in der Hand hielt, einen Augenblick nachdenklich. Er schraubte die Benzinkappe vom Tank und ließ den Schlauch sanft wie ein zärtlicher Liebhaber hineingleiten.

Er hatte schon öfter beim Benzinabsaugen zugesehen und kannte das Prinzip, aber er hatte es noch nie selbst ausprobiert. Jetzt wappnete er sich innerlich gegen den Geschmack und sog dann an dem einen Schlauchende. Einen Augenblick spürte er nur eine unsichtbaren Widerstand, doch plötzlich füllte sein Mund sich mit einer so kalten und fremdartigen Flüssigkeit, daß er sich sehr beherrschen mußt, um nicht nach Luft zu schnappen und das Zeug aus Versehen runterzuschlucken. Er zog eine Grimasse und spuckte es aus, aber der Geschmack blieb wie ein lebensbedrohender Begleiter auf seiner Zunge. Er hängte das Schlauchende über den Rand von Marys Putzeimer und sah zu, wie ein dünner rötlicher Strahl auf den Eimerboden spritzte. Nach einer Weile tröpfelte der Strahl nur noch, und er hatte schon Angst, daß er das Ganze noch mal machen müßte, doch dann wurde er wieder dicker und floß beständig weiter. Es hörte sich an wie das Urinieren in einem öffentlichen Klo.

Er spuckte auf den Boden, spülte seinen Mund mit Speichel und spuckte nochmals. Nun hatte er fast jeden Tag in seinem Erwachsenenleben mit Benzin zu tun gehabt, aber so einen intimen Kontakt hatte er noch nie erlebt. Er hatte es nur einmal mit den Fingern berührt, als er den kleinen Tank seines Rasenmähers überfüllt hatte. Plötzlich war er froh, daß es geschehen war. Selbst der unangenehme Geschmack im Mund schien ganz in Ordnung zu sein.

Während der Eimer sich füllte, ging er wieder ins Haus (es schneite jetzt stärker) und holte ein paar Putzlumpen aus dem Schrank unter der Küchenspüle. Er nahm sie in die Garage mit und riß sie dort in Streifen, die er auf der Motorhaube des LTD ausbreitete.

Als der Eimer halb voll war, hängte er den Schlauch in den kleinen galvanisierten Stahleimer, in dem er normalerweise Asche und Schlacke aufbewahrte, um damit die glatte Auffahrt im Winter zu streuen. Während dieser sich füllte, stellte er die zwanzig Bier- und Sodaflaschen in vier ordentlichen Reihen auf und füllte sie mit Hilfe des Trichters dreiviertel voll Benzin. Danach zog er den Schlauch aus dem Stahleimer und schüttete den Inhalt in Marys Putzeimer um. Der Eimer war jetzt fast randvoll.

Er steckte einen Fetzen Stoff in jeden Flaschenhals, um sie dicht zu verschließen. Dann brachte er den Trichter ins Haus zurück. Der Schnee bedeckte jetzt in kleinen, schiefen Windverwehungen den Boden, und die Auffahrt war schon ganz weiß. In der Küche stellte er den Trichter ins Spülbecken und nahm den Plastikdeckel von Marys Eimer aus dem Schrank. Wieder in der Garage, deckte er den Eimer fest damit zu. Er öffnete den Kofferraum des LTD und stellte den Eimer hinten rein. Dann stellte er seine Molotowcocktails in einen der Kartons, dich nebeneinander, so daß sie nicht umkippen konnten und aufgereiht wie wachsame Soldaten dastanden. Den Karton stellte er in Reichweite auf den Beifahrersitz. Dann ging er ins Haus zurück, setzte sich in seinen Sessel und schaltete mit seinem Raumfahrtcommander den Fernseher ein. Der ›Dienstagabendfilm der Woche‹ war ein Western mit David Janssen in der Hauptrolle. Er fand, daß David Janssen einen ziemlich bescheuerten Cowboy abgab.

Als der Film vorbei war, behandelte Marcus Welby einen geistig gestörten Teenager auf Epilepsie. Der Teenager fiel immer wieder in der Öffentlichkeit in Ohnmacht. Marcus Welby heilte ihn natürlich. Danach folgten zwei Reklamespots, einer für Hundefutter und einer für ein Schallplattenalbum mit einundvierzig beliebten Spirituals. Dann die Nachrichten. Die Wettervorhersage kündigte an, daß es die ganze Nacht über und die Hälfte des nächsten Tages schneien würde. Die Bevölkerung wurde gebeten, möglichst zu Hause zu bleiben. Die Straßen wären gefährlich glatt, und die Räumfahrzeuge würden erst gegen zwei Uhr morgens mit ihrer Arbeit beginnen. Starke Winde sorgten für Schneeverwehungen, und alles in allem würden in den nächsten zwei Tagen die Straßenverhälrnisse ziemlich schlecht sein.

Nach den Nachrichten kam Dick Cavett dran. Er sah sich die Sendung ungefähr eine halbe Stunde an und schaltete den Fernseher dann ab. Ordner wollte ihm also etwas Kriminelles anhängen, was? Nun, wenn er hinterher mit seinem LTD steckenblieb, konnte er das haben. Aber er glaubte, daß seine Chancen ganz gut standen. Der LTD war ein schwerer Wagen und hatte Spikes auf den Hinterrädern.

Er zog sich seinen Mantel, Hut und Handschuhe an und blieb dann zögernd in der Küchentür stehen. Er machte noch mal einen Rundgang durch das warme, erleuchtete Haus und sah sich alles an - den Küchentisch, den Herd, den Eßzimmerschrank mit den am oberen Regal aufgehängten Teetassen, das Alpenveilchen auf dem Kaminsims im Wohnzimmer - und eine heiße Woge von Zuneigung durchströmte ihn. Er wollte das alles beschützen. Er stellte sich vor, wie die Stahlkugel mit Getöse durchs Haus fahren, die Mauern einstürzen, die Fenster zersplittern, die Trümmer über die Fußböden verstreuen würde. Niemals. Das würde er nie zulassen. Auf diesen Böden war Charlie herumgekrochen. Im Wohnzimmer hatte er seine ersten Schritte gelernt. Er war einmal von den Stufen vor der Haustür heruntergefallen und hatte seine Eltern damit fast zu Tode erschreckt. Charlies Zimmer war jetzt eine Art Arbeitszimmer im ersten Stock, aber es war trotzdem noch der Raum, in dem er seine ersten Kopfschmerzen bekommen, in dem er zum ersten Mal doppelt gesehen und diese seltsamen Gerüche wahrgenommen hatte. Manchmal wie Schweinebraten, dann wie verbranntes Gras, manchmal auch die Schnipsel vom Spitzen eines Bleistifts. Als Charlie gestorben war, waren über hundert Leute kondolieren gekommen, und Mary hatte sie in diesem Wohnzimmer mit Kaffee und Kuchen bewirtet.

Nein, Charlie, dachte er, nicht, wenn ich es verhindern kann.

Er zog das Garagentor auf und stellte fest, daß schon gut zehn Zentimeter Schnee in der Auffahrt lagen, Pulverschnee. Er stieg in den LTD und ließ den Motor warmlaufen.

Der Tank war noch zu Dreiviertel voll. Während er in dem mysteriösen grünen Licht der Blinklämpchen vom Armaturenbrett saß, mußte er an Arnie Walker denken. Nur die Länge eines Gartenschlauchs, das war gar nicht so schlimm.

Es wäre genauso, als würde man einschlafen. Er hatte mal irgendwo gelesen, daß eine Kohlenmonoxidvergiftung wie Einschlafen wäre. Es brachte einem sogar die Farbe ins Gesicht zurück, so daß man rosig und gesund aussah, voller Vitalität und Leben. Es …

Er schauerte zusammen, als wäre ihm sein eigener Geist begegnet. Er schaltete die Heizung ein. Als der Motor gleichmäßig lief und er zu zittern aufgehört hatte, legte er den Rückwärtsgang ein und setzte den Wagen zurück in den Schnee. Er konnte das Benzin in Marys Putzeimer glucksen hören, und das erinnerte ihn daran, daß er etwas vergessen hatte.

Er stellte den Wagen ab und ging noch mal ins Haus zurück. In der Schreibtischschublade fand er ein Paket Streichhölzer und packte seine Manteltaschen mit gut zwanzig Heftchen voll. Dann lief er wieder nach draußen.

Die Straße war sehr glatt.

An manchen Stellen befanden sich blanke Eisplatten unter dem Schnee, und als er vor der Ampel an der Crestallen-Garner-Kreuzung bremste, stellte der LTD sich quer. Als er den rutschenden Wagen abgefangen hatte, schlug sein Herz wie wild gegen seine Rippen. Das war wirklich ein verrücktes Unterfangen. Wenn er mit all dem Benzin einen Unfall baute, könnte man ihn nur noch mit einem Löffel von der Straße abkratzen und seine Überreste in einer Hundefutterschachtel begraben.

Besser als Selbstmord. Selbstmord ist eine Todsünde.

Reverenz an die Katholiken. Aber er glaubte nicht, daß es zu einem Unfall kommen würde. Es waren so gut wie keine Autos auf den Straßen, und er sah auch weit und breit keine Bullen. Die saßen wohl zusammengepfercht wie die Hühner in den Nebenstraßen in ihren Autos.

Er bog vorsichtig auf die Kennedy-Promenade ein, die für ihn wohl immer die Dumont Street bleiben würde. So hatte die Straße bis Januar 1964 geheißen, als der Stadtrat in einer Sondersitzung beschlossen hatte, sie umzubenennen. Die Dumont-Kennedy-Promenade führte vom Westend direkt in die Stadtmitte und lief gut zwei Meilen parallel zur neuen 784-Autobahn. Er blieb etwa eine Meile auf ihr und bog dann in die Grand Street ab. Eine halbe Meile weiter hörte die Straße plötzlich auf, ausgelöscht so wie das Grand Theatre selbst, möge es in Frieden ruhen. Im nächsten Sommer würde man die Grand wieder zum Leben erwecken, dann in Form einer Überführung (eine von den dreien, die er Magliore gegenüber erwähnt hatte), aber es würde nie wieder die alte Straße sein. Anstelle des Kinos sah man dann zur Rechten nur sechs - oder waren es acht? - dicht befahrene Fahrspuren unter sich. Er hatte sich durch das Fernsehen und die Tageszeitung eine Menge Informationen über die Baustelle angeeignet, aber nicht etwa bewußt, es war eher durch eine Art Osmose geschehen. Vielleicht sammelte er das Material ebenso instinktiv wie ein Eichhörnchen seinen Nußvorrat für den Winter. So wußte er zum Beispiel, daß die Baufirmen, die bei der Stadt unter Vertrag standen, ihre Hauptarbeiten für den Winter fast abgeschlossen hatten und daß sie alle notwendigen Demolierungen (das war’ doch mal ein Wort für dich, Freddy, Demolierungen! - aber Freddy nahm das Stichwort nicht auf) innerhalb der Stadtgrenzen bis Ende Februar beendet haben würden. Das schloß auch die Crestallen Street West mit ein. In gewisser Weise entbehrte die Sache nicht der Ironie. Wenn Mary und er nur eine Meile weiter außerhalb der Stadt gewohnt hätten, wäre ihr Haus nicht vor dem Frühling demoliert worden - vielleicht Ende Mai, Anfang Juni 1974. Und wenn Wünsche Pferde wären, würden alle Bettler hoch zu Roß daherkommen. Was er aber durch seine bewußte Beobachtung noch wußte, war, daß die meisten Baumaschinen genau an dem Punkt abgestellt worden waren, an dem sie die Grand Street gekillt hatten.

Beim Abbiegen scherte der Wagen hinten aus. Er steuerte gegen und redete dem Wagen gut zu, der einen kleinen Satz machte und dann mit gleichmäßigem Surren wieder geradeaus durch den fast jungfräulichen Schnee fuhr die Fahrspuren der Fahrzeuge, die vor ihm hier vorbeigekommen waren, waren verwischt und fast nicht mehr zu sehen. Bei dem Anblick von so viel Neuschnee fühlte er sich gleich wohler. Es war gut, in Bewegung zu sein, endlich etwas zu tun.

Als er langsam mit dreißig Stundenkilometern (er hatte keine große Eile) die Straße entlangfuhr, wanderten seine Gedanken zu Mary und zu der katholischen Auffassung von Sünde zurück. Läßliche Sünden und Todsünden. Mary war katholisch erzogen worden und als Kind in eine kirchliche Grundschule gegangen. Die meisten dieser religiösen Vorstellungen hatte sie - zumindest vom Verstand her - als Erwachsene aufgegeben, aber als sie sich damals begegnet waren, hatte das Zeug ihr noch tief in den Knochen gesteckt - das, was einem sozusagen mit der Muttermilch eingetrichtert wurde. Mary sagte immer, die Nonnen hätten ihr sechs Schichten Politur und drei Schichten Wachs aufgelegt. Nach ihrer Fehlgeburt hatte ihre Mutter ihr einen Pfarrer ins Krankenhaus geschickt, damit sie eine richtige Beichte ablegen könnte, und bei seinem Anblick war sie in Tränen ausgebrochen. Er hatte neben ihrem Bett gesessen, als der Pfarrer mit seinen Hostien ins Zimmer getreten war, und Marys Tränen hatten ihm das Herz zerrissen, was seitdem nur noch einmal wieder passiert war.

Er hatte sie einmal gebeten, ihm die Sünden zu nennen, und sie hatte ihm die ganze vollständige Liste heruntergeleiert, die läßlichen und die Todsünden. Obwohl sie ihren Katechismus vor zwanzig, fünfundzwanzig, ja dreißig Jahren gelernt hatte, war er ihr immer noch (wenigstens in seinen Augen) fehlerfrei und vollständig präsent. Es gab da eine Frage der Auslegung, die er nicht ganz verstehen konnte. Manchmal war eine Sache eine Todsünde, unter anderen Umständen aber läßlich. Es kam dabei wohl auf die geistige Verfassung des Sünders an. Das Bewußtsein tut das Böse. War das etwas, das sie damals während ihrer lange Diskussionen gesagt hatte, oder hatte Freddy ihm das gerade eingeflüstert?

Der Gedanke bereitete ihm Sorgen. Das Bewußtsein tut das Böse.

Schließlich glaubte er verstanden zu haben, was die beiden größten Sünden waren, die beiden schweren, unwiderruflichen Todsünden: Mord und Selbstmord. Aber bei einer späteren Unterhaltung - war es mit Ron Stone gewesen? er glaubte ja - war ihm selbst dies nicht mehr ganz klar. Ron hatte gemeint, daß Mord manchmal auch nur eine läßliche Sünde sein könnte. (Sie hatten zusammen ein Bier getrunken, und es kam ihm so vor, als wäre es schon zehn Jahre her.) Oder unter gewissen Umständen auch gar keine. Wenn man einen Kerl kaltblütig ermordete, der die eigene Frau vergewaltigt hatte, könnte das sicher als läßliche Sünde gelten.

Und wenn man jemanden in einem gerechten Krieg tötete - genau das waren Rons Worte gewesen, er konnte ihn noch genau wie damals hören, als hätte er eine Tonbandaufzeich-nung im Gehirn -, dann galt das überhaupt nicht als Sünde.

Ron glaubte, daß alle amerikanischen GIs, die Nazis und Jap-sen umgebracht hatten, am Tag des Jüngsten Gerichts gut dastehen würden.

Blieb noch Selbstmord. Dieses häßliche Wort.

Er kam jetzt zur Baustelle. Sie war mit schwarzweißen Sägeböcken abgesperrt, auf denen orangefarbene Lampen blinkten. Große organgefarbene Schilder mit schwarzer Aufschrift leuchteten im Schein der Lampen auf. Auf einem stand:


DIE STRASSE ENDET VORÜBERGEHEND HIER


Auf dem nächsten:


UMLEITUNG - FOLGEN SIE DEN HINWEISSCHILDERN


Und auf einem anderen:


SPRENGGEBIET!

SCHALTEN SIE IHRE FUNKGERÄTE AUS


Er fuhr an die Seite, schaltete das Getriebe auf Leerlauf und die Warnblinkanlage ein und stieg aus dem Wagen. Dann ging er zur Absperrung hinüber. Die Schneeflocken wirkten in dem orangefarbenen Blinklicht irgendwie dicker und nahmen eine völlig absurde Farbe an.

Er wußte auch noch, daß die Frage der Absolution ihn verwirrt hatte. Zu Anfang hatte er das Ganze für ziemlich einfach gehalten: Wenn man eine Todsünde begangen hatte, war die Seele tödlich verwundet und für immer verdammt.

Man konnte so viele Ave Marias beten, bis einem die Zunge rausfiel, man würde trotzdem zur Hölle fahren. Aber Mary sagte, daß es nicht unbedingt immer so sein müßte. Da gab es die Beichte und die Buße und den Segen und so weiter. Es war wirklich sehr verwirrend. Christus hatte zwar gesagt, daß ein Mörder niemals das ewige Leben erlangen könne, aber er hatte auch gesagt: ›Wer an mich glaubt, dem wird nichts mangeln.‹ Es kam ihm so vor, als gäbe es in der kirchlichen Dogmatik ebensoviele Fallstricke wie in einem Kaufver-trag eines Winkeladvokaten. Selbstmord natürlich ausgenommen. Man konnte Selbstmord nicht beichten oder bereuen oder sühnen, denn mit diesem Akt schnitt man das silberne Band durch und tauchte in andere Welten ein, welche das auch immer sein mochten. Und …

Aber warum dachte er überhaupt darüber nach? Er hatte nicht die Absicht, jemanden zu töten, und ganz bestimmt hatte er nicht vor, sich selbst umzubringen. Er hatte sich ja noch niemals Gedanken über Selbstmord gemacht. Jedenfalls nicht bis vor kurzem.

Er blickte über die Absperrung hinweg und fühlte sich plötzlich innerlich kalt und leer.

Da standen die mit einer Schneehaube bedeckten Baumaschinen unter der Herrschaft des riesigen Abbruchkrans. In seiner feindseligen Unbeweglichkeit wirkte er wie ein tyrannischer Schreckensherrscher. Der skelettartige Hals, der sich hoch in den dunklen Schneehimmel reckte, erinnerte ihn an eine Gottesanbeterin, die sich in unbekannte Gefilde zur Winterkontemplation zurückgezogen hat.

Er schob einen der Sägeböcke zur Seite. Er war sehr leicht.

Dann ging er zum Wagen zurück, stieg ein und legte einen niedrigen Gang ein. Langsam ließ er den Wagen über den Randstein kriechen und den Abhang hinunterrollen. Das Gelände war von den schweren Baumaschinen ziemlich ausgefahren. Der Sand unter dem Schnee verringerte die Tendenz des LTD, unter ihm auszubrechen. Als er unten angekommen war, legte er wieder den Leerlauf ein und schaltete alle Lichter aus. Er kletterte den Hügel hinauf, ziemlich bald außer Atem, und stellte den Bock zurück an seinen Platz. Dann stieg er wieder nach unten.

Dort öffnete er den Kofferraum und holte Marys Putzeimer heraus. Er ging mit ihm um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und stellte ihn neben den Karton mit seinen Feuerbomben auf den Boden. Er hob den Deckel ab und tauchte, leise vor sich hin summend, jeden Flaschendocht ins Benzin.

Nachdem er das erledigt hatte, ging er mit dem Eimer zum Kran hinüber und kletterte vorsichtig, um nicht abzurut-schen, in die unverschlossene Kabine. Er war jetzt aufgeregt, sein Herz schlug schnell und seine Kehle war vor bitterer Erregung wie zugeschnürt.

Er schüttete das Benzin über den Sitz, das Armaturenbrett, die Gangschaltung. Danach trat er auf das schmale Gitter, das die Motorhaube des Krans umrandete, und ließ den Rest des Benzins über die Maschine laufen. Benzindämpfe füllten die Luft. Seine Handschuhe waren völlig durchnäßt, und seine Hände wurde sofort taub. Er sprang hinunter, streifte die Handschuhe ab und steckte sie in die Manteltasche. Das erste Streichholzheft glitt ihm aus den Fingern, die so steif und gefühllos wie Holz waren. Er versuchte es mit dem zweiten Heft, aber der Wind blies sofort das erste Streichholz aus.

Er drehte sich mit dem Rücken zum Wind, beugte sich schützend über die Streichhölzer, und endlich brannte eines. Er hielt es an die restlichen Hölzer, die zischend Feuer fingen.

Das brennende Heftchen warf er in die Kabine.

Zuerst dachte er, daß sie doch wieder ausgegangen wären denn es geschah nichts. Doch bald darauf hörte er ein leises, explosives Wusch, und das Feuer brach mit einer Wucht aus der Kabine, daß er unwillkürlich einige Schritte zurückwich.

Er schirmte seine Augen vor der hell lodernden Blume ab, die da oben aufgeblüht war.

Eine Flamme züngelte aus der Kabine, erreichte die Motorhaube, zögerte einen Moment, als überlegte sie es sich noch einmal, und entzündete dann den Motor. Diesmal war die Explosion nicht so leise. TSCHABUMM! Die Motorhaube flog in die Luft, so hoch, daß sie kaum mehr zu sehen war, drehte sich wild und fiel irgendwo zu Boden. Etwas sauste an seinem Kopf vorbei.

Er brennt, dachte er. Er brennt wirklich!

In der flammenhellen Dunkelheit tanzte er einen Feuer-tanz, sein Gesicht vor Freude so verzerrt, daß seine Züge zu zersplittern und in tausend kleine, lächelnde Stücke zu zerfallen drohten. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt, mit denen er wild über seinem Kopf wedelte.

»Huuuraaahh!« schrie er laut in den Wind, und der Wind schrie zurück: »Huuuraaahh! Verdammt noch mal, huuuraaahh!«

Er raste um seinen Wagen herum, rutschte im Schnee und fiel auf den Bauch, und das rettete ihm vermutlich das Leben, denn in dem Augenblick explodierte der Benzintank, und der Kran zerbarst und verstreute seine Einzelteile in einem Umkreis von zwanzig Metern. Ein heißes Metallstückchen flog durch das rechte Rückfenster und schlug ein abgezirkel-tes Loch in die Sicherheitsscheibe, von dem sich bald ein grobes Spinnennetz von Splissen ausbreitete.

Er stand auf, klopfte den Schnee ab, der die ganze Vorder-seite seines Mantels bedeckte, und kletterte hinters Lenkrad.

Dort zog er die Handschuhe wieder an - Fingerabdrücke! - aber das war auch die letzte Vorsichtsmaßnahme, an die er dachte. Er startete den Wagen mit klammen Fingern, die den Zündschlüssel kaum fühlten, und trat wie ein Wilder aufs Gaspedal. ›Sich in Sicherheit bringen‹ hatten sie das als Kinder genannt, als die Welt noch jung war. Der Wagen scherte hinten abwechselnd nach rechts und links aus. Der Kran brannte lichterloh, viel besser, als er sich das vorgestellt hatte. Die Kabine war ein einziges Inferno, die Windschutzscheibe schon lange fortgeflogen.

»Verdammte Scheiße!« brüllte er. »Oh, Freddy, siehst du das?«

Er rutschte vorne am Kran vorbei. Das Flammenmeer warf einen hellen Schimmer von Weltuntergangsfarben auf sein Gesicht. Nach dem dritten Versuch gelang es ihm, den Zigarettenanzünder reinzudrücken, nachdem er mit dem Zeigefinger immer wieder abgerutscht war. Die Baumaschinen standen nun zu seiner Linken. Er kurbelte das Fenster runter. Marys Putzeimer rollte auf dem Boden hin und her, und die Flaschenbomben klirrten hektisch, als der Wagen über den unebenen, gefrorenen Boden rumpelte.

Der Zigarettenanzünder sprang wieder heraus, und er trat mit beiden Füßen auf die Bremse. Der Wagen machte einen Satz und kam zum Stehen. Er zog den Anzünder aus seiner Halterung, nahm eine Flasche aus dem Karton und drückte den glühenden Kopf gegen den benzindurchtränkten Lappen. Eine Flamme züngelte hoch, und er warf die Flasche durchs Fenster. Sie zerschellte an der dreckbespritzten Haube eines Bulldozers, und die Flammen breiteten sich fröhlich züngelnd aus. Er drückte den Anzünder wieder rein, fuhr zwanzig Meter weiter und warf drei Molotowcocktails auf den dunklen Schatten eines Lastwagens. Einer flog vorbei. Der zweite landete auf dem Boden, und das Benzin ver-sickerte im Schnee. Der dritte traf die Kabinenscheibe und flog in einem sauberen Bogen ins Innere.

»Verdammte, heilige Scheiße!« brüllte er.

Noch einen Bulldozer. Und einen kleinen Lastwagen.

Dann erreichte er den aufgebockten Wohnwagen, in dem das Büro untergebracht war. Ein Schild an der Tür verkündete:


LANE CONSTRUCTION CO.

BAUSTELLENBÜRO

RAUCHEN ODER FEUER ANZÜNDEN VERBOTEN!

Bitte Füße abtreten




Er fuhr den Wagen direkt vor die Querseite des Büros und warf vier brennende Flaschen auf das große Fenster neben der Tür. Alle trafen. Die erste zersplitterte die Scheibe, wobei sie selbst zerschellte, und zog einen Schwanz heller Flammen hinter sich her.

Hinter dem Wohnwagen parkte ein Unimog. Er stieg aus und probierte, ob die Fahrertür abgeschlossen war. Sie war offen. Er entzündete eine weitere Flasche und warf sie hinein. Die Flammen fraßen sich hungrig in den Fahrersitz.

Als er zu seinem Wagen zurückkam, stellte er fest, daß nur noch vier Flaschen übrig waren. Er fuhr weiter, vor Kälte zitternd, nach Benzin stinkend, mit tropfender Nase - und grinsend. Ein Schaufelbagger. Er warf die letzten Flaschen auf ihn, richtete aber nur mit einer Schaden an, die den hinteren Reifen zerfetzte und von der Aufhängung riß.

Er griff wieder in den Karton, erinnerte sich, daß er jetzt leer sei, und blickte in den Rückspiegel.

»Hurenbock!« rief er. »O du heiliger, verdammter Hurenbock! Oh, Freddy, du alter Scheißkerl!«

Hinter sich sah er eine Reihe von vereinzelten Leuchtfeuern in der schneeverhangenen Dunkelheit, die wie Signal-feuer einer Landebahn wirkten. Hungrige Flammen züngelten aus den Fenstern des Bürowagens hervor. Der Unimog war nur noch ein Feuerball. Die Kabine des Lastwagens war ein orangefarbener Höllenschlund. Aber der Kran, das war sein Meisterstück. Der Kran war ein tosendes, hellgelbes Lichtermeer, eine aufrechte, lodernde Fackel inmitten der Baustelle.

»Demo-scheiß-lierungen!« brüllte er.

Doch dann meldete sich wieder ein Anflug von Vernunft.

Er wagte es nicht, auf demselben Weg zurückzufahren, auf dem er gekommen war. Bald würde die Polizei hier auftauchen, vielleicht war sie sogar schon unterwegs. Und die Feuerwehr. Ob er weiter vorne rausfahren konnte, oder war er eingesperrt?

Heron Place. Er könnte es am Heron Place versuchen.

Der Abhang hatte an dieser Stelle zwar fünfundzwanzig Prozent Steigung, vielleicht sogar dreißig, und er würde mit dem Wagen voll durch die Straßenabsperrung brechen müssen, aber wenigstens war das Schutzgeländer nicht mehr da. Er glaubte, daß er es schaffen würde. Ja, er würde es schaffen.

Heute nacht gelang ihm alles.

Er lenkte den LTD rutschend und schliddernd durch das unfertige Straßenbett. Aus Vorsicht hatte er nur das Standlicht eingeschaltet. Als er rechts über sich die Straßenbeleuchtung des Heron Place entdeckte, gab er etwas mehr Gas und beobachtete die Tachonadel, die über vierzig kletterte, während er den steilen Abhang hinaufkroch. Sie stand auf fünfzig, als er die Kuppe anvisierte und hinaufschoß. Auf halbem Wege drehten die Hinterreifen durch und verloren den Bodenkontakt. Er schaltete einen niedrigeren Gang ein.

Der Motor röhrte einmal auf, und der Wagen machte einen Satz nach vorn. Er war mit der Nase schon fast über den Randstein, als die Räder wieder durchdrehten und Schnee, Steine und gefrorene Erdklumpen hochwirbelten. Einen Augenblick hing er in der Luft, doch dann funktionierte der einfache Vorwärtsantrieb des LTD – vielleicht in Gemeinschaft mit purer Willenskraft – und trug ihn auf die Straße hinauf.

Mit der Stoßstange stieß er die schwarzweiße Straßensperre zur Seite. Sie fiel in eine Schneewehe und wirbelte eine verträumte, kleine Schneewolke auf. Als er den Randstein runter sich hatte, war er fast erschrocken, sich wieder auf einer normalen Straße zu befinden. Als ob gar nichts geschehen wäre. Er schaltete den normalen Fahrgang ein und fuhr mit ruhigen vierzig Stundenkilometern die Straße entlang.

Er wollte schon auf den Heimweg abbiegen, als ihm einfiel, daß er ja Spuren hinterließ, die der Schnee oder die Räumfahrzeuge frühestens in zwei Stunden beseitigen würden.

Also folgte er, anstatt in die Crestallen Street einzubiegen, der Heron bis zur River Street und fuhr auf dieser weiter bis zur Route 7. Seit es zu schneien angefangen hatte, war nur wenig Verkehr auf den Straßen gewesen, aber es war noch genug, um die Schneedecke auf der Straße in eine rutschige Masse zu verwandeln.

Er reihte sich in die Spur der anderen Wagen ein, dielxach Osten fuhren, und beschleunigte langsam auf sechzig.

Er fuhr gut zehn Meilen auf der Route 7, bevor er in die Stadt zurückkehrte und in die Crestallen einbog. Unterwegs traf er ein paar Schheepflüge, die sich wie gigantische orangefarbene Doggen mit glühenden gelben Augen durch die Nacht schaufelten. Ab und zu warf er einen Blick zur Baustelle hinüber, aber im wirbelnden Schneesturm konnte er dort nichts erkennen.

Auf halbem Weg nach Hause stellte er plötzlich fest, daß es im Wagen, obwohl die Heizung lief und alle Fenster hochgedreht waren, kalt war. Er sah sich um und entdeckte das Loch in der hinteren rechten Scheibe. Auf dem Rücksitz lagen Schnee und Glassplitter.

Wie ist denn das passiert? fragte er sich verwirrt. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern.

Er kam von Norden in die Crestallen Street und fuhr direkt zu seinem Haus. Es stand noch genauso da, wie er es verlassen hatte. Das Küchenlicht, das er angelassen hatte, war das einzige Licht an der gesamten Straßenfront. Es standen keine Polizeiwagen vor dem Haus, aber die Garagentür war offen.

So eine Dummheit. Man machte die Garagentür immer zu, wenn es schneite. Deshalb hatte man ja ein Tor, um seinen Besitz vor den Elementen zu schützen. Das hatte sein Vater immer zu ihm gesagt. Sein Vater war auch in der Garage gestorben, wie Johnnys Bruder, aber Ralph Dawes hatte sich nicht umgebracht. Es war ein Schlaganfall gewesen. Ein Nachbar hatte ihn gefunden. Er hatte noch seine Gartenschere in den steifen Fingern, und neben ihm auf dem Boden hatte ein Schleifstein gelegen. Ein gewöhnlicher Vorstadttod. O Lord, schicke seine weiße Seele in den Himmel, wo kein Unkraut wächst und die Nigger einen gebührenden Abstand wahren.

Er stellte den Wagen ab, zog das Garagentor herunter und ging ins Haus. Er zitterte vor Erschöpfung und Aufregung.

Es war Viertel nach drei. Er hängte seinen Mantel in die Garderobe, und als er schon die Tür schließen wollte, bekam er einen regelrechten Schock. Wie ein Schluck Whisky auf nüchternen Magen. Er fummelte wie wild in seinen Manteltaschen und stieß einen erleichterten Pfiff aus, als er seine Handschuhe fand. Sie waren immer noch mit Benzin durchtränkt und zu kleinen, zerknitterten Bällen gefroren.

Er überlegte, ob er sich einen Kaffee machen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er hatte leicht pochende Kopfschmerzen, die vermutlich vom Benzindunst herrührten und durch die angsterfüllte Nachtfahrt durch den Schnee noch verstärkt worden waren. Im Schlafzimmer zog er sich aus und warf die Kleider achtlos auf einen Stuhl, ohne sie erst zusammenzulegen. Er dachte, daß er sofort einschlafen würde, kaum daß er den Kopf aufs Kissen gelegt hätte, aber dem war nicht so. Jetzt, da er sich zu Hause in Sicherheit befand, überfiel ihn eine erbarmungslose Wachheit. Und mit ihr die Angst. Sie würden ihn schnappen und ins Gefängnis stecken. Sein Bild würde in allen Zeitungen erscheinen. Die Leute, die ihn kannten, würden mit dem Kopf schütteln und in den Kneipen und Kantinen über ihn tuscheln. Vinnie Mason würde zu seiner Frau sagen, er hätte schon immer gewußt, daß Dawes wahnsinnig sei. Marys Eltern würden Mary nach Reno schicken, wo sie sich zuerst eine Wohnung suchen und dann die Scheidung einreichen würde. Vielleicht fand sie auch jemanden, der sie fickte. Es würde ihn nicht überraschen.

Er lag hellwach im Bett und redete sich ein, daß sie ihn nicht finden würden. Er hatte seine Handschuhe angehabt.

Keine Fingerabdrücke. Marys Eimer hatte er samt Deckel wieder mitgenommen. Er hatte seine Spuren verwischt und mögliche Verfolger wie ein Flüchtling abgeschüttelt, der die Bluthunde verwirrt, indem er ein Stück im Bach entlangwa-tet. Aber keiner dieser Gedanken spendete ihm Trost oder brachte ihm Schlaf. Sie würden ihn schnappen. Vielleicht hatte jemand seinen Wagen am Heron Place beobachtet und sich gefragt, warum er sich zu so später Stunde im Schneesturm auf der Straße befand. Vielleicht hatte sich sogar jemand seine Autonummer aufgeschrieben und wurde genau in diesem Augenblick von der Polizei beglückwünscht. Vielleicht hatte sein Wagen Lackspuren an der Straßenbarriere hinterlassen, und jetzt saßen sie schon vor dem Computer und versuchten, den Namen des Schuldigen herauszufinden. Vielleicht …

Er wälzte sich im Bett hin und her und wartete auf die blauen, tanzenden Sirenenlichter, auf das heftige Klopfen an der Tür, auf die geisterhafte, kafkaeske Stimme, die ›Machen Sie auf!‹ brüllen würde. Endlich schlief er ein, ohne es zu merken, denn seine Gedanken gingen weiter. Sie flössen so glatt vom Bewußtsein in die verschlüsselte Traumwelt des Unterbewußtseins über wie bei einem Auto, das man von einem höheren in einen tieferen Gang schaltet. Selbst im Traum hielt er sich immer noch für wach; er beging wieder und wieder Selbstmord: Er verbrannte sich; er prügelte sich zu Tode, indem er unter einem Amboß stand und immer wieder an der Schnur zog; er erhängte sich; er blies die Sicherheitsflamme seine Gasherds aus und drehte alle vier Flammen und das Backrohr weit auf; er erschoß sich; er sprang aus dem Fenster; er warf sich vor einen beschleunigenden Greyhound-Bus; er schluckte Tabletten; er trank ein scharfes Desinfektionsmittel zur Toilettenreinigung; er steckte sich eine Spraydose in den Mund, drückte auf den Knopf und atmete das Zeug so lange ein, bis sein Kopf sich so leicht fühlte wie ein Luftballon; er beging, in einer Kathedrale kniend und einem verdutzten Priester seinen Selbstmord beichtend, Harakiri, während seine Eingeweide sich wie Hackfleisch im Beichtstuhl ausbreiteten und er mit ersterbender Stimme in seinem Blut und den dampfenden Gedärmen liegend einen Akt der Reue vollzog. Aber am lebendigsten wiederholte sich immer wieder die Vorstellung, wie er in der geschlossenen Garage runter dem Steuer seines LTD saß, den Motor laufen ließ, tief und regelmäßig einatmete, ein Exemplar des National Geographie in den Händen hielt, die lebensechten Bilder von Tahiti, Aukland und vom Karneval in New Orleans betrachtete und die Seiten immer langsamer umblätterte, bis das Geräusch des Motors immer leiser wurde, ein süßes, gleichmäßiges Rauschen der grünen Brandung im Südpazifik, das ihn allmählich einlullte, wie ein Baby wiegte und ihn endlich mit seinen silbernen Schaumarmen umfing.

19. Dezember 1973

Es war schon mittags um halb eins, als er aufwachte und aus dem Bett stieg. Er fühlte sich wie gerädert, hatte grauenhafte Kopfschmerzen, und seine Blase war so voll, daß sie schmerzte. Ein schaler, bitterer Geschmack füllte seinen Mund, und als er ein paar Schritte ging, schlug sein Herz wie eine Buschtrommel. Er konnte sich nicht den Luxus gönnen, auch nur eine Sekunde lang zu glauben, daß all die Erinnerungen an die letzte Nacht nur ein Traum gewesen seien. Der Benzingestank war tief in seine Haut eingedrungen und stieg in üblen Duftwolken aus seinem Kleiderhaufen hervor. Es hatte aufgehört zu schneien, der Himmel war klar, und seine Augen bettelten in dem grellen Sonnenlicht um Gnade.

Er ging ins Bad und setzte sich auf die Kloschüssel. Ein überwältigender Durchfall rauschte durch seine Därme wie ein Schnellzug durch einen verlassenen Bahnhof. Sein Abfall fiel in einer Serie von Blähungen und Krämpfen ins Wasser, und er stöhnte und hielt seinen Kopf in den Händen. Er pinkelte, ohne aufzustehen, während der widerliche, dicke Gestank seines Verdauungsendproduktes das Badezimmer füllte.

Er betätigte die Spülung, holte sich saubere Kleidung und wankte auf zittrigen Beinen nach unten. Er wollte warten, bis der entsetzliche Gestank sich verzogen hatte, um dann zu duschen. Wenn nötig den ganzen Nachmittag lang.

Er schluckte drei Excedrinpillen aus dem grünen Fläschchen auf dem Küchenregal, die er mit zwei großen Schlucken Pepto-Bismol herunterspülte. Dann setzte er Wasser für Kaffee auf und zerbrach seine Lieblingstasse, als er sie vom Haken nehmen wollte. Er fegte die Scherben zusammen und nahm sich eine andere. Er schüttete etwas Pulverkaffee in die Tasse und ging dann ins Eßzimmer.

Dort drehte er das Radio an und suchte nach einem Sender, der Nachrichten brachte. Sie kamen, wie die Polizei, nie, wenn man sie brauchte. Popmusik. Landwirtschaftsberichte.

Eine Quizsendung. Eine Talkshow, bei der man anrufen konnte. Der Börsenbericht. Paul Harvey, der für eine Lebensversicherung warb. Noch mehr Popmusik. Keine Nachrichten.

Das Kaffeewasser kochte. Er ließ die Popmusik laufen, holte sich seinen Kaffee ins Eßzimmer, setzte sich an den Tisch und trank ihn schwarz. Die beiden ersten Schlucke verursachten ihm Brechreiz, aber danach ging es besser.

Endlich kamen die Nachrichten, zuerst die nationalen, dann die lokalen.

In den frühen Morgenstunden wurde ein Teil der 784-Autobahnbaustelle in der Nähe der Grand Street in Brand gesetzt. Lieutenant Henry King von der Ortspolizei gab an, daß die Brandstifter vermutlich Benzinbomben benutzt hätten, um einen Abbruchkran, zwei Lastwagen, zwei Bulldozer, einen Unimog und das Baustellenbüro zu zerstören, das völlig ausgebrannt ist.

Bei den Worten völlig ausgebrannt schnürte ihm Erregung, so bitter und schwarz wie der Kaffee, die Kehle zusammen.

Nach Darstellung von Francis Lane, dessen Firma einen großen Teil der Bauarbeiten ausführt, sind die Schäden an den Lastwagen und Bulldozern eher gering, aber der Abbruchkran im Wert von 60000 Dollar wird wohl erst in zwei Wochen wieder einsatzfähig sein.

Zwei Wochen? War das alles?

Schlimmer ist, wie Lane sagte, der Schaden, der im ausgebrannten Baustellenbüro angerichtet worden sei, in dem man die Zeitpläne, Arbeitsberichte und die Kostenaufstellung für die letzten drei Monate aufbewahrt habe. ›Es wird verdammt schwierig, das wieder einzuarbeiten‹ sagte Lane. ›Das kann uns einen Monat oder mehr zurückwerfen‹

Vielleicht waren das gute Neuigkeiten. Vielleicht war der Aufschub von einem Monat doch noch die ganze Mühe wert.

Laut Lieutenant King sind die Brandstifter in einem Kombiwagen von der Baustelle geflohen, vermutlich in einem alten Chevroletmodell. Er bittet jeden, der zu diesem Zeitpunkt einen solchen Wagen am Heron Place oder in der Umgebung gesehen hat, sich bei ihm zu melden. Francis Lane schätzt den Totalschaden auf der Baustelle auf 100000 Dollar.

Weitere Lokalnachrichten. Die Bundesabgeordnete Muriel Reston forderte wiederholt …

Er schaltete das Radio aus.

Jetzt, da er es bei Tageslicht gehört hatte, sah alles nicht mehr so schlimm aus. Er konnte die Dinge vernünftig betrachten. Natürlich brauchte die Polizei nicht alle Hinweise im Radio preiszugeben, doch wenn sie wirklich nach einem Chevrolet und nicht nach einem Ford suchten und wenn sie auf Augenzeugen angewiesen waren, durfte er sich sicher fühlen. Wenigstens für den Augenblick. Und wenn es tatsächlich einen Augenzeugen geben sollte, dann würde er es auch nicht dadurch ändern, daß er sich große Sorgen machte.

Er würde Marys Putzeimer mitsamt dem Deckel wegwerfen und die Garage kräftig lüften, um den Benzingestank zu vertreiben. Dann würde er sich eine Geschichte ausdenken, um das Loch im hinteren Wagenfenster zu erklären, falls ihn jemand danach fragte. Vor allem aber würde er sich innerlich auf den Besuch der Polizei vorbereiten. Als letzter Anwohner an der Crestallen Street West war es nur allzu natürlich, daß sie ihn zumindest überprüften. Und sie brauchten nicht lange in seiner Vorgeschichte rumzuwühlen, um herauszufinden, daß er sich in letzter Zeit ziemlich unberechenbar benommen hatte. Er hatte die Wäscherei ruiniert, seine Frau hatte ihn verlassen, und einer seiner früheren Angestellten hatte ihn in einem Kaufhaus niedergeschlagen. Und er besaß einen Kombiwagen. Zwar keinen Chevrolet, aber immerhin. Das sprach alles gegen ihn. Aber es war alles noch kein Beweis.

Und wenn sie dann doch noch einen Beweis ausgraben sollten, nun, dann würde er eben ins Gefängnis gehen. Es gab Schlimmeres. Das Gefängnis bedeutete nicht den Weltuntergang. Er würde dort Arbeit und genug zu essen kriegen und brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen, was passierte, wenn das Versicherungsgeld zu Ende ging. Es gab wesentlich schlimmere Dinge als das Gefängnis. Selbstmord, zum Beispiel, das war gemeiner. Er ging nach oben und duschte.

Später am Nachmittag rief er Mary an. Ihre Mutter war am Telefon und ging Mary mit einem hochmütigen Schnauben holen; als sie dann selbst am Apparat war, klang sie ganz fröhlich.

»Hallo Bart. Merry Christmas im voraus.«

»Nein, Mary Christmas«, sagte er lachend. Es war ein alter Scherz zwischen ihnen, der mit der Zeit Tradition geworden war.

»Ja, sicher«, antwortete sie. »Was willst du, Bart?«

»Ich hab’ hier ein paar Geschenke … nur ein paar Kleinigkeiten … für dich und deine Neffen und Nichten. Ich wollte fragen, ob wir uns irgendwo treffen können, damit ich sie dir geben kann. Die Geschenke für die Kinder hab’ ich noch nicht eingepackt, aber …«

»Das mach’ ich gern für dich. Aber das hättest du nicht tun sollen, Bart. Schließlich bist du ohne Arbeit.«

»Aber ich arbeite daran«, erwiderte er.

»Bart, hast du … hast du etwas in der Sache unternommen, über die wir gesprochen haben?«

»Du meinst - den Psychiater?«

»Ja.«

»Ich habe zwei angerufen. Der eine ist bis Juni ausgebucht.

Der andere bleibt bis Ende Mai auf den Bahamas, aber er hat gesagt, danach würde er mich nehmen.«

»Wie heißen sie?«

»Wie sie heißen? Himmel, Liebling, da müßte ich noch mal im Telefonbuch nachsehen, um dir das sagen zu können. Ich glaube, einer hieß Adams. Nicholas Adams …«

»Bart!« sagte sie traurig.

»Es könnte auch Aarons gewesen sein«, fuhr er heftig fort.

»Bart.«

»Na gut. Glaub doch, was du willst. Das tust du ja sowieso.«

»Bart, wenn du doch nur …«

»Was ist nun mit den Geschenken? Ich habe wegen der Geschenke angerufen und nicht wegen dieses gottverdammten Seelendoktors.«

Sie seufzte. »Wie war’s, wenn du sie Freitag hierherbrächtest? Ich kann …«

»Was? Damit dein Vater und deine Mutter Charles Manson anheuern können, um mich an der Tür abzufangen? Treffen wir uns doch lieber auf neutralem Boden.«

»Sie werden nicht zu Hause sein«, erklärte sie. »Sie ver-bringen die Weihnachtsferien bei Joanna.« Joanna St. Ciaire war Jean Calloways Cousine, die in Minnesota lebte. Sie waren seit ihrer Kindheit enge Freundinnen (seit der Zeit zwischen dem Krieg von 1812 und der Konföderation, dachte er manchmal), und Joanna hatte im letzten Juli einen Schlaganfall erlitten. Sie erholte sich allmählich, aber Jean hatte ihm und Mary erzählt, die Ärzte wären der Ansicht, daß sie jeder-zeit sterben könnte. Muß lustig sein, dachte er, mit so einer Zeitbombe im Kopf zu leben. Hallo, Bombe, ist es heute soweit? Bitte nicht, Bombe, ich hab’ meinen Victoria-Holt-Roman noch nicht ausgelesen.

»Bart? Bist du noch da?«

»Ja, ja. Ich hab’ grad ein wenig geträumt.«

»Ist dir ein Uhr recht?«

»Ja, sicher.«

»Gut. Gibt es sonst noch was?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Also …«

»Paß gut auf dich auf, Mary.«

»Mach’ ich. Wiedersehen, Bart.«

»Wiedersehen.«

Sie legten auf, und er ging in die Küche, um sich einen Drink zu mixen. Diese Frau, mit der er da gerade am Telefon gesprochen hatte, war nicht mehr dieselbe Frau, die noch vor einem Monat in Tränen aufgelöst auf der Wohnzimmercouch gesessen und ihn um eine Erklärung angefleht hatte, wieso auf einmal so ein großes Unglück über sie hereingebrochen sei und die Arbeit von zwanzig Jahren kaputtgemacht hätte.

Es war erstaunlich. Er schüttelte den Kopf, wie er ihn bei der Nachricht geschüttelt hätte, daß Jesus vom Himmel herabgefahren wäre, um Präsident Nixon in einem Feuerwagen ins Paradies zu holen. Sie hatte sich erholt. Mehr als das, sie hatte eine Persönlichkeit wiedergefunden, die er kaum kannte, eine jugendliche Frau, an die er sich nicht erinnern konnte. Wie ein Archäologe hatte sie diese Frau wieder ausgegraben und gefunden; sie war zwar von der langen Lagerung ein bißchen steif in den Gelenken, aber sonst vollkommen brauchbar. Die Gelenke würden sich mit der Zeit lockern, und die neue-alte Person würde eine gesunde Frau werden. Sie würde von der Aufregung zwar noch ein paar Narben zurückbehalten, aber sie war nicht ernstlich beschädigt. Er erkannte das vielleicht deutlicher, als sie glaubte. Allein ihr Tonfall hatte ihm gesagt, daß sie auf eine Scheidung lossteuerte. Sie wollte einen klaren Bruch mit der Vergangenheit … einen, der glatt heilen und kein Hinken zurücklassen würde. Sie war erst achtunddreißig. Das halbe Leben lag noch vor ihr. Und es gab keine Kinder, die unter dem Scheitern ihrer Ehe leiden könnten. Er würde ihr die Scheidung nicht vorschlagen, aber wenn sie es täte, würde er einwilligen. Er beneidete sie um die neue Persönlichkeit und um ihre neugewonnene Schönheit. Wenn sie ihre gemeinsame Ehe in zehn Jahren als einen dunklen Tunnel betrachtete, der sie ans Licht geführt hatte, würde er traurig sein, daß sie es so empfand, aber er würde es ihr nicht übelnehmen. Nein, er konnte es ihr nicht verdenken.

21. Dezember 1973

Er hatte ihr die Geschenke in Jean Calloways. Wohnzimmer überreicht, das von einer laut tickenden Messinguhr beherrscht wurde, und die darauf folgende Unterhaltung war gespreizt und unnatürlich gewesen. Er war noch nie mit ihr allein in diesem Raum gewesen und hatte ständig das Ge-fühl, sie müßten die Situation ausnutzen und miteinander schmusen. Es war eine eingerostete, überholte Anwandlung, und er kam sich selbst wie eine schlechte Neuausgabe seines früheren College-Selbst vor.

»Hast du dir die Haare färben lassen?« fragte er.

»Nur ein bißchen.« Sie zuckte die Achseln.

»Sieht nett aus. Macht dich jünger.«

»Du wirst an den Schläfen ein bißchen grau, Bart. Das macht dich distinguierter.«

»Quatsch, es macht mich alt.«

Sie lachte - ein bißchen zu hoch - und betrachtete die Geschenke, die sie auf einem Beistelltisch abgelegt hatte. Er hatte nur die Eulenbrosche eingepackt, die Puppen und das Schachspiel überließ er ihr. Die Puppen blickten unbeteiligt an die Zimmerdecke, als warteten sie auf ein paar kleine Mädchenhände, die sie zum Leben erwecken würden.

Er sah Mary an. Ihre Blicke trafen sich einen Moment, und sie wirkte sehr ernst. Er dachte, daß sie drauf und dran sei, die unwiderruflichen Worte auszusprechen, und er hatte Angst. Doch in dem Augenblick sprang der Kuckuck aus der Uhr und verkündete, daß es halb zwei sei. Sie zuckten beide zusammen und lachten dann. Der Augenblick war vorüber.

Er stand auf, damit er nicht wiederkehren könnte. Von einem Kuckuck gerettet, dachte er. Das paßt.

»Ich muß gehen«, sagte er.

»Hast du eine Verabredung?«

»Ein Vorstellungsgespräch.«

»Wirklich?« fragte sie erfreut. »Eine Arbeit? Wann? Wo? Wieviel?«

Er schüttelte lachend den Kopf. »Es gibt mindestens ein Dutzend Bewerber, die ebenso gute Chancen haben wie ich. Ich werd’s dir sagen, wenn ich sie gekriegt habe.«

»Du bist eingebildet.«

»Klar.«

»Bart, was machst du zu Weihnachten?« Sie sah ernst und feierlich drein, und plötzlich kam ihm der Gedanke, daß es eine Weihnachtseinladung und nicht der Vorschlag zur Scheidung im neuen Jahr gewesen war, was sie vorhin beschäftigt hatte. Mein Gott! Fast wäre er in Lachen ausgebrochen.

»Ich bleibe zu Hause.«

»Du kannst herkommen«, sagte sie. »Wir werden beide allein sein.«

»Nein«, sagte er zögernd und dann mit fester Stimme:

»Nein. Zu Weihnachten geraten die Gefühle immer irgendwie außer Kontrolle. Lieber ein andermal.«

Sie nickte nachdenklich.

»Wirst du dann allein hier essen?« erkundigte er sich.

»Ich kann zu Bob und Janet gehen. Bist du wirklich sicher?«

»Ja.«

»Na, dann …« Aber sie wirkte erleichtert.

Sie gingen zur Haustür und gaben sich einen flüchtigen Kuß. -

»Ich ruf dich an«, sagte er.

»Ist gut.«

»Und grüß Bobby und Janet von mir.«

»Mach’ ich.«

Er war schon halb die Auffahrt hinuntergegangen, da rief sie ihm nach: »Bart! Bart, warte noch einen Augenblick.«

Er drehte sich beinahe ängstlich um.

»Das hätte ich fast vergessen«, sagte sie. »Wally Hamner hat mich angerufen und uns zu Silvester eingeladen. Ich habe für uns beide zugesagt, aber wenn du nicht willst …«

»Wally?« Er runzelte die Stirn. Walter Hamner war so ziemlich der einzige Freund, den sie auf der anderen Seite der Stadt hatten. Er arbeitete für eine städtische Werbeagentur. »Weiß er denn gar nicht, daß wir uns getrennt haben?«

»Doch, aber du kennst ja Wally. Solche Dinge jucken ihn nicht sehr.«

Das stimmte allerdings. Beim bloßen Gedanken an Wally mußte er schon lächeln. Walter, der immer damit drohte, seinen Reklamejob aufzugeben und sich als ernsthafter Graphiker zu versuchen. Er wollte obszöne Limericks und noch obszönere Parodien auf die heutige Alltagswelt entwerfen. Er war zweimal geschieden und jedesmal fürchterlich ausgenommen worden. Wenn man dem Klatsch glaubte, war er jetzt impotent, und er glaubte fest, daß der Klatsch in diesem Fall stimmte. Wie lange hatte er ihn wohl nicht mehr gesehen? Vier Monate? Sechs? Auf jeden Fall viel zu lange.

»Das könnte ganz lustig werden«, sagte er, doch dann erschreckte ihn ein Gedanke.

Sie sah es ihm wie früher sofort am Gesicht an und sagte schnell: »Es werden keine Leute von der Wäscherei kommen.«

»Er und Steve Ordner kennen sich.«

»Ach so, der …« Sie zuckte die Achseln, um anzudeuten, wie unwahrscheinlich sie es fand, ausgerechnet den an Silvester dort zu treffen; unwillkürlich zog sie die Ellenbogen an und fing an zu zittern. Es war nur drei Grad unter Null.

»He, geh schnell ins Haus«, sagte er. »Du erfrierst mir ja, Dummchen.«

»Möchtest du hingehen?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich werde darüber nachdenken.«

Er gab ihr noch einen Kuß, diesmal einen festeren, und sie erwiderte ihn. In solchen Augenblicken hätte er alles bereuen können - aber die Reue war weit, weit weg, ein rein theoretisches Bedürfnis.

»Fröhliche Weihnachten, Bart.« Er sah, daß sie weinte.

»Nächstes Jahr wird alles besser«, tröstete er sie, auch wenn der Satz keinen Funken von Bedeutung hatte. »Geh rein, bevor du dir eine Lungenentzündung holst.«

Sie ging ins Haus, und er fuhr weg. Unterwegs dachte er über Wally Hamner und seine Silvesterparty nach. Er glaubte, daß er doch hingehen würde.

24. Dezember 1973

Er fand eine kleine Autowerkstatt in Norton, die die zerbrochene Fensterscheibe für neunzig Dollar reparieren würde.

Als er den Mechaniker fragte, ob er auch noch einen Tag vor Weihnachten arbeiten würde, antwortete er hastig: »Teufel, ja! Wir nehmen alle Aufträge, die wir kriegen können.«

Auf dem Weg zur Werkstatt hielt er vor einem Waschsalon und stopfte zwei Maschinen voll. Automatisch überprüfte er die Trommeln, um festzustellen, in welchem Zustand sich die Federn befanden. Dann belud er sie sorgfältig, damit die Schleudern nicht wegen Überfüllung aus dem Rhythmus gerieten. Er lächelte über sich selbst. Man konnte einen Jungen aus der Wäscherei holen, aber man konnte die Wäscherei nicht aus dem Jungen rausholen. Nicht wahr, Fred? Fred?

Ach, scheiß die Wand an.

»Das ist aber ein verdammt großes Loch«, sagte der Mechaniker, als er mit zusammengekniffenen Augen das Spinnennetz betrachtete.

»Ein Kind mit einem Schneeball«, erklärte er. »Der Schneeball hatte einen Stein in der Mitte.«

»Ah, ja«, sagte der Mechaniker. »So, so.«

Als das neue Fenster eingesetzt war, fuhr er zum Waschsalon zurück, steckte seine Wäsche in den Trockner, den er auf mittlere Hitze einstellte, und warf dreißig Cents in den Schlitz. Dann setzte er sich hin und griff zu einer Zeitung, die gerade neben ihm lag. Außer ihm war nur noch eine müde ausgehende junge Frau mit einer Nickelbrille im Salon. Sie hatte hell gebleichte Strähnen in ihrem schönen rotbraunen Haar und eine kleine Tochter bei sich. Das Mädchen hatte offenbar einen Wutanfall. »Ich will meine Flasche.«

»Verdammt noch mal, Rachel …«

»FLASCHE!«

»Daddy wird dich verhauen, wenn wir nach Hause kommen«, versprach ihr die junge Mutter grimmig. »Und keine Geschichte vor dem Zubettgehen.«

»FLAAAAASCHE!«

Warum muß eine so hübsche Frau sich das Haar bleichen lassen, fragte er sich und schlug die Zeitung auf. Die Schlagzeile lautete:


KLEINER MENSCHENAUFLAUF IN BETHLEHEM

PILGER BEFÜRCHTEN HEILIGEN TERROR


Unten auf der Seite fiel ihm eine kleinere Schlagzeile ins Auge, und er las sie sorgfältig:


WINTERBURGER SAGT, VANDALISMUS WIRD IN ZUKUNFT NICHT MEHR TOLERIERT


(Eigener Bericht) Victor Winterburger, demokratischer Kandidat für die Nachfolge des kürzlich bei einem Autounfall ums Leben gekommene Donald P. Naish, erklärte gestern, daß solche Akte des Vandalismus, wie sich einer am frühen Mittwoch morgen an der 784-Baustelle im Westend zugetragen und einen Schaden von 100000 Dollar angerichtet hat, in Zukunft in einer zivilisierten amerikanischen Stadt« nicht mehr toleriert werden könnten. Winterburger hielt seine Rede bei einem Abendessen der American Legion und erhielt dafür eine stehende Ovation.

»Wir haben ja gesehen, was in den anderen Städten passiert ist«, sagte Winterburger. »Die beschmierten Busse, U-Bahnwagen und Gebäude in New York. Eingeworfene Fensterscheiben und sinnlos zerstörte Schulen in Detroit und San Francisco. Die Zerstörung von öffentlichen Einrichtun-gen, Museen und Galerien. Wir dürfen nicht zulassen, daß das größte Land der Welt von Hunnen und Barbaren über-rannt wird.«

Die Polizei wurde in der Nacht zum Mittwoch zur Grand Street gerufen, als eine Serie von Explosionen …

(Fortsetzung Seite 5, Spalte 2)


Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf einen Stapel von zerlesenen Zeitschriften. Die Waschmaschinen summten und summten, ein leises, einschläferndes Ge-räusch. Hunnen und Barbaren! Sie waren die Hunnen! Sie waren die Randalierer, die Zerstörer, die Verwüster, die die Leute aus ihren Häusern warfen und ihr Leben zerstörten, so wie ein kleiner Junge einen Ameisenhaufen achtlos mit den Füßen zertritt.

Die junge Frau zog ihre Tochter aus dem Waschsalon. Die Kleine brüllte immer noch nach ihrer Flasche. Er schloß die Augen und döste vor sich hin, während er seine Wäsche trocknete. Ein paar Minuten später fuhr er erschrocken hoch, weil er glaubte, eine Feuerglocke gehört zu haben. Aber es war nur ein Weihnachtsmann der Heilsarmee, der mit seiner Geldbüchse rasselte. Als er den Salon mit seinem vollen Wäschekorb verließ, warf er alles Kleingeld, das er in der Tasche finden konnte, in die Büchse.

»Gott segne Sie«, sagte der Weihnachtsmann.

25. Dezember 1973

Das Telefon weckte ihn am nächsten Morgen um zehn. Er fummelte nach dem Hörer auf dem Nachttisch und preßte ihn gegens Ohr. Die kristallklare Stimme der Telefonistin drang in seinen Schlaf ein: »Nehmen Sie ein R-Gespräch von Olivia Brenner an, Sir?«

Verwirrt stammelte er: »Wer? Was? Ich schlafe noch.«

Eine entfernte, leicht vertraute Stimme sagte: »Ach, verdammte Scheiße!« Und da fiel’s ihm wieder ein.

»Ja«, sagte er. »Ich nehme das Gespräch an.« Oder hatte sie schon aufgelegt? Er stützte sich auf den Ellenbogen, um es herauszufinden. »Olivia? Bist du noch da?«

»Gut, dann sprechen Sie«, sagte die Telefonistin, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Olivia? Bist du da?«

»Ja, ich bin hier.« Die Stimme klang brüchig und weit entfernt.

»Ich bin froh, daß du anrufst.«

»Ich dachte schon, du würdest den Anruf nicht annehmen.«

»Ich hab’ noch geschlafen. Bist du angekommen? In Las Vegas?«

»Ja«, antwortete sie tonlos. Das Wort hatte einen seltsamen unterdrückten Beiklang wie ein Brett, das auf einen Holzboden fiel.

»Und? Wie ist es? Wie geht es dir?«

Ihr Seufzer war so bitter, daß er fast wie ein trockenes Schluchzen klang. »Nicht so gut.«

»Nein?«

»Ich hab’ hier in der zweiten … nein, in der dritten Nacht, nachdem ich angekommen war, einen Kerl getroffen. Wir sind zusammen auf ‘ne Party gegangen, und … oooooh, das war sooo beschissen …«

»Drogen?« fragte er vorsichtig. Ihm war sehr bewußt, daß das hier ein Ferngespräch war und daß die Regierung ihre Ohren überall hatte.

»Drogen?« fragte sie ärgerlich zurück. »Natürlich waren es Drogen. Scheiße, ich war voll von dem Zeug und bin … ich glaube, ich bin vergewaltigt worden.«

Das klang so dramatisch, daß er verblüfft nachfragte:

»Was?«

»VERGEWALTIGT!« schrie sie so laut, daß der Hörer zitterte. »Das ist, wenn so ein dämlicher Kerl sich großtut und den Feierabendhippie spielt, der mal kurz seine Salami verstecken will, während du völlig aus dem Häuschen bist und dein Gehirn hinter dir die Wand runterrennt! Vergewaltigung, hast du überhaupt eine Ahnung, was das ist?«

»Ja, das weiß ich.«

»Einen Dreck weißt du.«

»Brauchst du Geld?«

»Warum fragst du mich ausgerechnet das? Ich kann dich nicht übers Telefon ficken. Ich kann dich nicht mal fernbedienen.«

»Ich hab’ etwas Geld übrig«, erklärte er. »Ich könnte es dir schicken, das ist alles. Das ist der einzige Grund.« Instinktiv sprach er ganz leise, nicht beruhigend, aber leise, damit sie sich konzentrieren und zuhören mußte.

»Ja, ja.«

»Hast du eine Adresse?«

»Postlagernd, das ist meine Adresse.«

»Hast du denn keine Wohnung?«

»Doch, doch. Ich hab’ zusammen mit einer anderen traurigen Schachtel ein Zimmer gefunden. Die Briefkästen sind alle kaputt. Vergiß es und behalt dein Geld. Ich hab’ hier einen Job. Scheiße, ich glaub’, ich werd’ ihn kündigen und zu-rückkommen. Fröhliche Weihnachten für mich.«

»Was ist das für ein Job?«

»Ich verkaufe Hamburger in einem Schnellimbiß. Die haben da ein paar Spielautomaten in der Halle stehen, und die Leute spielen die ganze Nacht daran und fressen ihre Hamburger. Kannst du dir das vorstellen? Das letzte, was wir tun müssen, bevor der Laden schließt, ist, sämtliche Automaten abzuwischen. Sie sind voller Senf und Mayonnaise und Ketchup. Du solltest die Leute hier unten mal sehen! Sie sind alle fett und haben einen Sonnenbrand. Und wenn sie dich nicht gerade ficken wollen, betrachten sie dich als ein Möbelstück. Ich hab’ schon von beiden Geschlechtern Angebote bekommen. Gott sei Dank, ist meine Zimmergenossin so sexy wie ein Wacholderstrauch. Ich … ach Scheiße, warum erzähl’ ich dir das alles? Ich weiß nicht mal, warum ich dich eigentlich angerufen habe. Am Wochenende mach’ ich hier die Fliege, wenn sie mich ausbezahlt haben.«

Er hörte sich selbst sagen: »Laß dir noch einen Monat Zeit.«

»Was?«

»Laß dich nicht ins Bockshorn jagen. Wenn du so schnell aufgibst, wirst du nie wissen, warum du dorthin gegangen bist.«

»Hast du in der Highschool Football gespielt? Ich wette, du hast.«

»Ich war nicht mal der Wasserträger.«

»Woher weißt du dann so gut übers Leben Bescheid, ha?«

»Ich denke daran, mich umzubringen.«

»Du hast ja nicht mal … was hast du gesagt?«

»Ich spiele mit dem Gedanken, mich umzubringen.« Er sagte es ganz ruhig. Er dachte nicht mehr daran, daß dies ein Ferngespräch war und daß es Leute gab, die das Gespräch aus Spaß, oder Gott weiß warum, abhören konnten - die Telefongesellschaft, das Weiße Haus, die CIA oder das FBI. »Ich hab’ es immer wieder versucht, aber mir ist nichts geglückt. Ich glaube, ich bin schon zu alt, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Vor ein paar Jahren ist etwas in meinem Leben schiefgegangen, und ich wußte, daß es sehr schlimm war, aber ich wußte nicht, daß es für mich so schlimm werden würde. Ich dachte, daß es eben passiert sei und daß ich darüber hinwegkommen würde. Aber jetzt fällt ständig etwas in mir zusammen. Es macht mich ganz krank. Ich mache ständig Unsinn.«

»Hast du Krebs?« flüsterte sie.

»Ich glaube ja.«

»Dann geh ins Krankenhaus und laß …«

»Es handelt sich um Seelenkrebs.«

»Mann, du bist auf einem miesen Egotrip.«

»Kann schon sein«, sagte er. »Aber ist das so wichtig? Die Dinge sind so oder so schon entschieden und werden genauso laufen, wie sie wollen. Nur eins ärgert mich manchmal. Von Zeit zu Zeit habe ich das Gefühl, ich wäre die Hauptperson in einem Roman von einem schlechten Schriftsteller. Der hat schon längst beschlossen, wie mein Leben ausgehen wird und warum. Es ist einfacher, sich die Dinge so zu erklären, als Gott dafür die Schuld zu geben - wann hätte der auch je etwas für mich getan? Weder Gutes noch Schlechtes. Nein, nein, es ist dieser schlechte Schriftsteller, der hat an allem schuld. Er hat meinen Sohn getötet, indem er ihm einen Gehirntumor angedichtet hat. Das war das erste Kapitel.

Und kurz vor dem Epilog kommt das Kapitel: Selbstmord oder kein Selbstmord. Es ist eine miese Geschichte.«

»Hör mal«, sagte sie unangenehm berührt, »wenn es in eurer Stadt eine Telefonseelsorge gibt, dann solltest du vielleicht mal dort anrufen …«

»Ich glaube kaum, daß die mir helfen können«, erwiderte er. »Aber das ist auch nicht so schlimm. Ich möchte dir helfen. Verdammt noch mal, sieh dich doch erst mal richtig um, bevor du dich unterkriegen läßt. Hör mit den Drogen auf, wie du es dir vorgenommen hattest. Wenn du dich das nächste Mal umsiehst, bist du vielleicht schon vierzig, und die meisten Chancen sind vertan.«

»Nein, ich halt’ es hier nicht aus. An einem anderen Ort …«

»Es wird an jedem Ort dasselbe sein, wenn du deine Einstellung nicht änderst. Es gibt keine magischen Orte, an denen du dir den Kopf zurechtsetzen lassen kannst. Wenn du dich beschissen fühlst, ist alles, was du siehst, ebenfalls Scheiße. Ich kenne das. Alles, was ich lese, die Schlagzeilen oder sogar nur ein Straßenschild, sagt mir: Du hast recht, George, zieh den Stecker raus. Das hier ist alles zuviel für dich.«

»Hör mal …«

»Nein, jetzt hörst du mir zu. Wisch dir die Ohren sauber.

Altwerden ist wie durch Schnee zu fahren, der immer tiefer und tiefer wird. Wenn er erst mal über die Radkappen reicht, drehen die Räder durch. Du kannst machen, was du willst, du kommst nicht von der Stelle. So ist das Leben. Es gibt keine Schneepflüge, die dich wieder ausgraben. Dein Schiff wird niemals in einen Hafen einlaufen, Mädchen. Es gibt keine Lotsen, für niemanden. Und es gibt auch keine Kamera, die deinen Kampf für die Nachwelt aufzeichnet. Das ist alles! Alles! Mehr gibt es nicht!«

»Du hast keine Ahnung, wie es hier aussieht!« Sie weinte.

»Nein, aber ich weiß, wie es hier aussieht.«

»Du bist nicht für mein Leben verantwortlich.«

»Ich werde dir fünfhundert Dollar schicken - Olivia Brenner, postlagernd, Las Vegas.«

»Ich werde nicht mehr dasein. Sie werden sie zurückschicken.«

»Das können sie nicht. Ich werde keinen Absender angeben.«

»Dann wirf es lieber gleich weg.«

»Nimm’s und such dir damit eine bessere Arbeit.«

»Nein.«

»Dann benutz es als Toilettenpapier«, sagte er kurz angebunden und legte auf. Seine Hände zitterten.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon wieder. Die Telefonistin fragte: »Nehmen Sie ein R-Gespräch …«

Er sagte: »Nein«, und legte wieder auf.

Das Telefon klingelte an dem Tag noch zweimal, aber es war beide Male nicht Olivia.

Gegen zwei Uhr rief Mary ihn aus Bobby und Janet Prestons Wohnung an. Bob und Janet erinnerten ihn immer an Fred und Wilma Feuerstein. Wie es ihm ginge. Gut. Eine Lüge.

Was er zum Abendessen vorhabe. Er würde ins Alte Zollhaus gehen und dort einen Truthahn mit allen Zutaten verspeisen.

Eine Lüge. Ob er nicht statt dessen rüberkommen und mit ihnen essen wolle? Janet hätte eine Menge Reste, die sie gerne loswerden wolle. Nein, im Augenblick sei er wirklich nicht hungrig. Die Wahrheit. Er hatte schon ziemlich geladen und sagte ihr aus einer spontanen Laune heraus, daß er zu Wally Hamners Party kommen wolle. Sie klang sehr erfreut. Ob er wüßte, daß sie die Getränke selbst mitbringen sollten? Wann hätte Hamner je eine Party geschmissen, bei der es nicht so wäre? war seine Antwort, und sie lachten beide darüber.

Dann legten sie auf, und er setzte sich mit einem Drink vor den Fernseher.

Um halb sieben klingelte das Telefon nochmals, und jetzt war er stinkbesoffen.

»-lo?«

»Dawes?«

»Hiersdawes, wersda?«

»Magliore, Dawes. Sal Magliore.«

Er blinzelte und spähte in sein Glas. Dann guckte er auf den Farbfernseher, der gerade einen Film mit dem Titel Home for the Holidays brachte. Es ging um eine Familie, die sich am Heiligen Abend im Haus ihres sterbenden Patriarchen versammelt hatte und nach und nach von einem Mörder umgebracht wurde. Sehr weihnachtlich.

»Mr. Magliore«, artikulierte er sorgfältig. »Frohe Weihnachten, Sir! Und ein besonders gutes neues Jahr!«

»Wenn Sie wüßten, wie sehr mir 1974 schon jetzt zum Hals raushängt«, jammerte Magliore. »Das wird das Jahr, in dem die Ölbarone die Macht ergreifen werden, Dawes. Sie werden es sehen. Wenn Sie mir nicht glauben, sollten Sie sich mal meine Einnahmen vom Dezember ansehen. Ich hab’ neulich einen Chevy Impala verkauft. Der Wagen war blitz-sauber. Und wissen Sie, was ich dafür gekriegt habe? Tausend Dollarf Können Sie sich das vorstellen? Das sind fünfundvierzig Prozent Verlust in nur einem Jahr! Aber ich kann alle ‘71-Vegas, die ich in die Hände kriege, für fünfzehn, sechzehnhundert Dollar loswerden. Nun frage ich Sie, was sind das für Autos?«

»Sie sind sehr klein?« fragte er vorsichtig.

»Das sind verdammte Maxwell-House-Kaffeekannen!« rief Magliore aufgeregt. »Keksschachteln auf Rädern! Man braucht sie bloß mit schiefen Augen anzusehen und kurz zu husten, schon fällt der Motor raus oder der Auspuff runter oder das Lenkrad bricht ab. Pintos, Vegas, Gremlins, es ist alles dasselbe. Kleine Selbstmordkisten. Die kann ich so schnell verkaufen, wie ich sie reinkriege, aber so ein gutes, sauberes Auto wie einen Chevy Impala, den muß ich verschenken, um nicht darauf sitzenzubleiben. Und Sie wünschen mir ein gutes, neues Jahr! Jesus, Maria und Joseph, der Zimmermann!«

»Das paßt gut zur Jahreszeit«, kicherte er.

»Es ist sowieso nicht der Grund, warum ich angerufen habe«, fuhr Magliore fort. »Ich wollte ihnen gratulieren.«

»Gratuwas?« Er war ehrlich verdutzt.

»Sie wissen schon. Krach-Krach-Bumm-Bumm.«

»Oh, Sie meinen …«

»Psst, nicht am Telefon. Bleiben Sie cool, Dawes.«

»Klar. Krach-Krach-Bumm-Bumm. Das ist gut.« Er lachte.

»Das waren doch Sie, oder?«

»Ihnen würde ich nicht mal meinen zweiten Vornamen sagen.«

Magliore brüllte vor Lachen. »Das ist gut. Sie sind sehr gut, Mr. Dawes. Sie sind zwar ein Spinner, aber wenigstens ein intelligenter. Ich bewundere das.«

»Danke«, sagte er und schluckte ganz intelligent den Rest seines Drinks herunter.

»Ich wollte Ihnen auch noch mitteilen, daß da unten alles nach Plan weiterläuft. Froh und munter.«

»Was?«

Das Glas schlüpfte ihm aus den Fingern und rollte über den Teppich.

»Sie haben natürlich für alles Ersatzmaschinen, Dawes.

Für manche Maschinen sogar doppelten Ersatz. Sie müssen ihre Leute bar ausbezahlen, bis die Bücher wieder in Ordnung sind, aber die Arbeit geht auch so weiter.«

»Sie spinnen.«

»Nein. Ich finde nur, Sie sollten es wissen. Ich hab’s Ihnen ja gesagt, Dawes, manche Dinge können Sie einfach nicht beseitigen.«

»Sie Mistkerl, Sie lügen. Warum rufen Sie einen so armen Mann zu Weihnachten an und erzählen ihm Lügen?«

»Ich lüge nicht. Jetzt sind Sie wieder dran, Dawes. In diesem Spiel werden immer Sie am Drücker sein.«

»Ich glaube Ihnen nicht.«

»Sie armer Spinner.« Magliore schien wirklich Mitleid mit ihm zu haben, und das war das Schlimmste. »Ich glaube, das wird auch für Sie kein gutes Jahr werden«, sagte er und legte auf.

Das war Weihnachten.

26. Dezember 1973

ER fand einen Brief von IHNEN im Briefkasten (er hatte sich angewöhnt, an die Leute von der Stadtverwaltung nur noch in Personalpronomen zu denken, die er sich in Großbuchstaben, in riesigen, zerlaufenden Lettern gedruckt vorstellte, wie sie auf Plakaten von Horrorfilmen zu sehen waren), als wollten SIE ihm bestätigen, was Magliore ihm erzählt hatte.

Er nahm ihn in die Hand, betrachtete den steifen weißen Geschäftsumschlag und empfand dabei so ziemlich alle negativen Gefühle, zu denen der menschliche Geist fähig ist: Verzweiflung, Haß, Angst, Wut, Verlorenheit. Am liebsten hätte er ihn in tausend Stücke zerrissen und in den Schnee geworfen, aber ihm war klar, daß er das nicht tun konnte. Er öffnete ihn, wobei er den Umschlag beinahe in der Mitte durchriß, und stellte fest, daß er sich vor allem betrogen fühlte. Sie hatten ihn angeschmiert. Reingelegt. Er hatte ihre Maschinen und Geschäftsbücher zerstört, und sie waren einfach mit ihrem Ersatzzeug dahergekommen und hatten weitergearbeitet. Ebensogut könnte er versuchen, alleine gegen die chinesische Armee anzukämpfen.

Jetzt sind Sie wieder dran, Dawes. In diesem Spiel werden immer Sie am Drücker sein.

Die anderen Briefe waren alles vorgedruckte Formulare gewesen: Lieber Freund, bald wird ein großer Kran bei Ihnen vorbeikommen und Ihr Haus einreihen. Bereiten Sie sich auf dieses aufregende Ereignis vor. WIR VERSCHÖNERN IHRE STADT!

Aber dieser Brief war nicht von der Baubehörde, sondern vom Stadtrat, und er war ›persönlich‹:


20th Dezember 1973


Mr. Barton G. Dawes

1241 Crestallen Street West

M-——-, W-——


Sehr geehrter Mr. Dawes,


Wir haben in Erfahrung gebracht, daß Sie der letzte Anwohner in der Crestallen Street West sind, der noch nicht umgezogen ist. Wir hoffen, daß sich Ihnen bei der Bewältigung dieses Problems keine besonderen Schwierigkeiten stellen. In unseren Akten befindet sich zwar das Formular 19642-A (die Bestätigung, daß Sie vom Straßenbauprojekt 6983-426-73-74-110 informiert worden sind), aber Ihr Umzugsformular (6983-426-73-73-HC-9OO4) ist uns leider abgängig. Wie Sie sicher wissen, können wir Ihnen ohne dieses Formular keine Entschädigung überweisen. Aufgrund unserer Schätzung von 1973 hat das Anwesen an der Crestallen Street West, Nr. 1241, einen Wert von 63 500 Dollar. Wir sind überzeugt, daß Ihnen die Dringlichkeit dieser Angelegenheit ebenso be-wußt ist wie uns. Nach dem Gesetz müssen Sie bis zum 20. Januar 1974 ausgezogen sein, dem Tag, an dem die Bauarbeiten an der Crestallen Street West planmäßig beginnen sollen.


Wir müssen Sie darauf hinweisen, daß Sie sich aufgrund des Enteignungsgesetzes (L. L. 19452-36) strafbar machen, sollten Sie Ihr Haus bis Mitternacht des 19. Januar 1974 nicht verlassen haben. Wir sind sicher, daß Sie sich darüber im klaren sind, weisen aber der Vollständigkeit halber nochmals darauf hin.

Sollten Sie mit dem Umzug Schwierigkeiten haben, rufen Sie mich doch bitte während der Bürosrunden an, oder besser noch, kommen Sie vorbei, damit wir die Angelegenheit besprechen können. Ich bin sicher, daß sich alles regeln lassen wird. Wir sind gerne bereit, Ihnen in dieser Angelegenheit behilflich zu sein, und Sie werden vor allen Dingen feststellen, wie sehr wir zur Kooperation bereit sind. Inzwischen darf ich Ihnen ein frohes Fest und ein erfolgreiches neues Jahr wünschen.

Mit frdl. Grüßen

John T. Gordon

Für den Stadtrat

JTG/tk


»Nein«, stammelte er. »Das darfst du mir nicht wünschen. Du nicht.« Er zerriß den Brief und warf ihn in den Papierkorb.

An diesem Abend saß er vor dem Fernseher und mußte plötzlich an die Zeit zurückdenken, fast zweiundvierzig Monate war das jetzt her, in der Mary und er entdeckt hatten, daß Gott ein paar Straßenbauarbeiten am Gehirn ihres Sohnes geplant hatte.

Der Arzt hatte Younger geheißen. Hinter seinem Namen war eine Latte von Titeln auf dem Diplom zu lesen gewesen, das an der getäfelten Wand in seinem Büro gehangen hatte.

Das einzige, was er mit Sicherheit verstanden hatte, war, daß Younger Neurologe war, ein Mann, der sich mit Gehirn-krankheiten befaßte.

Er und Mary waren an einem warmen Juninachmittag auf Youngers Bitte hin ins Krankenhaus gekommen, in dem Charlie damals schon seit neunzehn Tagen lag. Younger war ein gutaussehender Mann Mitte Vierzig, der sich mit Golfspielen - ohne einen elektrischen Buggy - fit gehalten hatte.

Seine Haut war tief gebräunt. Aber vor allem hatten ihn die Hände des Arztes fasziniert. Sie wirkten groß und unge schickt, doch wenn er sie über dem Schreibtisch bewegte - ab und zu einen Bleistift aufnehmend, durch seinen Terminkalender blätternd oder einfach mit dem silbernen Briefbeschwerer spielend -, besaßen sie eine geschmeidige Grazie, die ihn beinahe schon abgestoßen hatte.

»Ihr Sohn hat einen Gehirntumor«, hatte er gesagt. Er hatte es ausdruckslos und ohne besondere Betonung gesagt, aber seine Augen hatten sie dabei gemustert, als ob er soeben eine explosive Bombe auf sie losgelassen hätte.

»Tumor«, hatte Mary leise, verständnislos wiederholt.

»Wie schlimm ist es?« hatte er Younger gefragt.

Die Symptome hatten sich während der letzten acht Monate entwickelt. Zuerst die Kopfschmerzen, zu Anfang vereinzelt, dann immer häufiger. Dann sah er manchmal doppelt, was besonders nach den Turnstunden passierte. Und danach, für Charlie äußerst beschämend, das Bettnässen. Sie hatten ihn jedoch erst zum Arzt gebracht, als er auf dem linken Auge vorübergehend blind wurde. Das Auge war plötzlich rot wie ein Sonnenuntergang, der das klare Blau von Charlies Augen zerstörte. Das hatte sie entsetzt. Der Arzt hatte ein paar Tests mit ihm gemacht, und dann waren weitere Symptome gefolgt: Phantomgerüche von geschälten Orangen und gespitzten Bleistiften; vorübergehende Taubheit in der linken Hand; gelegentliche Ausbrüche von kindlichem Unsinn und Obszönitäten.

»Es steht sehr schlimm«, hatte Younger geantwortet. »Sie müssen auf das Schlimmste gefaßt sein. Es läßt sich nicht operieren.«

Läßt sich nicht operieren.

Die Worte hallten noch über Jahre hinweg in ihm nach. Er hätte nie geglaubt, daß Worte einen Geschmack besäßen, aber diese hatten einen. Einen ekelhaften, doch irgendwie saftigen Geschmack nach verdorbenem, rohem Hackfleisch.

Läßt sich nicht operieren.

Irgendwo tief in Charlies Gehirn, hatte Dr. Younger ihnen erklärt, befände sich eine Ansammlung von bösen Zellen, die ungefähr die Größe einer durchschnittlichen Walnuß besäße.

Wenn man diesen Zellenhaufen vor sich auf dem Schreibtisch hätte, könnte man ihn mit einem Handschlag zerstören.

Aber er war leider nicht auf dem Tisch. Er befand sich in der Mitte von Charlies Kopf, wo er wohlgeborgen weiterwachsen und ihren Sohn mit der Krankheit erschlagen konnte.

Kurz nach der Visite bei dem Arzt hatte er Charlie in der Mittagspause im Krankenhaus besucht. Sie hatten sich über Baseball unterhalten und sich sogar vorgenommen, zu den Playoff-Spielen der American Baseball League zu gehen, wenn ihr Stadtteam gewinnen sollte.

Plötzlich hatte Charlie gesagt: »Ich glaube, wenn sie es mmmmmmm, mmmmmm, mmmmmmmmm wenn sie es mmmmmm mmm mmmmm schaffen mmmmmmm …«

Er hatte sich vorgebeugt. »Was ist los, Fred? Ich kann dich nicht verstehn.«

Charlie hatte nur noch die Augen verdreht.

»Fred?« hatte er geflüstert. »Freddy …?«

»Gottverdammtermutterfickender-mmmmmnnnnmmmhurensohn!« hatte Charlie plötzlich in dem weißen Krankenhausbett losgebrüllt. »Mösenleckendes, schwanzstreichelndes, arschleckendes Aaaaarschloch …«

»Schwester!« hatte er gerufen, während Charlie in Ohnmacht fiel. »O GOTT, SCHWESTER!«

Es waren diese bösen Zellen, diese gemeinen kleinen Biester, die ihn so haben reden lassen. Ein Haufen von kleinen, bösen Gehirnzellen, nicht größer - so hatte man ihm gesagt - als eine Walnuß. Die Krankenschwester sagte ihm, daß Charlie eines Nachts über fünf Minuten lang das Wort Buschland geschrien hätte. Er hätte es wieder und wieder gebrüllt. Die bösen Zellen, wissen Sie. Nicht größer als die gewöhnliche Gartenwalnuß. Sie ließen ihn toben wie einen unflätigen Hafenarbeiter, ließen ihn ins Bett machen, verursachten seine Kopfschmerzen und nahmen ihm die Möglichkeit - so um die erste Juniwoche herum -, seine linke Hand zu bewegen.

»Sehen Sie mal her«, hatte Dr. Younger sie an diesem strahlenden Junitag, der zum Golf spielen gerade richtig war, aufgefordert und eine Papierrolle vor ihnen ausgebreitet. Es war eine Aufzeichnung von Charlies Gehirnwellen gewesen.

Er hatte eine Aufzeichnung von gesunden Gehirnwellen zum Vergleich daneben gelegt, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Er hatte sich angesehen, was im Kopf seines Sohnes vor sich ging, und hatte wieder diesen ekelhaften Geschmack im Mund gespürt. Auf dem Papier war eine unregelmäßige Serie von Gebirgsspitzen und Tälern zu sehen gewesen, die wie eine Reihe von schlecht gezeichneten Dolchen gewirkt hatte.

Läßt sich nicht operieren.

Wenn sich dieser bösartige Zellenhaufen irgendwo am Rand von Charlies Gehirn.befunden hätte, wäre es ein leichtes gewesen, ihn mit einer kleineren Operation zu entfernen.

Kein Schweiß, kein Streß, keine Schmerzen am Herzen, wie sie als kleine Jungen immer gesagt hatten. Aber er war nun mal mitten im Gehirn entstanden und wuchs mit jedem Tag.

Wenn sie es mit dem Messer oder dem Laserstrahl probierten oder versuchten, die Zellen durch Kälte zu zerstören, würde von ihrem Sohn nur ein gesundes, atmendes Stück Fleisch übrigbleiben. Wenn sie aber keins von diesen Dingen ausprobierten, würden sie ihn wohl bald in einen Sarg legen und begraben können.

Dr. Younger hatte ihnen das alles ausführlich erklärt und die Ausweglosigkeit der Situation mit einer Reihe von technischen Redewendungen zu kaschieren versucht, die den Schrecken zunächst etwas dämpften. Aber das hielt nicht lange vor. Mary hatte nur dagesessen und verwirrt den Kopf geschüttelt, aber er hatte alles ganz genau verstanden. Sein erster Gedanke, klar und deutlich und unverzeihlich, war: Gott sei Dank, ist mir das nicht passiert. Dann war dieser seltsame Geschmack zurückgekehrt, und er hatte angefangen, um seinen Sohn zu trauern.

Heute eine Walnuß und morgen die Welt. Das unheimliche Unbekannte. Was gab es da zu verstehen?

Charlie starb im Oktober. Er hinterließ keine dramatischen Abschiedworte. Er hatte vorher drei Wochen im Koma gelegen.

Er seufzte, ging in die Küche und machte sich einen Drink.

Die Dunkelheit belagerte von außen die Küchenfenster. Das Haus wirkte jetzt, da Mary nicht mehr da war, entsetzlich leer. Ständig stolperte er über seine Sachen - alte Schnappschüsse, sein alter Jogginganzug im Schrank, ein paar alte Hausschuhe unter dem Schreibtisch im oberen Zimmer. Es war sehr, sehr schlimm, immer wieder daran erinnert zu werden.

Nach seinem Tod hatte er nie, nie wieder um Charlie geweint, nicht einmal auf seiner Beerdigung. Aber Mary hatte geweint. Wochenlang war sie mit geröteten Augen herumgelaufen. Und schließlich war sie langsam darüber hinweggekommen.

Charlies Tod hatte auch bei ihr Narben hinterlassen, das war nicht zu übersehen. Aber ihre Narben waren äußerlich.

Es gab eine Mary davor und eine Mary danach. Die Mary davor hatte selten Alkohol zu sich genommen, höchstens mal bei den gesellschaftlichen Anlässen, die für seine Karriere wichtig waren. Sie ließ sich dann einen milden Screwdriver mixen und trug ihn den ganzen Abend mit sich herum. Das höchste war ein Grog vor dem Zubettgehen, wenn sie schwer erkältet war, aber das war auch alles. Die Mary danach trank einen Cocktail mit ihm, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und nahm auch oft vor dem Zubettgehen noch einen Drink. Gemessen an normalen Maßstäben war es kein ernsthaftes Trinken, sie trank nie so viel, daß ihr schlecht wurde und sie sich übergeben mußte, aber sie trank doch mehr als vorher. Ein kleiner, wärmespendender Schutzmantel. Genau das, was der Arzt ihr verordnet hätte. Vorher hatte sie selten geweint. Aber nachher weinte sie über die kleinsten Kleinigkeiten, doch nur, wenn sie allein war. Über ein angebranntes Abendessen, über einen Platten am Wagen und damals bei dem Wasserrohrbruch im Keller, als die Heizungsrohre eingefroren waren und der Ölofen ausging, da war sie untröstlich gewesen. Die Mary davor war ein Folkmusik-Fan gewesen - White Folk und Blues, Van Ronk, Gary Davis, Tom Rush, Tom Paxton, Spider John Koerner. Die Mary danach hatte schlichtweg alles Interesse daran verloren. Sie sang jetzt ihren eigenen Blues, klagte ihr Leid auf einer inneren Stereoanlage. Sie hörte auf, über ihre gemeinsame Reise nach England zu reden, die sie für den Fall seiner Beförderung geplant hatten. Sie fing an, ihr Haar zu Hause zu frisieren, und der Anblick einer mit Lockenwicklern vor dem Fernseher sitzenden Mary wurde alltäglich. Sie war es, die von ihren gemeinsamen Freunden bedauert wurde - und er fand das ganz in Ordnung. Er wollte sich selbst bemitleiden und tat es auch, aber insgeheim. Sie war fähig gewesen, ihre Bedürfnisse anzumelden und sich zu nehmen, was man ihr als Trost anbot, und das hatte sie gerettet. Es hatte sie vor den fürchterlichen Gedanken bewahrt, mit denen er sich nächtelang rumplagte. Nach ihrem Schlummertrunk war sie jede Nacht sanft eingeschlafen. Und während sie schlief, hatte er über die seltsame Welt nachgedacht, in der eine kleine Anzahl von bösartigen Gehirnzellen seinen Sohn zerstören und ihn für immer von ihm wegnehmen konnte.

Er hatte sie nie wegen ihrer Heilung gehaßt und sie nie um die Achtung beneidet, die ihr andere Frauen mit Recht entge-genbrachten. Sie betrachteten sie mit den Augen, mit denen ein junger Arbeiter auf den Ölfeldern die narbige, verbrannte Haut im Gesicht oder an den Händen eines alten Veteranen betrachten mochte - mit dem Respekt, den die Unverletzten den ehemals Verwundeten und nun Geheilten entgegen-brachten. Sie hatte ihre Zeit in der Hölle durchgemacht, und diese Frauen wußten das. Aber sie hatte es überwunden. Es hatte ein Davor gegeben, dann die Hölle und dann ein Danach. Und dann war die Zeit Danach-Danach gekommen, in der sie sich wieder zwei von ihren ehemals vier Frauenclubs angeschlossen hatte. Sie hatte wieder mit ihrem Makramee angefangen (er besaß einen Gürtel, den sie im letzten Jahr gearbeitet hatte, eine wundervoll geknüpfte Kreation mit einer schweren Silberschnalle und seinem Monogramm BGD in der Mitte) und sich nachmittags vor den Fernseher gesetzt und sich die Seifenopern und Merv Griffin im Gespräch mit seinen Berühmtheiten angesehen.

Und was war jetzt? fragte er sich, als er mit seinem Drink ins Wohnzimmer zurückging. Danach-Danach-Danach? Es kam ihm so vor. Eine neue Frau, eine schöne, gesunde Frau, die sich aus der Asche erhoben hatte, die er so ungestüm aufgewühlt hatte. Der alte Ölfeldarbeiter mit seinen Narben blieb zwar, aber er erlangte ein neues, gewinnendes Aussehen. War Schönheit nur so tief wie die Haut? Nein, Schönheit lag in den Augen des Betrachters, und sie konnte sehr, sehr tief sein.

Seine Narben waren alle innerlich. In den langen Nächten nach Charlies Tod hatte er jede seiner Wunden einzeln betrachtet, hatte sie mit der morbiden Faszination, mit der ein Mann seinen Stuhl auf Blutspuren untersucht, katalogisiert.

Er hätte es so gern gesehen, daß Charlie im Baseballteam der Schule mitspielte. Er hätte seine Zeugnisse sehen und mit ihm darüber reden wollen. Er hätte ihm wieder und wieder sagen wollen, daß er endlich sein Zimmer aufräumen solle.

Er hätte sich um die Mädchen Sorgen machen wollen, mit denen Charlie ausging, um die Freunde, die er sich aussuchte, um seine seelische Verfassung. Er hätte zu gerne gesehen, was aus seinem Sohn geworden wäre und ob sie immer Freunde geblieben wären. Und dann waren ein paar bösartige Zellen zwischen sie getreten, nicht größer als eine Walnuß, und hatten sie wie eine düstere, habgierige Frau voneinander getrennt.

Mary hatte gesagt: Er war immer dein Sohn.

Das stimmte. Sie hatten beide so gut zueinander gepaßt, daß Namen völlig überflüssig und daß Worte wie mein und dein fast ein bißchen anstößig waren. So waren sie zu Fred und George geworden, ein Komikerpaar, zwei Glorreiche Halunken gegen die ganze Welt.

Wenn eine Anhäufung von ein paar bösartigen Zellen nicht größer als eine Walnuß all das zerstören konnte, diese intimen Dinge, die man kaum richtig ausdrücken konnte, die so persönlich waren, daß man ihre Existenz kaum vor sich selbst einzugestehen wagte, was blieb dann noch übrig? Wie konnte man dann je das Vertrauen ins Leben zurückgewinnen? Wie konnte man dann glauben, daß sie mehr Bedeutung gehabt hatten als eine Autokarambolage am Wochenende?

All das war tief in ihm verborgen, und er war sich eigentlich nie dessen bewußt geworden, wie tief, wie unabänderlich diese Gedanken ihn verändert hatten. Und jetzt lag alles offen vor ihm, wie eine obszöne, ausgekotzte Masse auf dem Kaffeetisch, nach Verdauungssäften stinkend und voller unverdauter Nahrungsklumpen. Wenn die Welt tatsächlich nur eine Karambolage war, wieso hatte er dann kein Recht, einfach aus seinem Wagen zu steigen? Aber was kam danach?

Das ganze Leben schien eine einzige Vorbereitung auf die Hölle zu sein.

Er bemerkte, daß er seinen Drink unbewußt in der Küche in den Ausguß gegossen hatte; er war mit einem leeren Glas ins Wohnzimmer gekommen.

31. Dezember 1973

Er war noch zwei Häuserblocks von Wally Hamners Haus entfernt, als er in seine Jackentasche griff, um nachzusehen, ob er noch ein paar Pfefferminzbonbons hatte. Statt dessen fand er eine kleine, zusammengeknüllte Aluminiumkugel, die im stumpfen, grünen Licht des Armarturenbrettes aufleuchtete. Er betrachtete sie mit einem kurzen, abwesenden Blick und wollte sie schon in den Aschenbecher werfen, als ihm wieder einfiel, was sie enthielt.

In Gedanken hörte er Olivias Stimme wieder: Synthetisches Meskalin. Man nennt es Produkt Vier. Sehr starkes Zeug. Er hatte es total vergessen.

Er steckte die Kugel in die Jackentasche zurück und bog in Walter Hamners Straße ein. Auf beiden Straßenseiten waren in langen Reihen Wagen geparkt. Das sah Walter ähnlich - er würde sich nie mit einer einfachen Party abgeben, wenn eine große Massenfummelei in Aussicht stand. Das Prinzip des Freudenschubs nannte er das. Er behauptete immer, daß er dieses Prinzip eines Tages patentieren lassen und Handbücher herausgeben würde, wie man es anzuwenden hatte.

Seine Idee, die dahintersteckte, lautete etwa folgendermaßen: Wenn man nur genug Leute auf engem Raum zusammenpferchte, waren sie gezwungen, sich zu vergnügen - sie wurden ›hineingeschoben‹. Als Walter diese Theorie einmal vor ihnen in einer Bar ausgeführt hatte, hatte er das mit einer lynchenden Menge verglichen. »Na seht ihr«, hatte Walter darauf ungerührt geantwortet. »Bart hat meine Theorie soeben bewiesen.«

Er fragte sich, was Olivia wohl gerade machte. Sie hatte nicht wieder versucht, ihn anzurufen, obwohl er wahrscheinlich schwach geworden wäre und den Anruf entge-gengenommen hätte. Vielleicht war sie gerade so lange in Las Vegas geblieben, bis das Geld angekommen war, und hatte sich dann in einen Bus nach …? gesetzt. Nach Maine vielleicht? Würde sich jemand mitten im Winter in Las Vegas in einen Bus nach Maine setzen? Sicher nicht.

Man nennt es Produkt Vier. Sehr starkes Zeug.

Er parkte den Wagen hinter einem sportlichen roten GTX mit schwarzen Rennstreifen an den Seiten und stieg aus. Der Silvesterabend war klar und bitterkalt. Am Himmel hing eine kühle Mondsichel, die aussah, als hätten Kinder sie aus gelbem Papier ausgeschnitten. Die Sterne funkelten in verschwenderischer Fülle wie Pailletten. Sein Atem hing als helle Wolke in der dunklen Luft.

Als er noch drei Häuser von Wallys Wohnung entfernt war, hörte er schon die Baßtöne der Stereoanlage. Die spielten mal wieder verrückt. Wallys Partys hatten so etwas an sich, dachte er, Freudenschub oder nicht. Man konnte in der besten Absicht bei ihm aufkreuzen, nur auf einen Sprung hereinzuschauen, man blieb immer und betrank sich bei ihm, bis man silberne Glöckchen im Kopf klingeln hörte, die sich am nächsten Morgen in bleierne Kirchenglocken verwandelten. Die leidenschaftlichsten Rockmusik-Hasser tanzten letztendlich Boogie in seinem Wohnzimmer, wenn alle so betrunken waren, daß Wally die alten Gassenhauer aus den Fünfzigern und Sechzigern auskramte und sie in Nostalgie und Jugenderinnerungen versanken. Sie soffen und tanzten Boogie, tanzten Boogie und soffen, bis sie alle vor Erschöpfung hechelten wie kleine Hunde.

Auch heute würden sich diverse Ehehälften unterschiedlicher Paare in der Küche küssen, würde mancher Körper Zentimeter um Zentimeter erforscht werden, würde man die Mauerblümchen mit Gewalt aus ihren Ecken reißen, und manch einer, der sich normalerweise nie betrank, würde am Neujahrsmorgen mit einem fürchterlichen Kater aufwachen und sich entsetzt daran erinnern, wie er mit einem Lampen-schirm auf dem Kopf durch die Menge getanzt war und dabei laut getönt hatte, er würde seinem Chef endlich mal die Meinung sagen. Wally schien die Leute zu solchen Sachen zu in-spirieren, nicht mit bewußter Anstrengung, sondern einfach dadurch, daß er Wally war - und eine Silvesterparty war schließlich nicht irgendeine Party.

Er ertappte sich dabei, wie er die parkenden Wagenreihen nach Stephan Ordners grünem Delta 88 absuchte, konnte ihn aber nirgends entdecken.

Als er sich dem Haus näherte, vereinigte sich der Rest der Bandklänge mit den Baßtönen, und er hörte Mick Jagger kreischen:

Ooooh, children -

It’s just a kiss away,

Kiss away, kiss away …

Das Haus war hell erleuchtet - Scheiß auf die Energiekrise -, abgesehen vom Wohnzimmer natürlich, in dem während der langsamen Nummern das große Schmusen stattfand. Durch das Dröhnen der voll aufgedrehten Lautsprecher konnte er gut über hundert in fünfzig Unterhaltungen verwickelte Stimmen hören, als sei der Turm von Babel eben erst eingestürzt.

Wenn es Sommer (oder wenigstens Herbst) gewesen wäre, hätte es ihm wohl mehr Spaß gemacht, einfach draußen stehenzubleiben und dem ganzen Zirkus zuzuhören. Er hätte die Entwicklung bis zum Höhepunkt und den allmählichen Ausklang registriert. Plötzlich sah er sich selbst - eine schreckliche, angsteinflößende Vision - auf Wally Hamners Rasen stehen und eine EEG-Aufzeichnung in den Händen halten, die die unregelmäßige, gezackte Linie eines kranken Gehirns zeigte; die Monitoraufzeichnung eines gigantischen Partygehirntumors. Er schauerte und steckte die Hände in die Taschen, um sie zu wärmen.

Seine rechte Hand fand die Aluminiumkugel wieder, und er holte sie heraus. Neugierig wickelte er sie trotz der Kälte, die ihm mit stumpfen Zähnen in die Finger biß, aus. Es war eine kleine lilafarbene Pille, die auf den Nagel seines kleinen Fingers paßte, ohne die Ränder zu berühren. Viel kleiner als, sagen wir mal, eine Walnuß. Konnte ihn ein so kleines Etwas tatsächlich klinisch verrückt machen? Konnte es ihn Dinge sehen lassen, die nicht existierten, ihm Gedanken eingeben, die er noch nie gedacht hatte? Konnte es die Auswirkungen, die die tödliche Krankheit seines Sohnes bei ihm ausgelöst hatte, aufheben?

Beinahe zerstreut steckte er die Pille in den Mund. Sie schmeckte nach nichts. Er schluckte sie hinunter.

»BART!« schrie eine Frau. »BART DAWES!« Sie hatte ein schulterfreies schwarzes Abendkleid an und hielt einen Martini in der Hand. Ihre dunklen Haare waren zu einer Partyfrisur aufgetürmt und wurden von einem glitzernden, mit falschen Diamanten besetzten Band zusammengehalten.

Er hatte das Haus durch die Küchentür betreten. Die Küche war gesteckt voll. Es war erst halb neun, die Flutwelle hatte also noch nicht eingesetzt. Die Flutwelle war eine weitere von Wallys Partytheorien: wenn eine Party fortschritt, so glaubte er, verteilten die Leute sich in allen vier Ecken des Hauses. »Die Mitte trägt nicht«, hatte Wally weise lächelnd erklärt. »Das habe ich von T. S. Eliot.« Angeblich hatte Wally mal einen Gast oben auf dem Dachboden gefunden, achtzehn Stunden, nachdem die Party vorbei war.

Die Frau in dem schwarzen Abendkleid küßte ihn warmherzig auf die Lippen und preßte ihren massigen Busen sanft gegen seine Brust. Dabei verschüttete sie etwas Martini auf den Boden.

»Hi«, sagte er. »Wer sind Sie?«

»Tina Howard, Bart. Erinnerst du dich nicht mehr an unsere Klassenfahrt?«Sie fuchtelte ihm mit einem langen,dolchförmigen Fingernagel unter der Nase herum. »Du BÖSER Junge!«

»DM bist Tina? Bei Gott, du bist es!« Er verzog seinen Mund zu einem verdutzten Lächeln. Das war noch etwas, das Wallys Partys auszeichnete: es tauchten immer wieder Leute aus der eigenen Vergangenheit auf. Wie alte Fotografien. Der beste Freund aus dem Nachbarviertel (vor dreißig Jahren!); das Mädchen, das man im College beinahe mal aufs Kreuz gelegt hätte; der Typ, mit dem man vor achtzehn Jahren mal in den Ferien zusammen gearbeitet hatte.

»Aber ich heiße jetzt Tina Howard Wallace«, fuhr die Frau im schwarzen Abendkleid fort. »Mein Mann muß sich hier irgendwo rumtreiben …« Sie sah sich suchend um, verschüttete noch etwas Martini und trank den Rest schnell aus, bevor er ihr abhanden kam. »Ist das nicht SCHRECKLICH? Ich muß ihn verloren haben.«

Sie musterte ihn mit einem warmen, abschätzenden Blick, und er konnte es fast nicht glauben, daß diese Frau das Mädchen sein sollte, das ihn zum ersten Mal mit weiblichem Fleisch in Berührung gebracht hatte - die Klassenfahrt der Grover Cleveland Highschool hatte vor zirka hundertneun Jahren stattgefunden. Er hatte ihre Brust durch die weiße Baumwollbluse streicheln dürfen, als …

»Cotter’s Stream«, sagte er laut.

Sie wurde rot und kicherte. »Ah, du erinnerst dich also.«

Sein Blick fiel in einem vollkommen unfreiwilligen Reflex auf ihren Busen, und sie jauchzte vor Vergnügen. Wieder lächelte er sie hilflos an. »Wie ich sehe, vergehen die Jahre schneller, als wir …«

»Bart!« rief Wally Hamner über das allgemeine Partygebrabbel hinweg. »He, alter Kumpel, ich bin richtig froh, daß du gekommen bist.«

Er kam in seinem ebenfalls zu patentierenden, gewandten Partyzickzack auf ihn zu, ein dünner, beinahe glatzköpfiger Mann in einem tadellos sitzenden gestreiften Hemd Jahrgang 1962 und mit einer Hornbrille auf der Nase. Er schüttelte Walters ausgestreckte Hand. Sein Händedruck war immer noch so fest, wie er ihn in Erinnerung hatte.

»Wie ich sehe, hast du Tina schon getroffen«, sagte Walter.

»Himmel, wir kennen uns schon seit Jahrzehnten«, antwortete er und lächelte Tina verlegen zu.

»Aber sag das ja nicht meinem Mann, du böser Junge«, kicherte Tina. »Entschuldigt mich bitte. Wir sehen uns ja noch, nicht wahr, Bart?«

»Klar«, sagte er.

Sie schlängelte sich um eine Gruppe, die sich um einen Tisch mit Partyhappen versammelt hatte, herum und verschwand im Wohnzimmer. Er nickte ihr noch einmal zu und fragte Walter: »Sag mal, wo gabelst du die Leute immer auf?

Das war mein erstes Mädchen. Ich komme mir vor wie bei: ›Das war mein Leben.‹«

Walter zuckte bescheiden die Achseln. »Gehört alles zum Freudenschub, mein Junge.« Er deutete auf die braune Papiertüte unter seinem Arm. »Was hast du denn da in diesem schlichten braunen Beutel?«

»Southern Comfort. Ich hoffe, du hast etwas Ginger Ale da.«

»Natürlich«, antwortete Walter und verzog das Gesicht.

»Willst du wirklich dieses widerliche Zeug trinken? Ich hatte dich immer für einen Scotchmann gehalten.«

»Insgeheim bin ich immer ein Southern-Comfort-Ginger-Ale-Mann gewesen. Jetzt bin ich endlich entlarvt.«

Walter lachte. »Mary treibt sich hier auch irgendwo rum.

Sie hat vorhin nach dir Ausschau gehalten. Hol dir einen Drink, und dann gehen wir sie suchen, ja?«

»Guter Vorschlag.«

Er kämpfte sich durch die Küche und begrüßte Leute, die ihm irgendwie bekannt vorkamen, sich an ihn aber überhaupt nicht zu erinnern schienen, antwortete anderen, die ihn zuerst ansprachen, deren Gesichter er aber nicht kannte.

Zigarettenrauch wälzte sich in majestätischen Schwaden durch den Raum. Gesprächsfetzen drangen in seine Ohren und verklangen ebenso rasch wieder wie diverse Radiostationen, wenn man auf der Suche nach einem bestimmten Sender war. Sie waren laut und bedeutungslos:

Freddy und Jim hatten ihre Stundenpläne vergessen, also habe ich …

… sagte vorhin, daß seine Mutter kürzlich gestorben ist, also kriegt er nachher bestimmt einen Weinkrampf, wenn er zuviel trinkt …

…als er also die Farbe runtergekratzt hatte, stellte er fest, daß er ein wirklich schönes Stück erwischt hatte, vielleicht noch von vor der Revolution

da kam doch tatsächlich dieser kleine Jude an die Tür und wollte mir Enzyklopädien verkaufen …

… sehr chaotisch; er willigt wegen der Kinder nicht in die Scheidung ein und säuft wie ein Loch …

… ein furchtbar schönes Kleid …

… so betrunken, daß er voll über den Tisch gekotzt hat, als die Kellnerin die Rechnung brachte

Vor dem Herd und der Spüle stand ein langer Tisch, auf dem sich schon eine Unmenge von geöffneten Schnapsflaschen und Gläsern in verschiedenen Größen, manche halb ausgetrunken und abgestellt, befanden. Die Aschenbecher waren überfüllt. In der Spüle standen drei Eiskübel voller Eiswürfel.

Über dem Herd hing ein großes Poster, das Richard Nixon mit Kopfhörern darstellte. Die Leitung der Kopfhörer steckte im Hinterteil eines Esels, der sich am Bildrand befand. Darunter stand in großen Buchstaben:

WIR HÖREN BESSER ZU!

Zu seiner Linken stand ein Mann mit weit ausgestellten Hosenbeinen, der in jeder Hand einen Drink hielt (ein Wasserglas voller Whisky in der Rechten, einen vollen Bierkrug in der Linken), und unterhielt eine gemischte Gruppe mit Witzen. »Dieser Typ kommt also in eine Bar und findet den Esel, der auf dem Hocker direkt neben ihm sitzt. Er bestellt ein Bier, und als es kommt, fragt er den Barkeeper: ›Wem gehört eigentlich dieser Esel? Süßes kleines Tierchen.‹ Und der Barkeeper sagt zu ihm: ›Oh, der Esel, der gehört dem Klavierspieler.‹ Da dreht er sich um und …«

Er mixte sich seinen Drink und sah sich nach Walt um, aber der war schon wieder zur Tür gegangen, um ein paar Neuankömmlinge zu begrüßen - ein junges Pärchen. Der Mann hatte eine altmodische Autokappe und eine alte Rennbrille aufgesetzt und trug einen abgenutzten Kittel mit der Aufschrift:

KEEP ON TRUCKIN’

Einige Leute lachten schallend, und Walter heulte gequält auf. Der Witz, den dieser Kerl gerade erzählte, mußte einen langen Bart haben.

»… der Kerl geht also zum Klavierspieler rüber und sagt: ›Ist Ihnen klar, daß Ihr Esel gerade in mein Bier gepißt hat?‹ Und der Klavierspieler antwortet: ›Nein, aber wenn Sie mir ein paar Takte vorsummen, mache ich es ihm nach.‹« Mäßiges Gelächter. Der Mann mit den weit ausgestellten Hosenbeinen schluckte seinen Whisky und spülte ihn mit dem Bier herunter.

Er nahm seinen Drink und schlenderte ins verdunkelte Wohnzimmer, wobei er sorgfältig darauf achtete, an Tina Howard Wallaces Rücken vorbeizuschleichen, bevor sie ihn entdeckte und ihn in eine lange Konversation mit dem Tenor ›Wo sind die Jahre geblieben?‹ verwickelte. Sie gehörte genau zu der Kategorie von Leuten, die jedes Kapitel aus dem Leben ihrer früheren Klassenkameraden runterbeten konnte, besonders von denen, die gescheitert waren - Scheidung, Nervenzusammenbruch und Kriminalität würden ganz oben auf der Liste stehen. Und diejenigen, die es zu etwas gebracht hatten, würde sie als Unmenschen abstempeln.

Jemand hatte die unvermeidliche Rock’n’RolI-Platte aus den Fünfzigern aufgelegt, und zirka fünfzehn Paare twiste-ten begeistert und sehr schlecht über die Tanzfläche. Er entdeckte Mary, die mit einem großen, schlanken Mann tanzte, den er von irgendwoher kannte, aber nicht einordnen konnte. Jack? John?» Jason? Der Name fiel ihm einfach nicht mehr ein. Sie trug ein Partykleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Es hatte eine Knopfleiste auf der rechten Seite, und sie hatte genug Knöpfe offengelassen, um die sexy Rundung ihres Oberschenkels über dem Knie zu zeigen. Er wartete auf eine starke Empfindung bei dem Anblick - Neid oder Trauer oder ein bißchen Sehnsucht -, aber er spürte nichts. Nachdenklich nippte er an seinem Drink.

Sie wandte den Kopf um und entdeckte ihn. Er hob beiläufig eine Hand, um sie zu grüßen und ihr zu sagen, daß sie ruhig weitertanzen solle, aber sie nahm ihren Partner bei der Hand und kam zu ihm herüber.

»Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Bart«, sagte sie.

Sie sprach mit erhobener Stimme, um die Stereoanlage zu übertönen. »Erinnerst du dich noch an Dick Jackson?«

Bart reichte dem schlanken Mann die Hand, und er schüttelte sie. »Sie haben mal mit Ihrer Frau in unserer Straße gewohnt. Vor fünf … nein, sieben Jahren, nicht wahr?«

Jackson nickte. »Wir wohnen jetzt drüben in Willowood.«

Sozialer Wohnungsbau, dachte er. Seit einiger Zeit wußte er über sämtliche städtischen Baumaßnahmen und ihre geo-graphische Lage sehr genau Bescheid.

»Nicht schlecht. Arbeiten Sie immer noch für Piels?«

»Nein, ich habe jetzt mein eigenes Geschäft. Ich besitze zwei Lastwagen. Riesige Transporter. Hören Sie, wenn Ihre Wäscherei irgendwelche Lieferungen braucht … Chemikalien oder so …«

»Ich arbeite nicht mehr in der Wäscherei«, sagte er und bemerkte, wie Mary leicht zusammenzuckte, als hätte jemand an eine alte Wunde gerührt.

»Nicht? Was machen Sie denn jetzt?«

»Ich bin selbständig«, antwortete er und grinste. »Haben Sie an dem Streik der unabhängigen Lastwagenfahrer teilgenommen?«

Jacksons Gesicht, das vom Alkohol schon etwas gerötet war, wurde noch dunkler, »Und ob ich das habe! Ich habe mir sogar persönlich einen Kerl vorgenommen, der nicht einse-hen wollte, wozu der Streik nützen sollte. Haben Sie eine Ahnung, was diese Mistkerle in Ohio heutzutage für Diesel verlangen? 31,9! Das verringert meinen Profit von zwölf auf neun Prozent! Und davon soll ich dann noch die ganzen Wartungskosten zahlen. Von diesen verdammten, halsabschneiderischen Geschwindigkeitsbegrenzungen ganz zu schweigen …«

Er ließ sich lang und breit über die Freuden und Gefahren eines selbständigen Transportunternehmens in einem Land aus, das plötzlich unter einem schlimmen Energiemangel litt, und Bart hörte zu, nickte an den richtigen Stellen und nahm ab und zu einen Schluck. Mary entschuldigte sich und ging in die Küche, um sich einen Punsch zu holen. Der Mann in dem alten Autokittel tanzte einen übertriebenen Charleston nach einer alten Everly-Brothers-Platte, und einige Umstehende lachten und applaudierten ihm fröhlich.

Jacksons Frau, ein stämmiges, muskulöses Persönchen mit einem karottenroten Haarschopf, kam auf sie zu und wurde ihm vorgestellt. Sie wirkte schon ziemlich angetrunken, und ihre Augen waren so stumpf wie die Blinklichter eines Flipperautomaten. Sie schenkte ihm ein gläsernes Lächeln, gab ihm die Hand und sagte zu ihrem Mann: »Liebling, ich glaube, ich muß mich übergeben. Wo ist das Badezimmer?«

Jackson führte sie weg. Er ging über die Tanzfläche und setzte sich auf einen der am Rand stehenden Stühle, wo er sein Glas leertrank. Mary ließ sich Zeit. Vermutlich hatte sie jemand in eine Unterhaltung verwickelt.

Er griff in seine Jackentasche, holte ein Päckchen Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Er rauchte jetzt nur noch auf Partys. Das war ein großer Fortschritt im Vergleich zu früher, als er zu der Drei-Packungen-am-Tag-Krebsbri-gade gehört hatte.

Als er die Zigarette halb aufgeraucht hatte, während er die Küchentür im Auge behielt, um Marys Rückkehr abzupas-sen, blickte er zufällig auf seine Hand und stellte fest, wie interessant sie plötzlich war. Es war außerordentlich interessant, wie sein Zeige- und Mittelfinger die Zigarette hielten, so selbstverständlich, als hätten sie sein Leben lang nichts anderes gemacht.

Der Gedanke war so komisch, daß er lachen mußte.

Es kam ihm so vor, als hätte er seine Finger schon eine ganze Weile studiert, als er plötzlich einen eigenartigen Geschmack im Mund bemerkte. Nicht schlecht, aber seltsam.

Die Spucke schien viel dicker geworden zu sein. Und seine Beine … seine Beine waren ganz hippelig, als wollten sie den Takt der Musik mitschlagen, als wäre das das einzige, was sie entspannen könnte, damit sie sich wieder so leicht und normal wie Beine anfühlten …

Er bekam ein wenig Angst. Der Gedanke, der ganz ge-wöhnlich angefangen hatte, nahm plötzlich einen völlig anderen, geschraubten Weg, wie ein Mann, der sich in einem riesigen Haus verlaufen hat und jetzt eine große, krrrrissstall-lene Wendeltreppe hinaufkletterte …

Da war es wieder. Es mußte an der Pille liegen, die er geschluckt hatte. Ja, es war Olivias Pille. Und was für eine komische Art, Kristall zu sagen. Krrrrissstalll. Ein aufregender, knisternder Klang, wie die Spannung, wenn die Striptease-tänzerin ihr Kostüm auszog.

Er lächelte angestrengt und betrachtete wieder seine Zigarette, die jetzt erstaunlich weiß und erstaunlich rund aussah, das erstaunliche Symbol für Amerikas Reichtum und Wohl-stand. Nur in Amerika schmeckten die Zigaretten so gut. Er nahm einen Zug. Wundervoll. Er dachte an die Unmengen von Zigaretten, die von Amerikas Fließbändern quollen, in Winston-Salem und sonstwo, eine Unmenge von Zigaretten, ausgeschüttet wie aus einem Füllhorn. Es lag am Meskalin.

Er war auf seinem Trip. Wenn die Leute wüßten, wie er das Wort Kristall dachte (krrrrissstalll), sie würden die Köpfe zu-sammenstecken und über ihn tuscheln: Ja, seht nur, er ist wirklich verrückt. Ein totaler Spinner! Spinner, das war noch so ein schönes Wort. Plötzlich wünschte er sich, daß Sal Magliore hier wäre. Er und der Einäugige Sally würden sich zusammensetzen und alle Aspekte der Organisation von Hehlergeschäften durchdiskutieren. Sie würden über alte Huren und Explosionen reden. Vor seinem inneren Auge sah er sich und Sally Magliore in einem italienischen ristorante mit dunkelge-täfelten Wänden sitzen und an einem rissigen Holztisch Pizza essen, während im Hintergrund leise Violinenklänge aus dem Film Der Pate aus der Stereoanlage säuselten. Es war ein verschwenderischer Technicolorfilm, in den er sich hin-einfallen ließ wie in ein warmes Schaumbad.

»Krrrrissstalll«, sagte er leise zu sich selbst und grinste. Es schien, als hätte er schon stundenlang so dagesessen und über diese Dinge nachgedacht, aber die Asche an seiner Zigarette war nicht einen Millimeter weitergewachsen. Es war erstaunlich. Er zog noch einmal.

»Bart?«

Er blickte auf. Es war Mary. Sie hatte ihm einen Happen zu essen mitgebracht. Er lächelte ihr zu. »Setz dich. Ist das für mich?«

»Ja.« Sie reichte ihm das Sandwich. Es war ein kleines, dreieckiges Stückchen Brot mit einem rosa Fleck in der Mitte.

Ihm fiel plötzlich ein, daß Mary ängstlich, ja entsetzt reagieren würde, wenn sie wüßte, daß er sich auf einem Trip befand. Sie würde sofort den Notarzt rufen, die Polizei, Gott weiß wen. Er mußte sich also normal verhalten. Aber die Vorstellung von Normalität fand er ausgesprochen seltsam.

»Ich werde es später essen«, sagte er und steckte das Sandwich in seine Jackentasche.

»Bart? Bist du betrunken?«

»Nur ein bißchen«, antwortete er. Er konnte die Poren ihrer Gesichtshaut sehen. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so klar und deutlich gesehen zu haben. So viele kleine Löcher, als ob Gott ein Bäcker und ihr Gesicht eine Kuchenkruste wäre. Er kicherte, und als sie die Stirn runzelte, sagte er verschwörerisch: »Erzähl’s nicht weiter.«

»Was?« Sie war ehrlich verblüfft.

»Das mit dem Produkt Vier.«

»Bart, was, in Gottes Namen, hast du …«

»Ich muß mal aufs Klo«, sagte er. »Bin gleich zurück.« Er stand auf und ging weg, ohne sich noch einmal nach ihr umzublicken, aber er spürte die Strahlen ihrer Verwirrung hinter ihm hereilen wie die Hitzestrahlen eines Mikrowellenher-des. Wenn er sich nicht umdrehte, würde er sich möglicher-weise nicht verraten. In dieser besten aller möglichen Welten war ja alles möglich, selbst krrristallene Wendeltreppen. Er lächelte selbstzufrieden. Das Wort war schon ein alter Freund geworden.

Der Trip zum Badezimmer war eine Odyssee, eine Safari.

Der Partylärm hatte einen zyklischen Rhythmus angenommen, er schien regelmäßig ANZUSCHWELLEN und alle DREI SILBEN wieder ABZUSCHWELLEN, und selbst die STEREOANLAGE wurde immer wieder LAUTER und LEISER. Er murmelte ein paar Sätze zu Leuten, die er zu kennen glaubte, weigerte sich jedoch, an einer Unterhaltung teilzu-nehmen. Wenn man ihn ansprach, deutete er nur lächelnd auf seine Hosenklappe und ging vorbei. Fragende Gesichter sahen ihm nach. Warum gab es nie eine Party voller Fremder, wenn man so etwas brauchte? schimpfte er im stillen.

Das Klo war besetzt. Er wartete, wie es schien, stundenlang, und als er endlich drankam, konnte er nicht pinkeln, obwohl er glaubte, daß er es dringend nötig hätte. Er betrachtete die Wand hinter dem Klo und hatte das Gefühl, daß sie sich in gleichmäßigem Dreiertakt nach innen und nach außen wölbte. Obwohl er nichts gemacht hatte, spülte er für den Fall, daß draußen jemand stand und zuhörte. Das Wasser wirbelte in dunkelrosa Strudeln in der Kloschüssel. Es sah aus, als habe der letzte Besucher Blut abgelassen. Beunruhigend.

Er verließ das Badezimmer, und der Partylärm schlug ihm mit aller Wucht entgegen. Gesichter kamen näher und verschwanden wie segelnde Luftballons. Aber die Musik war sehr schön. Eine Elvis-Platte. Guter alter Elvis. Sing weiter, Elvis, sing weiter.

Marys Gesicht tauchte vor ihm auf, besorgt, verärgert.

»Bart, was ist mit dir los?«

»Mit mir? Nichts.« Er war verwundert, äußerst verwundert. Die Worte kamen ihm in sichtbaren Musiknoten aus dem Mund. »Ich habe Halluzinationen«, sagte er laut, aber er sprach mehr zu sich selbst.

»Bart, was hast du eingenommen?« Sie sah jetzt wirklich ängstlich aus.

»Meskalin«, antwortete er.

»Mein Gott, Bart! Drogen? Warum?«

»Warum nicht?« erwiderte er, nicht, weil er flippig sein wollte, sondern weil ihm so schnell keine andere Antwort einfiel. Wieder flogen die Worte in Noten aus seinem Mund, einige davon hatten sogar kleine Fähnchen.

»Soll ich dich zu einem Arzt bringen?«

Er sah sie überrascht an und ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen, um zu prüfen, ob er eine versteckte Neben-bedeutung haben könnte; freudianische Erinnerungen an die Klapsmühle. Er mußte wieder kichern, und sein Lachen schwebte in Notenlinien vor seinem Gesicht, in die Kristallnoten mit Notenschlüssel, Pausenzeichen und allem Drum und Dran eingezeichnet waren.

»Was soll ich bei einem Arzt?« fragte er, jedes Wort vorsichtig wählend. Das Fragezeichen war eine hochgestellte Viertelnote. »Es ist genauso, wie sie gesagt hat. Weder gut noch schlecht. Einfach interessant.«

»Wer hat das gesagt?« wollte sie wissen. »Wer, Bart? Von wem hast du das Zeug gekriegt?« Ihr Gesicht veränderte sich. Es wurde ganz spitz und nahm einen reptilienartigen Ausdruck an. Mary als billiger Schundromandetektiv, der seine Schreibtischlampe direkt auf die Augen des Verdächtigen richtet - Na los, McGonigal, wie wollen Sie’s haben, auf die sanfte oder auf die harte Tour? Aber es kam noch schlimmer.

Mary erinnerte ihn auf unangenehme Weise an die Geschichten von H. P. Lovecraft, die er als Kind gelesen hatte, besonders die Chtulu-Mythen, in denen vollkommen normale Menschen auf Verlangen des Ältestenrates in fischartige, kriechende Wesen verwandelt wurden. Ihre Gesichtshaut wurde auf einmal schuppig, und sie sah aus wie ein Aal.

»Nicht so wichtig«, antwortete er ängstlich. »Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen; ich belästige dich ja schließlich auch nicht.«

Sie zuckte zusammen. Ihr Gesicht wurde wieder das alte Marygesicht, das ihn jetzt verletzt und mißtrauisch ansah.

Sie tat ihm leid. Die Party brandete in lauten Wogen um sie herum. »Wie du willst, Bart«, sagte sie ruhig. »Du kannst dir auf jede Weise schaden, die dir gefällt, aber bring mich bitte nicht in Verlegenheit. Darf ich wenigstens das von dir verlangen?«

»Ja, natürlich, du k …«

Aber sie wartete seine Antwort nicht ab. Sie drehte sich um und ging in die Küche, ohne sich noch einmal nach ihm um-zusehen. Es tat ihm leid, aber er war auch erleichtert. Doch was würde passieren, wenn jemand anderes sich mit ihm unterhalten wollte? Sie würden es ja alle sofort merken. Er konnte im Augenblick keine normale Unterhaltung führen.

Er konnte den Leuten kaum vormachen, daß er nur betrunken sei.

»Rrrriet«, sagte er und rollte das R genüßlich zwischen Gaumen und Zunge. Diesmal kamen die Noten in einer Reihe von Achtelnoten, die mit ihren Fähnchen auf einer einzigen Notenlinie entlangeilten. Er konnte die ganze Nacht Noten produzieren und dabei glücklich sein, es würde ihm nichts ausmachen. Aber nicht hier, wo jeder, der gerade vorbeikam, ihn ansprechen konnte. Er brauchte einen ruhigen Ort, an dem er sich selbst denken hören konnte. In dem Partylärm hatte er das Gefühl, als stünde er hinter einem Was-serfall. Er war zu laut, um dagegen anzudenken. Er wollte sich lieber einen stillen Tümpel suchen, vielleicht bei einem Radio. Er hatte das Gefühl, daß Musik seine Gedanken beflü-

geln würde, und er mußte über eine Menge Dinge nachdenken. Ganze Bände von Dingen.

Außerdem war er sicher, daß die Leute ihn insgeheim beobachteten. Mary mußte die Nachricht verbreitet haben. Ich mache mir Sorgen. Bart hat Meskalin geschluckt. Sie wanderte jetzt von Gruppe zu Gruppe. Sie würden weiter so tun, als ob sie tanzten, tränken oder sich miteinander unterhielten, aber in Wirklichkeit beobachteten sie ihn heimlich und tuschelten hinter vorgehaltenen Händen. Er konnte es sehen. Es war krrrristallklar.

Ein Mann mit einem riesigen Drink kam mit leicht schwankenden Schritten an ihm vorbei. Er packte ihn an seiner Sportjacke und fragte mit heiserer Stimme: »He, was reden die da über mich?«

Der Mann lächelte betrunken und blies ihm seine warme Scotchfahne ins Gesicht. »Ich werd’s Ihnen aufschreiben«, sagte er und ging weiter.

Endlich fand er Walters Bibliothek (er hatte keine Ahnung, wie lange das gedauert hatte), und als er die Tür hinter sich schloß, wurde der Lärm abgeschnitten. Gesegnete Ruhe. Er bekam große Angst. Der Trip hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht; die Eindrücke wurden immer stärker. Er schien das Wohnzimmer im Laufe eines Lidschlages durchquert zu haben; nur einen weiteren Augenaufschlag hatte es gedauert, das Schlafzimmer zu untersuchen, in dem die Mäntel abgelegt waren; mit dem dritten Augenaufschlag war er durch den Flur gewandert. Die normale Kette der Ereignisse, wie man sie im Wachsein erlebt, war durchgeschnitten, und die Perlen der Realität waren in alle Richtungen verstreut. Es gab keine Kontinuität mehr, und sein Zeitgefühl war völlig zerstört. Wenn er nun niemals runterkam? Wenn es ewig so bleiben würde? Vielleicht sollte er sich auf dem Sofa zusammenrollen und den Trip ausschlafen, aber er war nicht sicher, ob er das könnte. Und wenn er es tat, Gott weiß, was für Träume er dann haben würde. Die leichtherzige, spontane Art, mit der er die Pille geschluckt hatte, stieß ihn jetzt ab. Dies war ganz anders als betrunken zu sein. Es gab keinen letzten nüchternen Zufluchtsort mehr, keinen inneren Kern in seiner Mitte, der niemals betrunken wurde. Er war durch und durch verrückt.

Aber hier drinnen war es besser. Vielleicht konnte er hier von selbst wieder die Kontrolle über sich gewinnen. Und wenn er ausflippen sollte, würde er wenigstens nicht …

»Guten Abend.«

Er zuckte vor Schreck zusammen und sah sich suchend um. Ein Mann saß in einem Ohrensessel neben Walters Bücherregal und hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß liegen. War das eigentlich ein Mann? Es gab nur eine Lichtquelle im Raum, eine kleine Lampe auf dem runden Tisch links von der Gestalt. Sie warf lange Schatten auf sein Gesicht, so daß ihre Züge sardonisch und bösartig wirkten. Einen Augenblick lang glaubte er, hier in Walters Bibliothek über den Satan persönlich gestolpert zu sein. Die Gestalt stand auf, und er sah, daß es sich wirklich nur um einen Mann handelte. Er war hochgewachsen, vielleicht sechzig Jahre alt, hatte blaue Augen, und seine Nase sah so aus, als hätte er mehrere Kämpfe mit der Flasche verloren. Aber er hielt keinen Drink in der Hand, und er konnte auch sonst nirgends einen entdecken.

»Noch ein unruhiger Wanderer, wie ich sehe«, sagte der Mann und streckte seine Hand aus. »Phil Drake.«

»Barton Dawes«, antwortete er, vor Angst immer noch ganz verwirrt. Sie schüttelten sich die Hand. Drakes Hand war wie verknotet und hatte eine dicke Narbe - eine Brandwunde vielleicht? Aber es war nicht unangenehm, sie anzufassen. Drake. Der Name kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, wo er ihn schon mal gehört hatte.

»Geht es Ihnen gut?« fragte Drake besorgt. »Sie sehen ein bißchen …«

»Ich bin high«, sagte er schlicht. »Ich habe Meskalin genommen, und jetzt bin ich verdammt high.« Er betrachtete die Bücherregale, und sie schienen immer näher zu kommen und dann wieder zu verschwinden. Das gefiel ihm gar nicht.

Es erinnerte ihn an ein riesiges, schlagendes Herz. Er hatte keine Lust mehr, die Dinge so zu sehen.

»Ich verstehe«, sagte Drake. »Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir davon.«

Er sah Drake erstaunt an und spürte plötzlich eine ungeheure Erleichterung. Er setzte sich. »Kennen Sie sich mit Meskalin aus?« fragte er.

»Oh, ein bißchen. Ich habe ein kleines Kaffeehaus in der Stadt. Die Kinder wandern bei mir ein und aus … die meisten davon sind rauschgiftsüchtig … ist es ein guter Trip?« erkundigte er sich höflich.

»Gut und schlecht«, antwortete er. »Er ist … heavy. Ich finde, das ist ein gutes Wort dafür.«

»Ja, das stimmt.«

»Ich hab’ ein wenig Schiß bekommen«, gestand er und blcke zum Fenster hinaus, wo er eine hell erleuchtete Autobahn entdeckte, die quer über den düsteren Nachthimmel verlief. Er sah wieder zur Seite, als ob nichts wäre, mußte sich aber doch kurz über die Lippen lecken. »Sagen Sie mir … wie lange dauert so ein Trip normalerweise?«

»Wann haben Sie sie eingeworfen?«

»Eingeworfen?« Das Wort fiel ihm in einzelnen Buchstaben aus dem Mund, landete auf dem Teppich und löste sich dort auf.

»Ich meine, wann haben Sie das Zeug eingenommen?«

»Oh … so gegen halb neun.«

»Jetzt ist es …« Er blickte auf seine Uhr. »Es ist Viertel vor zehn.«

»Was? Erst Viertel vor zehn? So früh?«

Drake lächelte. »Das Zeitgefühl wird zu Gummi, nicht wahr? Ich nehme an, daß Sie gegen halb zwei ziemlich down sein werden.«

»Wirklich?«

»Ja, das ist zu erwarten. Im Augenblick sind Sie auf dem Höhepunkt. Ist es ein visueller Trip?«

»Ja. Ein bißchen zu visuell.«

»Es gibt mehr Dinge zu sehen, als das menschliche Auge eigentlich wahrnehmen sollte«, bemerkte Drake und schenkte ihm ein seltsam verzerrtes Lächern.

»Ja, so ist es. Genau so ist es.« Seine Erleichterung, mit diesem Mann zusammenzusein, wurde immer größer. Er fühlte sich geborgen. »Was tun Sie sonst noch, außer sich mit Männern im mittleren Alter zu unterhalten, die ins Mauseloch gefallen sind?«

Drake lachte. »Das ist sehr gut. Leute, die Meskalin oder LSD genommen haben, können sich normalerweise nicht mehr artikulieren. Meistens stammeln sie unzusammenhängendes Zeug. Ich verbringe fast alle meine Abende in der Telefonseelsorge. An den Wochentagen arbeite ich nachmittags im Kaffeehaus, das ich vorhin erwähnt habe, es heißt Drap Down Mamma. Die Kundschaft besteht hauptsächlich aus Straßenfreaks und Arbeitslosen. Morgens spaziere ich durch die Straßen und unterhalte mich mit meinen Gemeindemitgliedern, wenn sie schon auf sind. Und zwischendurch arbeite ich im Gefängnis.«

»Sind Sie ein Pfarrer?«

»Sie nennen mich einen Straßenpriester. Sehr romantisch.

Malcolm Boyd, nimm dich in acht. Ich bin wirklich mal Priester gewesen.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Ich habe den Schoß der Mutter Kirche verlassen«, sagte er leise. Aber die Worte hatten einen grausamen, unwiderruflichen Klang. Es war, als könnte er die Eisentüren hören, die sich für immer hinter diesem Mann geschlossen hatten.

»Warum haben Sie das getan?«

Drake zuckte die Achseln. »Das tut nichts zur Sache. Was ist mit Ihnen? Wie sind Sie an das Meskalin herangekommen?«

»Ich hab’s von einem Mädchen, das nach Las Vegas getrampt ist. Ich fand sie ganz nett. Sie hat mich zu Weihnachten angerufen.«

»Um Hilfe?«

»Ich glaube, ja.«

»Haben Sie ihr geholfen?«

»Ich weiß es nicht.« Er lächelte angestrengt. »Vater, erzählen Sie mir was über meine Seele.«

Drake zuckte zusammnen. »Ich bin nicht Ihr Vater.«

»Na gut, dann lassen Sie’s.«

»Was wollen Sie über Ihre ›Seele‹ hören?«

Er sah auf seine Finger hinunter. Er konnte Blitze aus den Spitzen hervorschießen lassen, wenn er es wollte. Es verlieh ihm ein trunkenes Machtgefühl. »Ich will wissen, was mit ihr geschieht, wenn ich Selbstmord verübe.«

Drake rutschte unruhig im Sessel hin und her. »Sie sollten nicht an Selbstmord denken, wenn Sie sich auf einem Rauschgifttrip befinden. Es ist das Zeug, das aus Ihnen redet, nicht Sie selber.«

»Ich rede«, sagte er aufgebracht. »Antworten Sie mir.«

»Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was mit Ihrer Seele geschieht, wenn Sie Selbstmord begehen. Aber ich weiß, was aus Ihrem Körper wird. Er wird verrotten.«

Erschrocken schaute er wieder auf seine Hände hinunter.

Als ob sie den Gedanken bestätigen wollten, schienen sie sich vor seinen Augen aufzulösen und zu verfaulen. Er mußte an eine Geschichte von Edgar Allan Poe denken: The Strange Case of M. Valdemar. Was für eine Nacht, Poe und Lovecraft! Möchte jemand einen A. Gordon Pym? Oder wie war’s mit dem verrückten Araber Abdul Allhazred? Beunruhigt blickte er wieder auf, aber er war noch nicht gänzlich entmutigt.

»Wie geht es Ihrem Körper?« erkundigte Drake sich.

»Häh?« Er runzelte die Stirn und versuchte, einen Sinn in der Frage zu entdecken.

»Es gibt immer zwei Trips«, erklärte Drake. »Einen im Kopf und einen im Körper. Ist Ihnen schlecht? Haben Sie Schmerzen? Fühlen Sie sich sonst irgendwie krank?«

Er befragte seinen Körper. »Nein«, antwortete er. »Ich fühle mich nur … aufgekratzt.« Er mußte über das Wort lachen, und Drake lächelte. Es beschrieb seinen Zustand ziemlich gut. Obwohl sein Körper in Ruhestellung war, schien er sehr aktiv zu sein. Sehr leicht, aber nicht ätherisch. Er hatte sein Fleisch noch nie so intensiv gespürt. Es war ihm nie bewußt gewesen, wie sehr die geistigen und körperlichen Prozesse miteinander verwoben waren. Untrennbar. Man konnte nicht einfach das eine aus dem anderen herausschälen. Du bist damit fest verwachsen, Baby. Integration. Entropie. Die Idee strahlte durch ihn hindurch wie ein rascher tropischer Sonnenaufgang. Er saß da und kaute sie in dem Licht seiner gegenwärtigen Situation durch, versuchte, ein System in dem Ganzen herauszufinden, wenn es eins gab.

Aber …

»Aber da ist noch die Seele«, sagte er laut.

»Was ist mit Ihrer Seele?« fragte Drake freundlich.

»Wenn Sie das Gehirn töten, töten Sie den Körper und umgekehrt«, erklärte er. »Aber was geschieht mit der Seele? Das ist die verdeckte Karte, Va … Mr. Drake.«

»In diesem Schlaf des Todes, welche Träume mögen da kommen? Hamlet, Mr. Dawes.«

»Glauben Sie, daß die Seele weiterlebt? Gibt es ein Leben nach dem Tod?«

Drakes Augen wurden dunkel. »Ja«, sagte er. »Es gibt ein Leben nach dem Tod … in irgendeiner Form.«

»Und glauben Sie, daß Selbstmord eine Todsünde ist, die die Seele in die Hölle verdammt?«

Drake schwieg eine lange Weile. Dann sagte er: »Selbstmord ist falsch. Das glaube ich von ganzem Herzen.«

»Das beantwortet aber nicht meine Frage.«

Drake stand auf. »Ich habe nicht die Absicht, Ihre Frage zu beantworten. Ich habe mit der Metaphysik nichts mehr zu tun. Ich bin jetzt Laie. Möchten Sie auf die Party zurück?«

Er dachte an den Lärm und Trubel und schüttelte den Kopf.

»Möchten Sie nach Hause?«

»Ich könnte nicht fahren. Ich hätte Angst.«

»Ich werde Sie fahren.«

»Würden Sie das tun? Aber wie kommen Sie zurück?«

»Ich werde mir bei Ihnen ein Taxi rufen. In der Silvesternacht ist immer leicht ein Taxi zu kriegen.«

»Das wäre schön«, sagte er dankbar. »Ich glaube, ich wäre jetzt ganz gern allein. Ich möchte fernsehen.«

»Sind Sie sicher, daß Sie allein zu Hause sind?« fragte Drake ernst.

»Wer ist das schon?« fragte er genauso ernst zurück, und beide lachten.

»Na gut. Möchten Sie sich noch verabschieden?«

»Nein. Gibt es hier eine Hintertür?«

»Ich denke, wir werden eine finden.«

Auf dem Heimweg redeten sie nicht viel. Die vorbeifliegen den Straßenlichter regten ihn mehr auf, als er eigentlich ertragen konnte. Als sie an der Baustelle vorbeikamen, fragte er Drake, was er davon hielt.

»Sie bauen immer größere Straßen für benzinfressende Teufel, während die Kinder auf der Straße verhungern«, antwortete Drake grimmig. »Was ich davon halte? Ich finde, es ist ein gemeines Verbrechen.«

Er wollte Drake schon von seinen Benzinbomben, vom brennenden Kran und dem ausgebrannten Baustellenbüro erzählen, besann sich dann aber. Drake könnte es für eine von seinen Halluzinationen halten. Oder, schlimmer noch, er könnte es ihm glauben.

Der Rest des Abends blieb in seiner Erinnerung nicht ganz klar. Er lotste Drake zu seinem Haus. Drakes Kommentar war, daß wohl alle Anwohner außerhalb feierten oder sehr früh zu Bett gegangen seien. Dann bestellte er ein Taxi. Sie sahen zusammen fern, ohne sich weiter zu unterhalten - Guy Lombardo sang im Waldorf-Astoria, begleitet von den süßesten Sphärenklängen. In seinen Augen sah Guy Lombardo eindeutig wie ein Frosch aus.

Um Viertel vor zwölf kam das Taxi. Drake fragte ihn nochmals, ob er allein zurechtkomme.

»Ja, ich glaube, ich komme jetzt wieder runter.« Das stimmte. Die Halluzinationen wurden langsam weniger und verschwanden wieder in seinem Hinterkopf.

Drake öffnete die Haustür und schlug den Mantelkragen hoch. »Denken Sie nicht mehr an Selbstmord. Es ist feige.«

Er nickte lächelnd, diesen Rat weder abweisend noch annehmend. Er nahm ihn einfach hin wie alles in der letzten Zeit. »Ein gutes neues Jahr«, sagte er.

»Ihnen auch, Mr. Dawes.«

Das Taxi hupte ungeduldig.

Drake ging hinaus, und er folgte dem gelben Taxilicht mit den Augen, als es wegfuhr.

Dann ging er ins Wohnzimmer zurück und setzte sich wieder vor den Fernseher. Sie hatten jetzt von Guy Lombardo auf den Times Square umgeschaltet. Die leuchtende Kugel war schon oben auf dem Allis-Chalmers-Gebäude montiert und wartete darauf, ihr strahlendes Licht über das Jahr 1974 zu ergießen. Er war müde, ausgelaugt, schläfrig.

Die Lichtkugel würde nun bald fallen, und er segelte mit einem verdammten Trip ins neue Jahr hinüber. Irgendwo in Amerika schob jetzt ein Neujahrsbaby seinen plazentaverschmierten Kopf aus dem Schoß seiner Mutter und begab sich damit in die beste aller möglichen Welten. Auf Walter Hamners Party würden alle Gäste jetzt ihr Glas erheben und langsam mitzählen. Man würde gute Vorsätze für das neue Jahr fassen, die sicher nicht nutzbringender als nasses Klopapier waren. Spontan faßte er seinen eigenen Vorsatz und sprang trotz seiner Müdigkeit auf die Füße. Sein Körper schmerzte, und seine Wirbelsäule fühlte sich an, als wäre sie aus Glas - das mußte schon der Kater sein. Er ging in die Küche und nahm den Hammer vom Regal. Als er damit ins Wohnzimmer zurückkam, rollte die Lichtkugel gerade den Pfahl hinunter. Der Bildschirm zeigte ein geteiltes Bild - auf der einen Seite war der Times Square zu sehen, auf der anderen die lustige Gesellschaft im Waldorf, die den Countdown mitsang: »Acht … sieben … sechs … f ü n f … « Eine fette Lady entdeckte sich selbst auf dem Monitor, lächelte verdutzt und winkte dann ihrem Lande zu.

Der Jahreswechel, dachte er. Absurd, aber er spürte plötzlich eine Gänsehaut auf seinen Armen.

Die Kugel war unten angekommen, und oben auf dem Allis-Chalmers-Gebäude flammten Leuchtziffern auf: 1974

Im selben Augenblick holte er mit dem Hammer aus, und der Bildschirm explodierte. Glassplitter spritzten auf den Teppich. Die heißen Drähte zischten, fingen aber kein Feuer. Um sicherzugehen, daß der Fernseher nicht in der Nacht aus Rache das Haus in Brand stecke, schlug er mit dem Fuß den Stecker raus.

»Frohes neues Jahr«, sagte er leise und ließ den Hammer fallen.

Dann legte er sich aufs Sofa und schlief fast augenblicklich ein. Er hatte das Licht angelassen. In dieser Nacht hatte er keine Träume.

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