Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Der Autor

Prolog

Teil I - Reizmittel

1. Kapitel - Freitag, 20. Dezember

Kapitel 2 - Freitag, 20. Dezember

3. Kapitel - Freitag, 20. Dezember - Samstag, 21. Dezember

4. Kapitel - Montag, 23. Dezember - Donnerstag, 26. Dezember

5. Kapitel - Donnerstag, 26. Dezember

6. Kapitel - Donnerstag, 26. Dezember

7. Kapitel - Freitag, 3. Januar

Teil II - Konsequenzanalyse

8. Kapitel - Freitag, 3. Januar - Sonntag, 5. Januar

9. Kapitel - Montag, 6. Januar - Mittwoch, 8. Januar

10. Kapitel - Donnerstag, 9. Januar - Freitag, 31. Januar

11. Kapitel - Samstag, 1. Februar - Dienstag, 18. Februar

12. Kapitel - Mittwoch, 19. Februar

13. Kapitel - Donnerstag, 20. Februar - Freitag, 7. März

14. Kapitel - Samstag, 8. März - Montag, 17. März

Teil III - Fusionen

15. Kapitel - Freitag, 16. Mai - Samstag, 31. Mai

16. Kapitel - Sonntag, 1. Juni - Dienstag, 10. Juni

17. Kapitel - Mittwoch, 11. Juni - Samstag, 14. Juni

18. Kapitel - Mittwoch, 18. Juni

19. Kapitel - Donnerstag, 19. Juni - Sonntag, 29. Juni

20. Kapitel - Dienstag, 1. Juli - Mittwoch, 2. Juli

21. Kapitel - Donnerstag, 3. Juli - Donnerstag, 10. Juli

22. Kapitel - Donnerstag, 10. Juli

23. Kapitel - Freitag, 11. Juli

Teil IV - Feindliche Übernahme

24. Kapitel - Freitag, 11. Juli - Samstag, 12. Juli

25. Kapitel - Samstag, 12. Juli - Montag, 14. Juli

26. Kapitel - Dienstag, 15. Juli - Donnerstag, 17. Juli

27. Kapitel - Samstag, 26. Juli - Montag, 28. Juli

28. Kapitel - Dienstag, 29. Juli - Freitag, 24. Oktober

29. Kapitel - Samstag, 1. November - Dienstag, 25. November

EPILOG: REVISION

Vorschau

Copyright

Das Buch

An seinem 82. Geburtstag erhält der einflussreiche Industrielle Henrik Vanger per Post anonym ein Geschenk. Das Paket enthält eine gepresste Blüte hinter Glas, genau wie in den 43 Jahren zuvor. Vangers Lieblingsnichte Harriet hatte ihm 1958 zum ersten Mal dieses Geschenk gemacht, doch dann verschwand sie spurlos. Ihr Leichnam wurde nie gefunden.

In einer letzten Anstrengung beschließt Vanger herauszufinden, was dem geliebten Mädchen tatsächlich zustieß. Er engagiert den Journalisten Mikael Blomkvist, der, getarnt als Biograf, bald auf erste Spuren stößt. Unterstützt wird er von der jungen Ermittlerin Lisbeth Salander, einem virtuosen Computergenie mit messerscharfem Verstand. Je tiefer Blomkvist und Salander in der Vangerschen Familiengeschichte graben, desto grauenvoller sind die Enthüllungen.

»Brillante Unterhaltung für anspruchsvolle Krimifans.« Münchner Merkur

»Stieg Larsson verquickt raffiniert die Erzählstränge, dass man der Auflösung förmlich entgegenfiebert.« TV Spielfilm

»Einer der spannendsten Skandinavien-Krimis, die derzeit auf dem Markt sind.« Westfalenpost

Der Autor

Stieg Larsson, 1954 in Umeå, Schweden, geboren, war Journalist und Herausgeber des Magazins EXPO. 2004 starb er an den Folgen eines Herzinfarkts. Er galt als einer der weltweit führenden Experten für Rechtsextremismus und Neonazismus. 2006 wurde er postum mit dem Skandinavischen Krimipreis als bester Krimiautor Skandinaviens geehrt. Sein Debütroman Verblendung wurde vom schwedischen Buchhandel zum besten Buch des Jahres 2005 gewählt. Es ist der erste Band einer Trilogie, die der Autor vor seinem Tod vollenden konnte und die bei Heyne erscheint.

Prolog

Freitag, 1. November

Es wiederholte sich alljährlich. Der Empfänger der Blume feierte seinen zweiundachtzigsten Geburtstag. Sowie die Blume bei ihm angekommen war, öffnete er das Paket und entfernte das Geschenkpapier. Danach griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer eines ehemaligen Kriminalkommissars, der sich nach seiner Pensionierung am Siljan-See niedergelassen hatte. Die beiden Männer waren nicht nur gleich alt, sie waren sogar am selben Tag geboren, was in diesem Zusammenhang nicht einer gewissen Ironie entbehrte. Der Kommissar wusste, dass der Anruf um elf Uhr morgens nach der Postzustellung eingehen würde, und trank Kaffee, während er wartete. Dieses Jahr klingelte das Telefon bereits um halb elf. Er nahm den Hörer ab und sagte hallo, ohne sich mit Namen zu melden.

»Sie ist angekommen.«

»Was für eine ist es dieses Jahr?«

»Keine Ahnung, was das für eine Blume ist. Ich werde sie bestimmen lassen. Weiß ist sie.«

»Kein Brief, nehme ich mal an?«

»Nein. Nur die Blume, sonst nichts. Der Rahmen ist derselbe wie letztes Jahr. So ein Billigrahmen zum Selberzusammenbauen.«

»Poststempel?«

»Stockholm.«

»Handschrift?«

»Wie immer, alles in Großbuchstaben. Gerade, ordentliche Buchstaben.«

Damit war das Thema erschöpft, und ein paar Minuten saßen die beiden schweigend am jeweiligen Ende der Leitung. Der pensionierte Kommissar lehnte sich am Küchentisch zurück und zog an seiner Pfeife. Er wusste jedoch, dass von ihm keine erlösende oder bestechend intelligente Frage mehr erwartet wurde, die ein neues Licht auf diese Angelegenheit hätte werfen können. Diese Zeiten waren seit vielen Jahren vorbei, und das Gespräch der beiden alternden Männer hatte beinahe schon den Charakter eines Rituals - eines Rituals um ein Mysterium, dessen Lösung keinen anderen Menschen auf der ganzen Welt interessierte.

Ihr lateinischer Name lautete Leptosperum (Myrtyceae) Rubinette. Ein wenig imposantes Strauchgewächs mit kleinen, heidekrautähnlichen Blättern und einer zwei Zentimeter großen weißen Blüte mit fünf Kronenblättern. Sie war ungefähr zwölf Zentimeter hoch.

Das Gewächs stammte ursprünglich aus den australischen Busch- und Gebirgsgegenden, wo es in kräftigen Büscheln wuchs. In Australien nannte man es desert snow. Später sollte eine Expertin von einem botanischen Garten in Uppsala feststellen, dass es sich um eine ungewöhnliche Pflanze handelte, die nur selten in Schweden gezogen wurde. In ihrem Gutachten schrieb die Botanikerin, dass die Rubinette mit der Rosenmyrte verwandt war und oft mit ihrer viel häufiger auftretenden Cousine, Leptospermum Scoparium, verwechselt wurde, die in Neuseeland sehr verbreitet war. Wie sie erklärte, bestand der Unterschied darin, dass die Rubinette ein paar mikroskopisch kleine rosa Punkte an der Spitze der Kronenblätter aufwies, was ihnen einen leichten Rosaschimmer verlieh.

Die Rubinette war im Großen und Ganzen eine verblüffend anspruchslose Blume. Wirtschaftlichen Wert hatte sie überhaupt nicht. Soviel man wusste, besaß sie keine Heilkräfte und enthielt auch keine halluzinogenen Substanzen. Man konnte sie weder essen noch als Gewürz verwenden, und für die Erzeugung pflanzlicher Farbstoffe war sie ebenfalls wertlos. Für die australischen Ureinwohner, die Aborigines, hatte sie hingegen eine gewisse Bedeutung, da diese das Gebiet und die Flora rund um den Ayers Rock traditionell als heilig betrachteten. Der einzige Daseinszweck dieser Blume schien also darin zu bestehen, ihre Umgebung mit ihrer unbeständigen Schönheit zu erfreuen.

In ihrem Gutachten schrieb die Botanikerin, dass der desert snow in Australien schon ungewöhnlich war, in Skandinavien aber geradezu eine Rarität. Sie selbst hatte noch nie ein Exemplar zu Gesicht bekommen, doch als sie Kollegen zurate zog, erfuhr sie, dass man versucht hatte, diese Pflanze in einem Garten in Göteborg einzuführen, und dass es denkbar war, dass sie hie und da privat angepflanzt wurde, von Blumenliebhabern und Amateurbotanikern in ihren eigenen kleinen Gewächshäusern. Die Blume war in Schweden nur schwer zu ziehen, weil sie ein mildes und trockenes Klima benötigte und während des Winterhalbjahres in einem geschlossenen Raum stehen musste. Für kalkhaltigen Boden war sie ungeeignet. Das Wasser musste ihr von unten her zugeführt werden, direkt an die Wurzeln. Man musste schon ein Händchen für sie haben.

Dass diese Blume in Schweden derart selten war, hätte die Suche nach ihrer Herkunft theoretisch erleichtern müssen, aber praktisch gesehen war das eine unlösbare Aufgabe. Man konnte weder in Registern nachschlagen noch Lizenzen überprüfen. Niemand wusste, wie viele private Blumenzüchter sich überhaupt darum bemüht hatten, eine so schwer zu kultivierende Blume zu ziehen - alles war möglich, von einem einzelnen bis hin zu mehreren hundert Blumenfans, die Zugang zu Samen oder Pflanzen hatten. Die konnten entweder privat gekauft oder über den Postweg von einem anderen Züchter oder jedem beliebigen botanischen Garten in Europa bestellt werden. Man konnte sie sogar direkt von einer Australienreise mitbringen. Mit anderen Worten: Unter den Millionen von Schweden, die ein kleines Gewächshaus oder auch nur einen Blumentopf im Wohnzimmerfenster hatten, ausgerechnet diesen einen Züchter herauszufinden, war ein hoffnungsloses Unterfangen.

Diese Blume war nur eines der vielen rätselhaften Exemplare, die jedes Jahr am 1. November in einem gefütterten Umschlag eintrafen. Jedes Jahr war es eine andere Art, aber es waren stets schöne und meistens relativ seltene Blumen. Wie immer war die Blume gepresst, sorgfältig auf Aquarellpapier gelegt und hinter Glas in einem einfachen Rahmen mit dem Format 29 x 16 Zentimeter befestigt worden.

Das Geheimnis um die Blumen war den Massenmedien oder der Allgemeinheit nie bekannt geworden, sondern nur einem ausgewählten Kreis. Vor drei Jahrzehnten war das jährliche Eintreffen der Blume Gegenstand von Analysen des Staatlichen Kriminaltechnischen Laboratoriums gewesen; Experten für Fingerabdrücke und Grafologen, Ermittler und ein paar Verwandte und Freunde des Empfängers hatten sich mit dem Rätsel beschäftigt. Nun bestand der Kreis der Akteure nur mehr aus drei Personen: dem alternden Geburtstagskind, dem pensionierten Polizisten und natürlich dem Unbekannten, der das Geschenk geschickt hatte. Da sich zumindest die beiden Erstgenannten bereits in einem so respektablen Alter befanden, dass es Zeit wurde, sich auf das Unausweichliche vorzubereiten, würde sich der Kreis der Interessierten bald noch verkleinern.

Der pensionierte Polizist war ein mit allen Wassern gewaschener Veteran. Er würde niemals seinen ersten Einsatz vergessen, bei dem er einen gewalttätigen und schwer betrunkenen Anlagenmechaniker festgenommen hatte, bevor dieser sich selbst oder anderen weiteren Schaden zufügen konnte. Im Laufe seiner Karriere hatte er Wilderer, prügelnde Ehemänner, Betrüger, Autodiebe und angesäuselte Autofahrer eingesperrt. Er war Einbrechern, Räubern, Dealern, Sexualverbrechern und mindestens einem mehr oder weniger geisteskranken Sprengstoffattentäter begegnet. An neun Ermittlungen in Mord- beziehungsweise Totschlagsfällen war er beteiligt gewesen. Davon waren fünf so verlaufen, dass der Täter selbst die Polizei angerufen und voller Reue gestanden hatte, er habe seine Frau oder seinen Bruder oder einen anderen ihm nahe stehenden Menschen getötet. Von den Morden wurden zwei nach ein paar Tagen aufgeklärt und einer nach zwei Jahren mit Hilfe der Reichskrimininalbehörde.

Der neunte Fall war aus polizeilicher Sicht gelöst, sprich, die Ermittler kannten den Mörder, aber die Beweislage war so unsicher, dass der Staatsanwalt beschlossen hatte, den Fall ruhen zu lassen. Die Angelegenheit wurde dann zur Erbitterung des Kommissars für verjährt erklärt. Aber im Großen und Ganzen konnte er auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken und hätte mit seiner Arbeit zufrieden sein können.

Doch er war alles andere als zufrieden.

Für den Kommissar steckte Der Fall mit den Gepressten Blumen in seinem Berufsleben wie ein kleiner Stachel, den er einfach nie hatte entfernen können - ein frustrierender Fall, dessen Lösung immer noch ausstand, obwohl er ihm, verglichen mit anderen Fällen, doch am meisten Zeit gewidmet hatte.

Die Situation war umso komplizierter, da er nach buchstäblich Tausenden von durchgrübelten Stunden während und außerhalb seiner Dienstzeiten nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden war.

Wie die beiden Männer wussten, hatte die Person, die die Blumen gepresst und gerahmt hatte, Handschuhe getragen, denn weder auf dem Rahmen noch auf dem Glas waren Fingerabdrücke zu finden. Sie wussten, dass es unmöglich war, den Absender aufzuspüren. Sie wussten, dass man solche Rahmen in Fotoläden oder Schreibwarengeschäften auf der ganzen Welt kaufen konnte. Es gab einfach keine Spur, der die Ermittler hätten folgen können. Und die Poststempel wechselten ständig: Meistens kamen sie aus Stockholm, je zweimal aus Paris und Kopenhagen, je einmal aus Madrid, Bonn sowie - was sicherlich das größte Rätsel war - aus Pensacola, USA. Im Gegensatz zu den anderen Namen war Pensacola so unbekannt, dass der Kommissar die Stadt in einem Atlas nachschlagen musste.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blieb der zweiundachtzigjährige Jubilar eine Weile ganz still sitzen und betrachtete die schöne, aber bedeutungslose Blume, von der er noch nicht einmal den Namen kannte. Dann hob er den Blick zur Wand über seinem Schreibtisch. Dort hingen dreiundvierzig gepresste Blumen hinter Glas in ihren Rahmen; vier Reihen mit jeweils zehn Blumen und eine noch nicht abgeschlossene Reihe mit fünf. In der obersten Reihe fehlte eine. Platz Nummer zehn war ebenfalls leer. Desert Snow würde die Nummer vierundvierzig werden.

Zum ersten Mal geschah aber etwas, was das Muster der früheren Jahre durchbrach. Ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung begann er zu weinen. Er wunderte sich selbst über diesen jähen Gefühlsausbruch nach fast vierzig Jahren.

Teil I

Reizmittel

20. Dezember bis 3. Januar

18% aller schwedischen Frauen über fünfzehn sind schon einmal von einem Mann bedroht worden.

1. Kapitel

Freitag, 20. Dezember

Der Prozess war unbestreitbar vorüber, und alles, was es zu sagen gab, war bereits gesagt worden. Er hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass er verurteilt werden würde. Das schriftliche Urteil war am Freitagmorgen um zehn Uhr ergangen, und nun stand nur noch der abschließende Bericht der Reporter aus, die im Korridor vor dem Gerichtssaal warteten.

Mikael Blomkvist sah sie durch die geöffnete Tür und zögerte kurz. Er wollte den Urteilsspruch, der gerade über ihn verhängt worden war, nicht diskutieren, aber die Fragen waren unvermeidlich, und wenn irgendjemand wusste, dass sie gestellt und beantwortet werden mussten, dann er. So fühlt es sich also an, ein Verbrecher zu sein, dachte er. Auf der falschen Seite des Mikrofons zu stehen. Er streckte sich verlegen und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. Die Reporter lächelten zurück und nickten ihm freundlich, fast ein wenig verschämt zu.

»Mal sehen … Aftonbladet, Expressen, TT, TV4 und … wo bist du denn her … ach ja, Dagens Industri. Ich muss berühmt geworden sein«, stellte Mikael Blomkvist fest.

»Geben Sie uns ein Statement, Kalle Blomkvist«, sagte der Reporter der einen Abendzeitung.

Mikael Blomkvist, dessen vollständiger Name Carl Mikael Blomkvist lautete, unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen, wie immer, wenn er seinen Spitznamen hörte. Vor zwanzig Jahren, als er im Alter von dreiundzwanzig gerade seine Journalistenkarriere mit einer ersten Vertretung begann, hatte Mikael Blomkvist - eigentlich ohne eigenes Verdienst - eine Bankräuberbande hochgehen lassen, die innerhalb von zwei Jahren fünf aufsehenerregende Dinger gedreht hatte. Dass es in allen Fällen dieselbe Bande war, stand völlig außer Zweifel; ihre Spezialität bestand nämlich darin, in kleinen Gemeinden aufzutauchen und dort mit militärischer Präzision eine oder zwei Banken auf einmal zu überfallen. Sämtliche Beteiligte trugen Walt-Disney-Masken aus Gummi und wurden mit nicht ganz abwegiger Polizeilogik auf den Namen »Donald Duck-Bande« getauft. Die Zeitungen änderten diesen Namen in »Die Panzerknacker«, was ein bisschen ernsthafter klang und dem Umstand Rechnung trug, dass die Bande bei zwei Überfällen planlos und ohne jede Rücksicht Warnschüsse abgefeuert und Passanten oder neugierige Gaffer mit der Waffe bedroht hatte.

Den siebten Coup landete sie in Östergötland mitten im Hochsommer. Ein Reporter vom Lokalradio hatte sich rein zufällig in der Bank aufgehalten, als der Überfall stattfand, und zeigte eine Reaktion wie aus dem Diensthandbuch für Journalisten. Sowie die Täter die Bank verlassen hatten, ging er zu einer Telefonzelle vor der Bank, rief seinen Sender an und gab die Nachricht live durch.

Mikael Blomkvist hatte damals eine Weile als Vertretung bei einer Lokalzeitung gearbeitet und verbrachte gerade mehrere Tage mit einer weiblichen Bekannten im Sommerhäuschen ihrer Eltern in der Nähe von Katrineholm. Wie er eigentlich auf die Querverbindung zwischen seinen Beobachtungen und dem Fall gekommen war, konnte er selbst nicht sagen, als ihn die Polizei befragte. Aber als er die Nachrichten hörte, fielen ihm sofort die vier Typen ein, die in einem zirka hundert Meter entfernten Sommerhäuschen wohnten. Ein paar Tage zuvor, als er auf dem Weg zum Eis-Kiosk mit seiner Freundin bei ihnen vorbeigegangen war, hatte er sie im Garten Federball spielen sehen.

Alles, was er gesehen hatte, waren vier blonde, durchtrainierte junge Männer in Shorts mit nacktem Oberkörper gewesen. Ganz offensichtlich betrieben sie Bodybuilding, und irgendetwas an diesem Bild mit den vier Federball spielenden jungen Männern hatte ihn ein zweites Mal hinsehen lassen - vielleicht, weil sie sich ihr Match in gnadenloser Sonnenglut lieferten, mit einer gewaltsam konzentrierten Energie, wie er fand. Irgendwie sah das Ganze nicht nach harmlosem Zeitvertreib aus.

Es gab keinen rationalen Grund, sie für Bankräuber zu halten, aber trotzdem war er zu einen Spaziergang aufgebrochen und hatte sich auf einen Hügel gekauert, von dem aus er ihre Hütte im Blick hatte. Nach ungefähr vierzig Minuten kam die Clique in einem Volvo angefahren und parkte den Wagen auf dem Grundstück. Sie schienen es eilig zu haben, und jeder von ihnen schleppte eine Sporttasche, was an und für sich nichts bedeuten musste, denn sie konnten ja genauso gut irgendwo beim Baden gewesen sein. Aber einer von ihnen ging noch einmal zum Auto zurück und holte einen Gegenstand heraus, den er schnell mit einer Sportjacke verhüllte. Sogar von seinem relativ weit entfernten Beobachtungsposten aus konnte Mikael feststellen, dass es sich um eine ziemlich alte AK4 handelte, genau den Typ Gewehr, der vor nicht allzu langer Zeit während des einjährigen Wehrdienstes sein ständiger Begleiter gewesen war. Er rief also die Polizei an und erzählte ihnen von seiner Beobachtung. Das war der Auftakt zu einer drei Tage dauernden, von den Medien intensiv verfolgten Belagerung des Sommerhäuschens gewesen. Mikael stand im Rampenlicht und erhielt ein großzügig bemessenes Freelancer-Honorar von einer der beiden Abendzeitungen. Die Polizei richtete ihr Hauptquartier nämlich in einem Wohnwagen ein, der auf dem Grundstück des Sommerhäuschens stand, in dem Mikael wohnte.

Der Fall mit den »Panzerknackern« verschaffte Mikael genau den Starstatus, den er als junger Journalist in der Branche benötigte. Die Kehrseite des Ruhmes war, dass die andere Abendzeitung es sich nicht verkneifen konnte, mit »Kalle Blomkvist hat den Fall gelöst« zu titeln. Der spöttische Text stammte von einer ältlichen Kolumnistin und enthielt ein Dutzend Verweise auf Astrid Lindgrens kleinen Detektiv. Obendrein hatten sie noch ein grobkörniges Foto abgedruckt, auf dem es so aussah, als würde Mikael einem uniformierten Polizisten mit erhobenem Zeigefinger irgendwelche Anweisungen erteilen. Dabei hatte er ihm nur den Weg zum Plumpsklo beschrieben.

Es spielte keine Rolle, dass Mikael Blomkvist seinen ersten Namen, Carl, niemals verwendet und auch keinen Artikel jemals mit Carl Blomkvist unterzeichnet hatte. Von diesem Moment an war er zu seiner Verzweiflung bei den Kollegen als Kalle Blomkvist bekannt - ein Spitzname, den man spöttisch stichelnd benutzte, nicht unfreundlich, aber auch nicht wirklich freundlich. Nichts gegen Astrid Lindgren - er liebte ihre Bücher, aber er hasste seinen Spitznamen. Es brauchte mehrere Jahre und weitaus gewichtigere journalistische Verdienste, bis sein Spitzname langsam in Vergessenheit geriet. Trotzdem zuckte er immer noch zusammen, wenn dieser Name in seiner Anwesenheit fiel. So wie in diesem Moment.

Er zwang sich zu einem Lächeln und sah dem Reporter der Abendzeitung in die Augen, der sagte: »Ach, komm, denk dir doch einfach was aus. Du dichtest dir deine Texte doch immer zusammen.«

Der Ton war nicht unfreundlich. Sie waren ja alle mehr oder weniger miteinander bekannt, und außerdem waren Mikaels schlimmste Kritiker gar nicht erst aufgetaucht. Mit einem von ihnen hatte er früher zusammengearbeitet, und auf einem Fest vor ein paar Jahren wäre es ihm beinahe gelungen, eine andere aufzureißen - eine Mitarbeiterin von TV4.

»Sie haben ja ganz schön was auf die Nase bekommen da drinnen«, kam es von Dagens Industri - ganz offensichtlich hatten sie eine junge Sommeraushilfe geschickt.

»Tja, das muss man wohl so sagen«, gab Mikael zu. Etwas anderes konnte er schlecht behaupten.

»Wie fühlt sich das an?«

Trotz der ernsten Lage konnten es sich weder Mikael noch die älteren Journalisten verkneifen, bei dieser Frage den Mund zu verziehen. Mikael tauschte einen Blick mit TV4. Wie fühlt sich das an? Das war nach der einhelligen Meinung aller seriöser Journalisten die Standardfrage, die bescheuerte Sportreporter hinter der Ziellinie atemlosen Sportlern stellten. Aber dann wurde er gleich wieder ernst.

»Ich kann natürlich nur bedauern, dass das Gericht nicht zu einem anderen Urteil gekommen ist«, antwortete er förmlich.

»Drei Monate Haft und 150 000 Kronen Schadenersatz sind eine empfindliche Strafe«, sagte die Journalistin von TV4.

»Ich werd’s überleben.«

»Werden Sie Wennerström um Entschuldigung bitten? Ihm die Hand geben?«

»Nein, das glaube ich kaum. Meine Meinung zu Herrn Wennerströms Geschäftsmoral hat sich nicht nennenswert geändert.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie ihn immer noch für einen Schurken halten?«, fragte Dagens Industri schnell.

Diese Frage legte eine Antwort nahe, die leicht in eine verheerende Schlagzeile münden konnte, und Mikael hätte nur zu leicht auf dieser Bananenschale ausrutschen können, wenn ihm der Reporter sein Mikrofon nicht gar so übereifrig vors Gesicht geschoben hätte. Er überlegte sich seine Antwort ein paar Sekunden.

Das Gericht hatte gerade festgestellt, dass Mikael Blomkvist den Industriellen Hans-Erik Wennerström in seiner Ehre verletzt hatte. Mikael war wegen übler Nachrede verurteilt worden. Die Verhandlung war abgeschlossen, und er hatte auch nicht vor, Berufung einzulegen. Aber was würde passieren, wenn er seine Behauptungen unvorsichtigerweise schon auf der Treppe vor dem Gericht wiederholte? Er beschloss, die entsprechende Antwort zu umgehen.

»Ich fand, dass ich gute Gründe hatte, meine Angaben zu veröffentlichen. Das Gericht hat das anders gesehen, und ich muss selbstverständlich akzeptieren, dass der Prozess der Rechtsfindung damit abgeschlossen ist. Jetzt werden wir in der Redaktion das Urteil gründlich diskutieren, bevor wir beschließen, wie wir weiter verfahren. Mehr kann ich dazu momentan nicht sagen.«

»Aber Sie haben außer Acht gelassen, dass man als Journalist seine Behauptungen auch beweisen können muss«, sagte die Mitarbeiterin von TV4 mit einem scharfen Unterton in der Stimme. Dieser Bemerkung konnte er nichts entgegensetzen. Sie waren gute Freunde gewesen. Ihr Gesichtsausdruck war neutral, aber Mikael glaubte einen Hauch von Enttäuschung und Missbilligung in ihren Augen auszumachen.

Mikael Blomkvist blieb stehen und beantwortete noch ein paar quälende Minuten lang weitere Fragen. Die Frage, die unausgesprochen in der Luft lag und die kein Reporter zu stellen wagte - vielleicht wegen der Peinlichkeit und Unverständlichkeit der gesamten Situation -, war die, wie Mikael nur einen Text hatte schreiben können, der jeder Substanz entbehrte. Die Reporter vor Ort, die Urlaubsvertretung von Dagens Industri mal ausgenommen, waren allesamt gestandene Journalisten. Die Antwort auf diese Frage lag für sie jenseits der Grenzen des Begreiflichen.

Die Kollegin von TV4 bat ihn, sich vor die Tür des Amtsgerichts zu stellen, und interviewte ihn separat vor der Kamera. Sie war freundlicher, als er es verdient hatte, und er gab genügend brauchbare Statements ab, um alle Reporter zufriedenzustellen. Die Story würde in die Schlagzeilen kommen - das war unvermeidbar -, aber er rief sich in Erinnerung, dass es sich hier nicht wirklich um ein spektakuläres Medienereignis handelte. Die Reporter waren bald zufrieden und zogen sich in ihre Redaktionen zurück.

Zunächst hatte er nur vorgehabt, spazieren zu gehen, aber es war ein windiger Dezembertag, und nach dem Interview war ihm schon kalt genug. Erst als er alleine auf der Treppe vorm Amtsgericht stand, hob er den Blick und sah William Borg aus einem Auto steigen, in dem er während des Interviews gesessen hatte. Borg lächelte, als ihre Blicke sich trafen.

»Allein, um dich mit diesem Zettel in der Hand da stehen zu sehen, hätte sich das Herkommen schon gelohnt.«

Mikael antwortete nicht. William Borg und Mikael Blomkvist kannten sich seit fünfzehn Jahren. Sie hatten früher gemeinsam als Vertretung für den Wirtschaftsteil einer Morgenzeitung gearbeitet. Vielleicht hätte man einfach sagen können, dass die Chemie zwischen den beiden nicht stimmte. Auf jeden Fall war damals der Grundstein zu einer lebenslangen Feindschaft gelegt worden. Borg war in Mikaels Augen ein erbärmlicher Reporter und ein unangenehmer, kleinlicher, rachsüchtiger Mensch, der seine Umwelt mit dämlichen Witzen drangsalierte und sich abfällig über ältere und erfahrenere Reporter äußerte. Gegen ältere Journalistinnen schien er eine ganz besondere Abneigung zu hegen. Mikael und er hatten einen ersten Streit gehabt, gefolgt von weiterem unerfreulichem Hin und Her, bis ihre Gegnerschaft schließlich zu einer persönlichen Angelegenheit geworden war.

Über die Jahre hinweg waren Mikael und William Borg regelmäßig aneinandergeraten, aber erst gegen Ende der neunziger Jahre richtige Feinde geworden. Mikael hatte ein Buch über Wirtschaftsjournalismus verfasst und fleißig aus einer Anzahl dümmlicher Artikel zitiert, für die Borg verantwortlich zeichnete. Mikael stellte Borg als Wichtigtuer dar, der die meisten Fakten in den falschen Hals kriegte und Lobeshymnen auf Dotcom-Firmen schrieb, mit denen es dann schnurstracks den Bach runterging. Borg hatte keinen Gefallen an Mikaels Analyse gefunden, und bei einem zufälligen Zusammentreffen in einer Kneipe in Söder war es beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen. Ungefähr zur gleichen Zeit kehrte Borg dem Journalismus den Rücken und arbeitete nun zu wesentlich höherem Lohn als Pressesprecher für ein Unternehmen, das obendrein zu Hans-Erik Wennerströms geschäftlichem Interessengebiet gehörte.

Sie musterten sich eine Weile, bevor Mikael auf dem Absatz kehrtmachte und davonging. Typisch Borg, zum Amtsgericht fahren, bloß um sich hinzustellen und ihn auszulachen.

Der 40er-Bus hielt gerade, und Mikael stieg zu, um von diesem Ort zu verschwinden. Am Fridhelmsplan stieg er aus und blieb unentschlossen an der Haltestelle stehen, sein schriftliches Urteil immer noch in der Hand. Zu guter Letzt beschloss er, zum Café Anna hinüberzugehen, das in der Nähe der Garageneinfahrt des Polizeigebäudes lag.

Keine dreißig Sekunden nachdem er sich einen Café latte und ein belegtes Brötchen bestellt hatte, begannen die Zwölf-Uhr-Nachrichten im Radio. Die Story kam an dritter Stelle, nach dem Selbstmordattentäter in Jerusalem und der Meldung, dass die Regierung eine Kommission eingesetzt hatte, um eine neue angebliche Kartellbildung in der Bauindustrie zu untersuchen.

»Der Journalist Mikael Blomkvist von der Zeitschrift Millennium wurde am Donnerstagmorgen zu drei Monaten Haft wegen böswilliger Verleumdung des Industriellen Hans-Erik Wennerström verurteilt. In einem viel beachteten Artikel über die sogenannte Minos-Affäre hatte Blomkvist behauptet, dass Wennerström staatliche Mittel, die für Investitionen in Polen genehmigt worden waren, stattdessen für Waffengeschäfte veruntreut habe. Mikael Blomkvist wurde zu Schadenersatzzahlungen in Höhe von 150 000 Kronen verurteilt. In einem Kommentar sagte Wennerströms Anwalt, Bertil Camnermarker, sein Mandant sei mit dem Urteil zufrieden. Seiner Meinung nach handele es sich in diesem Fall um eine außerordentlich böswillige Verleumdung.«

Auf dem Papier war das Urteil sechsundzwanzig Seiten lang. Es erläuterte den sachlichen Grund, warum er in fünfzehn Punkten der böswilligen Verleumdung des Geschäftsmannes Hans-Erik Wennerström für schuldig befunden worden war. Mikael stellte fest, dass ihn jeder dieser Punkte 10 000 Kronen und sechs Tage Gefängnis kostete. Abgesehen von den Kosten des Verfahrens und dem Honorar für seinen eigenen Anwalt. Er konnte sich nicht ansatzweise ausmalen, wie die Gesamtrechnung aussehen würde, musste jedoch zugeben, dass es auch schlimmer hätte kommen können; immerhin hatte sich das Gericht in sieben Punkten entschlossen, ihn freizusprechen.

Je länger er die Formulierungen des Urteils las, umso deutlicher braute sich in seiner Magengegend ein unangenehmes Gefühl zusammen. Dieses Gefühl überraschte ihn. Bereits zu Beginn der Verhandlung war ihm klar gewesen, dass er verurteilt werden würde, wenn nicht ein Wunder geschah. Er hatte die zwei Verhandlungstage relativ unbekümmert abgesessen und anschließend noch elf Tage gewartet, bis das hohe Gericht zu Ende überlegt und den Text formuliert hatte, den er jetzt in Händen hielt, ohne das Geringste dabei zu empfinden. Erst jetzt, da der Prozess vorbei war, befiel ihn Unbehagen.

Als er ein Stück von seinem Brötchen abgebissen hatte, schien der Bissen in seinem Mund plötzlich aufzuquellen. Er konnte kaum noch schlucken und schob das Brötchen schließlich beiseite.

Es war das erste Mal, dass Mikael Blomkvist verurteilt worden war - überhaupt das erste Mal, dass man ihn eines Vergehens verdächtigt und angeklagt hatte. Eigentlich handelte es sich um eine vergleichsweise harmlose Verfehlung. Es ging ja nicht um bewaffneten Raubüberfall, Mord oder Vergewaltigung. Finanziell gesehen traf ihn das Urteil freilich empfindlich. Millennium war nicht gerade das Flaggschiff der Medienwelt - das Magazin lebte mehr schlecht als recht von seiner Gewinnspanne -, aber das hier war auch nicht wirklich eine Katastrophe. Dummerweise war Mikael gleichzeitig Teilhaber, Journalist und verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift. Die Schadenersatzforderung, 150 000 Kronen, gedachte er aus eigener Tasche zu begleichen, was seine Ersparnisse nahezu vollständig aufzehren würde. Die Zeitschrift übernahm die Gerichtskosten. Wenn man klug mit dem Geld wirtschaftete, würde es schon wieder in Ordnung kommen.

Er überlegte, sein Wohnrecht zu verkaufen, aber das würde ihm ganz schön wehtun. Gegen Ende der unbekümmerten achtziger Jahre, in einer Phase, als er über eine feste Anstellung und ein relativ gutes Einkommen verfügte, hatte er sich nach einer Eigentumswohnung umgesehen. Er war zu zahlreichen Wohnungsbesichtigungen gerannt und hatte das meiste abgelehnt, bis er über eine Mansardenwohnung mit fünfundsechzig Quadratmetern stolperte, die genau an der Ecke zur Bellmansgata lag. Der vorherige Besitzer hatte bereits angefangen, sie gemütlich auszubauen, dann jedoch plötzlich einen Job in einer Dotcom-Firma im Ausland bekommen, und so konnte Mikael das Renovierungsobjekt spottbillig kaufen.

Michael hatte die Skizzen des Innenarchitekten verworfen und den Ausbau selbst übernommen. Er steckte einiges an Geld in die Renovierung des Badezimmers und der Küche und pfiff auf den Rest. Statt Parkett zu verlegen und Zwischenwände einzuziehen, um die geplante Zweizimmerwohnung zu schaffen, schliff er die Dachbalken ab und strich Kalkfarbe direkt auf die Originalwände. Über die schlimmsten Schadstellen hängte er ein paar Aquarelle von Emanuel Bernstone. Das Ergebnis war ein völlig offener Raum mit einer Schlafnische hinter einem Bücherregal und einem kombinierten Ess- und Wohnzimmer mit einer kleinen Küche, wie in einer Bar. Die Wohnung hatte zwei Mansarden- und ein Giebelfenster mit Ausblick über die Dächer in Richtung Riddarfjärden und der Altstadt Gamla Stan. Er konnte einen schmalen Streifen Wasser und das Rathaus sehen. Heutzutage würde er sich eine solche Wohnung nicht mehr leisten können, und er wollte sie gerne behalten.

Aber er riskierte ja nicht nur den Verlust seiner Wohnung. Viel schlimmer war, dass sein berufliches Ansehen gelitten hatte. Es würde lange dauern, bis es wiederhergestellt war. Falls dies überhaupt je der Fall sein würde.

Es ging um Vertrauen. In der nächsten Zeit würden viele Redakteure erst mal zögern, einen Artikel von ihm zu drucken. Er hatte immer noch genügend Freunde in der Branche, die akzeptieren würden, dass er einfach Opfer unglücklicher Zufälle gewesen war, aber ab jetzt konnte er sich keinen Fehler mehr leisten.

Am meisten schmerzte allerdings die Demütigung.

Er hatte alle Trümpfe in der Hand gehabt und dann doch verloren, gegen einen Gangster im Armani-Anzug. Einen Schweinehund von einem Börsenhai. Einen Yuppie mit einem Promi-Anwalt, der sich durch den ganzen Prozess gegrinst hatte.

Wie zum Teufel hatte alles nur so schiefgehen können?

Die Wennerström-Affäre hatte so vielversprechend begonnen, hinter dem Steuer seines Bootes, einer gelben Mälar-30, an einem Mittsommerabend vor achtzehn Monaten. Ein ehemaliger Journalistenkollege, mittlerweile Pressebeauftragter beim Provinziallandtag, hatte seiner neuen Freundin imponieren wollen und unbedachterweise ein Boot gemietet, eine Scampi, mit der sie ein paar Tage ebenso planlos wie romantisch durch die Schären segeln wollten. Seine Freundin, die für ihr Studium gerade erst von Hallstahammar nach Stockholm gezogen war, hatte zunächst ein bisschen Widerstand geleistet, sich dann aber überreden lassen, allerdings unter der Bedingung, dass ihre Schwester und deren Freund mitkommen durften. Das Problem war nur, dass der Angestellte des Landtags mehr Enthusiasmus als Segelerfahrung vorweisen konnte. Drei Tage bevor sie ablegen wollten, hatte er Mikael verzweifelt angerufen und ihn überredet, sich ihnen als fünftes und navigationskundiges Besatzungsmitglied anzuschließen.

Mikael hatte zuerst rundheraus abgelehnt, sich dann aber von dem Versprechen verführen lassen, dass man sich in den Schären ein paar Tage bei gutem Essen in guter Gesellschaft entspannen würde. Aus diesem Versprechen wurde allerdings überhaupt nichts, und der Segeltörn hatte sich zu einer weit größeren Katastrophe ausgewachsen, als er sich hätte träumen lassen. Obwohl sie die schöne, aber wenig dramatische Strecke ab Bullandö über die Furusund-Route eingeschlagen hatten, war die neue Freundin sofort seekrank geworden. Ihre Schwester hatte angefangen, mit ihrem Freund zu streiten, und keiner von ihnen zeigte auch nur das geringste Interesse daran, ein paar Segelkenntnisse zu erwerben. Wie sich bald herausstellte, erwartete man von Mikael, dass er sich um das Boot kümmerte, während ihm die anderen gute, aber größtenteils nutzlose Ratschläge gaben. Nach der ersten Übernachtung auf Ängsö war er so weit, dass er in Furusund anlegen und den ersten Bus nach Hause nehmen wollte. Nur das verzweifelte Flehen seines Freundes hatte ihn bewogen, an Bord zu bleiben.

Am nächsten Tag gegen zwölf Uhr, früh genug, um noch ein paar freie Plätze zu finden, hatten sie das Boot auf Arholma an der Anlegestelle für Besucher festgemacht. Sie hatten gerade zu Mittag gegessen, als Mikael eine gelbe M-30 bemerkte, die nur das Großsegel gesetzt hatte und langsam in die Bucht glitt. Das Boot machte eine ruhige Drehung nach Luv, während der Skipper nach einem Platz an der Landungsbrücke Ausschau hielt. Mikael sah sich um und stellte fest, dass der Platz zwischen ihrer Scampi und einem H-Boot auf der Steuerbordseite vermutlich die einzige verbliebene Lücke war. Die schmale M-30 würde dort gerade noch hineinpassen. Er stand auf und gab ein Zeichen; der Skipper der M-30 hob die Hand, um sich bei ihm zu bedanken, und hielt auf die Landungsbrücke zu. Ein Einhandsegler, der sich nicht die Mühe machen wollte, den Motor anzuwerfen, sagte sich Mikael. Er hörte das Rasseln der Ankerkette, und wenige Sekunden später wurde das Großsegel eingeholt, während der Skipper nur so hin und her flitzte, um gleichzeitig das Ruder gerade zu richten und am Vordersteven ein Tau für das Anlegemanöver vorzubereiten.

Mikael kletterte auf die Reling und streckte eine Hand aus, um zu signalisieren, dass er das Tau entgegennehmen konnte. Der Neuankömmling nahm eine letzte Kursänderung vor und glitt perfekt, in ganz langsamer Fahrt, ans Heck der Scampi heran. Erst als der Skipper Mikael den Tampen zuwarf, erkannten sie einander und brachen in lautes Gelächter aus.

»Hallo, Robban!«, rief Mikael. »Warum schmeißt du nicht den Motor an, dann schrammst du nicht allen Booten im Hafen den Lack ab.«

»Hallo, Micke! Dachte ich mir doch, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst. Und den Motor würde ich ja gerne anmachen, wenn ich ihn in Gang kriegen könnte. Das Biest ist mir vor zwei Tagen bei Rödlöga endgültig abgestorben.«

Sie schüttelten sich über die Reling hinweg die Hand.

Vor ewigen Zeiten, in den siebziger Jahren, waren Mikael Blomkvist und Robert Lindberg am Kungsholmer Gymnasium Freunde gewesen, sogar sehr gute Freunde. Doch wie es so oft mit alten Schulkameraden geht, war die Freundschaft nach den Abschlussprüfungen zu Ende. Sie waren getrennte Wege gegangen und hatten sich in den letzten zwanzig Jahren höchstens fünf oder sechs Mal getroffen. Als sie sich unerwartet auf der Landungsbrücke von Arholma begegneten, hatten sie sich schon mindestens sieben oder acht Jahre nicht mehr gesehen. Jetzt musterten sie einander neugierig. Robert war braun gebrannt, sein Haar war verfilzt, und wie man an den Bartstoppeln sehen konnte, hatte er sich seit Wochen nicht mehr rasiert.

Mikaels Laune hellte sich plötzlich bedeutend auf. Als der Pressetyp und sein einfältiges Gefolge aufbrachen, um beim Kaufladen auf der anderen Seite der Insel um den Maibaum zu tanzen, war er bei Hering und Schnaps auf der M-30 geblieben, um mit seinem Schulkameraden über Gott und die Welt zu quatschen.

Irgendwann im Laufe des Abends, als sie den Kampf gegen die berüchtigten Mücken von Arholma aufgegeben hatten und in die Kajüte gegangen waren, hatte sich das Gespräch nach einer beträchtlichen Anzahl von Schnäpsen in eine freundschaftliche Kabbelei über Moral und Ethik in der Geschäftswelt verwandelt. Beide hatten sich für Karrieren entschieden, die irgendwie mit der schwedischen Finanzwelt zu tun hatten. Robert Lindberg war nach dem Abitur auf die Handelshochschule gegangen und danach ins Bankgeschäft eingestiegen. Mikael Blomkvist war auf der Journalistenschule gelandet und hatte einen Großteil seines Berufslebens darauf verwandt, dubiose Geschäfte in der Finanzwelt aufzuklären. Das Gespräch begann um die Frage nach der moralischen Korrektheit gewisser Abfindungspraktiken zu kreisen, die in den neunziger Jahren bekannt geworden waren. Nachdem er so manchen Manager verteidigt hatte, stellte Lindberg sein Glas ab und räumte widerwillig ein, dass sich in der Geschäftswelt trotz allem der eine oder andere Schweinehund versteckte. Plötzlich hatte er Mikael ganz ernst angesehen.

»Du gehörst doch zu den Journalisten, die in Sachen Wirtschaftskriminalität recherchieren - warum schreibst du nicht über Hans-Erik Wennerström?«

»Ich wusste nicht, dass es über den was zu schreiben gibt.«

»Dann fang an zu wühlen. Fang in Dreiteufelsnamen an zu wühlen. Wie viel weißt du über das SIB-Programm?«

»Tja, das war eine Art Förderprogramm in den neunziger Jahren, mit dem man der Industrie in den ehemaligen Ostblockstaaten auf die Füße helfen wollte. Vor ein paar Jahren wurde es dann eingestellt. Ich hab nie irgendetwas darüber geschrieben.«

»SIB, das Industrieförderungsprogramm - das war ein von der Regierung gefördertes Projekt unter der Leitung von Repräsentanten einiger großer schwedischer Unternehmen. SIB bekam staatliche Garantien für eine ganze Reihe von Projekten zugesichert, die in Abstimmung mit den Regierungen von Polen und den baltischen Staaten verabschiedet wurden. Der Schwedische Gewerkschaftsbund war ebenfalls mit von der Partie, um sicherzustellen, dass auch die Gewerkschaften im Osten nach schwedischem Modell gestärkt würden. Offiziell war das Ganze ein Förderprogramm nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe, das den Regierungen im Osten eine Möglichkeit eröffnen wollte, ihre Wirtschaft zu sanieren. In der Praxis ging es aber darum, dass schwedische Unternehmen staatliche Subventionen einstrichen, um sich damit als Teilhaber in osteuropäische Unternehmen einzukaufen. Dieser verdammte heuchlerische Minister war ein treuer Anhänger des SIB. Man wollte eine Papierfabrik in Krakau bauen, die Metallindustrie in Riga auf Vordermann bringen, eine Zementfabrik in Tallinn errichten und so weiter. Die Gelder wurden von den Vorständen des SIB verteilt, lauter einflussreichen Persönlichkeiten aus der Welt der Banken und der Großindustrie.«

»Steuergelder also?«

»Ungefähr 50 % staatliche Zuschüsse, den Rest steuerten die Banken und die Unternehmen selbst bei. Aber weniger aus ideellen Gründen. Sie rechneten damit, eine ordentliche Stange Geld einzustreichen. Sonst hätten sie keinen Pfifferling dafür gegeben.«

»Von wie viel Geld sprechen wir denn da?«

»Beim SIB ging es hauptsächlich um schwedische Unternehmen, die sich auf dem osteuropäischen Markt etablieren wollten. Hochkarätige Unternehmen wie ABB und Skanska und so. Mit anderen Worten also, keine Spekulanten.«

»Willst du etwa behaupten, dass Skanska nicht spekuliert? Deren Geschäftsführer war es doch, der gefeuert wurde, als er einen von seinen Jungs eine halbe Milliarde mit irgendwelchen Day Tradings versenken ließ? Und was ist mit ihren Immobiliengeschäften in London und Oslo?«

»Sicher, Idioten gibt es in jedem Unternehmen dieser Welt, aber du weißt schon, was ich meine. Das sind auf jeden Fall Firmen, die etwas produzieren. Das Rückgrat der schwedischen Industrie.«

»Und was hat Wennerström jetzt damit zu tun?«

»Wennerström ist der Joker in diesem Spiel. Also, da kommt ein Typ von irgendwoher, er hat keinen großartigen industriellen Hintergrund und auf dieser Bühne eigentlich überhaupt nichts zu suchen. Aber er hat sich an der Börse ein enormes Vermögen erworben und es in sichere Unternehmen investiert. Er ist sozusagen durch die Hintertür dazugestoßen.«

Mikael Blomkvist hatte sein Glas mit »Reimersholmer Schnaps« aufgefüllt, sich in der Kajüte zurückgelehnt und nachgedacht, was er alles über Wennerström wusste. Und das war eigentlich nicht besonders viel. Geboren irgendwo in Norrland, wo er irgendwann in den siebziger Jahren ein Investmentunternehmen gründete. Er verdiente gutes Geld und ging nach Stockholm, um in den goldenen achtziger Jahren eine kometenhafte Karriere hinzulegen. Er hatte die Wennerström-Gruppe gegründet, später umbenannt in The Wennerstroem Group, als in London und New York Dependancen eröffnet wurden, die in den Zeitungen bald in einem Atemzug mit Beijer genannt wurden. Er handelte mit Aktien und Optionen und steckte Geld in Day Tradings. Er kam in die Klatschpresse als einer unserer zahlreichen neuen Milliardäre - ein Penthouse am Strandvägen, ein großartiges Sommerhaus auf Värmdö und eine dreiundzwanzig Meter lange Motoryacht, die er einem ehemaligen, Pleite gegangenen Tennisstar abkaufte. Eigentlich hatte er immer nur gut rechnen können, aber die achtziger Jahre waren nun mal das Jahrzehnt der Rechner und Immobilienspekulanten, und Wennerström hatte sich nicht mehr hervorgetan als die anderen. Eher im Gegenteil, unter all den Big Boys hielt er sich ein bisschen im Hintergrund. Mit Immobilien wollte er nichts zu tun haben; stattdessen investierte er in großem Stil im ehemaligen Ostblock. Als in den neunziger Jahren langsam die Luft raus war und ein Manager nach dem anderen zwangsweise seine Abfindung einforderte, war Wennerströms Unternehmen überraschend gut davongekommen. Nicht einmal die Spur eines Skandals. Eine schwedische Erfolgsstory, so hatte die Financial Times es zusammengefasst.

»Es geschah 1992. Wennerström meldete sich plötzlich beim SIB und teilte mit, dass er Geld wollte. Offenbar unterstützt von in Polen ansässigen Interessenten, legte er einen Plan vor, wie man eine Fabrik aufbauen könnte, die Verpackungsmaterial für die Lebensmittelindustrie produzierte.«

»Eine Fabrik für Konservendosen?«

»Nicht ganz, aber so was in der Art. Ich habe keine Ahnung, wen er beim SIB kannte, aber er konnte ohne Weiteres sechzig Millionen Kronen abstauben.«

»Das klingt ja langsam spannend. Lass mich raten: Danach hat man von diesem Geld nichts mehr gesehen.«

»Falsch«, sagte Robert Lindberg. Er lachte, bevor er sich mit einem weiteren Schnaps stärkte.

»Was dann geschah, ist ein klassisches Beispiel für betriebswirtschaftliche Rechenkünste. Wennerström baute wirklich eine Verpackungsindustrie in Polen auf, in Lodz, um genau zu sein. Das Unternehmen hieß Minos. 1993 erhielt das SIB ein paar enthusiastische Geschäftsberichte, danach Schweigen. 1994 brach Minos plötzlich zusammen.«

Robert Lindberg hatte das leere Schnapsglas mit einem kräftigen Rums auf dem Tisch abgestellt, um zu illustrieren, wie die Firma zusammengebrochen war.

»Das Problem mit dem SIB war, dass es keine festen Regeln dafür gab, wie die Rechenschaftsberichte für die Projekte auszusehen hatten. Du weißt, wie das in diesen Zeiten war. Alle waren derart optimistisch, als die Mauer fiel. Die Demokratie wurde eingeführt, die Gefahr eines Atomkrieges war gebannt, und die Bolschewiken sollten über Nacht Kapitalisten werden. Die Regierungen wollten die Demokratie im Osten stärken. Jeder Unternehmer wollte dabei sein und beim Aufbau des neuen Europa mithelfen.«

»Ich wusste ja gar nicht, dass Unternehmer so eine Schwäche für wohltätige Werke haben.«

»Glaub mir, das war der feuchte Traum eines jeden Unternehmers. Russland und die ehemaligen Ostblockstaaten sind so ungefähr der größte noch zu erschließende Markt nach China. Die Industrie hatte kein Problem damit, der Regierung beizuspringen, vor allem, weil die Unternehmen nur für einen Bruchteil der Ausgaben einstehen mussten. Insgesamt verschlang das SIB knapp dreißig Millionen Kronen an Steuergeldern. Das Geld sollte in Form zukünftiger Gewinne zurückfließen. Offiziell war das SIB eine Initiative der Regierung gewesen, aber der Einfluss der Industrie war so groß, dass der Vorstand praktisch selbstständig arbeitete.«

»Verstehe. Steckt dahinter auch noch irgendeine Story?«

»Gedulde dich. Als das Projekt anlief, gab es keinerlei Probleme mit der Finanzierung. Schweden war noch nicht vom Rentenschock heimgesucht worden. Die Regierung war zufrieden, weil sie mit dem SIB zeigen konnte, wie groß das schwedische Engagement im Osten war.«

»Das geschah alles unter der bürgerlichen Regierung?«

»Die politische Richtung spielt doch keine Rolle. Es geht um Geld, und da ist es scheißegal, ob die Sozis oder die Konservativen die Minister stellen. Also volle Kraft voraus, aber dann kam das Valutaproblem, und danach meldeten sich ein paar dämliche Neue Demokraten - erinnerst du dich noch an die Neuen Demokraten, diese Populistenpartei? - und fingen an zu nörgeln, dass man nicht genügend Einblick in die Tätigkeiten des SIB habe. Einer von diesen Wichteln hatte SIB mit SIDA verwechselt und glaubte, es handele sich um irgendein Entwicklungshilfe-Programm, wie das in Tansania. Im Frühjahr 1994 wurde eine Untersuchungskommission gegründet, die das SIB unter die Lupe nehmen sollte. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Beanstandungen bei mehreren Projekten, aber eines der ersten, das man sich vornahm, war Minos

»Und Wennerström konnte nicht nachweisen, wofür die Gelder verwendet worden waren.«

»Im Gegenteil. Wennerström konnte einen ganz ausgezeichneten Rechenschaftsbericht vorlegen, der nachwies, dass knapp vierundfünfzig Millionen Kronen in Minos investiert worden waren. Dann hätten sich aber die strukturellen Probleme im zurückgebliebenen Polen als zu groß herausgestellt, als dass eine moderne Verpackungsindustrie hätte funktionieren können. Ihre Fabrik sei von einem ähnlichen deutschen Projekt praktisch verdrängt worden. Die Deutschen waren gerade dabei, den ganzen Ostblock aufzukaufen.«

»Du hast gesagt, er habe sechzig Millionen Kronen bekommen.«

»Stimmt genau. Die SIB-Gelder waren quasi ein zinsfreies Darlehen. Der Hintergedanke war natürlich der, dass die Unternehmen einen Teil der Gelder nach ein paar Jahren zurückzahlen sollten. Aber Minos war baden gegangen und das Projekt missglückt, wofür man Wennerström schlecht verantwortlich machen konnte. Hier traten die staatlichen Garantien in Kraft, und Wennerström musste die Gelder, die mit dem Konkurs von Minos verloren gegangen waren, einfach nicht zurückzahlen. Er konnte nachweisen, dass er eine entsprechende Summe eigenen Geldes verloren hatte.«

»Warte mal, ich will sichergehen, dass ich das alles richtig verstanden habe. Die Regierung hielt die Steuermillionen bereit und stellte die Diplomaten, die die entsprechenden Türen öffneten. Die Industrie bekam das Geld und verwendete es für Investitionen in Joint Ventures, mit denen dann Rekordgewinne erzielt wurden. Also das übliche Spiel. Die einen gewinnen, und die anderen bezahlen die Rechnungen, und wir wissen, wer welche Rolle spielt.«

»Du bist ein Zyniker. Das Darlehen sollte dem Staat zurückgezahlt werden.«

»Die Darlehen waren zinslos, hast du gesagt. Das bedeutet, die Steuerzahler bekamen keine Zinsen dafür, dass sie ihre Kohle zur Verfügung stellten. Wennerström hat sechzig Millionen eingesackt, von denen vierundfünfzig investiert wurden. Was ist mit den restlichen sechs Millionen passiert?«

»Als klar wurde, dass sein SIB-Projekt genauer untersucht werden würde, schickte Wennerström einen Scheck über sechs Millionen ans SIB, mit dem er den Differenzbetrag beglich. Damit war die Sache, rein juristisch betrachtet, aus der Welt.« Robert Lindberg verstummte und warf Mikael einen herausfordernden Blick zu.

»Klingt ganz so, als hätte Wennerström SIB-Gelder in den Sand gesetzt, aber verglichen mit der halben Milliarde, die bei Skanska verschwunden ist, oder mit der Story von diesem ABB-Manager, der eine knappe Milliarde Abfindung bekam - das hat die Leute wirklich aufgebracht! -, scheint das hier nicht gerade viel Stoff zu bieten«, meinte Mikael. »Die Leser haben die Artikel über unfähige Spekulanten mittlerweile satt, auch wenn dabei Steuergelder im Spiel sind. Steckt noch mehr hinter dieser Story?«

»Sie wird noch besser.«

»Woher weißt du all diese Dinge über Wennerströms Geschäfte in Polen?«

»In den neunziger Jahren habe ich in der Handelsbank gearbeitet. Rate mal, wer die Berichte für den Vertreter unserer Bank im SIB erstellt hat?«

»Alles klar. Erzähl weiter.«

»Also … um das Ganze jetzt mal zusammenzufassen: Das SIB erhielt eine Erklärung von Wennerström. Papier ging hin und her. Ausstehende Gelder wurden zurückgezahlt. Dass er die sechs Millionen zurückzahlte, war ziemlich schlau. Wenn dir jemand freiwillig eine Tasche voller Geld geben will, dann bist du doch geneigt zu glauben, dass er eine reine Weste hat.«

»Komm zur Sache.«

»Aber mein lieber Blomkvist, das hier ist bereits die Sache. Das SIB war mit Wennerströms Bericht zufrieden. Die Investition war zum Teufel gegangen, aber an der Durchführung des Projekts fand man nichts auszusetzen. Wir haben jede Fakturierung, jeden Transfer und sämtliche Papiere durchgesehen. Alles war penibel abgerechnet. Ich habe es geglaubt. Mein Chef hat es geglaubt. Das SIB hat es geglaubt, und die Regierung hatte dem nichts hinzuzufügen.«

»Wo ist der Haken?«

»Tja, jetzt wird die Geschichte langsam brisant«, sagte Lindberg und sah auf einmal verblüffend nüchtern aus. »Du bist Journalist, also betrachte alles, was jetzt kommt, als off the record

»Jetzt mach aber mal halblang! Du kannst mir nicht solche Sachen erzählen und hinterher damit ankommen, dass ich nichts davon weitergeben darf.«

»Und ob ich das kann. Alles, was ich bis jetzt erzählt habe, ist der Öffentlichkeit bekannt. Du kannst sogar den Bericht einsehen, wenn du willst. Über den Rest der Story - das, was ich noch nicht erzählt habe - kannst du gerne was schreiben, aber du musst mich als anonyme Quelle behandeln.«

»Aha. Aber nach der gängigen Terminologie bedeutet off the record, dass man mir im Vertrauen etwas erzählt, ich aber nichts drüber schreiben darf.«

»Ich scheiß auf die Terminologie. Schreib, was du willst, aber lass mich dabei aus dem Spiel, okay?«

»Selbstverständlich«, antwortete Mikael.

Was, im Nachhinein betrachtet, ein Fehler gewesen war.

»Na dann. Diese Story mit Minos spielte sich also vor zehn Jahren ab, direkt nach dem Mauerfall, als die Bolschewiken langsam anständige Kapitalisten wurden. Ich gehörte zu dem Personenkreis, der Wennerströms Geschäfte untersuchte, und ich dachte mir die ganze Zeit, dass irgendwas an dieser Story verdammt faul war.«

»Warum hast du während der Untersuchung nichts gesagt?«

»Ich habe es mit meinem Chef durchgesprochen. Aber letztlich hatten wir keine Handhabe. Die Papiere waren in Ordnung. Ich musste den Untersuchungsbericht abzeichnen. Doch jedes Mal, wenn ich in der Presse auf Wennerströms Namen stieß, habe ich an Minos gedacht.«

»Mhm.«

»Die Sache war allerdings die, dass meine Bank Mitte der neunziger Jahre ein paar Geschäfte mit Wennerström machte. Große Geschäfte, bei denen er nicht den besten Eindruck hinterließ.«

»Er hat euch um euer Geld gebracht?«

»Nein, nein, beide Seiten haben an diesen Geschäften verdient. Es war eher so, dass … Ich weiß nicht recht, wie ich dir das erklären soll. Ich rede hier gerade über meinen eigenen Arbeitgeber, was mir etwas unangenehm ist. Aber der Gesamteindruck, den ich von Wennerström gewann, war kein guter. Er hat ja in den Medien das Image des großen Machers. Davon lebt er. Das ist sein Vertrauenskapital.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Ich hatte den Eindruck, dass der Kerl ganz einfach ein riesengroßer Bluff ist. Er ist überhaupt kein besonders begabter Betriebswirtschaftler. Im Gegenteil. Ich konnte feststellen, dass seine Kenntnisse in manchen Dingen wahnsinnig oberflächlich sind. Er hatte ein paar wirklich hochintelligente young warriors als Berater, aber ich verabscheute ihn eben von ganzem Herzen.«

»Okay.«

»Vor ein paar Jahren war ich in einer ganz anderen Angelegenheit in Polen. Unsere Gesellschaft traf sich zu einem Geschäftsessen mit ein paar Investoren in Lodz, und ich landete zufällig mit dem Bürgermeister am selbem Tisch. Wir sprachen unter anderem darüber, wie schwierig es doch ist, Polens Wirtschaft in die Gänge zu bekommen, und als Beleg dafür erwähnte ich das Minos-Projekt. Der Bürgermeister blickte einen Moment lang völlig verständnislos drein - als hätte er noch nie von Minos gehört -, schien sich dann jedoch an so ein kleines Pipifax-Unternehmen erinnern zu können, das nie so richtig auf die Füße gekommen war. Er wischte es mit einem Lachen vom Tisch und sagte - ich zitiere wörtlich -, wenn das alles wäre, was schwedische Investoren zustande brächten, dann müsste Schweden demnächst zusammenbrechen. Kannst du mir folgen?«

»Dieser Ausspruch lässt vermuten, dass der Bürgermeister von Lodz ein kluges Kerlchen ist, aber erzähl weiter.«

»Dieser Satz blieb bei mir hängen und spukte mir unablässig im Hinterkopf herum. Am nächsten Morgen hatte ich einen Geschäftstermin, aber den Rest des Tages hatte ich frei. Mich ritt der Teufel, ich fuhr hinaus und sah mir die stillgelegte Minos-Fabrik an. Sie befand sich in einem kleinen Dorf außerhalb von Lodz, mit einer Kneipe in einer Scheune und Plumpsklos im Hof. Die große Minos-Fabrik war eine baufällige Bruchbude. Ein altes Lagergebäude aus Wellblech, das die Rote Armee in den fünfziger Jahren errichtet hatte. Auf dem Grundstück traf ich einen Wächter, der ein bisschen Deutsch sprach, und erfuhr, dass eine seiner Kusinen bei Minos gearbeitet hatte. Diese Kusine wohnte ganz in der Nähe, und wir gingen zu ihr. Der Wächter übersetzte. Möchtest du wissen, was er gesagt hat?«

»Ich kann kaum noch an mich halten.«

»Minos nahm 1992 den Betrieb auf. Es gab maximal fünfzehn Angestellte, die meisten von ihnen waren irgendwelche alten Weiblein. Der Lohn lag bei knapp hundertfünfzig Kronen im Monat. Am Anfang waren gar keine Maschinen da, und die Angestellten mussten erst einmal diese Bruchbude in Ordnung bringen. Anfang Oktober trafen dann drei Kartonmaschinen aus Portugal ein. Sie waren abgenutzt und völlig veraltet. Der Schrottwert kann sich allenfalls auf ein paar Tausender belaufen haben. Zwar funktionierten die Maschinen, aber sie gingen pausenlos kaputt. Ersatzteile fehlten natürlich, also litt Minos unter ständigen Produktionsstopps. Oft sprang einer der Angestellten ein und reparierte die Maschinen provisorisch.«

»Was wurde bei Minos denn eigentlich hergestellt?«

»1992 und das erste Halbjahr 1993 stellten sie ganz normale Pappkartons für Spülmaschinen-Tabs her und Eierkartons und so. Danach produzierten sie Papiertüten. Aber es fehlte der Fabrik permanent an den nötigen Rohstoffen, und so richtig groß war das Produktionsvolumen eigentlich nie.«

»Klingt alles nicht gerade nach der Rieseninvestition.«

»Ich habe es nachgerechnet. Die gesamte Miete für zwei Jahre belief sich auf 15 000 Kronen. Für die Löhne können maximal 150 000 draufgegangen sein, und da bin ich sogar noch großzügig. Die Anschaffungskosten für die Maschinen und den Transporter … einen Kastenwagen, der die Eierkartons auslieferte … schätzungsweise 200 000. Leg noch Bearbeitungsgebühren für Genehmigungen drauf und ein paar Reisekosten - offenbar hat nur eine einzige Person aus Schweden das Dorf ein paarmal besucht. Tja, sagen wir mal, das ganze Unterfangen spielte sich unter der Millionengrenze ab. Eines Tages im Sommer 1993 teilte der Vorarbeiter mit, dass die Fabrik stillgelegt sei. Und wenig später kam ein ungarischer Lastwagen und holte den Maschinenpark ab. Exit Minos

Während der Gerichtsverhandlung hatte Mikael oft an jenen Mittsommerabend zurückgedacht. Ihre Unterhaltung war teilweise eine freundschaftlich Kabbelei gewesen, genau wie zu ihrer Schulzeit. Als Teenager hatten sie Sorgen und Nöte miteinander geteilt. Als Erwachsene waren sie einander eigentlich fremd, im Grunde waren sie sehr unterschiedliche Menschen. Im Laufe des Abends hatte Mikael überlegt, dass er sich eigentlich nicht recht erinnern konnte, was sie in ihrer Gymnasialzeit zu so guten Freunden gemacht hatte. Er erinnerte sich an Robert als an einen stillen und zurückhaltenden Jungen, unglaublich schüchtern im Umgang mit Mädchen. Als Erwachsener war er ein erfolgreicher … tja, ein richtiger Aufsteiger im Bankwesen geworden. Mikael zweifelte keinen Augenblick daran, dass sein alter Schulfreund Ansichten hegte, die seinem eigenen Weltbild völlig zuwiderliefen.

Mikael betrank sich nur selten, aber ihre zufällige Begegnung hatte einen missglückten Segelausflug in einen angenehmen Abend verwandelt, und die Schnapsflasche leerte sich zusehends. Gerade weil das Gespräch in einem so schülerhaften Ton verlaufen war, hatte er Roberts Bericht über Wennerström zunächst nicht ernst genommen, aber zu guter Letzt war sein journalistischer Instinkt erwacht. Plötzlich hatte er aufmerksam gelauscht, und dabei waren ihm auch einige logische Einwände eingefallen.

»Warte mal kurz«, hatte Mikael gebeten. »Wennerström ist ein Top-Name unter den Börsenhaien. Wenn ich mich nicht völlig täusche, ist er doch wohl Milliardär …«

»Die Wennerstroem Group verfügt schätzungsweise über 200 Milliarden. Dir liegt wahrscheinlich die Frage auf der Zunge, warum ein Milliardär sich überhaupt damit aufhalten sollte, ein Taschengeld von lumpigen 50 Millionen zu erschwindeln.«

»Vor allem, warum er alles durch einen offensichtlichen Betrug aufs Spiel setzt.«

»Ich weiß nicht, ob man behaupten kann, dass dieser Betrug so offensichtlich ist; der SIB-Vorstand, die Banker, die Regierung und die Finanzexperten des Reichstages haben Wennerströms Rechenschaftsbericht schließlich abgesegnet.«

»Es geht jedenfalls um eine lächerliche Summe.«

»Allerdings. Aber denk noch mal nach: Die Wennerstroem Group ist ein Investmentunternehmen, das mit allem Möglichen handelt, womit man schnell gute Geschäfte machen kann - Wertpapiere, Optionen, Valuta … you name it. Wennerström hat 1992 mit dem SIB Kontakt aufgenommen, zu einer Zeit, als der Finanzmarkt ins Bodenlose abstürzte. Kannst du dich an den Herbst 1992 erinnern?«

»Und ob ich das kann. Ich hatte einen Kredit mit Tagesgeldzinssatz auf meine Wohnung aufgenommen, und dann schoss der Refinanzierungssatz der Reichsbank im Oktober auf 500 % hoch. Sodass ich ein Jahr lang 19 % Zinsen zahlen musste.«

»Mmh, das waren vielleicht Zeiten«, sagte Robert lächelnd. »Und Hans-Erik Wennerström rang - genau wie alle anderen Akteure auf dem Markt - mit demselben Problem. Das Unternehmen hatte Milliarden in verschiedenen Papieren fest angelegt, aber verblüffend wenig liquide Mittel. Von einem Tag auf den anderen konnte es sich keine Fantasiebeträge mehr leihen. Normalerweise würde man in so einer Situation ein paar Immobilien verschachern und sich nach dem Verlust die Wunden lecken - aber 1992 wollte plötzlich kein Schwein mehr Immobilien kaufen.«

»Ein Cashflow-Problem.«

»Genau. Und mit solchen Problemen stand Wennerström nicht alleine da. Jeder Geschäftsmann …«

»Keine Geschäftsmänner. Nenn sie, wie du willst, aber solche Leute Geschäftsmänner zu nennen, kommt der Verunglimpfung eines seriösen Berufsstandes gleich.«

»… also von mir aus die Börsenhaie, die hatten Cashflow-Probleme. Du musst es mal so betrachten: Wennerström hat sechzig Millionen Kronen bekommen. Sechs Millionen hat er zurückgezahlt, aber erst nach drei Jahren. Die Ausgaben für Minos können eine Million nicht überstiegen haben. Allein die Zinsen für sechzig Millionen über drei Jahre hinweg bedeuten schon einen ordentlichen Gewinn. Je nachdem, wie er das Geld investiert hat, kann er die SIB-Gelder verdoppelt oder verzehnfacht haben. Und dann reden wir nicht mehr von Bagatellbeträgen. Prost übrigens.«

Kapitel 2

Freitag, 20. Dezember

Dragan Armanskij war sechsundfünfzig Jahre alt und in Kroatien geboren. Sein Vater war ein armenischer Jude aus Weißrussland, seine Mutter eine bosnische Muslima mit griechischem Blut in den Adern. Sie war für seine Erziehung verantwortlich gewesen, und so war er als Erwachsener Teil der großen, vielschichtigen Gruppe, die von den Massenmedien als »Muslime« bezeichnet wird. Die Einwanderungsbehörde führte ihn in ihren Listen seltsamerweise als Serben. Sein Pass bewies, dass er schwedischer Staatsbürger war, und das Passfoto zeigte ein viereckiges Gesicht mit einer ausgeprägten Kieferpartie, dunklem Bart und grauen Schläfen. Er wurde oft »Araber« genannt, obwohl es nicht den geringsten arabischen Einschlag in seiner Familie gab. Hingegen war er eine genetische Mischung, die Dummköpfe mit einem Faible für Rassenbiologie mit großer Wahrscheinlichkeit als minderwertiges Menschenmaterial bezeichnen würden.

Sein Aussehen erinnerte entfernt an das Stereotyp eines kleinen Bandenführers in einem amerikanischen Gangsterfilm. In Wirklichkeit war er weder Rauschgiftschmuggler noch Schutzgeldeintreiber für die Mafia. Er war ein scharfsinniger Betriebswirtschaftler, der Anfang der siebziger Jahre als kaufmännischer Assistent bei der Sicherheitsfirma Milton Security angefangen hatte und drei Jahrzehnte später zum Geschäftsführer dieses Unternehmens aufgestiegen war.

Sein Interesse an Sicherheitsfragen war im Nachhinein gewachsen und hatte sich mit der Zeit in Faszination verwandelt. Es war wie ein Strategiespiel - Gefahren erkennen, Verteidigungsstrategien entwickeln und Industriespionen, Erpressern und Dieben das Handwerk legen. Es begann damit, dass er entdeckte, wie ein Kunde durch kreative Buchführung sehr geschickt betrogen worden war. Er konnte nachweisen, wer aus einer Gruppe von zwölf Leuten dahintersteckte, und noch dreißig Jahre später erinnerte er sich, wie überrascht er gewesen war, als ihm aufging, dass diese Unterschlagung nur deswegen möglich gewesen war, weil es das betreffende Unternehmen versäumt hatte, ein paar einfache Lücken in seinem Sicherheitssystem zu schließen. Er selbst wurde vom kleinen Buchhalter zu einem der Verantwortlichen für die Weiterentwicklung der Firma und zum Experten für Wirtschaftsbetrug. Nach fünf Jahren stieg er in den Führungskreis auf, und nach weiteren zehn Jahren wurde er - nicht ganz ohne Gegenstimmen - Geschäftsführer. Doch die kritischen Stimmen waren seit Langem verstummt. In all den Jahren hatte er Milton Security zu einer der kompetentesten und gefragtesten Beratungsfirmen für Sicherheitsthemen gemacht.

Milton Security hatte dreihundertachtzig Vollzeitangestellte und knapp dreihundert zuverlässige freie Mitarbeiter, die nach ihrem jeweiligen Einsatz bezahlt wurden. Verglichen mit Falck oder dem Schwedischen Überwachungsdienst war es also ein kleines Unternehmen. Als Armanskij in der Firma anfing, hieß sie immer noch Johan Fredrik Miltons Allgemeine Bewachungs-AG, und ihr Kundenkreis bestand aus Einkaufszentren, die Ladendetektive und muskelbepackte Wachmänner brauchten. Unter seiner Führung hatte das Unternehmen seinen Namen gegen das international gangbarere Milton Security ausgetauscht und auf Spitzentechnologien gesetzt. Das Personal, bis dato eher abgehalfterte Nachtwächter, Uniformfetischisten und jobbende Gymnasiasten, war durch wirklich kompetente Mitarbeiter ersetzt worden. Armanskij stellte ein paar ehemalige Polizisten als operative Führungskräfte ein, des Weiteren Staatswissenschaftler, die sich mit internationalem Terrorismus, Personenschutz und Wirtschaftsspionage auskannten, und vor allem Telekommunikationstechniker und EDV-Experten. Das Unternehmen war von Solna in standesgemäßere Räumlichkeiten in der Nähe des Slussen mitten in Stockholm umgezogen.

Mit Beginn der neunziger Jahre war Milton Security in der Lage, eine ganz neue Art von Sicherheitsdienst für eine exklusive Gruppe von Kunden anzubieten - hauptsächlich mittelgroße Unternehmen mit hohem Umsatz oder gut situierte Privatpersonen, neureiche Rockstars, Börsenhaie und Dotcom-Unternehmer. Meistenteils ging es um Bodyguards oder Sicherheitslösungen für schwedische Firmen im Ausland, vor allem in Nahost. Diese Tätigkeiten machten mittlerweile an die 70 Prozent des Firmenumsatzes aus. Unter Armanskijs Ägide war der Umsatz von knapp 40 Millionen jährlich auf nahezu zwei Milliarden gestiegen. Sicherheit zu verkaufen war ein extrem lukratives Geschäft.

Die Firma hatte drei Betätigungsfelder: die Sicherheitsberatung, durch die potenzielle Gefahren identifiziert wurden; die Gegenmaßnahmen, für gewöhnlich die Installation teurer Überwachungskameras, Einbruchs- oder Feueralarmanlagen, elektronischer Schließanlagen und Computerausrüstung, und zu guter Letzt der Personenschutz für Privatpersonen oder Firmen, die einer tatsächlichen oder eingebildeten Bedrohung ausgesetzt waren. Letzterer Markt hatte sich innerhalb von zehn Jahren um das Vierzigfache vergrößert, und im Laufe der letzten Jahre war ein neuer Kundenkreis entstanden, der sich aus wohlhabenden Damen zusammensetzte, die vor ehemaligen Freunden und Ehemännern oder auch vor unbekannten fanatischen Verehrern beschützt werden wollten, die sich im Fernsehen auf die engen Tops oder die Lippenstiftfarbe ihres Stars fixiert hatten. Milton Security arbeitete außerdem mit Partnerunternehmen im europäischen Ausland und in den USA zusammen und war für die Sicherheit internationaler Gäste während ihres Besuchs in Schweden zuständig. So gab es zum Beispiel eine amerikanische Schauspielerin, die zwei Monate in einem Film in Trollhättan mitgespielt hatte und deren Agent der Meinung war, ihr Status erfordere Bodyguards für ihre seltenen Spaziergänge ums Hotel.

Ein viertes, bedeutend kleineres Betätigungsfeld war das sogenannte PU oder P-Unt, im internen Sprachgebrauch Punts genannt, was nichts anderes bedeutete als Personen-Untersuchung, also eine Studie über die persönlichen Verhältnisse eines Objekts.

Armanskij war nicht allzu begeistert von diesem Aufgabenbereich. Er war weniger lukrativ und zudem ein beschwerliches Geschäft, das von den Mitarbeitern eher Urteilsvermögen und Kompetenz verlangte als Kenntnisse in der Telekommunikationstechnik oder der Installation diskreter Überwachungsanlagen. Nachforschungen zu den persönlichen Verhältnissen eines Menschen waren akzeptabel, wenn es um einfache Kreditauskünfte ging, um Hintergrundinformationen vor der Einstellung eines neuen Mitarbeiters oder wenn ein Angestellter verdächtigt wurde, vertrauliche Informationen weiterzugeben oder anderweitig kriminelle Handlungen gegen seinen Arbeitgeber begangen zu haben. In solchen Fällen gehörten die Punts zu den operativen Tätigkeiten.

Aber allzu oft kamen seine Firmenkunden auch mit privaten Problemen, die die ungute Tendenz hatten, Schwierigkeiten nach sich zu ziehen. Ich will wissen, mit was für einem verlotterten Kerl meine Tochter da verkehrt … Ich glaube, meine Frau betrügt mich … Er ist eigentlich ein guter Junge, aber er ist in schlechte Gesellschaft geraten … Ich werde erpresst …

Armanskij lehnte oftmals rundweg ab. Wenn die Tochter erwachsen war, hatte sie das Recht, nach Belieben mit verlotterten Kerlen zu verkehren, und er fand, dass Untreue etwas war, was Eheleute untereinander regeln sollten. Hinter derartigen Anfragen versteckten sich unzählige Fallgruben, die nur zu leicht Skandale auslösen und juristische Konflikte für Milton Security nach sich ziehen konnten. Dragan Armanskij hielt daher ein wachsames Auge auf diese Aufträge, auch wenn sie keinen nennenswerten Gewinn abwarfen.

Leider stand an diesem Morgen ausgerechnet eine solche Nachforschung zu persönlichen Verhältnissen auf der Tagesordnung. Dragan Armanskij zupfte sich die Bügelfalten zurecht, bevor er sich in seinem bequemen Bürosessel zurücklehnte. Argwöhnisch musterte er seine zweiunddreißig Jahre jüngere Mitarbeiterin Lisbeth Salander. Zum tausendsten Mal stellte er fest, dass in einem renommierten Sicherheitsunternehmen wohl kaum ein Mensch so augenfällig fehl am Platze sein konnte wie sie. Doch für Armanskij war Lisbeth Salander die fähigste Ermittlerin, die er in dieser Branche je kennengelernt hatte. Während der vier Jahre ihrer Zusammenarbeit mit ihm hatte sie weder bei einem Auftrag geschludert noch einen einzigen mittelmäßigen Bericht abgegeben - ihre Arbeit war eine Klasse für sich. Armanskij war überzeugt, dass Lisbeth Salander über ein einmaliges Talent verfügte. Jeder konnte Kreditauskünfte einholen oder beim Gerichtsvollzieher nachfragen, aber Salander besaß Phantasie und legte immer völlig unerwartete Ergebnisse vor. Wie sie das anstellte, hatte er nie verstanden, und bisweilen schien ihre Fähigkeit, Informationen ans Licht zu holen, die reine Magie zu sein. Sie war aufs Beste vertraut mit allen möglichen bürokratischen Archiven und konnte die zwielichtigsten Existenzen ausfindig machen. Vor allem besaß sie die Fähigkeit, sich in die Person hineinzuversetzen, die sie gerade untersuchte. Wenn da irgendetwas faul war, das ans Tageslicht geholt werden musste, schoss sie so treffsicher auf ihr Ziel zu wie ein programmiertes Cruisemissile.

Dieses Talent hatte sie wohl schon immer gehabt.

Ihre Berichte konnten für den Menschen, der auf ihren Radarschirm geraten war, allerdings eine Katastrophe auslösen. Armanskij brach immer noch der Schweiß aus, wenn er daran dachte, wie er ihr einmal den Auftrag erteilt hatte, vor einer Firmenübernahme einen Lebensmittelchemiker einer Routinekontrolle zu unterziehen. Für diesen Job war eine Woche angesetzt gewesen, aber er zog sich dann doch in die Länge. Nach vier Wochen Schweigen und mehreren Nachfragen, die sie einfach ignoriert hatte, legte sie einen Bericht vor, in dem sie nachwies, dass das betreffende Objekt pädophil war und in mindestens zwei Fällen Sex mit einer Dreizehnjährigen vom Babystrich in Tallinn gehabt hatte. Außerdem deuteten gewisse Anzeichen darauf hin, dass er obendrein ein unziemliches Interesse für die Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin hegte.

Salander hatte Eigenschaften, die Armanskij manchmal an den Rand der Verzweiflung trieben. Nachdem sie entdeckt hatte, dass der Mann pädophil war, hatte sie nicht zum Hörer gegriffen und Armanskij alarmiert und war auch nicht in sein Büro geplatzt, um ihn um eine Unterredung zu bitten. Im Gegenteil - ohne im Mindesten anzudeuten, dass ihr Bericht Sprengstoff von geradezu nuklearen Ausmaßen enthielt, hatte sie ihn eines Abends stillschweigend auf seinen Schreibtisch gelegt. Er hatte den Bericht mit nach Hause genommen und ihn erst spätabends aufgeschlagen, als er sich vor dem Fernseher im Wohnzimmer seiner Villa in Lidingö gerade ganz entspannt eine Flasche Wein mit seiner Frau teilte.

Der Bericht war wie immer nüchtern geschrieben und mit fast wissenschaftlicher Sorgfalt erstellt, inklusive Fußnoten, Zitaten und exakten Quellenangaben. Die ersten Seiten referierten den Hintergrund des Objekts, seine Ausbildung, Karriere und finanzielle Situation. Erst auf Seite 24, unter einer Zwischenüberschrift, hatte Salander die Bombe mit seinen Ausflügen nach Tallinn platzen lassen, allerdings in demselben sachlichen Ton, mit dem sie auch von seiner Villa in Sollentuna und seinem blauen Volvo berichtet hatte. Um ihre Behauptungen zu belegen, verwies sie auf den umfangreichen Anhang, in dem sich auch Fotos fanden, die das dreizehnjährige Mädchen zusammen mit dem Objekt zeigten. Eines der Bilder war in einem Hotelflur in Tallinn entstanden; er hatte seine Hand unter ihr Oberteil geschoben. Irgendwie hatte Lisbeth Salander auch noch das betreffende Mädchen ausfindig machen können und sie dazu gebracht, einen detaillierten Bericht auf Tonband zu sprechen.

Dieser Bericht löste genau die Art von Chaos aus, die Armanskij gerne vermieden hätte. Zunächst einmal musste er ein paar von den Magentabletten schlucken, die ihm sein Arzt verschrieben hatte. Danach bestellte er die Auftraggeber unverzüglich zu einem unangenehmen Gespräch ein. Schließlich sah er sich - trotz ihres spontanen Protests - gezwungen, das ganze Material der Polizei zu übergeben. Was wiederum bedeutete, dass Milton Security riskierte, in einen einzigen Zirkus von Anklagen und Gegenanklagen verwickelt zu werden. Falls das Beweismaterial des Berichts nicht stichhaltig war oder der Mann freigesprochen wurde, konnte das Unternehmen durchaus wegen übler Nachrede belangt werden. Es war wirklich ein Elend.

Dabei war es nicht einmal Lisbeth Salanders bemerkenswerter Mangel an Emotionen, der ihn am meisten störte. Es ging ums Image. Miltons Image war konservative Stabilität. Salander passte in dieses Bild ungefähr so gut wie ein Schaufelbagger in eine Bootsausstellung.

Armanskij konnte sich nur schwer mit dem Gedanken versöhnen, dass seine Star-Ermittlerin ein bleiches, anorektisch mageres Mädchen war, das stoppelkurzes Haar und Piercings in Nase und Augenbrauen hatte. Auf ihren Hals war eine zwei Zentimeter große Wespe tätowiert, und um den Bizeps des linken Armes sowie um einen Knöchel wand sich je ein weiteres Tattoo. Als sie einmal ein Top trug, hatte Armanskij außerdem feststellen können, dass ihr Schulterblatt noch ein größeres Tattoo in Gestalt eines Drachen zierte. Sie war eigentlich rothaarig, hatte ihr Haar jedoch pechschwarz gefärbt. Sie sah aus, als wäre sie gerade nach einer einwöchigen Orgie mit einer Hardrockgang aufgewacht.

Sie hatte - da war sich Armanskij ganz sicher - keine richtigen Essstörungen, vielmehr schien sie ein Fall von Junkfood zu sein. Sie war ganz einfach dünn geboren und hatte diesen leichten Knochenbau, der sie mädchenhaft und feingliedrig aussehen ließ, mit kleinen Händen, schmalen Handgelenken und Brüsten, die man unter ihrer Kleidung kaum ausmachen konnte. Sie war vierundzwanzig, sah aber aus wie vierzehn.

Sie hatte einen breiten Mund, eine kleine Nase und hohe Wangenknochen, die ihrem Aussehen einen leicht orientalischen Touch verliehen. Ihre Bewegungen waren rasch und spinnenartig, und wenn sie am Computer arbeitete, flogen ihre Finger geradezu manisch über die Tastatur. Ihr Körper war völlig ungeeignet für eine Karriere als Model, doch mit dem richtigen Make-up hätte eine Nahaufnahme ihres ungleichmäßigen Gesichts jedes Werbeplakat zieren können. Unter ihrer Schminke - manchmal trug sie dazu noch einen abstoßenden schwarzen Lippenstift -, ihren Tattoos und den Piercings in Nase und Augenbrauen war sie durchaus anziehend. Auf eine ganz unbegreifliche Art und Weise.

Dass Lisbeth Salander überhaupt für Dragan Armanskij arbeitete, war an und für sich schon verblüffend. Sie war nicht die Art Frau, mit der Armanskij für gewöhnlich in Kontakt kam, von einem Jobangebot ganz zu schweigen.

Sie hatte eine Bürostelle als Mädchen für alles gehabt, als Holger Palmgren, ein kurz vor der Pensionierung stehender Rechtsanwalt, der sich um die persönlichen Angelegenheiten des alten J. F. Milton kümmerte, Armanskij plötzlich darauf hinwies, dass Lisbeth Salander ein ziemlich cleveres Mädchen wäre, das nur ein bisschen schwierig im Auftreten sei. Palmgren bat Armanskij, ihr eine Chance zu geben, was dieser ihm widerwillig versprochen hatte. Palmgren gehörte zu der Sorte Mann, die ein Nein als Ansporn betrachten würden, ihre Anstrengungen zu verdoppeln; da war es einfacher, gleich Ja zu sagen. Armanskij wusste, dass Palmgren eine Schwäche für schwierige Jugendliche und ähnlichen Sozialquatsch hatte, aber trotz allem ein gutes Urteilsvermögen besaß.

Er bereute seinen Entschluss sofort, als er Lisbeth Salander zum ersten Mal begegnete. Sie wirkte nicht nur schwierig - in seinen Augen war sie die Verkörperung dieses Wortes. Sie hatte schulisch auf der ganzen Linie versagt, niemals einen Fuß ins Gymnasium gesetzt und keine Art höherer Bildung genossen.

Während der ersten Monate hatte sie Vollzeit gearbeitet, na ja, beinahe Vollzeit, jedenfalls war sie hie und da an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht. Sie hatte Kaffee gekocht, die Post geholt und sich um den Kopierer gekümmert. Das Problem war, dass sie sich keinen Deut um normale Bürozeiten oder Arbeitsabläufe scherte.

Hingegen hatte sie ein großes Talent, die anderen Mitarbeiter vor den Kopf zu stoßen. Sie wurde »das neue Mädchen mit den zwei Gehirnzellen« genannt, »eine fürs Atmen und eine für den aufrechten Gang«. Sie sprach nie über sich selbst. Kollegen, die mit ihr ins Gespräch zu kommen versuchten, stießen kaum auf Resonanz und gaben schnell auf.

Außerdem sagte man ihr nach, ihre Stimmung könne abrupt umschlagen, wenn sie merkte, dass jemand sie aufzog, obwohl das durchaus zum allgemeinen Umgangston am Arbeitsplatz gehörte. Ihr Auftreten weckte weder Vertrauen, noch lud es zu Freundschaften ein, und bald wurde sie zu einer seltsamen Erscheinung, die wie eine herrenlose Katze durch die Korridore von Miltons strich. Sie galt als hoffnungsloser Fall.

Schon nach einem Monat unausgesetzter Scherereien hatte Armanskij sie zu sich ins Büro rufen lassen, in der Absicht, sie zu entlassen. Sie hatte seinen Ausführungen über ihre Vergehen reglos zugehört, ohne etwas einzuwenden oder auch nur eine Augenbraue zu heben. Erst als er ihre »allgemeine Einstellung« bemängelte und ihr gerade empfehlen wollte, sich eine andere Firma zu suchen, die »Ihre Kompetenzen besser zu nutzen« wüsste, hatte sie ihn mitten im Satz unterbrochen. Zum ersten Mal äußerte sie sich mit mehr als nur ein paar einzelnen Wörtern.

»Hören Sie mal, wenn Sie einen für die Poststelle wollen, dann holen Sie sich doch einfach jemand vom Arbeitsamt. Ich kann Ihnen jede Information über jede x-beliebige Person verschaffen, und wenn Sie keine andere Verwendung für mich finden, als mich die Post sortieren zu lassen, dann sind Sie echt ein Idiot.«

Armanskij erinnerte sich noch heute, wie er sprachlos vor Wut dasaß, während sie unbekümmert fortfuhr: »Sie beschäftigen einen Typen, der drei Wochen braucht, um einen völlig nutzlosen Bericht über diesen Yuppie zu schreiben, den sie in dieser Dotcom-Firma zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates machen wollen. Ich hab den Scheißbericht gestern Abend für ihn kopiert und sehe gerade, dass das Ding vor Ihnen auf dem Schreibtisch liegt.«

Armanskijs wütender Blick irrte über den Tisch, bis er den Bericht fand. Ausnahmsweise hob er die Stimme.

»Sie dürfen keine vertraulichen Berichte lesen.«

»Wahrscheinlich nicht, aber die Sicherheitsvorkehrungen in Ihrem Unternehmen sind stellenweise ein wenig lückenhaft. Nach Ihren Vorgaben muss er so etwas selbst kopieren, aber er hat mir den Bericht gestern reingeschmissen, bevor er in die Kneipe ging. Außerdem hab ich seinen vorherigen Bericht vor ein paar Wochen in der Kantine gefunden.«

»Sie haben was?«, entfuhr es Armanskij schockiert.

»Beruhigen Sie sich. Ich hab ihn in seinen Safe gelegt.«

»Hat er Ihnen etwa die Kombination für seinen persönlichen Safe gegeben?«, keuchte Armanskij.

»Nein, nicht direkt. Aber er hat sie auf einem Zettel notiert, der unter seiner Schreibtischunterlage liegt, zusammen mit dem Passwort für seinen Computer. Der eigentliche Skandal ist jedoch, dass Ihr Stümper von Privatdetektiv einen völlig wertlosen Untersuchungsbericht erstellt hat. Es ist ihm leider entgangen, dass der Typ wahnsinnige Spielschulden hat und Kokain schnupft wie ein Staubsauger und zudem seine Freundin im Frauenhaus Zuflucht gesucht hat, nachdem er sie grün und blau geprügelt hat.«

Sie verstummte. Armanskij saß ein paar Minuten ganz still und blätterte den neuesten Bericht durch. Er war kompetent ausgearbeitet, in verständlicher Sprache abgefasst und voller Quellenangaben und Urteile von Freunden und Bekannten des Zielobjekts. Schließlich hatte er den Blick gehoben und drei Worte gesagt: »Beweisen Sie das!«

»Wie viel Zeit bekomme ich?«

»Drei Tage. Wenn Sie Ihre Behauptungen nicht bis Freitag Nachmittag beweisen können, sind Sie gefeuert.«

Drei Tage später hatte sie wortlos einen Bericht eingereicht, der mit ebenso ausführlichen Quellenangaben den scheinbar so angenehmen Yuppie in einen unzuverlässigen Scheißkerl verwandelte. Armanskij hatte ihren Bericht übers Wochenende mehrmals durchgelesen und am Montag halbherzig einige ihrer Behauptungen überprüft. Doch schon bevor er damit anfing, wusste er, dass sich ihre Informationen als korrekt herausstellen würden.

Armanskij war verblüfft und wütend auf sich selbst, weil er sie offenkundig so falsch eingeschätzt hatte. Er hatte sie als dumm, wenn nicht sogar zurückgeblieben eingestuft. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Mädchen ohne richtigen Schulabschluss einen Bericht schreiben könnte, der nicht nur sprachlich korrekt war, sondern auch noch Beobachtungen und Informationen enthielt, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte.

Er war überzeugt, dass kein anderer Mitarbeiter von Milton Security in der Lage gewesen wäre, sich von einem Frauenhaus einen Auszug aus einem vertraulichen Arztbericht zu beschaffen. Als er sie fragte, wie sie das fertiggebracht hatte, bekam er nur ausweichende Antworten. Sie wollte es sich nicht mit ihren Quellen verderben, behauptete sie. Allmählich dämmerte es Armanskij, dass Lisbeth Salander ihre Arbeitsmethoden weder mit ihm noch mit irgendjemand sonst zu diskutieren gedachte. Das beunruhigte ihn - doch nicht genug, um der Versuchung zu widerstehen, es mit ihr zu probieren.

Er überlegte sich das Ganze ein paar Tage und rief sich die Worte Holger Palmgrens ins Gedächtnis: »Alle Menschen verdienen eine Chance.« Er dachte an seine muslimische Erziehung, die ihn gelehrt hatte, dass es seine Pflicht vor Gott sei, den Ausgestoßenen zu helfen. Er glaubte zwar nicht an Gott und hatte keine Moschee mehr besucht, seit er ein Teenager war, aber Lisbeth Salander wirkte auf ihn wie ein Mensch, der handfeste Hilfe nötig hatte. Und in den vergangenen Jahrzehnten hatte er sich weiß Gott nicht viele derartige Verdienste erworben.

Anstatt sie zu feuern, hatte er Lisbeth Salander zu einer privaten Unterredung bestellt, in der er herauszufinden versuchte, wie dieses anstrengende Mädchen eigentlich tickte. Er wurde in seiner Überzeugung bestärkt, dass Lisbeth Salander unter einer ernsten Störung litt, aber er begann auch zu entdecken, dass sich hinter ihrem komplizierten Wesen ein intelligenter Mensch verbarg. Er fand sie labil und irritierend, stellte jedoch zu seiner großen Verwunderung fest, dass er eine gewisse Sympathie für sie empfand.

Während der folgenden Monate nahm Armanskij sie unter seine Fittiche. Wenn er ganz ehrlich mit sich war, betrachtete er sie als sein kleines soziales Hobbyprojekt. Er stellte ihr einfache Rechercheaufgaben und versuchte ihr Tipps zu geben, wie sie vorgehen sollte. Sie hörte ihm geduldig zu und zog dann los, um seine Aufträge ganz nach ihren eigenen Vorstellungen auszuführen. Er bat den Chef der technischen Abteilung, ihr einen Computer-Grundkurs zu geben. Salander drückte also einen ganzen Nachmittag lang folgsam die Schulbank, bevor der Informatikexperte erstaunt vermeldete, dass sie bereits bessere Grundkenntnisse zu haben schien als die meisten ihrer Kollegen.

Doch Armanskij wurde bald klar, dass Lisbeth Salander trotz vertraulicher Mitarbeitergespräche, Fortbildungsangebote und gewisser Privilegien nicht vorhatte, sich den normalen Bürogepflogenheiten bei Miltons anzupassen. Das stellte ihn vor ein echtes Dilemma.

Einerseits war sie ein ständiger Stein des Anstoßes für ihre Kollegen. Armanskij war sich bewusst, dass er keinem anderen Mitarbeiter erlaubt hätte, zu kommen und zu gehen, wie es ihm passte, sondern ihm in jedem anderen Fall ein Ultimatum gestellt hätte, sein Verhalten zu ändern. Er ahnte auch, dass Lisbeth Salander auf ein Ultimatum oder Kündigungsdrohungen nur mit einem Achselzucken reagieren würde. Er war also gezwungen, sie entweder loszuwerden oder zu akzeptieren, dass sie eben nicht so funktionierte wie andere Menschen.

Ein noch größeres Problem für Armanskij bestand darin, dass er aus seinen eigenen Gefühlen für die junge Frau nicht schlau wurde. Sie war wie ein unangenehmer Juckreiz, störend, aber auch verlockend. Es war keine sexuelle Anziehung, zumindest sah Armanskij das so. Die Frauen, denen er nachlief, waren blond und kurvig und hatten volle Lippen, die seine Fantasie beflügelten. Außerdem war er seit zwanzig Jahren mit einer Finnin verheiratet, die auch noch in ihren mittleren Jahren all diese Bedürfnisse mehr als erfüllte. Er war niemals untreu gewesen, na ja, vielleicht hatte es da mal ein, zwei Situationen gegeben, die seine Frau hätte missverstehen können, aber ihre Ehe war glücklich, und er hatte zwei Töchter in Salanders Alter. Jedenfalls war er nicht interessiert an flachbrüstigen Mädchen, die man von Weitem mit schmächtigen Jungs verwechseln konnte. Das entsprach nicht seinem Stil.

Trotzdem hatte er angefangen, sich bei ungehörigen Tagträumen zu ertappen, und er musste sich eingestehen, dass ihn ihre Gegenwart nicht ganz kaltließ. Aber die eigentliche Anziehungskraft lag Armanskijs Meinung nach darin, dass Salander wie ein fremdes Wesen für ihn war. Er hätte sich genauso gut in ein Gemälde oder in eine Nymphe aus einer griechischen Sage verlieben können. Salander stand für ein unwirkliches Leben, das ihn faszinierte, aber das er nicht teilen konnte - und das mit ihr zu teilen sie ihm verbot.

Einmal saß Armanskij in einem Straßencafé auf dem Stortorget in Gamla Stan, als Lisbeth Salander heranschlenderte und sich an einen Tisch am entgegengesetzten Ende der Terrasse setzte. Sie war in Begleitung dreier Mädchen und eines Jungen, die alle ähnlich gekleidet waren. Armanskij hatte sie neugierig betrachtet. Sie schien genauso reserviert wie im Büro, lachte jedoch tatsächlich über eine Bemerkung, die ein Mädchen mit purpurfarbenen Haaren gemacht hatte.

Armanskij fragte sich, wie Salander reagieren würde, wenn er eines Tages mit grünen Haaren zur Arbeit erschien, in Baggie-Pants und einer beschmierten nietenbesetzten Lederjacke. Würde sie ihn als ihresgleichen betrachten? Vielleicht - sie schien ihre ganze Umgebung mit der Einstellung »not my business« zu akzeptieren. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie ihn einfach auslachen würde.

Sie hatte mit dem Rücken zu ihm gesessen, hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht und war sich seiner Anwesenheit anscheinend gar nicht bewusst gewesen. Er fühlte sich von ihrer Gegenwart außerordentlich irritiert, und als er nach einer Weile aufgestanden war, um sich unbemerkt fortzuschleichen, hatte sie sich plötzlich umgedreht und ihn angesehen, als hätte sie ihn schon die ganze Zeit auf ihrem Radarschirm gehabt. Ihr Blick traf ihn so unvermutet, dass er sich fast wie ein Angriff anfühlte. Armanskij hatte so getan, als hätte er sie nicht gesehen, und raschen Schrittes das Lokal verlassen. Sie folgte ihm mit den Augen, und erst als er um die nächste Ecke gebogen war, brannte ihm ihr Blick nicht mehr auf dem Rücken.

Sie lachte so gut wie nie. Dennoch glaubte Armanskij eine wachsende Ungezwungenheit in ihrem Verhalten zu bemerken. Sie hatte, gelinde gesagt, einen trockenen Humor, der manchmal in ein schiefes ironisches Lächeln mündete.

Zuweilen fühlte Armanskij sich von ihrem Mangel an emotionalem Feedback so provoziert, dass er sie packen und schütteln wollte, mit Gewalt unter ihre Schale dringen und sich ihre Freundschaft oder zumindest ihren Respekt erwerben wollte.

Einmal - sie arbeitete seit neun Monaten für ihn - hatte er versucht, mit ihr über diese Gefühle zu sprechen. Das war auf der Weihnachtsfeier an einem Dezemberabend, und ausnahmsweise war er nicht mehr ganz nüchtern gewesen. Es war nichts Ungehöriges vorgefallen, er hatte ihr nur zu sagen versucht, dass er sie wirklich mochte. Vor allem hatte er ihr erklären wollen, dass sie den Beschützerinstinkt in ihm weckte und sich, sollte sie einmal Hilfe brauchen, stets vertrauensvoll an ihn wenden konnte. Er hatte sogar Anstalten gemacht, sie zu umarmen. In aller Freundschaft, versteht sich.

Sie hatte sich aus seiner unbeholfenen Umarmung befreit und das Fest verlassen. Danach war sie nicht mehr zur Arbeit erschienen und hatte auch nicht auf Anrufe reagiert. Armanskij empfand ihre Abwesenheit als Qual, fast wie eine persönliche Bestrafung. Er konnte mit niemandem über seine Gefühle sprechen, mit seiner Frau am allerwenigsten, und zum ersten Mal war ihm mit erschreckender Klarheit aufgegangen, was für eine verstörende Macht Lisbeth Salander über ihn gewonnen hatte.

Drei Wochen später, als Armanskij an einem Januarabend zu fortgeschrittener Stunde Überstunden schob, um den Jahresabschlussbericht durchzusehen, war Salander zurückgekehrt. Leise wie ein Gespenst kam sie in sein Büro, und plötzlich wurde er gewahr, dass sie im Dunkeln bei der Tür stand und ihn musterte. Er hatte keinen Schimmer, wie lange sie schon dort gestanden hatte.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie. Sie zog die Tür hinter sich zu und hielt ihm eine Tasse Kaffee von der Espressomaschine in der Kantine entgegen. Stumm nahm er die Tasse entgegen und verspürte sowohl Erleichterung als auch Angst, als sie sich in den Besuchersessel setzte und ihm in die Augen sah. Dann stellte sie die verbotene Frage, und zwar so, dass er sie weder spaßhaft abtun noch ausweichen konnte.

»Dragan, sind Sie scharf auf mich?«

Armanskij saß wie gelähmt da, während er verzweifelt nach einer Antwort suchte. Zunächst hatte er alles abstreiten wollen. Aber dann hatte er ihren Blick gesehen und begriffen, dass sie zum allerersten Mal eine persönliche Frage stellte. Eine ernst gemeinte, und wenn er sie abtat, käme das für Salander einer persönlichen Beleidigung gleich. Sie wollte mit ihm sprechen, und er fragte sich, wie lange sie gebraucht hatte, um den Mut dafür aufzubringen. Er legte seinen Füller langsam aus der Hand und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Schließlich entspannte er sich.

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte er.

»Ihre Art, mich anzuschauen, und Ihre Art, mich nicht anzuschauen. Und die Gelegenheiten, wenn Sie fast schon die Hand ausstrecken und mich anfassen wollten, sich dann aber doch zurückhielten.«

Er lächelte sie plötzlich an.

»Ich hatte immer den Eindruck, Sie würden mir die Hand abbeißen, wenn ich Sie auch nur leicht berühren würde.«

Sie lächelte nicht. Sie wartete.

»Lisbeth, ich bin Ihr Chef, und selbst wenn ich Sie attraktiv fände, würde ich niemals weiter gehen.«

Sie wartete immer noch.

»Unter uns … ja, es gab Momente, da fühlte ich mich zu Ihnen hingezogen. Ich kann es nicht erklären, aber es ist so. Aus irgendeinem Grund, den ich selber nicht verstehe, mag ich Sie sehr gerne. Aber ich bin nicht scharf auf Sie.«

»Gut. Denn da wird im Leben nichts laufen.«

Armanskij lachte auf. Salander hatte zum ersten Mal etwas Persönliches zu ihm gesagt, wenn es auch eine definitive Abfuhr war. Er versuchte, die passenden Worte zu finden.

»Lisbeth, mir ist schon klar, dass Sie sich nicht für einen Mann über fünfzig interessieren.«

»Ich interessiere mich nicht für einen Mann über fünfzig, der mein Chef ist.« Sie hob eine Hand. »Moment, lassen Sie mich ausreden. Sie sind manchmal dämlich und aufreizend bürokratisch, aber Sie sind wirklich ein attraktiver Mann, und … meine Gefühle könnten auch … Aber Sie sind mein Chef, und ich habe Ihre Frau kennengelernt, und ich will meinen Job bei Ihnen behalten, und das Blödeste, was ich tun könnte, wäre, mich mit Ihnen einzulassen.«

Armanskij saß ganz still da und wagte kaum zu atmen.

»Es ist mir nicht entgangen, was Sie für mich getan haben«, sagte sie, »und ich bin nicht undankbar. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich über Ihre Vorurteile hinweggesetzt haben und mir hier eine Chance gegeben haben. Aber ich will Sie nicht als Liebhaber, und Sie sind auch nicht mein Vater.«

Sie verstummte. Nach einer Weile stieß Armanskij einen hilflosen Seufzer aus. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ich will weiter für Sie arbeiten. Wenn das für Sie okay ist.«

Er nickte und antwortete ihr dann so ehrlich, wie er konnte: »Ich möchte furchtbar gerne, dass Sie für mich arbeiten. Aber ich möchte auch, dass Sie mir irgendwie Freundschaft und Vertrauen entgegenbringen.«

Sie nickte.

»Sie sind nicht gerade der Typ Mensch für freundschaftliche Annäherungen«, stieß er plötzlich hervor. Ihr Gesicht verfinsterte sich ein wenig, aber er fuhr unbeirrt fort: »Ich hab schon verstanden, Sie wollen nicht, dass sich jemand in Ihr Leben einmischt, und ich werde mir Mühe geben, das auch nicht zu tun. Aber ist es in Ordnung, wenn ich Sie trotzdem weiterhin gern habe?«

Salander hatte lange überlegt. Dann antwortete sie, indem sie aufstand, um den Tisch herumging und ihn umarmte. Er saß da wie gelähmt. Erst, als sie ihn wieder losließ, konnte er nach ihrer Hand greifen.

»Können wir Freunde sein?«, fragte er.

Sie nickte erneut.

Das war das einzige Mal gewesen, dass sie ein gewisses Maß an Gefühl gezeigt hatte. Ein Augenblick, an den sich Armanskij heute noch mit Wärme erinnerte.

Noch nach vier Jahren hatte sie Armanskij kaum etwas über ihr Privatleben oder ihren persönlichen Hintergrund verraten. Er hatte einmal seine eigenen P-Unt-Fähigkeiten bei ihr angewandt und ein langes Gespräch mit Holger Palmgren geführt, der gar nicht verwundert schien, ihn zu sehen. Was er schließlich in Erfahrung brachte, trug nicht dazu bei, sein Vertrauen in sie zu stärken. Er hatte ihr gegenüber natürlich nicht erwähnt, dass er in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt hatte. Stattdessen versteckte er seine Besorgnis und erhöhte seine Wachsamkeit.

Noch bevor der denkwürdige Abend vorüber war, hatten Salander und Armanskij eine Übereinkunft getroffen. In Zukunft sollte sie als freie Mitarbeiterin Rechercheaufträge für ihn durchführen. Sie bekam ein bescheidenes Festgehalt, doch den wesentlichen Teil ihres Einkommens machte das aus, was sie Armanskij für seine Aufträge in Rechnung stellte. Sie konnte arbeiten, wie es ihr passte, und verpflichtete sich im Gegenzug, nichts zu tun, was ihn oder Milton Security jemals in Verlegenheit bringen könnte.

Für Armanskij war das eine praktische Lösung, die ihm, dem Unternehmen und Salander selbst gleichermaßen zugute kam. Er reduzierte die lästige PU-Abteilung auf einen einzigen fest angestellten Mitarbeiter, einen älteren Mann, der Routinearbeiten verrichtete und Kreditauskünfte einholte.

Alle heiklen Aufträge überließ er Salander und ein paar anderen freien Mitarbeitern, die - sollte es wirklich einmal Schwierigkeiten geben - praktisch selbstständige Unternehmer waren, für die Milton Security keine Verantwortung übernahm. Da er sie oft konsultierte, kam sie auf ein sehr anständiges Gehalt. Es hätte noch wesentlich höher ausfallen können, aber sie arbeitete nur, wenn sie Lust dazu hatte, und vertrat den Standpunkt, dass Armanskij sie ja jederzeit rauswerfen konnte, wenn ihm das nicht passte.

Armanskij akzeptierte sie, wie sie war, hielt sie aber von den Kunden fern.

Ausnahmen waren selten. Leider war das heutige Thema so eine Ausnahme.

Lisbeth Salander trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein Bild von E. T. mit Fangzähnen und der Schriftzug I am also an alien zu sehen waren. Außerdem trug sie einen schwarzen Rock mit ausgefranstem Saum, eine kurze, schwarze, abgewetzte Lederjacke, einen Nietengürtel, klobige Doc-Marten’s-Stiefel und Kniestrümpfe mit rot-grünen Querstreifen. Sie hatte Make-up aufgelegt, dessen Farbskala die Vermutung nahelegte, sie sei farbenblind. Mit anderen Worten, sie hatte sich ungewöhnlich hübsch zurechtgemacht.

Armanskij ließ den Blick seufzend zu der dritten Person im Raum schweifen, dem konservativ gekleideten Besucher mit der dicken Brille. Der Rechtsanwalt Dirch Frode war achtundsechzig Jahre alt und hatte darauf bestanden, die Mitarbeiterin, die den Bericht erstellt hatte, persönlich zu treffen, um ihr Fragen stellen zu können. Armanskij hatte versucht, dieses Treffen mit allen möglichen Ausflüchten abzuwenden: Sie sei erkältet, auf Reisen oder bis über beide Ohren mit anderer Arbeit eingedeckt. Frode hatte leichthin geantwortet, das mache ihm nichts aus; die Angelegenheit sei ja nicht dringend, und er könne gut und gerne ein paar Tage warten. Armanskij hatte innerlich geflucht, aber zu guter Letzt keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als das Gespräch zu arrangieren. Somit saß Rechtsanwalt Frode nun hier und betrachtete Lisbeth Salander mit halb geschlossenen Augen und offensichtlicher Faszination. Salander hingegen schoss Blicke auf ihn ab, die verrieten, dass sie keine allzu warmen Gefühle hegte.

Armanskij seufzte nochmals und betrachtete die Mappe auf seinem Schreibtisch, die mit CARL MIKAEL BLOMKVIST und einem fein säuberlich notierten Personenkennzeichen beschriftet war. Er sprach den Namen laut aus. Rechtsanwalt Frode erwachte aus seiner Verzauberung und wandte seinen Blick Armanskij zu. »Also, das ist Fräulein Salander, die den Bericht verfasst hat.« Armanskij zögerte eine Sekunde und fuhr mit einem Lächeln, das vertraulich aussehen sollte, aber hilflos entschuldigend wirkte, fort: »Lassen Sie sich von ihrer Jugend nicht täuschen. Sie ist unbestritten unsere beste Ermittlerin.«

»Davon bin ich überzeugt«, entgegnete Frode mit dürrer Stimme, die seine Aussage Lügen strafte. »Erzählen Sie mir, was sie herausgefunden hat.«

Offensichtlich wusste Rechtsanwalt Frode nicht, wie er sich Lisbeth Salander gegenüber verhalten sollte, und blieb auf sicherem Terrain, indem er seine Frage an Armanskij richtete. Salander ergriff die Gelegenheit und machte eine große Blase mit ihrem Kaugummi. Bevor Armanskij etwas sagen konnte, wandte sie sich an ihren Chef, als wäre Frode gar nicht anwesend.

»Können Sie den Kunden fragen, ob er eine lange oder eine kurze Version hören möchte?«

Rechtsanwalt Frode begriff augenblicklich, dass er einen Fauxpas begangen hatte. Es folgte ein peinliches Schweigen, worauf er sich an Lisbeth Salander wandte und den Schaden wiedergutzumachen versuchte, indem er einen freundlich jovialen Ton anschlug.

»Ich würde mich freuen, wenn das Fräulein mir eine mündliche Zusammenfassung dessen geben könnte, was Sie herausgefunden haben.«

Salander sah aus wie ein tückisches nubisches Raubtier, das überlegte, ob es Dirch Frode zum Mittagessen verzehren sollte. Ihr Blick war so hasserfüllt, dass es Frode kalt den Rücken hinunterlief. Doch im nächsten Moment hatten sich ihre Gesichtszüge wieder entspannt. Frode fragte sich, ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte. Als sie anfing zu sprechen, klang sie wie ein Staatsbediensteter.

»Lassen Sie mich vorausschicken, dass dieser Auftrag nicht sonderlich kompliziert war, wenn man von der vagen Auftragsbeschreibung absieht. Sie wollten ›alles wissen, was man über ihn in Erfahrung bringen kann‹, haben jedoch nicht angedeutet, ob Sie dabei etwas Bestimmtes im Sinn hatten. Deshalb ist quasi eine Unmenge von Fakten aus seinem gesamten Leben zusammengetragen worden. Der Bericht ist 193 Seiten lang, aber knapp 120 davon bestehen nur aus Kopien von Artikeln, die er verfasst hat, oder aus Presseausschnitten von Artikeln, in denen er selbst vorkam. Blomkvist ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens mit wenigen Geheimnissen, der nicht viel zu verbergen hat.«

»Demnach hat er aber doch das eine oder andere zu verbergen?«, erkundigte sich Frode.

»Jeder Mensch hat Geheimnisse«, antwortete sie neutral. »Man muss nur herausfinden, was für welche.«

»Lassen Sie hören.«

»Mikael Blomkvist wurde am 18. Januar 1960 geboren, ist jetzt also dreiundvierzig Jahre alt. Er wurde in Borlänge geboren, wo er aber nie gewohnt hat. Seine Eltern, Kurt und Anita Blomkvist, waren Mitte dreißig, als sie Kinder bekamen. Mittlerweile sind sie beide verstorben. Sein Vater war Maschineninstallateur und viel unterwegs. Seine Mutter war, soviel ich in Erfahrung bringen konnte, immer nur Hausfrau. Die Familie zog nach Stockholm, als Mikael in die Schule kam. Er hat eine drei Jahre jüngere Schwester namens Annika, eine Rechtsanwältin. Außerdem hat er auch noch ein paar Onkel und Kusinen. Wollen Sie uns einen Kaffee einschenken?«

Der letzte Satz galt Armanskij, der hastig die Thermoskanne aufschraubte, die er für das Meeting bestellt hatte. Mit einer Geste bat er sie fortzufahren.

»1966 zog die Familie also nach Stockholm. Sie wohnten in Lilla Essingen. Blomkvist ging zuerst in Bromma zur Schule und dann aufs Gymnasium von Kungsholm. Er hatte ein ausgesprochen gutes Abschlusszeugnis; die Kopien liegen in der Mappe. Während seiner Gymnasialzeit hat er sich viel mit Musik beschäftigt und spielte Bass in einer Rockband namens Bootstrap. Sie haben sogar eine Single rausgebracht, die im Sommer 1979 im Radio lief. Nach dem Gymnasium jobbte er als Fahrkartenkontrolleur in der U-Bahn, sparte sich Geld zusammen und reiste ins Ausland. Er war ein Jahr unterwegs und hat sich anscheinend die meiste Zeit in Asien rumgetrieben - Indien, Thailand und ein Abstecher nach Australien. Mit einundzwanzig begann er, in Stockholm Journalistik zu studieren, brach sein Studium aber nach dem ersten Jahr ab, um in Kiruna seinen Wehrdienst als Feldjäger abzuleisten. Ein ziemlicher Machoverein, den er mit 10-9-9 verließ - eine sehr gute Note. Nach dem Militär schloss er seine Ausbildung zum Journalisten ab und hat seitdem gearbeitet. Wie detailliert soll ich werden?«

»Erzählen Sie einfach das, was Sie für wesentlich halten.«

»Okay. Er sieht mir aus wie ein rechter Streber. Bis heute war er ein erfolgreicher Journalist. In den achtziger Jahren hatte er viele Vertretungsjobs, erst in der Lokalpresse und danach in Stockholm. Eine Liste liegt bei. Den Durchbruch schaffte er mit der Story von der sogenannten Panzerknackerbande - diese Bankräubergang, die er überführte.«

»Kalle Blomkvist.«

»Er hasst diesen Spitznamen, was auch verständlich ist. Wenn mich jemand in seiner Schlagzeile Pippi Langstrumpf nennen würde, könnte er sich auf was gefasst machen.«

Sie warf Armanskij einen finsteren Blick zu. Er schluckte, denn mehr als einmal hatte er Lisbeth Salander im Stillen Pippi Langstrumpf genannt, und jetzt war er froh, dass er klug genug gewesen war, nie einen Witz in dieser Richtung gemacht zu haben. Er wedelte mit dem Zeigefinger, zum Zeichen, dass sie fortfahren sollte.

»Eine meiner Quellen gibt an, dass er bis dahin Kriminalreporter hatte werden wollen - als solcher hatte er auch eine Vertretung bei einer Abendzeitung -, aber was ihn eigentlich bekannt gemacht hat, ist seine Arbeit als politischer Berichterstatter und Wirtschaftsjournalist. Er hat hauptsächlich als Freelancer gearbeitet und hatte nur eine einzige Festanstellung bei einer Abendzeitung, das war Ende der achtziger Jahre. Dort kündigte er 1990 und wurde dann eines der Gründungsmitglieder des monatlich erscheinenden Magazins Millennium. Die Zeitschrift ging als totaler Außenseiter ins Rennen und hatte keinen starken Verlag im Rücken, der ihr unter die Arme greifen konnte. Aber die Auflage ist stetig gestiegen und liegt heute bei 21 000 Exemplaren. Die Redaktion ist in der Götgata, nur ein paar Blöcke von hier entfernt.«

»Ein linkes Blatt.«

»Kommt drauf an, wie man links definiert. Millennium geht wohl im Allgemeinen als gesellschaftskritisch durch, aber vermutlich betrachten die Anarchisten die Zeitschrift als spießiges Scheißblatt im Stile von Arena oder Ordfront. Und der rechtskonservative Studentenverband denkt höchstwahrscheinlich, dass sich die Redaktion aus Bolschewisten zusammensetzt. Nichts deutet darauf hin, dass Blomkvist irgendwann politisch aktiv gewesen wäre, nicht einmal während der linken Welle zu seiner Gymnasialzeit. Als er an der Hochschule für Journalisten studierte, wohnte er mit einem Mädchen zusammen, das damals bei den Gewerkschaftsanhängern aktiv war und heute für die Linkspartei im Reichstag sitzt. Es scheint mir ganz so, als hätte er sich seinen Stempel als Linker eher deswegen weggeholt, weil er sich als Wirtschaftsjournalist auf Enthüllungsreportagen über Korruption in der Businesswelt spezialisiert hat. Er hat vernichtende Artikel über den einen oder anderen Manager oder Politiker veröffentlicht, die sicher mehr als berechtigt waren, und hat einige Rücktritte und so manches juristische Nachspiel erzwungen. Am bekanntesten war die Aboga-Affäre, die damit endete, dass ein konservativer Politiker zurücktreten musste und ein ehemaliger Gemeindekämmerer zu einem Jahr Gefängnis wegen Veruntreuung von Gemeindegeldern verurteilt wurde. Aber Verbrechen anzuprangern kann man wohl kaum als Ausdruck von linker Gesinnung bezeichnen.«

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Was sonst noch?«

»Er hat zwei Bücher geschrieben. Eines über die Aboga-Affäre und eines über Wirtschaftsjournalismus mit dem Titel Die Tempelritter, das vor drei Jahren erschienen ist. Ich habe es nicht gelesen, aber den Rezensionen zufolge scheint es recht kontrovers gewesen zu sein. Es hat so einige Debatten in den Medien ausgelöst.«

»Wie steht es um seine Finanzen?«, fragte Frode.

»Er ist nicht reich, aber er nagt auch nicht am Hungertuch. Seine Steuererklärungen sind dem Bericht beigefügt. Er hat knapp 250 000 Kronen in Anleihen und Fonds angelegt. Sein Kontostand beträgt ungefähr 100 000 Kronen, damit deckt er seine laufenden Ausgaben, Reisen und Ähnliches. Er hat das Wohnrecht für seine Wohnung gekauft und fertig abbezahlt - 65 Quadratmeter in der Bellmansgata - und ist mit keinen Krediten oder Schulden belastet.«

Salander streckte einen Finger in die Luft.

»Er besitzt noch einen weiteren Vermögenswert - eine Immobilie auf der Schäreninsel Sandhamn. Eine Hütte, 30 Quadratmeter groß, als Ferienhäuschen eingerichtet und direkt am Wasser gelegen, an einem der attraktivsten Flecken von Sandhamn. Offensichtlich hat einer seiner Onkel die Immobilie in den vierziger Jahren erworben, als das für Normalsterbliche noch möglich war, und Blomkvist hat sie schließlich geerbt. Sie haben es so aufgeteilt, dass seine Schwester die Wohnung der Eltern in Lilla Essingen bekam und Mikael das Sommerhäuschen. Ich weiß nicht, was so was heute wert ist - sicher ein paar Millionen Kronen -, aber andererseits sieht es nicht so aus, als wollte er das Häuschen verkaufen. Er ist ziemlich oft in Sandhamn.«

»Was machen seine Einkünfte?«

»Er ist wie gesagt Miteigner von Millennium, bezieht aber nur ein Gehalt von knapp 12 000 Kronen im Monat. Den Rest erwirtschaftet er sich durch seine Arbeit als Freelancer, die Einkünfte schwanken. Vor drei Jahren erzielte er ein Spitzenergebnis, als er von diversen Medien Aufträge bekam und fast 450 000 Kronen einnahm. Voriges Jahr hat er mit seiner freien Arbeit nur 120 000 Kronen eingenommen.«

»Er muss 150 000 Kronen Schadenersatz bezahlen, außerdem das Honorar für seinen Anwalt etc.«, stellte Frode fest. »Wir können davon ausgehen, dass er insgesamt eine ziemlich hohe Summe aufbringen muss und außerdem Einkünfte einbüßt, während er seine Gefängnisstrafe absitzt.«

»Das bedeutet, dass er ziemlich abgebrannt aus dieser ganzen Geschichte rauskommt«, merkte Salander an.

»Halten Sie ihn für integer?«, fragte Dirch Frode.

»Seine Integrität ist sein Vertrauenskapital. Er hat das Image des unbestechlichen Wächters über die Moral der Geschäftswelt. Man lädt ihn ziemlich oft als Kommentator ins Fernsehen ein.«

»Von diesem Kapital ist nach dem heutigen Urteil wohl nicht mehr viel übrig«, sagte Frode nachdenklich.

»Ich kann nicht behaupten, dass ich wüsste, welche Anforderungen ein Journalist genau erfüllen muss, aber nach diesem Schlag dürfte es wohl ein bisschen dauern, bis der Meisterdetektiv Blomkvist den Großen Journalistenpreis verliehen bekommt. Er hat sich ganz schön ins Aus katapultiert«, stellte Salander nüchtern fest. »Wenn ich eine persönliche Überlegung anfügen darf …«

Armanskij riss die Augen auf. In all den Jahren, in denen Lisbeth Salander für ihn tätig war, hatte sie noch nie eine persönliche Überlegung zu einem Zielobjekt verlauten lassen. Für sie galten nur die staubtrockenen Fakten.

»Es gehörte nicht zu meinem Auftrag, die Wennerström-Affäre sachlich zu durchleuchten, aber ich habe den Prozess verfolgt und muss zugeben, ich war völlig verblüfft. Das Ganze sieht so falsch aus, und es ist so völlig … out of character für einen Mikael Blomkvist, etwas zu veröffentlichen, das dann geradewegs in die Binsen geht.«

Salander kratzte sich am Hals. Frode wartete geduldig. Armanskij fragte sich, ob er sich täuschte oder ob Salander wirklich unschlüssig war, wie sie weitermachen sollte. Die Salander, die er kannte, war nie unschlüssig oder unsicher. Zu guter Letzt schien sie sich entschieden zu haben.

»Mal ganz inoffiziell gesprochen … Ich hab mich nicht gründlich mit der Wennerström-Affäre befasst, aber ich glaube tatsächlich, dass man Kalle Blomkvist … Entschuldigung, Mikael Blomkvist, geleimt hat. Ich glaube, hinter der Story steckt etwas ganz anderes, als das Urteil ahnen lässt.«

Jetzt war es an Dirch Frode, sich in seinem Stuhl aufzurichten. Der Rechtsanwalt musterte Salander mit forschendem Blick, und Armanskij bemerkte, dass ihr Auftraggeber zum ersten Mal, seit sie ihren Bericht begonnen hatte, mehr als nur höfliches Interesse an den Tag legte. Er registrierte auch, dass die Wennerström-Affäre für Frode offensichtlich von gewissem Interesse war. Stimmt nicht, dachte Armanskij im nächsten Moment, Frode interessierte sich nicht für die Wennerström-Affäre - er hat erst reagiert, als Salander andeutete, dass Blomkvist hinters Licht geführt worden ist.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Frode interessiert.

»Das ist nur eine Spekulation meinerseits, aber ich bin ziemlich sicher, dass ihn jemand reingelegt hat.«

»Und wie kommen Sie darauf?«

»Alles weist darauf hin, dass er stets ein sehr umsichtiger Reporter war. Alle anderen heiklen Enthüllungsstorys, die er davor gebracht hat, waren immer aufs Beste dokumentiert. Ich war an einem der Verhandlungstage dabei und habe zugehört. Er brachte überhaupt keine Gegenargumente und schien sich kampflos zu ergeben. Nur, das passt so gar nicht zu seinem Charakter. Wenn wir dem Gericht Glauben schenken wollen, dann hat er eine Geschichte über Wennerström zusammenfantasiert, ohne die geringste Spur eines Beweises zu haben, und hat sie dann quasi als journalistisches Selbstmordattentat veröffentlicht - das ist einfach nicht Blomkvists Stil.«

»Was ist also Ihrer Meinung nach passiert?«

»Ich kann nur eine Vermutung anstellen. Blomkvist glaubte an seine Story, aber dann ist irgendetwas passiert, und seine Information stellte sich als falsch heraus. Das bedeutet wiederum, dass seine Quelle entweder jemand war, dem er blind vertraute, oder dass ihn jemand vorsätzlich mit falschen Informationen versorgte - was wenig wahrscheinlich ist. Die Alternative wäre die, dass man ihn so ernsthaft bedroht hat, dass er das Handtuch warf und sich lieber als unfähigen Idioten hinstellen ließ, als den Kampf aufzunehmen. Aber wie gesagt, ich spekuliere nur.«

Als Salander ansetzte, mit ihrem Bericht fortzufahren, hob Dirch Frode die Hand. Er schwieg eine Weile und trommelte mit den Fingern nachdenklich auf die Lehne, bevor er wieder das Wort an sie richtete.

»Wenn wir Sie damit beauftragen würden, in der Wennerström-Affäre zu recherchieren … wie groß wären die Chancen, dass Sie etwas herausfinden?«

»Das kann ich nicht beantworten. Vielleicht gibt es gar nichts herauszufinden.«

»Aber Sie würden sich bereit erklären, es zu versuchen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Darüber habe nicht ich zu bestimmen. Ich arbeite für Dragan Armanskij; er entscheidet, welche Aufträge er mir zuteilen will. Und dann kommt es noch darauf an, welche Art Information Sie haben wollen.«

»Lassen Sie es mich so formulieren … Ich kann doch davon ausgehen, dass dieses Gespräch vertraulich behandelt wird?«

Armanskij nickte. »Ich weiß nichts über diese Affäre, aber ich weiß ohne jeden Zweifel, dass Wennerström bei anderen Gelegenheiten unehrlich gewesen ist. Die Wennerström-Affäre hat Mikael Blomkvists Leben in höchstem Maße beeinflusst, und ich will wissen, ob etwas an Ihren Spekulationen dran ist.«

Das Gespräch hatte eine unerwartete Wendung genommen, und Armanskij war sofort hellwach. Frodes Anliegen bedeutete, dass Milton Security weitere Untersuchungen in einer bereits ad acta gelegten Strafsache anstellen sollte, während deren Verhandlung Mikael Blomkvist möglicherweise rechtswidrig bedroht worden war. Mit so etwas lief Milton potenziell Gefahr, mit Wennerströms Rechtsanwaltsimperium aneinanderzugeraten. Die Vorstellung, Salander in so einer Angelegenheit wie ein unkontrollierbares Cruisemissile loszulassen, fand Armanskij nicht unbedingt amüsant.

Das hatte nicht nur mit seiner Sorge um die Firma zu tun. Salander hatte hinreichend deutlich gemacht, dass ihr Armanskij in der Rolle des beunruhigten Stiefpapas überhaupt nicht zusagte, und nachdem sie darüber einig gewesen waren, hatte er sorgfältig darauf geachtet, nicht als solcher aufzutreten. Innerlich konnte er allerdings nie aufhören, sich um sie zu sorgen. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er Salander mit seinen eigenen Töchtern verglich. Er hielt sich für einen guten Vater, der sich nicht übertrieben ins Privatleben seiner Töchter einmischte, aber ihm war auch klar, dass er es niemals akzeptieren würde, wenn sie sich wie Lisbeth Salander benehmen oder ihre Art Leben führen würden.

In den Tiefen seines serbischen - vielleicht auch bosnischen oder armenischen - Herzens war er die Überzeugung nie losgeworden, dass Salanders Leben in voller Fahrt auf eine Katastrophe zusteuerte. Seiner Meinung nach bot sie sich als geradezu perfektes Opfer für jemanden an, der ihr übel wollte, und ihm graute vor dem Morgen, an dem er mit der Neuigkeit geweckt werden würde, dass ihr jemand Schaden zugefügt hatte.

»Eine solche Untersuchung kann ziemlich teuer werden«, unternahm Armanskij einen vorsichtigen Abschreckungsversuch, um zu sondieren, wie ernst es Frode mit seiner Anfrage war.

»Wir müssen freilich eine Obergrenze festlegen«, erwiderte Frode nüchtern. »Ich verlange nichts Unmögliches von Ihnen, aber es ist ganz offensichtlich, wie Sie mir ja selbst versicherten, dass Ihre Mitarbeiterin äußerst kompetent ist.«

»Salander?«, fragte Armanskij mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich habe gerade nichts anderes laufen«, sagte sie.

»Okay. Aber ich hätte gerne, dass wir uns über die Bedingungen dieses Auftrages einig sind. Lassen Sie uns noch den Rest Ihres Berichtes hören.«

»Nur noch ein paar Details aus seinem Privatleben. 1988 heiratete er eine Frau namens Monica Abrahamsson, und im selben Jahr bekamen sie eine Tochter, Pernilla. Sie ist heute sechzehn. Die Ehe hielt nicht lange, die beiden wurden 1991 geschieden. Frau Abrahamsson hat wieder geheiratet, aber die zwei sind offensichtlich immer noch befreundet. Die Tochter wohnt bei ihrer Mutter und trifft ihren Vater nicht sonderlich oft.«

Frode bat um einen weiteren Kaffee aus der Thermoskanne und wandte sich dann wieder an Salander.

»Zu Beginn haben Sie angedeutet, dass jeder Mensch Geheimnisse hat. Haben Sie welche gefunden?«

»Damit wollte ich sagen, dass jeder Mensch gewisse Dinge hat, die er als privat betrachtet und die er nicht unbedingt öffentlich macht. Blomkvist ist ein Frauentyp. Er hat mehrere Affären und jede Menge Zufallsbekanntschaften gehabt. Um es kurz zu machen - er hat ein buntes Sexleben. Eine Person taucht jedoch seit vielen Jahren immer wieder in seinem Leben auf, und das ist ein ziemlich ungewöhnliches Verhältnis.«

»Inwiefern?«

»Er unterhält eine sexuelle Beziehung zu Erika Berger, der Chefredakteurin von Millennium; Tochter aus guten Hause, schwedische Mutter, belgischer Vater mit Wohnsitz in Schweden. Berger und Blomkvist kennen sich seit dem Journalistikstudium und haben seitdem immer wieder ein Verhältnis gehabt.«

»Das ist doch nichts Ungewöhnliches«, meinte Frode.

»Nein, das nicht. Aber Erika Berger ist mit dem Künstler Greger Beckman verheiratet - so ein B-Promi, der in öffentlichen Räumen jede Menge schauderhaftes Zeug ausgestellt hat.«

»Sie ist ihm untreu?«

»Nein. Beckman weiß von ihrem Verhältnis. Eine ménage à trois, die anscheinend von allen drei Beteiligten akzeptiert wird. Mal schläft sie bei Blomkvist, mal bei ihrem Mann. Ich weiß nicht wirklich, wie das funktioniert, aber es gehörte auf jeden Fall zu den Gründen, aus denen die Ehe mit Monica Abrahamsson in die Brüche ging.«

3. Kapitel

Freitag, 20. Dezember - Samstag, 21. Dezember

Erika Berger hob die Augenbrauen, als ein offensichtlich völlig durchgefrorener Mikael Blomkvist am späten Nachmittag in die Redaktion kam. Die Millennium-Redaktion lag mitten auf dem höchsten Punkt der Götgata, eine Etage über der Greenpeace-Niederlassung. Die Miete war eigentlich ein wenig zu hoch für die Zeitung, aber Erika, Mikael und Christer waren sich einig gewesen, dass sie die Räume halten wollten.

Erika warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Es war zehn nach fünf, und schon längst hatte sich die Dunkelheit über Stockholm gelegt. Sie hatte ihn eigentlich bereits gegen Mittag zurückerwartet.

»Entschuldige«, sagte er zur Begrüßung, bevor sie zu Wort kam. »Ich bin noch sitzen geblieben, hab das Urteil gelesen und hatte keine Lust zu reden. Hab einen langen Spaziergang gemacht und nachgedacht.«

»Ich hab im Radio von dem Urteil gehört. Die von TV4 hat mich angerufen und wollte einen Kommentar von mir.«

»Was hast du gesagt?«

»In etwa das, was wir abgesprochen hatten: Wir werden das Urteil sorgfältig prüfen, bevor wir uns dazu äußern. Ich habe also gar nichts gesagt. Und ich bin immer noch derselben Meinung - ich glaube, dass das die falsche Strategie ist. Wir sehen schwach aus und verlieren unseren Rückhalt in den Medien. Wir müssen damit rechnen, dass sie heute Abend was im Fernsehen bringen.«

Blomkvist nickte und sah finster drein.

»Wie geht es dir?«

Mikael Blomkvist zuckte mit den Achseln und setzte sich in seinen Lieblingssessel, der in Erikas Zimmer am Fenster stand. Ihr Arbeitszimmer war spartanisch eingerichtet: ein Schreibtisch, zweckdienliche Bücherregale und billige Büromöbel. Alle Möbel waren von IKEA, abgesehen von den zwei bequemen und extravaganten Sesseln und einem kleinen Beistelltischchen - ein Zugeständnis an meine Herkunft, pflegte sie zu scherzen. Sie saß meistens mit angezogenen Beinen in einem der Sessel und las, wenn sie einmal eine Pause vom Schreibtisch brauchte. Mikael blickte auf die Götgata hinunter, auf der die Menschen in der Dunkelheit vorbeihasteten. Das Weihnachtsgeschäft setzte zum Endspurt an.

»Ich schätze, das geht auch wieder vorbei«, sagte er. »Aber im Moment fühl ich mich, als hätte ich gerade eine Tracht Prügel bezogen.«

»Das geht uns doch allen so. Janne Dahlman ist heute Früh nach Hause gegangen.«

»Ich nehme an, er war nicht sonderlich begeistert vom Urteil.«

»Er ist ja ohnehin nicht gerade der positivste Mensch.«

Mikael schüttelte den Kopf. Janne Dahlman war seit neun Monaten Redaktionsassistent bei Millennium. Er hatte genau zu dem Zeitpunkt bei ihnen angefangen, als die Wennerström-Affäre in Gang kam. Mikael versuchte sich zu erinnern, wie Erika und er über Dahlmans Bewerbung diskutiert hatten. Er war in der Tat kompetent und hatte als Springer bei der Nachrichtenagentur TT, verschiedenen Abendzeitungen und Ekot gearbeitet. Aber er war ganz offensichtlich niemand, der mit schwierigen Umständen zurechtkam. Im letzten Jahr hatte Mikael oft genug bereut, dass sie Dahlman angestellt hatten, der ein enervierendes Talent besaß, alles so negativ wie nur irgend möglich zu betrachten.

»Hast du von Christer gehört?«, fragte Mikael, ohne den Blick von der Straße zu wenden.

Christer Malm war Chef der Bildredaktion und Layouter bei Millennium und neben Erika und Mikael der dritte Teilhaber des Magazins. Momentan befand er sich mit seinem Freund auf Auslandsreise.

»Er hat angerufen. Schöne Grüße.«

»Ist wohl das Beste, wenn er meine Stelle als verantwortlicher Herausgeber übernimmt.«

»Ach, komm, Micke, als verantwortlicher Herausgeber musst du damit rechnen, dass du ab und zu ordentlich was auf die Nase kriegst. Das steht so in der Stellenbeschreibung.«

»Ja, stimmt. Aber ich war nun mal derjenige, der diesen Text verfasst hat, der in dem Magazin veröffentlicht wurde, bei dem ich auch verantwortlicher Herausgeber bin. Damit sieht die Sache schon wieder ganz anders aus. Da geht es dann ganz einfach um mangelndes Urteilsvermögen.«

Erika Berger merkte, wie die Sorge, die sie den ganzen Tag mit sich herumgetragen hatte, vollends die Oberhand gewann. In den letzten Wochen vor dem Prozess war Mikael Blomkvist herumgelaufen, als wäre er von einer finsteren Wolke umgeben, aber selbst damals hatte sie ihn nicht als so düster und resigniert empfunden, wie er ihr nun in seiner Niederlage vorkam. Sie umrundete ihren Schreibtisch, setzte sich rittlings auf ihn und schlang ihm die Arme um den Hals.

»Mikael, hör mal zu. Wir wissen beide ganz genau, was hier passiert ist. Ich bin genauso verantwortlich wie du. Wir müssen das gemeinsam durchstehen.«

»Da gibt es nichts durchzustehen. Das Urteil bedeutet für mich den medialen Genickschuss. Ich kann nicht als verantwortlicher Herausgeber bei Millennium bleiben. Es geht einfach um die Glaubwürdigkeit dieses Magazins. Um Schadensbegrenzung. Das weißt du doch genauso gut wie ich.«

»Wenn du denkst, dass ich dich die Schuld ganz alleine tragen lasse, dann hast du in all den Jahren wirklich noch gar nichts über mich gelernt.«

»Ich weiß genau, was in dir vorgeht, Ricky. Du bist auf eine einfältige Art und Weise loyal zu deinen Mitarbeitern. Wenn du die Wahl hast, dann streitest du dich mit Wennerströms Rechtsanwälten rum, bis auch deine Glaubwürdigkeit ruiniert ist. Das können wir uns nicht leisten.«

»Und du hältst es also für einen klugen Plan, bei Millennium auszusteigen und es so aussehen zu lassen, als hätte ich dich gefeuert?«

»Wir haben das doch schon hundertmal durchgesprochen. Wenn Millennium überleben soll, kommt es jetzt ganz auf dich an. Christer ist ein richtig guter Kerl, der alles Mögliche über Bilder und Layout weiß, aber von Machtkämpfen mit Milliardären hat er keinen Schimmer. Das ist nicht sein Ding. Ich muss Millennium bald den Rücken kehren, als Herausgeber, Reporter und Führungsmitglied; meinen Anteil übernimmst du. Wennerström weiß, dass ich weiß, was er getan hat, und ich bin überzeugt, solange er weiß, dass ich mich in der Nähe von Millennium aufhalte, wird er nichts unversucht lassen, um das Magazin in die Knie zu zwingen.«

»Aber warum willst du nicht mit den Fakten an die Öffentlichkeit gehen - auf Biegen und Brechen!«

»Weil wir nicht das Geringste beweisen können, und weil ich derzeit nicht die mindeste Glaubwürdigkeit besitze. Diese Runde hat Wennerström gewonnen. Vorbei. Gib es auf.«

»Okay, du bist also gefeuert. Was wirst du stattdessen machen?«

»Ich brauche ganz einfach eine Pause. Ich fühle mich total ausgebrannt und bin kurz davor, an meine Belastungsgrenze zu stoßen. Ich werde mich ein Weilchen um mich selbst kümmern. Dann sehen wir weiter.«

Erika umarmte Mikael und zog seinen Kopf an ihre Brust. Sie drückte ihn fest an sich. Schweigend und unglücklich blieben sie ein paar Minuten so sitzen.

»Soll ich heute Abend bei dir bleiben?«, fragte sie.

Mikael Blomkvist nickte.

»Gut. Ich habe Greger schon angerufen und ihm Bescheid gesagt, dass ich heute Nacht bei dir schlafe.«

Die einzige Lichtquelle im Zimmer war die Straßenlaterne, die vom Fenstersturz reflektiert wurde. Als Erika irgendwann nach zwei Uhr morgens einschlief, lag Mikael wach und betrachtete im Halbdunkel ihr Profil. Sie war nur bis zur Taille zugedeckt, und er sah zu, wie sich ihre Brust langsam hob und senkte. Er war entspannt, und der angsterfüllte Knoten in seinem Zwerchfell hatte sich gelöst. Erika hatte diese Wirkung auf ihn. Sie hatte sie schon immer gehabt. Und er wusste, dass er dieselbe Wirkung auf sie hatte.

Zwanzig Jahre, dachte er. So lange hatten Erika und er schon ein Verhältnis. Wenn es nach ihm ging, konnten sie auch die nächsten zwanzig Jahre noch miteinander Sex haben. Mindestens. Sie hatten nie ernsthaft versucht, ihr Verhältnis zu verbergen, wenngleich sich dadurch ungeheuer heikle Situationen in ihren Beziehungen zu anderen Menschen ergeben hatten. Er wusste, dass man in ihrem Bekanntenkreis über sie sprach, und dass die Leute sich fragten, was für eine Art Verhältnis die beiden eigentlich verband. Erika und er gaben rätselhafte Antworten und ignorierten die Kommentare.

Sie hatten sich auf einem Fest bei gemeinsamen Freunden kennengelernt. Sie studierten beide im zweiten Jahr Journalistik und lebten jeweils in einer festen Beziehung. Im Laufe des Abends hatten sie sich gegenseitig mehr provoziert, als gut für sie war. Ihr Flirt hatte vielleicht als Scherz begonnen - er war sich da nicht ganz sicher -, doch bevor sie auseinandergingen, tauschten sie Telefonnummern. Sie wussten, dass sie miteinander im Bett landen würden, und innerhalb einer Woche hatten sie dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt, hinter dem Rücken ihrer jeweiligen Partner.

Mikael war sich sicher, dass es hierbei nicht um Liebe ging - zumindest nicht um Liebe im traditionellen Sinne, die in eine gemeinsame Wohnung, gemeinsame Ratenzahlungen, Weihnachtsbäume und Kinder mündet. In den achtziger Jahren hatten sie ein paarmal überlegt zusammenzuziehen, als sie gerade keine Beziehungen hatten, auf die sie hätten Rücksicht nehmen müssen. Er wollte. Aber Erika hatte immer im letzten Moment einen Rückzieher gemacht. Sie sagte, es würde nicht funktionieren, und sie sollten ihre Beziehung nicht aufs Spiel setzen, indem sie sich jetzt auch noch verliebten.

Sie waren sich einig, dass es bei ihrer Beziehung um Sex ging - vielleicht sogar um sexuellen Irrsinn -, und Mikael hatte sich oft gefragt, ob er für eine andere Frau je so eine wahnsinnige Begierde empfinden könne wie für Erika. Sie funktionierten einfach perfekt miteinander. Sie hatten ein Verhältnis, das nicht weniger abhängig machte als Heroin.

In gewissen Phasen trafen sie sich so häufig, dass sie sich fast wie ein Paar fühlten; manchmal konnten Wochen und Monate zwischen ihren Treffen verstreichen. Doch so wie der Alkoholiker nach einer abstinenten Phase stets wieder loszieht und sich neuen Schnaps besorgt, kehrten auch die beiden immer wieder zueinander zurück, um sich eine neue Dosis zu holen.

Das konnte freilich nicht auf Dauer funktionieren. Ein derartiges Verhältnis musste früher oder später Schmerzen verursachen. Erika und er hatten gebrochene Versprechen und Beziehungen rücksichtslos hinter sich gelassen - seine eigene Ehe war daran gescheitert, dass er sich nicht von Erika fernhalten konnte. Er hatte seine Frau Monica in Sachen Erika nie belogen, doch Monica hatte geglaubt, die Affäre würde mit ihrer Heirat und der Geburt ihrer Tochter ein Ende nehmen, zumal Erika beinahe gleichzeitig die Ehe mit Greger Beckman einging. Er glaubte das auch und hatte Erika in den ersten Jahren seiner Ehe nur rein beruflich getroffen. Dann hatten sie Millennium gegründet, und innerhalb von ein paar Wochen waren alle Vorsätze den Bach runtergegangen, und eines Abends hatten sie heftigen Sex auf ihrem Schreibtisch gehabt. Das war der Beginn einer quälenden Zeit gewesen, in der Mikael einerseits bei seiner Familie sein und seine Tochter aufwachsen sehen wollte, sich andererseits aber mit solcher Kraft zu Erika hingezogen fühlte, dass er seine Handlungen nicht mehr kontrollieren konnte. Wie Lisbeth ganz richtig vermutete, hatte seine ständige Untreue dazu geführt, dass Monica ihn verließ.

Seltsamerweise schien Greger Beckman ihr Verhältnis völlig zu akzeptieren. Erika hatte ihr Verhältnis mit Mikael nie verheimlicht und es ihrem Mann auch sofort erzählt, als sie die Affäre wieder aufnahmen. Vielleicht lag es an seiner Künstlerseele, die derart mit ihren Schaffensprozessen (oder auch nur mit sich selbst) beschäftigt war, dass er so gar nicht darauf reagierte, als Erika mit einem anderen Mann schlief. Er teilte sogar die Ferien so auf, dass sie ab und an eine Woche mit ihrem Liebhaber in dessen Sommerhäuschen in Sandhamn verbringen konnte. Mikael mochte Greger nicht besonders und hatte nie begreifen können, warum Erika ihn liebte. Aber er war froh, dass Greger es hinnahm, dass sie zwei Männer gleichzeitig liebte.

Außerdem hatte er Greger im Verdacht, dass er die Untreue seiner Frau als Würze ihrer Ehe betrachtete. Doch darüber hatten sie nie gesprochen.

Mikael fand keinen Schlaf, und gegen vier gab er auf und setzte sich in die Küche, um das Urteil noch einmal von Anfang bis Ende durchzulesen. Mit diesem Resultat in der Hand konnte er spüren, dass die Begegnung in Arholma fast schon schicksalhaft gewesen war. Er wurde sich jedoch einfach nicht klar darüber, ob Robert Lindberg Wennerströms Betrug enthüllt hatte, weil er ihm auf seinem Boot eine gute Geschichte erzählen wollte, oder ob er wirklich gewollt hatte, dass alles an die Öffentlichkeit kam.

Spontan tendierte Mikael zur ersten Alternative, aber es war genauso gut möglich, dass Robert aus höchst privaten oder geschäftlichen Gründen Wennerström schaden wollte und einfach die Gelegenheit beim Schopf ergriff, als er einen harmlosen Journalisten an Bord hatte. Robert war nicht gerade nüchtern gewesen, als er im entscheidenden Augenblick seiner Geschichte Mikael fixiert hatte und ihm die magischen Worte entlockte, die ihn von einer Klatschtante in eine anonyme Quelle verwandelten. Auf diese Art spielte es für Robert keine Rolle, was er erzählte, denn Mikael würde ihn nie als Urheber dieser Aussagen nennen können.

Über eines war sich Mikael jedoch vollkommen im Klaren: Wenn das Treffen in Arholma wirklich von einem Verschwörer inszeniert worden wäre, mit der Absicht, seine Aufmerksamkeit zu erregen, hätte Robert seine Sache kaum besser machen können. Aber das Treffen in Arholma war reiner Zufall gewesen.

Robert wusste gar nicht, wie groß Mikaels Verachtung für Männer wie Hans-Erik Wennerström war. Nach langjährigen Studien auf diesem Gebiet war Mikael überzeugt davon, dass es keinen einzigen Bankdirektor oder bekannten Geschäftsführer gab, der nicht gleichzeitig ein Schweinehund war.

Mikael hatte noch nie von Lisbeth Salander gehört und wusste nichts von dem Bericht, den sie vor einigen Stunden abgeliefert hatte. Doch hätte er ihr zugestimmt, dass seine ausgesprochene Abscheu gegen allzu gewitzt rechnende Betriebswirtschaftler kein Zeichen für politischen Linksradikalismus war. Mikael war nicht uninteressiert an Politik, aber er betrachtete politische Ismen mit größtem Misstrauen. Bei der einzigen Reichstagswahl, bei der er jemals seine Stimme abgegeben hatte - 1982 -, hatte er die Sozialdemokraten gewählt, wenn auch weniger aus Überzeugung als ganz einfach deswegen, weil in seinen Augen nichts schlimmer sein konnte als weitere drei Jahre mit Gösta Bohman als Finanzminister und Thorbjörn Fälldin oder am Ende gar Ola Ullsten als Ministerpräsident. Also hatte er ohne allzu großen Enthusiasmus für Olof Palme gestimmt, um später die Ermordung des Ministerpräsidenten sowie Bofors und Ebbe Carlsson erleben zu müssen.

Mikaels Verachtung vieler Wirtschaftsjournalisten beruhte auf deren zweifelhafter Moral. In seinen Augen war die Gleichung ganz einfach:

Ein Bankdirektor, der hundert Millionen durch kopflose Spekulationen verschleudert, darf nicht auf seinem Posten bleiben. Ein Geschäftsführer, der krumme Dinger mit Mantelgesellschaften dreht, gehört hinter Gitter. Ein Immobilienbesitzer, der jungen Leuten für eine Einzimmerwohnung mit Toilette unter der Hand noch einmal Geld abknöpft, sollte öffentlich vorgeführt werden.

Mikael Blomkvist fand ganz einfach, dass es Aufgabe der Wirtschaftsjournalisten war, diejenigen Finanzhaie zu kontrollieren, die Zinskrisen verursachten und das Geld von Kleinanlegern durch leichtfertige Spekulationen aufs Spiel setzten. Seiner Meinung nach bestand der Auftrag dieser Journalisten darin, Wirtschaftsmanager mit demselben unbarmherzigen Eifer zu verfolgen, mit dem politische Berichterstatter die geringsten Fehltritte von Ministern und Reichstagsabgeordneten verurteilten. Den politischen Journalisten würde es nie einfallen, einen Parteivorsitzenden zur Ikone zur erheben, und Mikael konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum die Wirtschaftsjournalisten der wichtigsten Massenmedien des Landes die mediokren Jünglinge in der Finanzwelt wie Rockstars behandelten.

Diese unter Wirtschaftsjournalisten etwas eigensinnige Haltung hatte ein ums andere Mal zu lautstarken Auseinandersetzungen mit Kollegen in der Medienbranche geführt, von denen nicht zuletzt William Borg zum unversöhnlichen Feind geworden war. Mikael hatte gewagt, seinen Kollegen vorzuhalten, sie drückten sich um ihre eigentliche Aufgabe und dienten stattdessen den Interessen der finanzpolitischen Grünschnäbel. Seine Rolle als Gesellschaftskritiker hatte ihm zwar einen gewissen Status verliehen und ihn zu einem unbequemen Gast auf den Sofas politischer Fernsehsendungen gemacht - wenn ein Manager mal wieder eine millionenschwere Abfindung kassierte, bat man ihn stets um einen Kommentar -, aber das hatte ihm auch eine treue Schar erbitterter Feinde beschert.

Mikael konnte sich lebhaft vorstellen, dass im Laufe des Abends in ein paar Redaktionen die Champagnerkorken geknallt hatten.

Erika teilte seine Ansichten über die Rolle des Journalisten, und es hatte ihnen schon während des Studiums Vergnügen bereitet, sich gemeinsam eine Zeitung mit entsprechendem Profil auszumalen.

Erika war die beste Chefin, die Mikael sich denken konnte. Sie konnte gut organisieren und pflegte einen warmherzigen und vertrauensvollen Führungsstil. Gleichzeitig scheute sie sich nicht, Konfrontationen einzugehen und, wenn nötig, hart durchzugreifen. Vor allem aber besaß sie ein unbestechliches Fingerspitzengefühl, wenn es darum ging, über den Inhalt der nächsten Nummer zu entscheiden. Sie und Mikael hatten oftmals unterschiedliche Meinungen und konnten sich lebhaft streiten, aber sie hatten auch unerschütterliches Vertrauen zueinander und bildeten ein unschlagbares Team. Er war der Mann fürs Grobe, der die Story an Land zog; sie sorgte für ihre Verpackung und Vermarktung.

Das Projekt Millennium hatten sie zu zweit auf die Beine gestellt, aber es hätte nie realisiert werden können ohne ihre Fähigkeit, immer wieder neue Wege der Finanzierung zu finden. Der Arbeiterjunge und die höhere Tochter als Erfolgsduo. Erika kam aus einer wohlhabenden Familie. Sie selbst hatte die finanzielle Grundlage geschaffen und sowohl ihren Vater als auch ihre Bekannten überredet, ansehnliche Beträge zu investieren.

Mikael hatte oft überlegt, warum Erika auf Millennium gesetzt hatte. Freilich, sie war dadurch Teilhaberin - sogar mehrheitliche Anteilseignerin - und Chefredakteurin ihrer eigenen Zeitschrift geworden, was ihr ein Prestige und eine publizistische Freiheit gab, die sie an einem anderen Arbeitplatz kaum hätte erreichen können. Im Gegensatz zu Mikael hatte sie sich nach dem Studium zunächst fürs Fernsehen entschieden. Sie war tough, sah auf dem Bildschirm unverschämt gut aus und konnte sich gegen die Konkurrenz behaupten. Außerdem hatte sie beste Kontakte innerhalb des bürokratischen Apparats. Wäre sie beim Fernsehen geblieben, hätte sie zweifellos eine bedeutend besser bezahlte Führungsposition bei irgendeinem Sender bekommen. Stattdessen hatte sie sich bewusst für den Ausstieg und das Engagement für Millennium entschieden, ein höchst riskantes Projekt, das in einem engen, heruntergekommenen Büro in einem Keller im Vorort Midsommarkransen startete, dann aber so viel Erfolg hatte, dass man Mitte der neunziger Jahre in geräumigere und angenehmere Büroräume in der Götgata in Södermalm ziehen konnte.

Außerdem hatte Erika auch noch Christer Malm überredet, Teilhaber am Magazin zu werden - einen exhibitionistischen Promischwulen, der ab und zu mit seinem Freund für Homestorys posierte und regelmäßig auf den Klatsch- und Lifestyle-Seiten auftauchte. Das Medieninteresse verdankte er der Tatsache, dass er mit Arnold Magnusson, genannt Arn, zusammengezogen war, einem Schauspieler vom Dramaten, dem Königlichen Theater in Stockholm, der seinen richtigen Durchbruch erst erlebt hatte, als er sich in einer Dokusoap selbst spielte. Seit damals waren Christer und Arn eine Art Fortsetzungsroman für die Medien geworden.

Im Alter von sechsunddreißig Jahren war Christer Malm ein begehrter Berufsfotograf und Designer, der Millennium einen modernen und attraktiven grafischen Auftritt verlieh. Sein eigenes Unternehmen befand sich auf derselben Etage wie die Redaktion des Magazins, um dessen Layout er sich eine Woche im Monat auf Teilzeitbasis kümmerte.

Darüber hinaus gab es noch zwei Vollzeitangestellte, einen ständigen Praktikanten und drei Teilzeitmitarbeiter. Millennium gehörte zu der Art Zeitschriften, die wenig rentabel waren, dafür aber Prestige besaßen, und bei denen die Angestellten sehr gerne arbeiteten.

Millennium war nicht lukrativ, aber immer in der Lage, seine Kosten zu decken, und sowohl Auflage wie auch Anzeigeneinnahmen waren konstant gestiegen. Bis auf den heutigen Tag stand das Magazin in dem Ruf, mutig und beharrlich die Wahrheit auszusprechen.

Nun würde sich die Situation mit großer Wahrscheinlichkeit verändern. Mikael las die kurze Pressemitteilung durch, die Erika und er am Abend zuvor verfasst hatten und die rasch in ein Telegramm für die Nachrichtenagenturen umformuliert worden war, das bereits auf der Website des Aftonbladet zu lesen war:

Verurteilter Reporter verlässt Millennium

Stockholm (TT). Wie Chefredakteurin und Haupteignerin des Magazins Millennium, Erika Berger, bekannt gab, wird Mikael Blomkvist seinen Posten als verantwortlicher Herausgeber aufgeben.

»Mikael Blomkvist verlässt Millennium auf eigenen Wunsch. Er ist von den Strapazen der letzten Wochen sehr mitgenommen und braucht eine Auszeit«, sagt Erika Berger, die die Aufgaben des verantwortlichen Herausgebers selbst übernehmen wird.

Mikael Blomkvist war 1989 einer der Gründer des Magazins. Erika Berger glaubt nicht, dass die sogenannte Wennerström-Affäre Einfluss auf die Zukunft der Zeitschrift haben wird.

»Millennium wird wie gewohnt nächsten Monat erscheinen«, sagt Erika Berger. »Mikael Blomkvist hat eine große Rolle bei der Entwicklung des Magazins gespielt, doch nun beginnt ein neues Kapitel.«

Erika Berger gibt an, dass sie die Wennerström-Affäre als eine Verkettung ungünstiger Zustände betrachtet. Sie bedauert die Ungelegenheiten, die Hans-Erik Wennerström bereitet wurden. Mikael Blomkvist war für einen Kommentar nicht zu erreichen.

»Ich finde das schrecklich«, hatte Erika gesagt, als die Pressemitteilung rausging. »Die meisten werden die Schlussfolgerung ziehen, dass du ein unfähiger Idiot bist und ich ein eiskaltes Miststück, das die erstbeste Gelegenheit ergreift, dir den Genickschuss zu verpassen.«

»Wenn man bedenkt, was für Gerüchte über uns schon im Umlauf sind, hat unser Freundeskreis jetzt jedenfalls was Neues zum Klatschen«, versuchte Mikael zu scherzen. Sie fand das überhaupt nicht lustig.

»Ich habe keinen Plan B, aber ich glaube, wir begehen hier einen Fehler.«

»Es ist die einzige Lösung«, erwiderte Mikael. »Wenn das Magazin zugrunde geht, war die ganze Mühe umsonst. Du weißt, dass wir bereits viele Einbußen hatten. Was ist übrigens mit dieser Computerfirma geworden?«

Sie seufzte. »Tja, sie haben heute Morgen mitgeteilt, dass sie nicht in der Januarnummer inserieren wollen.«

»Wennerström hat bei denen einen beträchtlichen Aktienanteil. Das kann doch kein Zufall sein.«

»Nein, aber wir können neue Anzeigenkunden an Land ziehen. Wennerström mag ja ein Finanzmogul sein, aber ihm gehört nicht die ganze Welt, und wir haben unsere eigenen Kontakte.«

Mikael umarmte Erika und drückte sie an sich.

»Eines Tages werden wir Hans-Erik Wennerström dermaßen eins überziehen, dass die Wall Street bebt. Aber nicht heute. Millennium muss erst mal aus der Schusslinie. Wir dürfen nicht riskieren, dass das Vertrauen in unsere Zeitung völlig kaputtgemacht wird.«

»Ich weiß das alles, aber ich sehe aus wie ein verdammtes Luder, und du gerätst in eine abscheuliche Lage, wenn wir so tun, als wären wir geschiedene Leute.«

»Ricky, solange wir uns aufeinander verlassen können, haben wir auch eine Chance. Wir müssen unserer Intuition vertrauen, und momentan ist einfach Rückzug angesagt.«

Widerwillig hatte sie zugegeben, dass seine Schlussfolgerungen einer bedrückenden Logik folgten.

4. Kapitel

Montag, 23. Dezember - Donnerstag, 26. Dezember

Erika war übers Wochenende bei Mikael Blomkvist geblieben. Im Großen und Ganzen hatten sie das Bett nur für Toilettenbesuche und zum Essenkochen verlassen. Doch hatten sie sich nicht nur geliebt, sondern auch stundenlang Kopf an Fuß im Bett gelegen und über ihre Zukunft diskutiert, Konsequenzen, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abgewägt. Als der Montagmorgen graute, war es ein Tag vor Heiligabend. Erika hatte ihm einen Abschiedskuss gegeben - until the next time - und war nach Hause zu ihrem Mann gefahren.

Mikael verbrachte den Montag damit, erst einmal abzuwaschen und die Wohnung sauber zu machen. Danach ging er in die Redaktion, um sein Büro auszuräumen. Er hatte keinen Augenblick ernsthaft vor, mit der Zeitschrift zu brechen, aber er hatte Erika zu guter Letzt davon überzeugt, dass es in absehbarer Zukunft wichtig war, den Namen Mikael Blomkvist von dem des Magazins deutlich abzugrenzen. Bis auf Weiteres wollte er von seiner Wohnung in der Bellmangata aus arbeiten.

Er war allein in der Redaktion, denn über Weihnachten hatten alle Mitarbeiter frei. Er verstaute gerade Papiere und Bücher in einem Umzugskarton, als plötzlich das Telefon klingelte.

»Ich würde gerne Mikael Blomkvist sprechen«, sagte eine hoffnungsvolle, aber unbekannte Stimme am anderen Ende.

»Am Apparat.«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach einen Tag vor Weihnachten störe. Mein Name ist Dirch Frode.« Mikael notierte sich automatisch Namen und Uhrzeit. »Ich bin Anwalt und vertrete einen Mandanten, der sich sehr gerne mit Ihnen unterhalten würde.«

»Na ja, dann bitten Sie Ihren Mandanten doch einfach, mich anzurufen.«

»Ich wollte damit sagen, dass er Sie persönlich treffen möchte.«

»In Ordnung, lassen Sie sich einen Termin geben und schicken Sie ihn in die Redaktion. Aber Sie müssen sich beeilen, ich räume gerade meinen Schreibtisch aus.«

»Mein Mandant hätte furchtbar gerne, dass Sie ihn besuchen. Er wohnt in Hedestad, das wären nur drei Stunden mit dem Zug.«

Mikael hielt im Papiersortieren inne. Die Massenmedien haben ein Talent dafür, die gestörtesten Menschen anzuziehen, die dann mit den verrücktesten Tipps anrufen. Jede Zeitungsredaktion auf der Welt bekommt Anrufe von Ufologen, Grafologen, Scientologen, Paranoikern und Verschwörungstheoretikern.

Mikael hatte einmal einen Vortrag angehört, den der Schriftsteller Karl Alvar Nilsson anlässlich des Jahrestages des Mordes an Ministerpräsident Olof Palme hielt. Der Vortrag war völlig seriös, und im Publikum saßen Lennart Bodström und andere alte Freunde von Palme. Aber es hatte sich auch eine verblüffend große Zahl Privatdetektive eingefunden. Einer von ihnen, eine ungefähr vierzigjährige Frau, hatte während der obligatorischen Fragerunde das Mikrofon ergriffen und ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern gesenkt. Schon dieses Benehmen sicherte ihr die allgemeine Aufmerksamkeit, und niemand war sonderlich überrascht, als die Frau ihren Beitrag mit der Behauptung begann: »Ich weiß, wer Olof Palme ermordet hat.« Aus dem Publikum kam, leicht ironisch, der Vorschlag, wenn sie denn diese höchst dramatische Information besitze, möge sie die Palme-Ermittlungskommission doch davon in Kenntnis setzen. Hastig, in kaum hörbarem Flüsterton, hatte sie geantwortet: »Das kann ich nicht … das ist zu gefährlich!«

Mikael fragte sich, ob Dirch Frode auch zu diesem Heer von beseelten Kündern der Wahrheit gehörte, die das geheime psychiatrische Krankenhaus enttarnen wollten, in dem die schwedische Sicherheitspolizei ihre Versuche zur Hirnkontrolle anstellte.

»Ich mache keine Hausbesuche«, sagte er kurz angebunden.

»Dann hoffe ich, Sie überreden zu können, hier eine Ausnahme zu machen. Mein Mandant ist achtzig Jahre alt, für ihn ist die Fahrt nach Stockholm eine anstrengende Reise. Wenn Sie darauf bestehen, können wir sicher etwas arrangieren, aber um ehrlich zu sein, es wäre schön, wenn Sie die Freundlichkeit besäßen …«

»Wer ist Ihr Mandant?«

»Eine Person, von der Sie durch Ihre Arbeit schon gehört haben, nehme ich an. Henrik Vanger.«

Mikael lehnte sich verblüfft zurück. Henrik Vanger - natürlich hatte er schon von ihm gehört. Der Großindustrielle und Geschäftsführer des Vanger-Konzerns, früher Synonym für Sägewerke, Wald, Gruben, Stahl, Schwerindustrie, Textilien, Produktion und Export. Henrik Vanger hatte zu seiner Zeit den Ruf eines ehrenhaften, altmodischen Patriarchen gehabt, der nicht so schnell klein beigab, wenn der Wind von vorne kam. Er war aus dem schwedischen Wirtschaftsleben nicht wegzudenken; eine Koryphäe wie ein Matts Carlgren von MoDo oder Hans Werthén, damals bei Electrolux. Das Rückgrat der heimischen Industrie und so weiter und so fort.

Aber der Vanger-Konzern, bis auf den heutigen Tag ein Familienunternehmen, war in den letzten fünfundzwanzig Jahren durch verheerende Rationalisierungen und Umstrukturierungen, Börsenkrisen, Zinskrisen, Konkurrenz aus Fernost, sinkende Exportzahlen und andere Unbill gebeutelt worden. All das hatte den Namen Vanger in Misskredit und die Firma in Schwierigkeiten gebracht. Das Unternehmen wurde heute von Martin Vanger geführt, den Mikael als pummeligen Mann mit buschigem Haar kannte, der ab und zu über den Bildschirm flimmerte, über den er ansonsten aber nur wenig wusste. Henrik Vanger war seit fünfundzwanzig Jahren von der Bildfläche verschwunden, und Mikael war sich nicht einmal sicher gewesen, ob er noch lebte.

»Warum will Henrik Vanger mich treffen?«, war seine logische nächste Frage.

»Es tut mir leid, ich bin seit vielen Jahren Henrik Vangers Anwalt, aber er muss Ihnen selbst erzählen, was er von Ihnen will. Ich kann Ihnen allerdings verraten, dass Henrik Vanger über eine eventuelle Zusammenarbeit mit Ihnen sprechen will.«

»Zusammenarbeit? Ich habe nicht die geringste Absicht, für das Unternehmen Vanger zu arbeiten. Brauchen Sie einen Pressesprecher?«

»Nicht diese Art von Arbeit, Herr Blomkvist. Ich weiß nicht, wie ich es anders formulieren soll, aber Herrn Vanger liegt äußerst viel daran, Sie zu treffen und in einer privaten Angelegenheit zurate zu ziehen.«

»Sie drücken sich etwas rätselhaft aus.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Aber gibt es irgendeine Möglichkeit, Sie zu einem Besuch in Hedestad zu überreden? Wir bezahlen Ihnen selbstverständlich die Fahrt und ein angemessenes Honorar.«

»Sie rufen zu einem ungünstigen Zeitpunkt an. Ich habe momentan sehr viel zu tun und … ich schätze, Sie haben in den letzten Tagen auch die Schlagzeilen über mich gelesen.«

»Die Wennerström-Affäre?« Plötzlich gluckste Dirch Frode vergnügt am anderen Ende der Leitung. »Aber ja, das hatte schon einen gewissen Unterhaltungswert. Um die Wahrheit zu sagen, ist Henrik Vanger durch das Aufsehen, das dieser Prozess erregt hat, auf Sie aufmerksam geworden.«

»Ach, tatsächlich? Und wann hätte Herr Vanger gerne, dass ich ihn besuche?«, fragte Mikael.

»So bald wie möglich. Morgen ist Heiligabend, ich denke, da wollen Sie freihaben. Aber was würden Sie zum zweiten Weihnachtsfeiertag sagen? Oder zwischen den Jahren?«

»Sie haben es ja furchtbar eilig. Tut mir leid, aber wenn ich keinen konkreten Anhaltspunkt bekomme, worum es bei diesem Besuch gehen soll, dann …«

»Bitte, Herr Blomkvist, ich versichere Ihnen, dass es sich um ein vollkommen seriöses Angebot handelt. Vanger will Sie und keinen anderen um Rat bitten. Falls Sie interessiert sind, möchte er Ihnen einen Freelancer-Auftrag erteilen. Ich bin nur der Vermittler. Worum es geht, muss er Ihnen selbst erklären.«

»Das ist eines der seltsamsten Telefonate, das ich seit Langem geführt habe. Lassen Sie mich drüber nachdenken. Wie kann ich Sie erreichen?«

Nachdem Mikael aufgelegt hatte, blieb er erst mal sitzen und betrachtete das Chaos auf seinem Schreibtisch. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum Henrik Vanger ihn treffen wollte. Er hatte eigentlich kein großes Interesse, nach Hedestad zu fahren, aber Rechtsanwalt Frode hatte es doch geschafft, ihn neugierig zu machen.

Er schaltete seinen PowerMac G4 ein, gab »www.google. com« ein und suchte nach dem Vanger-Konzern. Er bekam mehrere hundert Treffer - das Unternehmen war in Schwierigkeiten, tauchte aber immer noch fast täglich in den Nachrichten auf. Er speicherte ein Dutzend Artikel, in denen die Firma analysiert wurde, und suchte dann der Reihe nach Informationen über Dirch Frode, Henrik Vanger und Martin Vanger.

Martin Vanger wurde häufig in seiner Eigenschaft als derzeitiger Geschäftsführer des Unternehmens genannt. Der Rechtsanwalt trat weniger in Erscheinung, er war Vorstandsmitglied des Golfclubs Hedestad und wurde in Zusammenhang mit Rotary erwähnt. Henrik Vanger kam mit einer Ausnahme nur in Texten mit Hintergrundinformationen zum Vanger-Konzern vor. Der Hedestads-Kuriren hatte dem ehemaligen Industriemagnaten allerdings ein Kurzporträt gewidmet, als er vor zwei Jahren seinen achtzigsten Geburtstag feierte. Mikael druckte die Texte aus, die ihm Substanz zu haben schienen, und stellte eine Mappe mit ungefähr fünfzig Seiten zusammen. Anschließend räumte er seinen Schreibtisch weiter auf, packte seine Umzugskartons und ging dann nach Hause. Er war nicht sicher, wann oder ob er zurückkehren würde.

Lisbeth Salander verbrachte Heiligabend im Krankenhaus von Äppelvik in Upplands-Väsby. Sie hatte Geschenke gekauft, ein Eau de Toilette von Dior und einen englischen Weihnachtskuchen von Åhléns. Sie trank Kaffee und beobachtete die sechsundvierzigjährige Frau, die mit ungeschickten Fingern versuchte, den Knoten des Geschenkbandes zu lösen. In Salanders Blicken lag Zärtlichkeit, aber sie konnte nie aufhören, sich darüber zu wundern, dass die fremde Frau, die ihr gegenübersaß, ihre Mutter war. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht die geringste Ähnlichkeit feststellen, weder im Aussehen noch in der Persönlichkeit.

Schließlich gab ihre Mutter auf und sah das Paket hilflos an. Es war nicht gerade einer ihrer guten Tage. Lisbeth Salander schob ihr die Schere hinüber, die gut sichtbar auf dem Tisch gelegen hatte, worauf sich das Gesicht der Mutter aufhellte, als wäre sie plötzlich zu sich gekommen.

»Du musst mich für schrecklich dumm halten.«

»Nein, Mama. Du bist nicht dumm. Aber das Leben ist ungerecht.«

»Hast du deine Schwester getroffen?«

»Schon länger nicht mehr.«

»Sie besucht mich nie.«

»Ich weiß, Mama. Mich besucht sie auch nicht.«

»Arbeitest du?«

»Ja, Mama. Ich komme gut zurecht.«

»Wo wohnst du denn? Ich weiß nicht mal, wo du wohnst.«

»Ich wohne in deiner alten Wohnung in der Lundagata. Da wohne ich schon seit ein paar Jahren. Ich konnte den Vertrag übernehmen.«

»Im nächsten Sommer kann ich dich vielleicht einmal besuchen.«

»Natürlich. Nächsten Sommer.«

Zu guter Letzt hatte ihre Mutter das Geschenk auspacken können und schnupperte entzückt. »Danke, Camilla«, sagte sie.

»Ich bin Lisbeth. Camilla ist meine Schwester.«

Die Mutter wirkte beschämt. Lisbeth Salander schlug vor, zusammen in den Fernsehraum zu gehen.

Mikael Blomkvist verbrachte den Nachmittag des 24. Dezember mit der traditionellen Donald-Duck-Sendung zusammen mit seiner Tochter Pernilla, die bei seiner Exfrau Monica und deren neuem Mann in einem Einfamilienhaus in Sollentuna wohnte. Nachdem er die Sache mit Monica besprochen hatte, hatten sie sich geeinigt, dass er seiner Tochter einen iPod schenkte, einen MP3-Player, der nicht wesentlich größer war als eine Streichholzschachtel, aber Pernillas gesamte CD-Sammlung speichern konnte. Und die war ziemlich umfangreich. Ein ganz schön teures Geschenk.

Vater und Tochter verbrachten gemeinsam eine Stunde in ihrem Zimmer im Obergeschoss. Mikael und Pernillas Mutter hatten sich scheiden lassen, als sie erst fünf war, und im Alter von sieben Jahren hatte sie einen neuen Vater bekommen. Es war nicht so, dass Mikael den Kontakt vermieden hätte - Pernilla hatte ihn ein paarmal im Monat besucht und wochenlang Ferien in seinem Häuschen in Sandhamn gemacht. Monica hatte nie versucht, den Kontakt zu verhindern, und Pernilla fühlte sich nicht unwohl bei ihrem Vater, im Gegenteil. Wenn sie ein paar Wochen Urlaub miteinander verbrachten, hatten sie sich immer gut verstanden. Aber Mikael ließ seine Tochter selbst bestimmen, wie viel Kontakt sie mit ihm haben wollte, besonders, seitdem Monica wieder geheiratet hatte. Als Pernilla ins Teenageralter kam, war der Kontakt fast ganz zum Erliegen gekommen, und erst in den letzten zwei Jahren hatte sie ihn wieder öfter treffen wollen.

Pernilla hatte den Prozess gegen ihren Vater in der festen Überzeugung verfolgt, dass es so war, wie er beteuerte: Er war unschuldig, konnte es aber nicht beweisen.

Sie erzählte von einem Jungen aus der Parallelklasse, auf den sie ein Auge geworfen hatte, und eröffnete ihrem überraschten Vater, dass sie einer Kirchengemeinde im Ort beigetreten war und sich als gläubig betrachtete. Er gab keinen Kommentar dazu ab.

Sie luden ihn ein, zum Abendessen zu bleiben, doch er lehnte ab. Er hatte bereits verabredet, dass er Heiligabend bei seiner Schwester und ihrer Familie in ihrer Villa im Yuppie-Reservat bei Stäket verbringen würde.

Am Morgen hatte er überdies die Einladung bekommen, Weihnachten mit Erika und ihrem Mann auf der Schäreninsel Saltsjöbaden zu feiern. Er hatte mit dem Hinweis abgelehnt, auch Greger Beckmans wohlwollende Einstellung zu aufregenden Dreiecksbeziehungen müsse doch eine Grenze haben, und er habe keine Lust auszuloten, wo diese Grenze verlaufe. Erika wandte ein, ihr Mann selbst habe diese Einladung vorgeschlagen, und zog Mikael damit auf, dass er zu einem richtigen Dreier wohl doch nicht bereit sei. Er lachte - Erika wusste um seine unerschütterliche Heterosexualität -, aber von seinem Beschluss, Heiligabend nicht in Gesellschaft des Ehemanns seiner Geliebten zu verbringen, war er nicht abzubringen.

Also klopfte er stattdessen bei seiner Schwester Annika Blomkvist, verheiratete Giannini an, die gemeinsam mit ihrem italienischstämmigen Mann, ihren zwei Kindern und einem ganzen Heer von Verwandten ihres Mannes gerade den Weihnachtsschinken anschnitt. Während des Abendessens beantwortete er Fragen zu seinem Prozess und bekam unzählige wohlmeinende, aber völlig nutzlose Ratschläge.

Mikaels Schwester war die Einzige, die das Urteil nicht kommentierte - andererseits war sie aber auch die einzige anwesende Anwältin. Annika hatte im Eiltempo ihr Jurastudium absolviert und mehrere Jahre als Referendarin und stellvertretende Staatsanwältin gearbeitet, bevor sie mit ein paar Freunden eine eigene Rechtsanwaltskanzlei in Kungsholm aufmachte. Sie spezialisierte sich auf Familienrecht, und bevor Mikael es sich versah, war seine kleine Schwester immer öfter als bekannte Feministin und Anwältin für die Rechte der Frauen in Zeitungen und Talkshows aufgetaucht. Sie vertrat oft Frauen, die von ihren Ehemännern oder Exfreunden bedroht oder verfolgt wurden.

Als Mikael ihr half, den Kaffeetisch zu decken, legte sie ihm die Hand auf den Arm und fragte, wie es ihm ginge. Er erklärte, er fühle sich wie ein Haufen Scheiße.

»Nimm dir das nächste Mal einen richtigen Anwalt«, sagte sie.

»In diesem Fall hätte das wohl auch nichts geholfen, ganz egal, was für einen Anwalt ich gehabt hätte.«

»Was ist da eigentlich passiert?«

»Lass uns ein andermal darüber sprechen, Schwesterherz.«

Sie umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange, bevor sie mit dem Kuchen und den Kaffeetassen ins Zimmer gingen.

Gegen sieben Uhr abends entschuldigte sich Mikael und bat, das Telefon in der Küche benutzen zu dürfen. Er rief Dirch Frode an und konnte im Hintergrund Stimmengewirr hören.

»Frohe Weihnachten«, wünschte Frode. »Haben Sie sich entschieden?«

»Ich habe ansonsten nichts vor, und es ist Ihnen gelungen, meine Neugier zu wecken. Ich komme am zweiten Weihnachtsfeiertag, wenn Ihnen das recht ist.«

»Ausgezeichnet! Wenn Sie wüssten, wie froh ich über Ihre Nachricht bin. Entschuldigen Sie bitte, ich habe Kinder und Enkel zu Besuch und kann kaum verstehen, was Sie sagen. Darf ich Sie morgen anrufen, damit wir eine Zeit ausmachen können?«

Mikael Blomkvist bereute seinen Entschluss noch am selben Abend, doch schien es ihm schlecht möglich, seine Zusage noch zurückzuziehen. Am Morgen des 26. Dezember saß er im Zug Richtung Norden. Mikael besaß zwar einen Führerschein, hatte es aber nie für nötig befunden, sich ein Auto zuzulegen.

Frode hatte recht gehabt, die Fahrt dauerte nicht lang. Er fuhr an Uppsala vorbei und passierte danach eine Reihe kleiner Industriestädte, die sich wie an einer Schnur die norrländische Küste entlangzogen. Hedestad war einer der kleineren Orte, wenig mehr als eine Stunde nördlich von Gävle gelegen.

In der Nacht zum 26. hatte es heftig geschneit, doch als er am Bahnhof ausstieg, war es ganz klar und die Luft eiskalt. Mikael begriff, dass er für das Winterwetter in Norrland völlig falsch angezogen war, aber Dirch Frode erkannte ihn sofort, empfing ihn freundlich auf dem Bahnsteig und brachte ihn rasch in die wohlige Wärme eines Mercedes. In Hedestad selbst waren die Räumfahrzeuge gerade bei der Arbeit, und Frode steuerte das Auto vorsichtig zwischen den hohen Schneebergen am Fahrbahnrand hindurch. Der Schnee wirkte wie ein exotischer Kontrast zu Stockholm, fast wie eine fremde Welt. Und doch war er kaum mehr als drei Stunden von der Hauptstadt entfernt. Mikael warf einen verstohlenen Blick auf den Anwalt: ein kantiges Gesicht, schütteres weißes Stoppelhaar und eine dicke Brille auf der kräftigen Nase.

»Zum ersten Mal in Hedestad?«, fragte Frode.

Mikael nickte.

»Alte Industriestadt mit Hafen. Nicht groß, gerade mal 24 000 Einwohner. Aber den Leuten gefällt es hier. Henrik wohnt in Gamla Hedeby, das liegt genau am südlichen Stadtrand.«

»Wohnen Sie auch hier?«

»Das hat sich so ergeben. Ich bin in Skåne geboren, habe aber direkt nach meinem Examen 1962 angefangen, für Vanger zu arbeiten. Ich bin Wirtschaftsjurist, und Henrik und ich wurden mit der Zeit Freunde. Heute bin ich eigentlich schon im Ruhestand, nur Henrik ist mein Mandant geblieben. Mittlerweile ist er natürlich auch pensioniert und benötigt meine Dienste nicht mehr so oft.«

»Nur, um Reporter mit angeschlagenem Ruf aufzutreiben.«

»Unterschätzen Sie sich nicht. Sie sind nicht der Einzige, der ein Match gegen Wennerström verloren hat.«

Mikael warf Frode einen verstohlenen Blick zu, unsicher, wie er dessen Antwort deuten sollte.

»Hat diese Einladung hier irgendetwas mit Wennerström zu tun?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Frode. »Aber Henrik Vanger gehört nicht gerade zu Wennerströms Freundeskreis und hat den Prozess mit Interesse verfolgt. Sie will er jedoch in einer ganz anderen Angelegenheit treffen.«

»Von der Sie mir nichts erzählen wollen.«

»Von der zu erzählen nicht meine Sache ist. Wir haben für Sie eine Übernachtung in Henrik Vangers Haus arrangiert. Wenn Sie das nicht wollen, können wir Ihnen auch ein Zimmer im Stora Hotel in der Stadt buchen.«

»Ach, ich denke, ich nehme wahrscheinlich den Abendzug zurück nach Stockholm.«

In Gamla-Hedeby war noch nicht geräumt, und Frode bewegte das Auto mühsam durch die gefrorenen Reifenspuren vorwärts. Es gab einen Ortskern mit alten Arbeiterreihenhäusern aus Holz entlang dem Bottnischen Meerbusen. Rundherum standen modernere und größere Häuser. Die Stadt begann auf dem Festland und setzte sich dann über eine Brücke auf eine hügelige Insel fort. Auf der Festlandseite stand eine kleine weiße Steinkirche direkt an der Brücke, und gegenüber befand sich eine altmodische Leuchtreklame mit der Aufschrift Susannes Brücken-Café und Bäckerei. Frode fuhr noch ungefähr hundert Meter weiter geradeaus und bog dann links ab auf einen frisch geräumten Platz vor einem Steinhaus. Der Hof war zu klein, um ihn als Herrenhof zu bezeichnen, aber deutlich größer als die übrigen Häuser und verriet unzweifelhaft, dass hier der Hausherr wohnte.

»Das hier ist das Vangersche Anwesen«, sagte Frode. »Früher einmal war es voller Leben, heute wohnen nur noch Henrik und eine Haushälterin darin. Es gibt jede Menge Gästezimmer.«

Sie stiegen aus dem Auto. Frode zeigte nach Norden.

»Hier pflegten die Geschäftsführer des Vanger-Konzerns zu wohnen, aber Martin Vanger wollte etwas Moderneres und hat sich unten auf der Landzunge eine Villa gebaut.«

Mikael sah sich um und fragte sich, aus welchem verrückten Impuls heraus er Frodes Einladung angenommen hatte. Er beschloss, nach Möglichkeit schon am Abend nach Stockholm zurückzufahren. Eine Steintreppe führte zum Eingang, aber bevor sie dort waren, öffnete sich schon die Tür. Mikael erkannte Henrik Vanger nach den Bildern im Internet sofort wieder.

Auf diesen Bildern war er jünger gewesen, aber für seine zweiundachtzig Jahre sah er überraschend kräftig aus. Ein sehniger Körper mit einem markanten, wettergegerbten Gesicht und dichten grauen, nach hinten gekämmten Haaren, die vermuten ließen, dass seine Gene nicht zur Kahlköpfigkeit tendierten. Er trug eine sorgfältig gebügelte schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine abgetragene braune Strickjacke. Er hatte einen schmalen Schnurrbart und eine dünne Brille mit Stahlrahmen.

»Ich bin Henrik Vanger«, sagte er zur Begrüßung. »Danke, dass Sie den langen Weg auf sich genommen haben.«

»Guten Tag. Das war eine ziemlich überraschende Einladung.«

»Kommen Sie doch herein, drinnen ist es schön warm. Ich habe ein Gästezimmer vorbereiten lassen. Wollen Sie sich kurz frisch machen? Wir essen nachher zu Abend. Das hier ist Anna Nygren, die sich um mich kümmert.«

Mikael schüttelte kurz die Hand einer kleinen Frau um die sechzig, die ihm die Jacke abnahm und sie an eine Garderobe hängte. Zum Schutz vor der Kälte, die vom Fußboden aufstieg, bot sie Mikael Pantoffeln an.

Mikael bedankte sich und wandte sich dann direkt an Henrik Vanger. »Ich bin nicht sicher, ob ich bis zum Abendessen bleibe. Das kommt ganz darauf an, worauf dieses Spielchen hier hinausläuft.«

Henrik Vanger tauschte einen kurzen Blick mit Dirch Frode. Zwischen den beiden Männern gab es ein stummes Einverständnis, das Mikael nicht deuten konnte.

»Ich glaube, ich werde mich bei dieser Gelegenheit von Ihnen verabschieden«, sagte Dirch Frode. »Ich muss heimfahren und nach meinen Enkeln sehen, bevor sie mir das Haus zerlegen.«

Er wandte sich an Mikael.

»Ich wohne rechter Hand auf der anderen Seite der Brücke. Dort können Sie in fünf Minuten zu Fuß hinüberspazieren, es ist das dritte Haus am Wasser, neben der Konditorei. Und wenn Sie mich brauchen, müssen Sie mich nur anrufen.«

Mikael nutzte die Gelegenheit, um seine Hand in die Jackentasche zu stecken und ein Diktiergerät einzuschalten. Paranoid, ich? Mikael hatte keine Ahnung, was Henrik Vanger von ihm wollte, aber nach den Scherereien, die er dieses Jahr mit Wennerström gehabt hatte, wollte er eine exakte Dokumentation aller seltsamen Ereignisse in seiner Umgebung. Und eine plötzliche Einladung nach Hedestad gehörte definitiv in diese Kategorie.

Der ehemalige Großindustrielle klopfte Dirch Frode zum Abschied auf die Schulter und zog die Tür zu, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit auf Mikael richtete.

»Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Das hier ist kein Spiel. Was ich Ihnen zu sagen habe, erfordert ein längeres Gespräch. Ich bitte Sie also, mir in Ruhe zuzuhören, und erst danach zu entscheiden. Sie sind Journalist, und ich würde Ihnen gerne einen freiberuflichen Auftrag erteilen. Anna hat in meinem Arbeitszimmer im Obergeschoss Kaffee vorbereitet.«

Henrik Vanger ging voraus, und Mikael folgte ihm. Sie betraten ein längliches, an die 40 Quadratmeter großes Zimmer an der Giebelseite des Hauses. Eine Wand wurde von einem zehn Meter langen, vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherregal dominiert, das eine einzigartige Mischung aus Belletristik, Biografien, Geschichtsbüchern, Fachliteratur über Handel und Industrie sowie A4-Ordnern enthielt. Die Bücher waren nach keinem erkennbaren System geordnet. Es sah aus wie ein Bücherregal, das tatsächlich in Gebrauch ist, und Mikael folgerte, dass Henrik Vanger ein großer Leser war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein imposanter Schreibtisch aus dunkler Eiche, sodass man, wenn man hinter dem Tisch saß, in den Raum hineinblickte. An der Wand hing eine große Sammlung gepresster, penibel gerahmter Blumen.

Durch das Giebelfenster hatte Henrik Vanger Ausblick auf die Brücke und die Kirche. Vor dem Fenster befand sich eine Sitzgruppe mit einem Serviertischchen, auf dem Anna Geschirr, eine Thermoskanne, selbst gebackene Zimtröllchen und Kuchen angerichtet hatte.

Henrik Vanger machte eine einladende Geste, die Mikael geflissentlich übersah. Stattdessen drehte er eine Runde durchs Zimmer und studierte zunächst das Bücherregal und danach die Wand mit den gerahmten Blumen. Der Schreibtisch war säuberlich aufgeräumt, ein paar einzelne Blätter waren zu einem Stoß aufgeschichtet. Ganz hinten auf dem Tisch stand die gerahmte Fotografie eines hübschen dunkelhaarigen Mädchens mit herausforderndem Blick. Eine junge Dame, die in absehbarer Zeit gefährlich werden wird, dachte Mikael. Das Bild war offensichtlich ein Konfirmationsporträt und so verblasst, dass es schon seit Jahren dort stehen musste. Plötzlich wurde Mikael gewahr, dass Henrik Vanger ihn beobachtete.

»Können Sie sich an sie erinnern, Mikael?«, fragte er.

»Erinnern?« Mikael zog die Augenbrauen hoch.

»Ja, Sie sind ihr schon begegnet. Sie sind sogar schon einmal in diesem Zimmer gewesen.«

Mikael sah sich um und schüttelte den Kopf.

»Nein - wie könnten Sie sich auch daran erinnern! Ich kannte Ihren Vater. Ich habe Kurt Blomkvist in den fünfziger und sechziger Jahren mehrmals Aufträge gegeben; er hat als Installateur und Maschinentechniker für mich gearbeitet. Ein talentierter Kerl war das. Ich versuchte ihn zu überreden, sich fortzubilden und Ingenieur zu werden. Sie waren den ganzen Sommer 1963 hier, als wir den Maschinenpark einer Papierfabrik in Hedestad auswechselten. Es war schwierig, eine Wohnung für Ihre Familie zu finden. Wir haben das Problem damals so gelöst, dass Sie in dem kleinen Holzhaus auf der anderen Seite der Straße wohnten. Sie können das Haus von diesem Fenster aus sehen.«

Henrik Vanger trat an den Schreibtisch und nahm das Porträt in die Hand.

»Das ist Harriet Vanger, die Enkelin meines Bruders Richard Vanger. Sie hat in jenem Sommer ein paarmal auf Sie aufgepasst. Sie waren damals zwei oder drei Jahre alt - ich erinnere mich nicht. Harriet war zwölf.«

»Sie müssen verzeihen, aber ich habe nicht die geringste Erinnerung an die Dinge, die Sie mir da erzählen.« Mikael war nicht einmal völlig überzeugt davon, dass Henrik Vanger die Wahrheit sagte.

»Das kann ich verstehen. Aber ich erinnere mich an Sie. Sie sind hier überall auf dem Hof herumgesprungen, mit Harriet im Schlepptau. Wenn Sie irgendwo auf die Nase fielen, konnte ich Sie schreien hören. Ich erinnere mich, dass ich Ihnen einmal ein Spielzeug gegeben habe, einen gelben Blechtraktor, mit dem ich selbst als Kind gespielt hatte und der Sie in hellste Begeisterung versetzte. Ich glaube zumindest, dass er gelb war.«

Plötzlich wurde Mikael innerlich kalt. Allerdings erinnerte er sich an den gelben Traktor. Als er älter wurde, hatte er immer noch zur Zierde auf einem Regal in seinem Kinderzimmer gestanden.

»Erinnern Sie sich daran?«

»Ja, ich erinnere mich. Vielleicht amüsiert es Sie zu hören, dass es diesen Traktor immer noch gibt, im Spielzeugmuseum am Mariatorget in Stockholm. Ich habe ihn gestiftet, als sie vor zehn Jahren altes Originalspielzeug suchten.«

»Wirklich?« Henrik Vanger gluckste vergnügt. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen …«

Der alte Mann trat ans Bücherregal und zog ein Fotoalbum aus einem der unteren Fächer. Mikael bemerkte, dass er offenbar Schwierigkeiten mit dem Bücken hatte und sich deshalb am Regal abstützte, als er sich wieder aufrichtete. Henrik Vanger machte Mikael ein Zeichen, sich aufs Sofa zu setzen, während er im Fotoalbum blätterte. Er wusste, wonach er suchte, und legte das Album kurz darauf auf das Tischchen. Er deutete auf ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem man den Schatten des Fotografen am unteren Rand erkennen konnte. Im Vordergrund stand ein hellhaariger, kleiner Junge mit kurzer Hose, der verwirrt und ein bisschen ängstlich in die Kamera starrte.

»Das hier sind Sie, in jenem Sommer. Ihre Eltern sitzen auf den Gartenmöbeln im Hintergrund. Harriet wird halb verdeckt von ihrer Mutter, und der Junge links neben Ihrem Vater ist Harriets Bruder, Martin Vanger, der heute den Vanger-Konzern führt.«

Mikael erkannte ohne Probleme seine Eltern wieder. Seine Mutter war offenkundig schwanger - seine Schwester musste damals also unterwegs gewesen sein. Er betrachtete das Bild mit gemischten Gefühlen, während Henrik Vanger Kaffee einschenkte und ihm die Schüssel mit dem Gebäck zuschob.

»Ich weiß, dass Ihr Vater tot ist. Lebt Ihre Mutter noch?«

»Nein«, erwiderte Mikael. »Sie ist vor drei Jahren gestorben.«

»Sie war eine nette Frau. Ich kann mich sehr gut an sie erinnern.«

»Herr Vanger, ich bin sicher, Sie haben mich nicht hierhergebeten, um mit mir über alte Erinnerungen an meine Eltern zu reden.«

»Da haben Sie völlig recht. Ich habe mehrere Tage darüber nachgedacht, was ich Ihnen sagen will. Aber jetzt, wo Sie mir endlich gegenübersitzen, weiß ich nicht recht, wie ich anfangen soll. Ich nehme an, Sie haben einiges über mich gelesen, bevor Sie hierhergekommen sind. Dann wissen Sie auch, dass ich früher einmal großen Einfluss auf die schwedische Industrie und den Arbeitsmarkt gehabt habe. Heute bin ich ein alter Mann, der vermutlich bald sterben wird, und vielleicht ist der Tod sogar ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für dieses Gespräch.«

Mikael nahm einen Schluck schwarzen Kaffee und fragte sich, worauf diese Geschichte hinauslaufen würde.

»Ich habe Schmerzen in der Hüfte und Schwierigkeiten mit längeren Spaziergängen. Eines Tages werden Sie selbst entdecken, wie alten Männern die Kräfte schwinden, aber ich bin weder altersschwach noch senil. Ich bin auch nicht besessen vom Tod, habe jedoch ein Alter erreicht, in dem ich akzeptieren muss, dass meine Tage gezählt sind. Es kommt einmal eine Zeit, da will man Bilanz ziehen und reinen Tisch machen. Verstehen Sie das?«

Mikael nickte. Vanger sprach mit deutlicher und fester Stimme, und Mikael hatte bereits bemerkt, dass der alte Mann weder senil noch unvernünftig war. »Ich bin sehr neugierig zu erfahren, warum ich hier bin«, wiederholte er.

»Ich habe Sie gebeten zu kommen, weil ich Sie bei eben dieser Schlussbilanz um Hilfe bitten will. Es gibt da noch ein paar unaufgeklärte Angelegenheiten.«

»Warum gerade ich? Ich meine … was verleitet Sie zu der Annahme, dass ich Ihnen helfen könnte?«

»Weil gerade zu dem Zeitpunkt, als ich darüber nachdachte, jemand zu beauftragen, Ihr Name im Zusammenhang mit der Wennerström-Affäre aktuell wurde. Ich wusste ja, wer Sie sind. Und vielleicht auch deswegen, weil Sie als kleiner Knirps schon auf meinem Knie gesessen haben.« Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Nein, missverstehen Sie mich nicht. Ich rechne nicht damit, dass Sie mir aus sentimentalen Gründen helfen. Ich erkläre Ihnen nur, was mich dazu trieb, ausgerechnet zu Ihnen Kontakt aufzunehmen.«

Mikael lachte freundlich. »Tja, an dieses Knie kann ich mich wirklich nicht erinnern. Aber woher konnten Sie wissen, wer ich war? Ich meine, das war Anfang der sechziger Jahre.«

»Entschuldigen Sie, Sie haben mich missverstanden. Sie sind nach Stockholm gezogen, als Ihr Vater eine Anstellung als Betriebsleiter bei Zarinders Mekaniska bekam. Das war eines der vielen Unternehmen, die zum Vanger-Konzern gehörten, und ich habe ihm diesen Job verschafft. Er hatte keine Ausbildung, aber ich wusste, was in ihm steckte. Ich habe Ihren Vater ein paarmal pro Jahr getroffen, wenn ich bei Zarinders etwas zu erledigen hatte. Wir waren sicher keine engen Freunde, aber wir haben uns immer ein bisschen unterhalten, wenn wir uns wieder begegneten. Das letzte Mal traf ich ihn ein Jahr vor seinem Tod, und da erzählte er mir, dass Sie Journalistik studierten. Er war unglaublich stolz. Dann wurden Sie ja schnell im ganzen Land bekannt durch diese Bankräuberbande - Kalle Blomkvist und all das. Ich habe Ihren Weg mitverfolgt und im Laufe der Jahre viele Ihrer Artikel gelesen. Tatsächlich lese ich Millennium ziemlich oft.«

»Okay, ich verstehe. Aber was genau soll ich jetzt eigentlich für Sie tun?«

Henrik Vanger sah kurz auf seine Hände hinunter und nippte dann an seinem Kaffee, als brauchte er eine kleine Pause, bevor er sich endlich seinem Anliegen nähern konnte.

»Mikael, bevor ich anfange, will ich gerne eine Abmachung mit Ihnen treffen. Ich möchte, dass Sie zwei Dinge für mich tun. Das eine ist ein Vorwand und das andere ist mein eigentlicher Auftrag.«

»Was für eine Abmachung?«

»Ich werde Ihnen eine zweiteilige Geschichte erzählen. Der erste Teil handelt von der Familie Vanger. Das ist der Vorwand. Es ist eine lange und dunkle Geschichte, aber ich werde versuchen, mich an die ungeschminkte Wahrheit zu halten. Der andere Teil dieser Geschichte handelt von meinem eigentlichen Anliegen. Ich glaube, Sie werden meine Erzählung streckenweise als ein wenig … verrückt empfinden. Was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie sich meine Geschichte ganz zu Ende anhören - auch das, was Sie für mich tun sollen und was ich Ihnen dafür anbiete -, bevor Sie entscheiden, ob Sie den Auftrag annehmen wollen oder nicht.«

Mikael seufzte. Es war offensichtlich, dass Henrik Vanger nicht vorhatte, sich kurz zu fassen. Und selbst wenn er Frode anrief und ihn bat, ihn zum Bahnhof zu fahren, würde dessen Auto wegen der Kälte nicht anspringen, da war er ganz sicher.

Offenbar hatte der alte Mann viel Zeit darauf verwendet, sich den richtigen Köder für ihn auszudenken. Mikael hatte den Eindruck, dass alles eine wohlüberlegte Inszenierung war: die überraschende Eröffnung, dass er Henrik Vanger als Kind schon begegnet war; das Bild seiner Eltern im Fotoalbum und die Betonung, dass Mikaels Vater und Henrik Vanger Freunde gewesen waren; die Schmeichelei, dass er wusste, wer Mikael Blomkvist war und dass er seine Karriere über die Jahre aus der Ferne beobachtet hatte … in all dem steckte vermutlich ein Körnchen Wahrheit, aber es war auch ganz elementare Psychologie. Mit anderen Worten: Henrik Vanger konnte Menschen gut manipulieren und hatte im Laufe der Jahre auf geheimen Vorstandssitzungen Erfahrungen mit bedeutend tougheren Menschen sammeln können. Nicht zufällig war er zu einem von Schwedens führenden Industriemagnaten aufgestiegen.

Mikael folgerte, dass Henrik Vanger etwas von ihm wollte, wozu er nicht die geringste Lust hatte. Jetzt galt es nur noch herauszufinden, was es war, und danach abzulehnen. Und möglicherweise doch noch den Nachmittagszug zu erwischen.

»Sorry, no deal«, antwortete Mikael. Er sah auf die Uhr. »Ich bin seit zwanzig Minuten hier. Ich gebe Ihnen genau dreißig Minuten, mir zu erklären, was Sie wollen. Danach rufe ich mir ein Taxi und fahre nach Hause.«

Einen Augenblick lang fiel Henrik Vanger aus seiner Rolle als gutherziger Patriarch, und Mikael konnte ahnen, wie der rücksichtslose Geschäftsführer auf dem Höhepunkt seiner Macht ausgesehen hatte, wenn er auf Widerstand stieß oder sich mit einem widerspenstigen Juniorgeschäftsführer auseinandersetzen musste. Ebenso schnell kräuselte wieder ein grimmiges Lächeln seine Lippen.

»Ich verstehe.«

»Sagen Sie mir einfach ohne Umschweife, was ich für Sie tun soll; dann kann ich entscheiden, ob ich es tun will oder nicht.«

»Wenn ich Sie in dreißig Minuten nicht überzeugen kann, schaffe ich es auch nicht in dreißig Tagen, wollen Sie damit sagen.«

»So ungefähr.«

»Aber die Vorgeschichte ist wirklich lang und kompliziert.«

»Verkürzen und vereinfachen Sie sie. Das ist in Journalistenkreisen so üblich. Neunundzwanzig Minuten.«

Henrik Vanger hob eine Hand. »Das reicht. Ich habe begriffen, worum es Ihnen geht. Ich brauche einen Menschen, der recherchieren und kritisch denken kann, der aber auch integer ist. Ein guter Journalist sollte diese Eigenschaften vermutlich besitzen, und ich habe Ihr Buch Die Tempelritter mit großem Interesse gelesen. Es ist wahr, dass ich Sie ausgewählt habe, weil ich Ihren Vater kannte und weiß, wer Sie sind. Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie nach der Wennerström-Affäre von Ihrer Zeitung entlassen worden oder aus eigenem Wunsch ausgeschieden. Das bedeutet, dass Sie in nächster Zukunft keine Anstellung haben, und es bedarf keines großen Scharfsinns, um zu vermuten, dass Sie in finanziellen Schwierigkeiten sind.«

»Und diese Schwierigkeiten kommen Ihnen gerade recht?«

»Möglicherweise. Aber Mikael - ich darf Sie doch Mikael nennen? -, ich will Sie nicht anlügen oder Vorwände erfinden. Für so etwas bin ich zu alt. Wenn Ihnen mein Angebot nicht zusagt, können Sie mir sagen, dass ich mich zum Teufel scheren soll. Dann muss ich mir jemand anders suchen, der für mich arbeiten will.«

»Okay, worin besteht der Job, den Sie mir anbieten wollen?«

»Wie viel wissen Sie über die Familie Vanger?«

Mikael zuckte mit den Achseln. »Na ja, so viel wie ich eben im Internet nachlesen konnte, seit Frode mich am Montag angerufen hat. Zu Ihrer Zeit war Vanger einer der wichtigsten schwedischen Industriekonzerne, heute ist das Unternehmen beträchtlich dezimiert. Martin Vanger ist Geschäftsführer. Okay, ich weiß noch eine Menge mehr, aber worauf wollen Sie hinaus?«

»Martin ist … er ist ein guter Kerl, aber im Grunde ein Mensch, der sich noch nie mit richtigen Schwierigkeiten auseinandergesetzt hat. Er ist als Geschäftsführer völlig unzureichend für einen krisengeschüttelten Konzern. Er will modernisieren und die Produktion spezialisieren - was an sich ein richtiger Gedanke ist -, aber er tut sich schwer, seine Ideen durchzusetzen, und noch schwerer, die nötige Finanzierung auf die Beine zu stellen. Vor fünfundzwanzig Jahren war Vanger noch ein ernster Konkurrent für das Imperium der Wallenberg-Familie. Wir hatten ungefähr 40 000 Angestellte in Schweden. Das bedeutete Arbeitsplätze und Einkünfte für das ganze Land. Heute sind die meisten dieser Arbeitsplätze in Korea oder Brasilien. Wir sind derzeit bei knapp 10 000 Angestellten, und in ein oder zwei Jahren - wenn Martin bis dahin nicht ein bisschen Aufwind bekommen hat - müssen wir die Mitarbeiterzahl auf 5000 Angestellte reduzieren, hauptsächlich in den kleinen Zulieferbetrieben. Mit anderen Worten: Das Unternehmen Vanger steht im Begriff, auf der Mülldeponie der Geschichte zu landen.«

Mikael nickte. Was Henrik Vanger erzählte, entsprach in ungefähr dem, was er selbst innerhalb kürzester Zeit am Computer herausgefunden hatte.

»Vanger ist immer noch eins der größten Familienunternehmen des Landes. Knapp dreißig Familienmitglieder sind Teilhaber, mit unterschiedlich großen Anteilen. Das war immer eine der Stärken des Konzerns, aber auch unser größter Nachteil.«

Vanger legte eine Kunstpause ein und sprach dann eindringlich weiter. »Mikael, Sie können Ihre Fragen später stellen, aber Sie müssen mir unbedingt glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich die meisten Mitglieder der Familie Vanger hasse. Meine Familie besteht größtenteils aus Räubern, Geizkragen, Tyrannen und Taugenichtsen. Ich habe das Unternehmen fünfunddreißig Jahre lang geführt - fast die ganze Zeit in unversöhnlichem Konflikt mit allen anderen Familienmitgliedern. Sie waren meine schlimmsten Feinde, nicht konkurrierende Firmen oder der Staat.«

Er machte eine Pause.

»Ich habe gesagt, dass ich Sie mit zwei Dingen beauftragen will. Ich möchte, dass Sie eine Art historische Abhandlung oder Biografie der Familie Vanger schreiben. Einfacher ausgedrückt, können wir es auch meine Autobiografie nennen. Das wird sicher keine Sonntagspredigt werden, sondern eine Geschichte von Hass und Familienstreitigkeiten und maßloser Habsucht. Ich stelle Ihnen meine gesamten Tagebücher und Archive zur Verfügung. Sie haben freien Zugang zu meinen innersten Gedanken und können den ganzen Mist, den Sie zutage fördern, ohne Einschränkung veröffentlichen. Ich glaube, neben dieser Geschichte wird Shakespeare wie seichte Familienunterhaltung aussehen.«

»Warum?«

»Warum ich will, dass Sie eine Skandalchronik der Familie Vanger veröffentlichen? Oder was ich für Motive habe, Sie um die Ausarbeitung dieser Abhandlung zu bitten?«

»Beides, würde ich sagen.«

»Ich will Sie nicht belügen, Mikael. Ehrlich gesagt, ist es mir egal, ob das Buch veröffentlicht wird oder nicht. Aber ich finde, dass die Geschichte auf jeden Fall niedergeschrieben werden muss, wenn auch nur in einem einzigen Exemplar, das Sie direkt an die Königliche Bibliothek schicken. Nach meinem Tod soll das Buch dann der Nachwelt zugänglich gemacht werden. Mein Motiv ist das einfachste, das man sich nur denken kann: Rache.«

»An wem wollen Sie sich rächen?«

»Sie brauchen mir nicht zu glauben, aber ich habe mich immer bemüht, ein Ehrenmann zu sein, auch als Kapitalist und Chef eines Unternehmens. Ich bin stolz darauf, dass der Name Henrik Vanger für einen Mann steht, der sein Wort gehalten und seine Versprechen erfüllt hat. Ich habe niemals politische Spielchen betrieben. Ich habe bei Verhandlungen nie Probleme mit den Gewerkschaften gehabt, und sogar ein Tage Erlander hatte seinerzeit Respekt vor mir. Es ging mir um Ethik: Ich trug die Verantwortung für das Auskommen mehrerer tausend Menschen, und ich sorgte für meine Angestellten. Martin hat dieselbe Einstellung, wenn er auch ein ganz anderer Mensch ist als ich. Auch er hat versucht, das Richtige zu tun. Es ist uns vielleicht nicht immer gelungen, aber im Großen und Ganzen gibt es wenig, wofür ich mich schäme.

Leider sind Martin und ich die seltenen Ausnahmen in unserer Familie«, fuhr Vanger fort. »Es gibt viele Gründe, warum der Konzern heute auf dem absteigenden Ast ist, doch einer der wichtigsten ist die kurzsichtige Gier, die viele meiner Verwandten an den Tag legen. Wenn Sie den Auftrag annehmen, werde ich genau erklären, wie sie es angestellt haben, das Unternehmen derart in den Morast zu fahren.«

Mikael überlegte kurz.

»Okay. Ich werde Sie auch nicht belügen. Es würde Monate in Anspruch nehmen, so ein Buch zu schreiben. Und ich habe weder die Lust noch die Kraft dazu.«

»Ich glaube, ich kann Sie überreden.«

»Das bezweifle ich. Aber Sie haben gesagt, dass ich zwei Dinge für Sie tun soll. Das hier war also der Vorwand. Was ist Ihre eigentliche Absicht?«

Henrik Vanger stand auf, abermals mit großer Mühe, und holte Harriet Vangers Foto vom Schreibtisch. Er stellte es vor Mikael hin.

»Der Grund, warum ich von Ihnen eine Biografie der Familie Vanger will, ist Folgender: Ich möchte, dass Sie die Individuen mit den Augen eines Journalisten betrachten. Das verschafft Ihnen auch ein Alibi, in der Familiengeschichte zu wühlen. Was ich eigentlich von Ihnen möchte, ist, dass Sie ein Rätsel lösen. Das ist Ihr Auftrag.«

»Ein Rätsel?«

»Harriet war die Enkelin meines Bruders Richard. Wir waren fünf Brüder. Richard war der Älteste, Jahrgang 1907. Ich war der Jüngste, Jahrgang 1920. Ich verstehe nicht, wie Gott so eine Kinderschar zustande bringen konnte, die …«

Für ein paar Sekunden verlor Vanger den Faden und schien in Gedanken versunken. Dann wandte er sich mit neuer Entschlossenheit in der Stimme wieder Mikael zu.

»Lassen Sie mich von meinem Bruder Richard erzählen. Damit bekommen Sie gleich eine Kostprobe aus der Familienchronik, die ich von Ihnen geschrieben haben möchte.«

Er füllte seine Tasse auf und bot auch Mikael noch einmal Kaffee an.

»1924, im Alter von siebzehn Jahren, war Richard ein fanatischer Nationalist und Antisemit, der sich dem SNFF, dem Schwedischen Nationalsozialistischen Freiheitsverbund, anschloss, eine der ersten Nazigruppen in Schweden. Faszinierend, wie es den Nazis immer wieder gelingt, das Wort ›Freiheit‹ in ihrer Propaganda unterzubringen.«

Vanger suchte ein weiteres Fotoalbum heraus und schlug die richtige Seite auf.

»Hier ist Richard zusammen mit dem Tierarzt Birger Furugård zu sehen, der später Anführer der sogenannten Furugård-Bewegung wurde, der großen Nazi-Bewegung der frühen dreißiger Jahre. Aber Richard blieb nicht bei ihm. Nur wenige Jahre darauf war er Mitglied in Schwedens Faschistischer Kampforganisation, der SFKO. Dort lernte er Per Engdahl und andere Personen kennen, die mit der Zeit die politischen Schandflecken der Nation werden sollten.«

Er blätterte um. Richard Vanger in Uniform.

»1927 ließ er sich fürs Militär anwerben - gegen den Willen unseres Vaters -, und in den dreißiger Jahren graste er den Großteil der Nazi-Gruppierungen des Landes ab. Wenn es irgendwo eine krankhafte konspirative Vereinigung gab, konnte man sicher sein, dass sein Name im Mitgliederverzeichnis auftauchte. 1933 wurde die Lindholm-Bewegung gegründet, also die Nationalsozialistische Arbeiterpartei NSAP. Wie bewandert sind Sie in der Geschichte des schwedischen Nazismus?«

»Ich bin kein Historiker, aber ich habe das eine oder andere Buch gelesen.«

»1939 begann der Zweite Weltkrieg und danach der Finnische Winterkrieg. Viele Aktivisten der Lindholm-Bewegung schlossen sich den Freiwilligen an. Richard war einer von ihnen, zu diesem Zeitpunkt war er Hauptmann in der schwedischen Armee. Er fiel im Februar 1940, kurz vor dem Friedensvertrag mit der Sowjetunion. Man erhob ihn zum Märtyrer der Nazi-Bewegung und benannte eine eigene Kampftruppe nach ihm. Noch heute versammeln sich an seinem Todestag ein paar Holzköpfe auf einem Friedhof in Stockholm, um Richard Vanger zu ehren.«

»Ich verstehe.«

»1926, er war neunzehn Jahre alt, lernte er die gleichgesinnte Margarete, eine Lehrerstochter aus Falun, kennen. Sie begannen ein Verhältnis, aus dem ein Sohn hervorging, Gottfried, der 1927 zur Welt kam. Richard heiratete Margarete, als sein Sohn geboren wurde. In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre hatte mein Bruder Frau und Kind hier in Hedestad untergebracht, während er selbst bei einem Regiment in Gävle stationiert war und in seiner Freizeit herumreiste, um in Sachen Nazismus zu missionieren. 1936 geriet er in Konflikt mit meinem Vater, der damit endete, dass mein Vater Richard jegliche finanzielle Unterstützung entzog. Daraufhin musste er allein zurechtkommen. Er zog mit seiner Familie nach Stockholm und lebte in relativer Armut.«

Загрузка...