»Hatte er kein eigenes Geld?«
»Sein Erbteil am Konzern war blockiert. Ohne die Familie konnte er nicht verkaufen. Dazu kam, dass Richard ein tyrannischer Familienvater mit wenig versöhnlichen Charakterzügen war. Gottfried wuchs eingeschüchtert und schikaniert heran. Er war vierzehn Jahre alt, als Richard fiel; ich glaube, das war der glücklichste Tag in seinem Leben. Mein Vater erbarmte sich der Witwe und des Jungen und holte sie hierher nach Hedestad, wo er sie in einer Wohnung unterbrachte und dafür sorgte, dass Margarete ein erträgliches Leben führen konnte.
Wo Richard die dunkle und fanatische Seite der Familie darstellte, war Gottfried die heitere Seite. Als er achtzehn Jahre alt war, nahm ich mich seiner an - er war trotz allem der Sohn meines ältesten Bruders -, aber wie Sie sich erinnern, war der Altersunterschied zwischen uns nicht groß. Ich war nur sieben Jahre älter als er. Damals saß ich schon im Führungsstab der Firma, und es stand fest, dass ich einmal meinen Vater beerben würde, während Gottfried in der Familie eher als Fremder galt.«
Henrik Vanger überlegte einen Moment.
»Mein Vater wusste nicht recht, wie er sich seinem Enkel gegenüber verhalten sollte. Aber ich bestand darauf, dass man etwas unternehmen musste. Ich gab ihm eine Stelle im Unternehmen. Das war nach dem Krieg. Er versuchte sicherlich, seine Arbeit gut zu machen, hatte jedoch Konzentrationsprobleme. Er war nachlässig, ein Charmeur und Zechbruder, fand großen Anklang bei den Frauen und hatte immer wieder Phasen, in denen er zu viel trank. Ich tue mich schwer, meine Gefühle für ihn zu beschreiben … Er war kein Taugenichts, aber er war auch alles andere als zuverlässig und enttäuschte mich oft zutiefst. Im Laufe der Jahre wurde er zum Alkoholiker und starb 1965 bei einem Unfall - er ertrank. Er hatte sich hier, auf der anderen Seite der Hedeby-Insel, ein Häuschen bauen lassen, in das er sich regelmäßig zurückzog, um zu trinken.«
»Er ist also der Vater von Harriet und Martin?«, fragte Mikael und zeigte auf das Porträt auf dem Serviertischchen. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass die Erzählung des alten Mannes interessant war.
»Richtig. Ende der vierziger Jahre traf Gottfried eine Frau namens Isabella König, eine Deutsche, die nach dem Krieg als Kind nach Schweden gekommen war. Isabella war wirklich eine Schönheit - damit meine ich, dass sie so strahlend schön wie Greta Garbo oder Ingrid Bergman war. Harriet hat ihre Gene wohl eher von Isabella als von Gottfried bekommen. Wie Sie auf dem Foto sehen können, war sie auch schon sehr hübsch, als sie vierzehn war.«
Mikael und Henrik Vanger betrachteten das Foto nachdenklich.
»Aber lassen Sie mich fortfahren. Isabella wurde 1928 geboren und lebt noch. Als sie elf war, brach der Krieg aus, und Sie können sich bestimmt vorstellen, wie es gewesen sein muss, Teenager in Berlin zu sein, als die Bomber ihre Fracht über der Stadt abwarfen. Vermutlich war es für sie wie das Paradies auf Erden, als sie in Schweden ankam. Leider teilte sie allzu viele von Gottfrieds Lastern: Sie war verschwenderisch und genusssüchtig. Manchmal wirkten Gottfried und sie wie Saufkumpane, nicht wie ein Ehepaar. Sie reiste eine Menge in Schweden und im Ausland herum und besaß überhaupt kein Verantwortungsgefühl. Darunter litten natürlich die Kinder. Martin kam 1948 zur Welt, Harriet 1950. Die beiden wuchsen in völligem Chaos auf - ihre Mutter ließ sie ständig im Stich, während ihr Vater langsam zum Alkoholiker wurde.
1958 griff ich ein. Gottfried und Isabella wohnten damals in Hedestad - ich zwang sie, hierherzuziehen. Ich hatte genug und beschloss, den Teufelskreis zu durchbrechen. Martin und Harriet waren zu dieser Zeit nahezu völlig sich selbst überlassen.«
Henrik Vanger sah auf die Uhr.
»Meine dreißig Minuten sind gleich um, aber ich komme langsam zum Ende meiner Geschichte. Geben Sie mir eine Verlängerung?«
Mikael nickte. »Erzählen Sie weiter.«
»In aller Kürze: Ich war kinderlos - ein dramatischer Kontrast zu meinen anderen Brüdern und Familienmitgliedern, die wie besessen schienen von dem dümmlichen Bedürfnis, das Geschlecht der Vangers fortzuführen. Gottfried und Isabella kamen hierher, aber ihre Ehe war so gut wie am Ende. Schon nach einem Jahr zog Gottfried in sein Häuschen. Er wohnte dort lange ganz allein und kehrte nur zeitweise zu Isabella zurück, wenn es ihm zu einsam und kalt wurde. Ich kümmerte mich um die Kleinen, die in vieler Hinsicht die Kinder wurden, die ich niemals bekommen habe.
Martin war … Um ehrlich zu sein, hatte ich während seiner Jugendjahre eine Weile die Befürchtung, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Er war schwach und verschlossen und grüblerisch, konnte aber auch charmant und enthusiastisch sein. Er hatte eine schwierige Teenagerzeit, aber als er an der Universität anfing, kam alles in Ordnung. Er ist … na ja, er ist immerhin Geschäftsführer dessen, was vom Vanger-Konzern noch übrig ist, und das darf man wohl als ausreichendes Zeugnis betrachten.«
»Und Harriet?«, fragte Mikael.
»Harriet wurde mein Augenstern. Ich versuchte, ihr Geborgenheit und Selbstvertrauen zu vermitteln. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander. Ich betrachtete sie als meine eigene Tochter, und sie stand mir mit der Zeit bedeutend näher als ihren Eltern. Wissen Sie, Harriet war ein ganz besonderes Mädchen. Genauso verschlossen wie ihr Bruder, doch von einer schwärmerischen Religiosität, was in unserer Familie eine krasse Ausnahme war. Ihre Begabung und Intelligenz standen außer Frage. Sie hatte Moral und Rückgrat. Als sie vierzehn, fünfzehn Jahre alt war, bestand für mich kein Zweifel, dass sie - im Gegensatz zu ihrem Bruder und all den durchschnittlichen Kusinen und Neffen - dafür bestimmt war, eines Tages den Konzern zu leiten oder zumindest eine zentrale Rolle darin zu spielen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Wir sind jetzt beim Kern meines Anliegens angekommen. Ich möchte, dass Sie herausfinden, wer in der Familie Harriet ermordet und danach fast vierzig Jahre versucht hat, mich in den Wahnsinn zu treiben.«
5. Kapitel
Donnerstag, 26. Dezember
Zum ersten Mal, seitdem Henrik Vanger seinen Monolog begonnen hatte, war es dem Alten gelungen, ihn zu überrumpeln. Mikael musste ihn bitten, seinen letzten Satz zu wiederholen, um sicherzugehen, dass er sich nicht verhört hatte. Nichts in den Artikeln, die er gelesen hatte, deutete darauf hin, dass im innersten Kreis der Familie ein Mord begangen worden sein könnte.
Vanger fuhr fort: »Es war der 22. September 1966. Harriet war sechzehn und hatte gerade ihr zweites Jahr auf dem Gymnasium begonnen. Es war ein Samstag, und es sollte der schlimmste Tag meines Lebens werden. Ich bin den Lauf der Ereignisse so oft durchgegangen, dass ich glaube, mich an jede Minute genau erinnern zu können - alles weiß ich, bis auf das Wichtigste.«
Er machte eine ausladende Handbewegung.
»Hier im Haus war ein Großteil meiner Verwandten versammelt. Es war das alljährliche Abendessen, zu dem sich die Teilhaber des Konzerns trafen, um über die Geschäfte der Familie zu sprechen. Das war eine Tradition, die mein Großvater seinerzeit eingeführt hatte und die auf zumeist widerwärtige Veranstaltungen hinauslief. In den achtziger Jahren machte man damit Schluss, weil Martin anordnete, dass alle Diskussionen über die Firma auf den regulären Vorstandssitzungen und Versammlungen stattfinden sollten. Das war die beste Entscheidung, die er jemals gefällt hat. Heute sind es schon zwanzig Jahre, dass sich die Familie nicht mehr zu solchen Veranstaltungen trifft.«
»Sie haben gesagt, dass Harriet ermordet wurde.«
»Warten Sie. Lassen Sie mich erzählen, was geschehen ist. Es war ein Samstag. Außerdem war auch Festtag mit einem Umzug zum ›Tag des Kindes‹, der vom Sportverein in Hedestad organisiert wurde. Harriet war tagsüber in der Stadt gewesen und hatte zusammen mit ihren Schulkameraden bei den Festlichkeiten zugesehen. Um zwei Uhr nachmittags kam sie hierher auf die Hedeby-Insel zurück. Das Abendessen war für fünf Uhr angesetzt, sie sollte auch dabei sein und gleichaltrige Jugendliche aus der Familie kennenlernen.«
Henrik Vanger stand auf und trat ans Fenster. Er winkte Mikael zu sich und sagte: »14.15 Uhr, ein paar Minuten nachdem Harriet heimgekommen war, geschah da draußen auf der Brücke ein fürchterlicher Unfall. Ein Mann namens Gustav Aronsson, der hier auf der Insel einen Hof besitzt, bog auf die Brücke ein und stieß frontal mit einem Tanklaster zusammen, der gerade Heizöl ausliefern wollte. Wie genau der Unfall geschah, wurde nie wirklich geklärt - aus beiden Richtungen hatte man gute Sicht -, aber die zwei fuhren zu schnell, und so kam es zur Katastrophe. Der Fahrer des Tanklasters versuchte den Zusammenstoß zu vermeiden und riss wohl instinktiv das Steuer herum. Er fuhr ins Brückengeländer, der Tanklastzug kippte und legte sich quer über die Brücke, wobei das hintere Fahrgestell weit über die gegenüberliegende Kante hinausragte … Eine Metallstrebe bohrte sich wie ein Spieß in den Tankbehälter, worauf das leicht entflammbare Heizöl herauszuspritzen begann. Gustav Aronsson war auf dem Fahrersitz eingeklemmt und schrie vor Schmerzen. Der Fahrer der Tanklasters war auch verletzt, konnte sich aber aus seinem Fahrzeug befreien.«
Der alte Mann machte eine Pause und setzte sich wieder.
»Der Unfall hatte eigentlich nichts mit Harriet zu tun. Aber er war auf andere Weise bedeutsam. Menschen eilten herbei, um zu helfen; es war ein heilloses Chaos. Es bestand unmittelbare Brandgefahr, und man löste Großalarm aus. Polizei, Krankenwagen, Rettungsdienst, Feuerwehr, Presse und Schaulustige scharten sich um die Unglücksstelle. Natürlich sammelte sich alles auf der Festlandseite. Wir auf der Insel taten alles, um Aronsson aus seinem Autowrack zu befreien, was sich als verdammt schwierig herausstellte. Er war ziemlich eingeklemmt und schwer verletzt.
Wir versuchten ihn mit den Händen herauszuziehen, aber das ging nicht. Er musste herausgeschnitten oder -gesägt werden. Doch konnten wir natürlich nichts unternehmen, was eine Funkenbildung zur Folge gehabt hätte; wir standen ja mitten in einem See aus feuergefährlichem Heizöl neben einem umgekippten Tanklaster. Wäre der explodiert, wäre es mit uns allen zu Ende gewesen. Es dauerte lange, bevor wir Hilfe vom Festland bekamen, denn der Laster lag wie ein Keil quer über der Brücke, und man konnte uns nur erreichen, indem man über den Tankbehälter kletterte. Ebenso gut hätte man über eine tickende Bombe klettern können.«
Mikael hatte immer noch den Eindruck, dass der alte Mann eine oft wiederholte und wohlüberlegte Geschichte erzählte, um sein Interesse zu fesseln. Aber er musste auch zugeben, dass Vanger ein ausgezeichneter Erzähler war, der seinen Zuhörer in Bann zu ziehen wusste. Er hatte jedoch weiterhin keine Ahnung, worauf die Geschichte eigentlich hinauslaufen würde.
»Das Bedeutsame an diesem Unfall war, dass die Brücke für die nächsten vierundzwanzig Stunden gesperrt wurde. Erst am späten Sonntagabend gelang es, den verbliebenen Brennstoff abzupumpen, den Tanklaster wegzuhieven und die Brücke wieder für den Verkehr zu öffnen. Während dieser vierundzwanzig Stunden war die Hedeby-Insel praktisch von der Umwelt abgeschnitten. Zum Festland konnte man nur mit dem Feuerwehrboot gelangen, das eingesetzt wurde, um die Leute vom Bootshafen der Insel zum alten Fischerhafen unterhalb der Kirche zu bringen. Mehrere Stunden wurde das Boot ausschließlich von den Rettungsdiensten benutzt - erst am späten Samstagabend begann man auch Privatpersonen überzusetzen. Verstehen Sie, was das bedeutet?«
Mikael nickte. »Ich nehme an, dass auf der Insel irgendetwas mit Harriet geschah und die Verdächtigen aus dem Kreis derer kommen müssen, die sich ebenfalls hier aufhielten. Die klassische Situation eines geschlossenen Raumes in Gestalt einer Insel.«
Henrik Vanger lächelte ironisch.
»Mikael, Sie ahnen ja gar nicht, wie recht Sie haben. Auch ich habe meine Dorothy Sayers gelesen. Die Tatsachen sind Folgende: Harriet kam ungefähr um zehn nach zwei auf der Insel an. Wenn wir auch Kinder und Unverheiratete mit einschließen, haben sich im Laufe des Tages ungefähr vierzig Gäste hier eingefunden. Zusammen mit Personal und Inselbewohnern kommen wir auf vierundsechzig Personen, die sich hier und in der Nähe des Hofes aufhielten. Diejenigen, die hier übernachten wollten, richteten sich gerade in den umliegenden Häusern oder Gästezimmern ein.
Harriet wohnte früher in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aber wie ich vorhin erzählt habe, waren weder ihr Vater Gottfried noch ihre Mutter Isabella stabile Persönlichkeiten, und ich konnte nicht zusehen, wie Harriet gequält wurde. Sie konnte sich nicht aufs Lernen konzentrieren, und 1964, als sie vierzehn war, ließ ich sie in mein Haus einziehen. Isabella passte es wohl ganz gut, dass sie die Verantwortung für sie loswurde. Harriet bekam ein Zimmer hier oben und wohnte die letzten zwei Jahre bei mir. Auch an jenem Tag kam sie hierher. Wir wissen, dass sie Harald Vanger auf dem Hof traf und ein paar Worte mit ihm wechselte - das ist einer von meinen Brüdern. Danach ging sie die Treppe hoch, in dieses Zimmer, und begrüßte mich. Sie sagte, dass sie mit mir über etwas sprechen müsste. In diesem Moment waren gerade ein paar andere Familienmitglieder bei mir, und ich hatte keine Zeit für sie. Aber es schien ihr so wichtig zu sein, dass ich versprach, gleich anschließend in ihr Zimmer zu kommen. Sie nickte und ging durch diese Tür dort hinaus. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ein paar Minuten später krachte es auf der Brücke, und das Chaos, das alle Pläne für den Tag über den Haufen werfen sollte, brach aus.«
»Wie starb sie?«
»Warten Sie. Es ist so kompliziert, ich muss die Geschichte chronologisch erzählen. Als die Wagen zusammenstießen, ließen die Leute alles stehen und liegen und rannten zur Unfallstelle. Ich war … ich denke, ich habe das Kommando übernommen und war in den nächsten Stunden fieberhaft beschäftigt. Wir wissen, dass auch Harriet nach der Kollision sofort zur Brücke hinunterlief - mehrere Personen haben sie gesehen -, aber wegen der Explosionsgefahr schickte ich alle, die nicht mithalfen, Aronsson aus seinem Autowrack zu befreien, wieder fort. Wir blieben zu fünft am Unfallort zurück: ich und mein Bruder Harald, ein Hofarbeiter namens Magnus Nilsson, Sixten Nordlander, ein Sägewerksarbeiter, der unten am Fischerhafen ein Haus hat, und ein Kerl namens Jerker Aronsson. Er war erst sechzehn, und ich hätte ihn eigentlich wegschicken sollen, aber er war Aronssons Neffe und kam wenige Minuten nach dem Unfall gerade mit seinem Fahrrad vorbei.
Ungefähr um 14.40 Uhr war Harriet in der Küche. Sie trank ein Glas Milch und wechselte ein paar Worte mit Astrid, der Köchin. Sie sahen durchs Fenster dem Tumult auf der Brücke zu.
Um 14.55 Uhr ging Harriet über den Hof. Sie wurde unter anderem von ihrer Mutter gesehen, aber sie sprachen nicht miteinander. Ein paar Minuten später traf sie Otto Falk, den Pastor der Kirche in Hedeby. Damals lag das Pfarrhaus dort, wo Martin Vanger heute seine Villa hat. Der Pastor wohnte also auf dieser Seite der Brücke. Er hatte sich erkältet und lag schlafend im Bett, als sich der Unfall ereignete. Er hatte das große Drama verschlafen, war nun alarmiert worden und auf dem Weg zur Brücke. Harriet hielt ihn auf und wollte ein paar Worte mit ihm wechseln, aber er wimmelte sie ab und eilte vorbei. Otto Falk war der Letzte, der sie lebend sah.«
»Wie starb sie?«, wiederholte Mikael.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Henrik Vanger mit gequältem Blick. »Erst irgendwann gegen fünf Uhr nachmittags hatten wir Aronsson aus dem Wrack befreit - er überlebte übrigens, wenn auch übel zugerichtet -, und um kurz nach sechs galt die Brandgefahr als gebannt. Die Insel war immer noch vom Festland abgeschnitten, aber die Dinge beruhigten sich langsam. Erst als wir uns gegen acht zu einem verspäteten Abendessen zu Tisch setzten, entdeckte man, dass Harriet fehlte. Ich schickte eine ihrer Kusinen los, um sie aus ihrem Zimmer zu holen, aber sie kam zurück und sagte, sie könne sie nicht finden. Ich dachte nicht groß drüber nach und vermutete wohl, dass sie spazieren gegangen war oder nicht mitbekommen hatte, dass unser Abendessen wie geplant stattfinden sollte. Im Laufe des Abends gab es so einigen Streit mit der Familie. Erst am nächsten Morgen, als Isabella nach ihr suchte, wurde uns klar, dass Harriet bereits seit gestern Nachmittag verschwunden war.«
Er breitete die Arme aus.
»Seit jenem Tag ist Harriet Vanger spurlos verschwunden.«
»Verschwunden?«, echote Mikael.
»In all den Jahren gab es nicht die geringste Spur von ihr.«
»Aber wenn sie verschwunden ist, können Sie doch nicht behaupten, dass sie ermordet wurde.«
»Ich verstehe Ihren Einwand. Ich habe genauso gedacht. Wenn ein Mensch spurlos verschwindet, gibt es vier Möglichkeiten: Er kann freiwillig verschwunden sein und sich verstecken. Er kann bei einem Unfall ums Leben gekommen sein. Er kann Selbstmord begangen haben. Und er kann Opfer eines Verbrechens geworden sein. Ich habe über all diese Möglichkeiten nachgedacht.«
»Sie glauben also, dass jemand sie umgebracht hat. Warum?«
»Weil das die einzig logische Schlussfolgerung ist.« Henrik Vanger hielt einen Finger in die Höhe. »Von Anfang an habe ich gehofft, sie sei einfach davongelaufen. Doch mit der Zeit begriffen wir, dass es nicht so war. Ich meine, wie könnte ein sechzehnjähriges Mädchen aus behüteten Verhältnissen, auch wenn sie clever ist, alleine klarkommen und sich so verstecken, dass sie nicht entdeckt wird? Woher sollte sie das Geld haben? Und selbst, wenn sie irgendwo einen Job gefunden hätte, brauchte sie immer noch eine Steuerkarte und einen festen Wohnsitz.«
Er hielt zwei Finger in die Höhe.
»Mein nächster Gedanke war natürlich, dass sie irgendeinen Unfall gehabt haben musste. Tun Sie mir bitte den Gefallen und öffnen Sie die oberste Schublade meines Schreibtischs. Dort liegt eine Karte.«
Mikael tat, worum man ihn gebeten hatte, und breitete die Karte auf dem Serviertischchen aus. Die Hedeby-Insel war eine unregelmäßig geformte Landmasse von ungefähr drei Kilometern Länge, die an ihrer breitesten Stelle knapp anderthalb Kilometer breit war. Zum überwiegenden Teil bestand die Insel aus Wald. Besiedelt war sie in unmittelbarer Nähe zur Brücke und rund um den Bootshafen. Auf der anderen Seite der Insel gab es noch einen Hof, Östergården, wo der unglückliche Aronsson seine Fahrt begonnen hatte.
»Erinnern Sie sich bitte, dass sie die Insel nicht verlassen haben kann«, unterstrich Vanger. »Auch hier auf der Hedeby-Insel kann man natürlich einen Unfall haben. Man kann vom Blitz getroffen werden - aber an jenem Tag gab es kein Gewitter. Man kann von einem Pferd niedergetrampelt werden, in einen Brunnen fallen oder in eine Felsspalte stürzen. Es gibt garantiert Hunderte von Möglichkeiten, wie man hier einem Unfall zum Opfer fallen könnte. Über die meisten von ihnen habe ich nachgedacht.«
Er hielt einen dritten Finger hoch.
»Es gibt ein einziges ›Aber‹, und das gilt auch für die dritte Möglichkeit - dass sich das Mädchen wider Erwarten das Leben genommen haben könnte. Irgendwo auf dieser begrenzten Fläche müsste ihr Körper gefunden werden.«
Vanger schlug mit der Hand mitten auf die Karte.
»In den Tagen nach ihrem Verschwinden suchten wir die ganze Insel ab. Die Suchmannschaft durchkämmte jeden Graben, jedes Stückchen Ackerland, jede Felsspalte und sah hinter jedem umgestürzten Baum nach. Wir haben jedes Gebäude, jeden Schornstein, jeden Brunnen, jede Scheune und jeden Dachboden durchsucht.«
Der alte Mann wandte den Blick von Mikael ab und starrte in die Dunkelheit vor seinem Fenster. Seine Stimme bekam einen tieferen und persönlicheren Klang.
»Den ganzen Herbst suchte ich sie, auch nachdem die Suche offiziell eingestellt worden war. Da ich mich nicht unbedingt meiner Arbeit widmen musste, begann ich Spaziergänge auf der Insel zu machen, von einem Ende zum anderen. Es wurde Winter, ohne dass wir die geringste Spur von ihr gefunden hätten. Im Frühjahr suchte ich immer noch nach ihr, obwohl ich einsah, dass es sinnlos war. Als es Sommer wurde, heuerte ich drei erfahrene Waldarbeiter an, die mit Spürhunden alles noch einmal von vorne absuchten. Sie durchkämmten systematisch jeden Quadratmeter dieser Insel. Zu jenem Zeitpunkt begann ich zu glauben, dass ihr jemand etwas angetan haben könnte. Sie suchten nach einem verborgenen Grab, drei Monate lang, ohne Resultat. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«
»Ich kann mir eine ganze Menge Alternativen vorstellen«, wandte Mikael ein.
»Ich höre.«
»Sie kann ertrunken sein oder sich ertränkt haben. Das hier ist eine Insel, und Wasser kann fast alles verbergen.«
»Das stimmt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß. Bedenken Sie: Wenn Harriet einem Unfall zum Opfer gefallen und ertrunken wäre, dann müsste das logischerweise irgendwo hier in der Nähe des Ortes passiert sein. Und vergessen Sie nicht, dass der ganze Wirbel auf der Brücke seit Jahrzehnten das dramatischste Ereignis auf dieser Insel war - nicht gerade der Augenblick, den eine Sechzehnjährige sich aussucht, um einen Spaziergang zur anderen Seite der Insel zu unternehmen.
Noch wichtiger ist jedoch«, fuhr er fort, »dass es hier keine nennenswerten Strömungen gibt und der Wind im Frühherbst aus Norden oder Nordosten kommt. Wenn da etwas ins Wasser fällt, wird es irgendwo an der Küste des Festlands angeschwemmt, und die ist fast durchgehend besiedelt. Wir haben dies natürlich in Erwägung gezogen und suchten alle Stellen ab, wo sie eventuell ins Wasser hätte gehen können. Ich heuerte auch ein paar Jungs vom Taucherclub in Hedestad an. Wir haben hier hauptsächlich Sand- und Lehmboden. Sie verbrachten den Sommer damit, den Meeresgrund im Sund abzusuchen … keine Spur. Ich bin überzeugt, dass sie nicht im Wasser liegt, ansonsten hätten wir sie gefunden.«
»Aber kann sie nicht auch anderswo verunglückt sein? Die Brücke war zwar gesperrt, aber es ist nicht sonderlich weit bis zum Festland. Sie kann hinübergeschwommen oder gerudert sein.«
»Es war Ende September und das Wasser so kalt, dass Harriet kaum zum Baden gegangen sein dürfte, als hier der große Wirbel losging. Wäre sie zum Festland hinübergeschwommen, hätte man sie außerdem beobachtet. Dutzende von Augen auf der Brücke, und auf der Festlandseite standen zwei- bis dreihundert Menschen am Wasser und schauten dem Spektakel zu.«
»Ein Ruderboot?«
»Nein. An jenem Tag hatten wir hier auf der Insel genau dreizehn Boote. Unten am Bootshafen lagen zwei Petterson-Boote. Es gab sieben Ruderboote, von denen fünf schon an Land geholt worden waren. Neben dem Pfarrhaus lag ein Ruderboot an Land und eins im Wasser. Hinten beim Östergården gab es noch ein Motorboot und ein Ruderboot. All diese Boote sind registriert und lagen an ihrem Platz. Wenn sie hinübergerudert und weggelaufen wäre, hätte sie das Boot aber auf der anderen Seite lassen müssen.«
Vanger hielt einen vierten Finger in die Höhe.
»Damit bleibt nur eine einzige logische Möglichkeit: Harriet verschwand gegen ihren Willen. Jemand hat ihr etwas angetan und ihren Körper verschwinden lassen.«
Lisbeth Salander verbrachte den Weihnachtsmorgen mit der Lektüre von Mikael Blomkvists kontroversem Buch über Wirtschaftsjournalismus. Es hatte zweihundertzehn Seiten, trug den Titel Die Tempelritter und den Untertitel Strafaufgabe für Wirtschaftsjournalisten. Auf dem von Christer Malm trendy gestalteten Cover war die Stockholmer Börse abgebildet. Er hatte das Motiv mit Photoshop bearbeitet, und erst nach längerem Hinsehen fiel dem Betrachter auf, dass das Gebäude in der Luft schwebte. Es gab keinen festen Boden. Man konnte sich schwerlich ein Cover vorstellen, das besser angedeutet hätte, was im Buch folgen würde.
Salander stellte fest, dass Blomkvist ein ausgezeichneter Stilist war. Das Buch war geradlinig und interessant geschrieben, sodass auch Leute ohne Einblick in die Irrwege des Wirtschaftsjournalismus es mit Gewinn lesen konnten. Der Ton war bissig und sarkastisch, aber vor allem überzeugend.
Das erste Kapitel war eine Art Kriegserklärung, bei der Blomkvist kein Blatt vor den Mund nahm. Das Problem war, dass die schwedischen Wirtschaftsjournalisten seiner Meinung nach in den letzten zwanzig Jahren zu einem Trupp unfähiger Laufburschen verkommen waren, die sich an ihrer eigenen Wichtigkeit berauschten, der Fähigkeit zum kritischen Denken jedoch völlig entbehrten. Letztere Schlussfolgerung zog er, weil so viele von ihnen sich stets damit begnügten, widerspruchslos zu wiederholen, was ihnen von Unternehmensleitern und Börsenspekulanten vorgekaut wurde - auch wenn diese Aussagen offensichtlich irreführend oder schlichtweg falsch waren. Solche Journalisten waren also entweder so naiv oder so leicht hinters Licht zu führen, dass man sie von ihren Aufgaben entbinden sollte, oder - umso schlimmer - sie waren Menschen, die ganz bewusst ihre journalistische Sorgfaltspflicht vernachlässigten. Blomkvist behauptete, er schäme sich oftmals dafür, als Wirtschaftsjournalist bezeichnet zu werden, weil er dadurch Gefahr liefe, mit irgendwelchen Typen in einen Topf geworfen zu werden, die er gar nicht als Journalisten betrachtete.
Blomkvist verglich die Tätigkeit der Wirtschaftsjournalisten mit der Arbeitsweise der Polizeireporter und Auslandskorrespondenten. Er wies darauf hin, was für ein Aufschrei durch die Reihen ginge, würde sich der Gerichtsreporter einer großen Tageszeitung in einem Mordprozess unkritisch die Argumente des Staatsanwalts zu Eigen machen, ohne diejenigen der Verteidigung zu prüfen oder die Familie des Opfers zu interviewen, um sich eine eigene Meinung bilden zu können.
Der Rest des Buches war die Beweiskette, die das einführende Plädoyer untermauern sollte. Ein langes Kapitel widmete sich der Berichterstattung sechs führender Tageszeitungen über ein bekanntes Dotcom-Unternehmen. Er zitierte und fasste zusammen, was die Reporter gesagt und geschrieben hatten, bevor er es mit der tatsächlichen Situation verglich. Als er die Entwicklung des Unternehmens beschrieb, warf er immer wieder einfache Fragen auf, die ein »seriöser Journalist« hätte stellen müssen, die aber keiner aus der ganzen Schar gestellt hatte. Ein hübscher Kunstgriff.
Ein anderes Kapitel behandelte den Telia-Börsengang - dies war der spöttischste und ironischste Abschnitt, in dem einige namentlich genannte Schreiber förmlich niedergemacht wurden, darunter auch ein gewisser William Borg, auf den Mikael besonders wütend zu sein schien. Ein weiteres Kapitel am Ende des Buches verglich das Kompetenzniveau schwedischer und ausländischer Wirtschaftsjournalisten. Blomkvist beschrieb, wie »seriöse Journalisten« der Financial Times, des Economist und einiger deutscher Wirtschaftsmagazine das entsprechende Thema in ihren Ländern behandelt hatten. Der Vergleich fiel nicht zum Vorteil der schwedischen Kollegen aus. Im Schlusskapitel skizzierte er ein paar Vorschläge, wie man die bedauerliche Situation beheben könnte. Die Schlussworte seines Buches knüpften wieder an die Einleitung an:
Wenn ein Reichstagsreporter unkritisch jeden verabschiedeten Beschluss guthieße, oder wenn ein politischer Berichterstatter einen entsprechenden Mangel an Urteilsvermögen an den Tag legte - dann würde er gefeuert oder zumindest in eine Abteilung versetzt, in der er weniger Schaden anrichten kann. In der Welt der Wirtschaftsjournalisten ignoriert man den normalen journalistischen Auftrag, alle Angaben kritisch zu prüfen und dem Leser sachlich zu berichten. Hier huldigt man vielmehr dem erfolgreichsten Schwindler. Hier wird das Schweden der Zukunft geschmiedet, und hier wird das letzte Vertrauen in die Journalisten als Berufsstand untergraben.
Der Ton in diesem Buch war schonungslos, und Salander konnte nur zu gut die aufgeregten Diskussionen verstehen, die im Branchenblatt Der Journalist, in manchen Wirtschaftsmagazinen und auf den Wirtschafts- und Titelseiten einiger Tageszeitungen entbrannten. Auch wenn nur wenige Wirtschaftsjournalisten namentlich im Buch Erwähnung fanden - Lisbeth Salander schätzte die Branche hinreichend klein ein, sodass jeder wusste, wer gemeint war, wenn bestimmte Zeitungen zitiert wurden. Blomkvist hatte sich bittere Feinde geschaffen, was sich in schadenfrohen Kommentaren zum Urteil in der Wennerström-Affäre widerspiegelte.
Sie klappte das Buch zu und betrachtete das Autorenfoto auf der Rückseite. Mikael Blomkvist war im Profil fotografiert worden. Der dunkelblonde Pony fiel ihm nachlässig in die Stirn, als wäre er von einem Windstoß erfasst worden, kurz bevor der Fotograf auf den Auslöser drückte. Wahrscheinlicher war jedoch, dass ihn der Fotograf Christer Malm so gestylt hatte. Er guckte mit ironischem Lächeln und einem gewollt jungenhaften und charmanten Blick in die Kamera. Ein ziemlich gut aussehender Mann. Auf dem Weg zu drei Monaten Gefängnis.
»Hallo, Kalle Blomkvist«, sagte sie laut zu sich selbst. »Du bist ganz schön selbstsicher, was?«
Gegen Mittag fuhr Lisbeth Salander ihr iBook hoch und öffnete das Mailprogramm Eudora. Sie formulierte die Nachricht in einer einzigen, prägnanten Zeile:
[Hast du Zeit?]
Sie unterschrieb mit »Wasp« und schickte die Mail an »plague_ xyz_666@hotmail.com«. Zur Sicherheit kodierte sie die einfache Nachricht mit dem Verschlüsselungsprogramm PGP.
Dann zog sie sich eine schwarze Jeans, feste Winterschuhe, einen Rollkragenpullover und eine dunkle Seglerjacke an, dazu passende blassgelbe Fingerhandschuhe, Mütze und Halstuch. Sie nahm die Piercingringe aus den Augenbrauen und dem Nasenflügel, legte einen zartrosa Lippenstift auf und musterte sich im Badezimmerspiegel. Sie sah aus wie jeder andere Sonntagsspaziergänger auch und betrachtete ihre Kleidung als anständige Tarnkluft für eine Expedition hinter die feindlichen Linien. Sie nahm die U-Bahn von Zinkensdamm bis zum Östermalmstorg und ging dann in Richtung Strandvägen. Während sie den Fußweg in der Mitte der Allee entlangspazierte, las sie die Hausnummern. Als sie fast bei der Djurgårds-Brücke angekommen war, blieb sie stehen und sah sich den Eingang an, den sie gesucht hatte. Sie überquerte die Straße und wartete ein paar Meter vom Eingang entfernt.
Wie sie feststellte, gingen die meisten Menschen, die im kühlen Weihnachtswetter einen Spaziergang machten, auf dem Kai; nur wenige benutzten den Bürgersteig an der Häuserseite. Sie musste fast fünfundzwanzig Minuten geduldig warten, bis sich schließlich eine ältere Frau mit Spazierstock vom Djurgården her näherte. Sie blieb stehen und musterte Salander misstrauisch. Lisbeth nickte ihr freundlich zu. Die Dame mit dem Spazierstock grüßte zurück und schien nachzudenken, woher sie das junge Mädchen nur kannte. Salander drehte ihr den Rücken zu und ging ein paar Schritte in die andere Richtung, als würde sie ungeduldig auf jemand warten. Als sie wieder kehrtmachte, stand die alte Dame an der Haustür und tippte umständlich den Zahlencode ein. Salander konnte problemlos die Kombination 1260 erkennen.
Sie wartete fünf Minuten, bis sie zur Tür ging und überprüfte, ob sie sich auch nicht getäuscht hatte. Als sie die Zahl eingab, klickte das Schloss. Sie öffnete die Tür und sah sich im Treppenhaus um. Kurz hinter dem Eingang war eine Überwachungskamera angebracht, auf die sie einen kurzen Blick warf, um sie dann zu ignorieren - die Kamera gehörte zu den Modellen, die Milton Security vertrieb, und wurde erst aktiviert, wenn im Haus ein Einbruchs- oder Überfallsalarm losging. Weiter links, neben einem antiken Aufzug, befand sich eine Tür mit einem weiteren Nummernschloss. Sie machte einen Test und stellte fest, dass Eingangstür, Kellergeschoss und der Raum mit den Mülltonnen dieselbe Zahlenkombination hatten. Nachlässig, sehr nachlässig. Sie verbrachte drei Minuten mit der Untersuchung des Kellers, in dem sie eine unverschlossene Waschküche und einen Putzraum fand. Anschließend öffnete sie mit Hilfe der Dietriche, die sie sich bei Miltons Schließanlagenexperten »ausgeliehen« hatte, eine abgesperrte Tür, die höchstwahrscheinlich zum Versammlungsraum für die Eigentümergemeinschaft führte. Ganz hinten gab es noch einen Hobbyraum. Zu guter Letzt fand sie, wonach sie gesucht hatte: ein kleines Kabuff, in dem die elektrischen Sicherheits- und Kontrollvorrichtungen untergebracht waren. Sie sah sich Zähler und Sicherungskästen genau an und zückte dann eine Canon-Digitalkamera in der Größe einer Zigarettenschachtel. Sie machte drei Aufnahmen.
Auf dem Rückweg warf sie einen sekundenschnellen Blick auf die Namensschilder neben dem Aufzug und las den Namen der obersten Wohnung: Wennerström.
Dann verließ sie das Haus und eilte zum Nationalmuseum, wo sie die Cafeteria aufsuchte, um sich aufzuwärmen und einen Kaffee zu trinken. Nach ungefähr einer halben Stunde fuhr sie wieder nach Söder zurück und ging in ihre Wohnung.
Sie fand eine Antwort von »plague_xyz_666@hotmail. com« in ihrer Mailbox. Nachdem sie sie per PGP entschlüsselt hatte, bestand die Antwort kurz und bündig aus der Zahl 20.
6. Kapitel
Donnerstag, 26. Dezember
Mikael Blomkvists Zeitlimit von dreißig Minuten war bereits deutlich überschritten. Es war halb fünf, und an den Nachmittagszug war gar nicht mehr zu denken. Es bestand jedoch immer noch die Möglichkeit, den Abendzug um 21.30 Uhr zu erwischen. Er stand am Fenster und massierte sich den Nacken, während er die erleuchtete Kirchenfassade auf der anderen Seite der Brücke betrachtete. Henrik Vanger hatte ihm ein Album mit Zeitungsausschnitten aus den lokalen und den überregionalen Zeitungen gezeigt, die sich mit dem Ereignis befassten. Es hatte eine Zeit lang ein ziemlich großes Medieninteresse gegeben - Mädchen aus Industriellenfamilie spurlos verschwunden. Aber da keine Leiche gefunden wurde und es keinen Durchbruch in den Ermittlungen gab, war das Verschwinden Harriet Vangers siebenunddreißig Jahre später eine vergessene Geschichte. Die vorherrschende Theorie in den Artikeln aus den späten sechziger Jahren war die, dass das Mädchen ertrunken und aufs Meer hinausgespült worden war - eine Tragödie, die jede Familie treffen könne.
Mikael hatte sich wider besseres Wissen von der Erzählung faszinieren lassen, doch als Henrik Vanger um eine Pause bat, hatte er seine Skepsis zurückgewonnen. Aber der alte Mann war noch nicht fertig, und Mikael hatte ihm schließlich doch versprochen, sich die ganze Geschichte anzuhören.
»Was glauben Sie selbst, was mit ihr passiert ist?«, fragte Mikael, als Vanger wieder ins Zimmer kam.
»Normalerweise haben hier ungefähr fünfundzwanzig Personen ihren festen Wohnsitz, aber aufgrund des Familientreffens waren an jenem Tag zirka sechzig auf der Insel. Von diesen können zwanzig bis fünfundzwanzig Personen mehr oder weniger ausgeschlossen werden. Ich glaube, dass einer von den übrigen - und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit jemand aus der Familie - Harriet getötet und die Leiche versteckt hat.«
»Ich habe Dutzende von Einwänden.«
»Lassen Sie hören.«
»Natürlich würde ich als Erstes einwenden, dass, sollte tatsächlich jemand ihre Leiche versteckt haben, man sie gefunden hätte, wenn wirklich so akribisch gesucht wurde, wie Sie es geschildert haben.«
»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Suche war noch gründlicher, als ich erzählt habe. Ich begann erst dann an einen Mord zu denken, als mir aufging, wie ihre Leiche verschwunden sein könnte. Ich kann es nicht beweisen, aber es liegt auf jeden Fall im Bereich des Denkbaren.«
»Okay, schießen Sie los.«
»Harriet verschwand irgendwann gegen 15 Uhr. Um circa 14.55 Uhr wurde sie vom Pastor Otto Falk gesehen, der zum Unfallort unterwegs war. Ungefähr zur selben Zeit traf ein Fotograf der Lokalzeitung ein, der im Laufe der nächsten Stunde jede Menge Bilder des Dramas schoss. Wir - die Polizei - haben uns die Aufnahmen genau angesehen und konnten feststellen, dass Harriet auf keinem der Bilder auftaucht. Alle anderen, die in der Stadt waren, tauchen hingegen sehr wohl auf, wenn vielleicht auch nur am Bildrand - abgesehen einmal von den ganz kleinen Kindern.«
Henrik Vanger holte ein neues Fotoalbum und legte es vor Michael auf den Tisch.
»Das hier sind Bilder von jenem Tag. Das erste wurde beim Festumzug in Hedestad gemacht. Das Bild wurde ungefähr um 13.15 Uhr vom selben Fotografen aufgenommen, und Harriet ist darauf tatsächlich zu sehen.«
Das Bild war aus dem zweiten Stock eines Hauses geschossen worden und zeigte eine Straße, auf der gerade Umzugswagen mit Clowns und Mädchen in Badeanzügen vorbeifuhren. Auf dem Bürgersteig drängten sich die Zuschauer. Henrik Vanger deutete auf eine Person in der Menge.
»Das ist Harriet, ungefähr zwei Stunden vor ihrem Verschwinden. Sie war mit ein paar Klassenkameraden in der Stadt. Das ist das letzte Bild von ihr. Aber es gibt noch ein weiteres interessantes Foto.«
Henrik Vanger blätterte weiter. Der Rest des Albums enthielt gut hundertachtzig Bilder - sechs Filme - von der Katastrophe auf der Brücke. Blomkvist hatte beinahe Skrupel, sich die scharfen Schwarzweißfotos anzusehen. Der Fotograf verstand sein Handwerk und hatte das ganze Chaos jenes Unfalls eingefangen. Viele Bilder konzentrierten sich auf die Aktivitäten rund um den umgestürzten Tanklaster. Mikael erkannte problemlos einen gestikulierenden, heizölverschmierten sechsundvierzigjährigen Henrik Vanger.
»Das hier ist mein Bruder Harald.« Der Alte deutete auf einen Mann, der noch sein feines Sakko anhatte und in gebeugter Haltung auf irgendetwas in dem Autowrack zeigte, in dem Aronsson eingeklemmt war. »Harald ist ein unangenehmer Mensch, aber ich glaube, dass man ihn von der Liste der Verdächtigen streichen kann. Abgesehen von einer kurzen Zeitspanne, in der er zurück zum Hof laufen musste, um sich andere Schuhe anzuziehen, war er die ganze Zeit auf der Brücke.«
Henrik Vanger blätterte weiter. Ein Bild folgte dem anderen. Fokus auf den Tanklaster. Fokus auf die Schaulustigen am Ufer. Fokus auf Aronssons Auto. Totalaufnahmen. Indiskrete Fotos mit dem Teleobjektiv.
»Das hier ist ein interessantes Bild«, sagte Henrik Vanger. »Soweit wir feststellen konnten, wurde es ungefähr zwischen 15.40 Uhr und 15.45 Uhr aufgenommen, also knapp fünfundvierzig Minuten nachdem Harriet Pastor Falk begegnet war. Achten Sie auf unser Haus, das Fenster Mitte zweiter Stock. Das ist Harriets Zimmer. Auf dem vorherigen Bild ist das Fenster geschlossen, hier ist es offen.«
»Jemand war zu diesem Zeitpunkt in Harriets Zimmer.«
»Ich habe alle gefragt, keiner hat zugegeben, das Fenster geöffnet zu haben.«
»Was bedeutet, dass es entweder Harriet selbst war, die zu diesem Zeitpunkt noch lebte, oder dass Sie jemand angelogen hat. Aber warum sollte ein Mörder in ihr Zimmer gehen und das Fenster aufmachen? Und warum sollte Sie jemand anlügen?«
Henrik Vanger schüttelte den Kopf. Es gab keine Antwort.
»Harriet verschwand irgendwann gegen 15 Uhr oder unmittelbar danach. Diese Bilder vermitteln eine ungefähre Vorstellung davon, wer sich wo aufhielt in diesem Zeitraum. Deswegen kann ich bestimmte Personen von der Liste der Verdächtigen streichen. Aus demselben Grund kann ich eine gewisse Zahl von Personen ausmachen, die sich zu dieser Zeit nicht auf den Bildern finden und daher zu den Verdächtigen gerechnet werden müssen.«
»Sie haben die Frage nicht beantwortet, wie die Leiche Ihrer Meinung nach verschwand.«
»Es gibt mehrere realistische Möglichkeiten. Irgendwann gegen 15 Uhr schlägt der Mörder zu. Er oder sie hat vermutlich keine Waffe verwendet - sonst hätten wir vielleicht Blutspuren entdeckt. Ich tippe darauf, dass Harriet erwürgt wurde, und ich tippe darauf, dass es genau hier geschah, hinter der Hofmauer - eine Stelle, die der Fotograf nicht sehen konnte und die, vom Haus betrachtet, im toten Winkel liegt. Es gibt einen kleinen Schleichweg, der vom Pfarrhaus - wo sie ja zum letzten Mal gesehen wurde - zu meinem Haus führt. Heute ist dort eine bepflanzte Fläche und Rasen, aber in den sechziger Jahren war es ein Kieshof, der als Parkplatz diente. Der Mörder musste einfach nur einen Kofferraum öffnen und Harriet hineinlegen. Als wir am nächsten Tag die Umgebung absuchten, dachte keiner an ein Verbrechen - wir konzentrierten uns auf die Strände, die Gebäude und das Waldstück in der Nähe der Siedlung.«
»Niemand hat also bei den Autos den Kofferraum kontrolliert.«
»Und am Abend des nächsten Tages hatte der Mörder freie Bahn, konnte mit seinem Auto die Brücke überqueren und die Leiche irgendwo anders verstecken.«
Mikael nickte. »Unter den Augen aller, die nach dem verschwundenen Mädchen suchten. Wenn es sich so zugetragen hat, handelt es sich um einen äußerst kaltblütigen Scheißkerl.«
Henrik Vanger lachte bitter. »Sie haben soeben eine treffende Beschreibung für eine Menge Mitglieder der Familie Vanger geliefert.«
Sie setzten ihr Gespräch während des Abendessens um sechs Uhr fort. Anna hatte Hasenbraten mit Johannisbeergelee und Kartoffeln aufgetragen. Henrik Vanger kredenzte einen üppigen Rotwein. Mikael konnte später noch den letzten Zug erwischen. Es war an der Zeit, den Besuch abzurunden, fand er.
»Ich gebe zu, dass Sie mir da eine faszinierende Geschichte erzählt haben. Aber ich habe nicht ganz verstanden, warum Sie es taten.«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich will den Schweinehund überführen, der die Enkelin meines Bruders ermordet hat. Und dazu will ich Sie engagieren.«
»Wie stellen Sie sich das vor?«
Henrik Vanger legte Messer und Gabel ab. »Mikael, siebenunddreißig Jahre lang habe ich mir den Kopf zermartert, was mit Harriet passiert ist.«
Er verstummte, nahm die Brille ab und betrachtete einen unsichtbaren Schmierfleck auf dem Glas. Dann hob er den Blick und musterte Mikael.
»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, war Harriets Verschwinden der Grund, warum ich allmählich das Ruder in der Unternehmensleitung aus der Hand gab. Ich verlor die Lust. Ich wusste, dass es in meiner Umgebung einen Mörder gab, und die Grübeleien und die Suche nach der Wahrheit gingen zu Lasten meiner Arbeit. Das Schlimmste ist, dass die Bürde mit den Jahren nicht leichter wurde - im Gegenteil. Um 1970 herum hatte ich eine Phase, da wollte ich meinen Frieden haben. Damals war Martin in die Geschäftsführung eingestiegen und konnte mir mehr und mehr abnehmen. 1976 trat ich zurück, und Martin wurde Geschäftsführer. Ich hatte immer noch einen Platz im Vorstand, aber nach meinem fünfzigsten Geburtstag ließ ich es langsamer angehen. In den letzten sechsunddreißig Jahren gab es keinen Tag, an dem ich nicht über Harriets Verschwinden nachgedacht hätte. Sie finden vielleicht, dass ich davon besessen bin - zumindest finden das die meisten meiner Verwandten. Und wahrscheinlich stimmt das auch.«
»Es war ein schreckliches Ereignis.«
»Mehr als das. Es hat mein Leben zerstört. Je mehr Zeit verging, umso stärker wurde mir diese Tatsache bewusst. Glauben Sie, sich selbst gut zu kennen?«
»Na ja, natürlich denke ich das.«
»Ich auch. Ich werde diese Geschichte einfach nicht los. Aber meine Motive haben sich im Laufe der Jahre geändert. Am Anfang war es Trauer. Ich wollte sie finden, um sie zumindest begraben zu können. Es ging mir darum, Harriet Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
»Inwiefern hat sich das geändert?«
»Heute geht es mir vor allem darum, diesen kaltblütigen Scheißkerl zu finden. Und je älter ich werde, desto mehr Zeit nimmt dieses Hobby in Anspruch.«
»Hobby?«
»Ja, ich würde es tatsächlich so nennen. Als die polizeilichen Ermittlungen im Sande verliefen, machte ich weiter. Ich habe mich bemüht, systematisch und wissenschaftlich zu Werke zu gehen. Ich habe jegliche Art von Informationen gesammelt - diese Fotos, den Untersuchungsbericht der Polizei … und wenn mir Leute erzählten, was sie an jenem Tag gemacht hatten, habe ich alles sorgfältig notiert. Ich habe also mein halbes Leben damit zugebracht, Informationen über einen einzigen Tag zu sammeln.«
»Ist Ihnen klar, dass der Mörder nach sechsunddreißig Jahren vielleicht selbst schon tot und begraben ist?«
»Das glaube ich nicht.«
Mikael hob die Augenbrauen bei dieser entschiedenen Antwort.
»Lassen Sie uns fertig essen, dann gehen wir wieder hoch. Ein Detail fehlt noch, dann ist meine Erzählung komplett. Es ist von allen Details das verwirrendste.«
Lisbeth Salander parkte den Corolla Automatik beim Pendlerbahnhof in Sundbyberg. Sie hatte den Toyota aus dem Fuhrpark von Milton Security ausgeliehen. Zwar hatte sie nicht wirklich um Erlaubnis gefragt, doch andererseits hatte Armanskij ihr auch nicht ausdrücklich verboten, eines von Miltons Autos zu benutzen. Früher oder später muss ich mir ein eigenes Fahrzeug anschaffen, dachte sie. Sie hatte kein Auto, dafür aber ein Motorrad - eine gebrauchte Kawasaki mit 125 Kubik, die sie im Sommer benutzte. Im Winter stand die Maschine in ihrem Kellerabteil.
Sie spazierte zum Högklintavägen und klingelte um Punkt 18 Uhr an der Sprechanlage. Nach ein paar Sekunden klickte das Schloss, sie ging zwei Stockwerke hoch und klingelte an der Tür mit dem bescheidenen Namen Svensson. Sie hatte keine Ahnung, wer Svensson war oder ob es in der Wohnung überhaupt eine Person dieses Namens gab.
»Hallo, Plague«, sagte sie zur Begrüßung.
»Wasp. Du besuchst mich auch bloß, wenn du was brauchst.«
Er war 1 Meter 89 groß und wog 152 Kilo - ein stark übergewichtiger Mann, drei Jahre älter als Lisbeth Salander. Sie selbst war 1 Meter 54 groß bei einem Gewicht von 42 Kilo und hatte sich neben Plague stets wie ein Zwerg gefühlt. In seiner Wohnung war es wie immer dunkel. Der Lichtschein der einzigen eingeschalteten Lampe sickerte aus seinem Schlafzimmer, das ihm auch als Arbeitszimmer diente, auf den Korridor. Es roch dumpf und muffig.
»Weil du dich nie wäschst, Plague, und weil es hier drin nach Affenhaus riecht. Für den Fall, dass du mal vor die Tür gehen solltest, kann ich dir eine Seife empfehlen. Gibt’s im Supermarkt.«
Er lächelte dünn, gab aber keine Antwort und bedeutete ihr, mit in die Küche zu kommen. Er setzte sich an den Küchentisch, ohne Licht anzumachen. Die Beleuchtung kam hauptsächlich von der Straßenlaterne vor dem Küchenfenster.
»Ich meine, ich bin ja auch nicht gerade der Champ, wenn’s ums Aufräumen geht, aber wenn die alten Milchkartons nach Verwesung stinken, dann pack ich das Zeug und schmeiß es weg.«
»Ich bin Frührentner aus Krankheitsgründen«, sagte er. »Ich bin sozial inkompetent.«
»Deswegen hat der Staat dir also eine Wohnung gegeben und dich vergessen. Hast du keine Angst, dass sich die Nachbarn irgendwann mal beklagen könnten und das Sozialamt nachgucken kommt? Dann landest du am Ende noch im Irrenhaus.«
»Hast du was für mich?«
Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jackentasche und holte 5000 Kronen heraus.
»Mehr kann ich mir nicht leisten. Es ist mein eigenes Geld, und ich kann dich ja schlecht mit den Spesen verrechnen.«
»Was willst du?«
»Die Manschette, von der du vor zwei Monaten erzählt hast? Hast du sie hingekriegt?«
Er lächelte und legte einen Gegenstand vor ihr auf den Tisch.
»Erklär mir, wie sie funktioniert.«
In der folgenden Stunde hörte sie aufmerksam zu. Dann probierte sie die Manschette aus. Plague war vielleicht sozial inkompetent. Aber er war zweifellos ein Genie.
Henrik Vanger blieb vor seinem Schreibtisch stehen und wartete, bis er wieder Mikaels volle Aufmerksamkeit hatte. Mikael sah auf seine Armbanduhr. »Sie sprachen von einem verwirrenden Detail?«
Vanger nickte. »Ich habe am 1. November Geburtstag. Als Harriet acht Jahre alt war, gab sie mir ein Geburtstagsgeschenk, ein Bild. Eine gepresste Blume in einem schlichten Rahmen.«
Vanger ging um den Schreibtisch herum und zeigte auf die erste Blume, eine Glockenblume. Sie war amateurhaft und ungeschickt aufgeklebt worden.
»Das erste Bild. Ich habe es 1958 bekommen.«
Er wies auf das nächste Bild.
»1959: Scharfer Hahnenfuß. 1960: Margerite. Es wurde eine Tradition. Sie bastelte mir das Bild im Sommer und hob es bis zu meinem Geburtstag auf. Ich habe es immer an dieser Wand hier aufgehängt. 1966 verschwand sie, und die Tradition wurde unterbrochen.«
Henrik Vanger verstummte und deutete auf eine Lücke in der Bilderreihe. Mikael spürte, wie sich ihm plötzlich die Nackenhaare aufstellten. Die ganze Wand war voll mit gepressten Blumen.
»1967, ein Jahr nachdem sie verschwunden war, bekam ich an meinem Geburtstag diese Blume. Es ist ein Veilchen.«
»Wie haben Sie die Blume bekommen?«, fragte Mikael leise.
»Mit der Post, in Geschenkpapier verpackt und in einem wattierten Umschlag. In Stockholm abgeschickt. Kein Absender. Keine Nachricht.«
»Sie wollen damit sagen, dass …« Mikael wedelte mit der Hand.
»Genau. Jedes verdammte Jahr an meinem Geburtstag. Können Sie sich vorstellen, was für ein Gefühl das ist? Das ist gegen mich gerichtet, als ob der Täter mich quälen wollte. Wieder und wieder habe ich mich gefragt, ob Harriet beseitigt wurde, weil jemand eigentlich mich treffen wollte. Es war kein Geheimnis, dass Harriet und ich ein besonderes Verhältnis hatten und dass ich sie als meine eigene Tochter betrachtete.«
»Was soll ich für Sie tun?«, fragte Mikael entschieden.
Nachdem Lisbeth Salander den Corolla in der Tiefgarage von Milton Security abgestellt hatte, nutzte sie die Gelegenheit, die Bürotoilette zu benutzen. Sie öffnete die Tür mit ihrer Magnetkarte und fuhr direkt in den dritten Stock, um nicht durch den Haupteingang im zweiten Stock gehen zu müssen, wo die Nachtwache saß. Sie suchte die Toilette auf und holte sich eine Tasse Kaffee von der Espressomaschine, die Dragan Armanskij angeschafft hatte, nachdem ihm klar geworden war, dass sie niemals Kaffee kochen würde, nur weil es von ihr erwartet wurde. Anschließend ging sie in ihr Büro und hängte ihre Lederjacke über einen Stuhl.
Ihr Büro war ein zwei mal drei Meter großer Raum, der sich vor einer Glaswand befand. Er war mit einem Schreibtisch und einem älteren Dell PC ausgestattet, einem Bürostuhl, einem Papierkorb, einem Telefon und einem Bücherregal. Im Bücherregal lagen ein Satz Telefonbücher und drei leere Notizblöcke. Die beiden Schreibtischschubladen enthielten ein paar ausgediente Kugelschreiber, Büroklammern und einen Notizblock. Auf dem Fensterbrett stand eine tote Blume mit braunen verwelkten Blättern. Lisbeth Salander musterte sie einen Moment lang nachdenklich, bevor sie die Blume entschlossen in den Papierkorb warf.
Sie hatte selten etwas in ihrem Büro zu erledigen und besuchte es vielleicht ein halbes Dutzend Mal pro Jahr, hauptsächlich, wenn sie einen Bericht kurz vor der Abgabe noch einmal ungestört überarbeiten wollte. Dragan Armanskij hatte darauf bestanden, dass sie einen eigenen Platz bekam. Sein Hintergedanke war, dass sie sich als ein Teil des Unternehmens fühlen sollte, auch wenn sie nur auf freier Basis arbeitete. Sie selbst hatte Armanskij im Verdacht, dass er hoffte, auf diese Art ein wachsames Auge auf sie haben zu können und sich in ihre Privatangelegenheiten zu mischen. Anfangs hatte sie sich ein größeres Zimmer mit einem Kollegen teilen sollen. Aber da sie nie dort war, hatte Armanskij ihr schließlich den freien Verschlag zugewiesen.
Lisbeth Salander holte die Manschette hervor, die sie von Plague bekommen hatte. Sie legte sie vor sich auf den Tisch und betrachtete sie nachdenklich, während sie an ihrer Unterlippe knabberte und überlegte.
Es war nach elf Uhr abends, und sie war alleine auf der Etage.
Sie stand auf, ging zum Büro am Ende des Flurs und drückte versuchsweise die Klinke zu Dragan Armanskijs Büro herunter. Abgeschlossen. Sie sah sich um.
Die Wahrscheinlichkeit, dass am 26. Dezember gegen Mitternacht jemand auf dem Korridor auftauchen würde, ging gegen null. Sie öffnete die Tür mit einem heimlich angefertigten Duplikat des Generalschlüssels, das sie sich vor ein paar Jahren besorgt hatte.
Armanskijs geräumiges Zimmer enthielt einen Schreibtisch, Besucherstühle und einen kleinen Konferenztisch in der Ecke, der acht Personen Platz bot. Es war tadellos aufgeräumt. Sie hatte lange nicht mehr bei ihm herumgeschnüffelt, doch wenn sie jetzt schon einmal hier war … Sie verbrachte eine Stunde an seinem Schreibtisch und brachte sich in diversen Angelegenheiten auf den neuesten Stand: wie die Suche nach einem mutmaßlichen Unternehmensspion voranging, welche Personen in ein Unternehmen eingeschleust wurden, in dem eine organisierte Diebesbande ihr Unwesen trieb, und welche Maßnahmen ergriffen worden waren, um eine Klientin zu schützen, die befürchtete, dass ihre Kinder von ihrem Vater entführt werden könnten.
Zum Schluss legte sie alle Papiere wieder so zurück, wie sie sie vorgefunden hatte, schloss die Tür von Armanskijs Büro ab und ging nach Hause in die Lundagata. Sie war zufrieden mit diesem Tag.
Mikael Blomkvist schüttelte abermals den Kopf. Henrik Vanger hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und sah Mikael ruhig an, als wäre er schon auf alle Einwände vorbereitet.
»Ich weiß nicht, ob wir jemals die Wahrheit erfahren, aber ich will nicht sterben, ohne einen letzten Versuch unternommen zu haben«, sagte der alte Mann. »Ich möchte Sie beauftragen, sämtliches Beweismaterial noch ein letztes Mal durchzugehen.«
»Das ist doch verrückt«, sagte Mikael.
»Warum sollte das verrückt sein?«
»Ich habe genug gehört, Henrik. Ich verstehe Ihre Trauer, aber ich möchte auch ehrlich zu Ihnen sein. Was Sie von mir wollen, ist nichts als Verschwendung von Zeit und Geld. Sie bitten mich, die Lösung eines Mysteriums herbeizuführen, an dem Kriminalpolizisten und professionelle Ermittler über die Jahre gescheitert sind, obwohl sie auf viel mehr Erfahrung und bessere Hilfsmittel zurückgreifen konnten als ich. Sie bitten mich, ein Verbrechen aufzuklären, das vor fast vierzig Jahren begangen wurde. Wie soll ich das denn anstellen?«
»Wir haben noch nicht über Ihr Honorar gesprochen«, gab Henrik Vanger zurück.
»Das ist auch gar nicht nötig.«
»Wenn Sie Nein sagen, kann ich Sie nicht zwingen. Aber hören Sie sich an, was ich Ihnen anbieten möchte. Dirch Frode hat bereits einen Vertrag aufgesetzt. Einzelheiten können wir noch verhandeln, aber der Vertrag ist einfach, es fehlt nur noch Ihre Unterschrift.«
»Es ist zwecklos, Henrik. Ich kann das Rätsel von Harriets Verschwinden nicht lösen.«
»Das brauchen Sie auch gar nicht. Alles, was ich will, ist, dass Sie Ihr Bestes tun. Wenn es Ihnen nicht gelingt, ist es Gottes Wille oder - falls Sie nicht an Gott glauben - eben Schicksal.«
Mikael seufzte. Ihm wurde immer unbehaglicher zumute und er wollte seinen Besuch in Hedeby gerne beenden, doch schließlich gab er nach.
»Erklären Sie mir, was Sie wollen.«
»Ich will, dass Sie ein Jahr lang hier in Hedeby wohnen und arbeiten. Ich will, dass Sie den ganzen Untersuchungsbericht zu Harriets Verschwinden durchgehen, Seite für Seite. Ich will, dass Sie alles mit unvoreingenommenen Augen untersuchen. Ich will, dass Sie alle alten Schlussfolgerungen infrage stellen, wie es sich für einen Journalisten gehört, wenn er Recherchen betreibt. Ich will, dass Sie Details nachsehen, die ich und die Polizei und andere Ermittler möglicherweise übersehen haben.«
»Sie bitten mich, für ein Jahr mein ganzes Leben und meine Karriere aufzugeben, um etwas zu tun, das auf völlige Zeitverschwendung hinausläuft?«
Plötzlich lächelte Henrik Vanger.
»Was Ihre Karriere angeht, sind wir uns wohl einig, dass sie momentan doch ziemlich auf Eis liegt.«
Darauf konnte Mikael nichts entgegnen.
»Ich will Ihnen ein Jahr Ihres Lebens abkaufen. Für einen Job. Der Lohn ist besser als für jedes andere Angebot, das Sie jemals kriegen könnten. Ich bezahle Ihnen 200 000 Kronen im Monat, also 2,4 Millionen Kronen, wenn Sie einwilligen und ein ganzes Jahr bleiben.«
Mikael saß stumm in seinem Sessel.
»Ich mache mir keine Illusionen. Ich weiß, dass Ihre Erfolgschancen minimal sind. Aber wenn Sie das Rätsel wider Erwarten doch lösen sollten, verdoppele ich Ihr Honorar auf 4,8 Millionen Kronen. Ach, seien wir großzügig - runden wir’s auf 5 Millionen auf.«
Henrik Vanger lehnte sich zurück und legte den Kopf schief. »Ich kann das Geld auf jedes beliebige Bankkonto in der Welt einzahlen. Oder Sie bekommen das Geld bar in einer Reisetasche, dann können Sie selbst entscheiden, ob Sie es versteuern wollen.«
»Das ist doch … krank«, stotterte Mikael.
»Warum?«, fragte Henrik Vanger ruhig. »Ich bin über achtzig und immer noch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Ich habe ein großes Privatvermögen, über das ich verfügen kann, wie ich will. Ich habe keine Kinder und verspüre nicht die geringste Lust, mein Geld meinen verhassten Verwandten zu schenken. Ich habe mein Testament gemacht: Den Großteil meines Geldes vermache ich dem WWF. Ein paar wenige Personen, die mir nahestehen, bekommen eine ordentliche Summe - zum Beispiel Anna.«
Mikael Blomkvist schüttelte den Kopf.
»Versuchen Sie, mich zu verstehen. Ich bin alt und werde bald sterben. Ich wünsche mir nur eines auf der Welt - eine Antwort auf die Frage, die mich fast vier Jahrzehnte lang gequält hat. Ich glaube nicht, dass ich die Antwort bekommen werde, aber ich habe ausreichend private Mittel, um einen letzten Versuch zu unternehmen. Warum sollte es unsinnig sein, einen Teil meines Vermögens für diesen Zweck zu verwenden? Das bin ich Harriet schuldig. Und ich bin es mir selbst schuldig.«
»Sie bezahlen ein paar Millionen Kronen für nichts und wieder nichts. Alles, was ich tun muss, ist also diesen Vertrag zu unterzeichnen und dann ein Jahr lang Däumchen zu drehen.«
»Das werden Sie nicht tun. Im Gegenteil - Sie werden härter arbeiten als je zuvor in Ihrem Leben.«
»Wie wollen Sie sich da so sicher sein?«
»Weil ich Ihnen einen weiteren Anreiz bieten kann - etwas, das Sie nicht für Geld kaufen können, sich aber mehr wünschen als alles andere auf dieser Welt.«
»Was sollte das sein?«
Henrik Vangers Augen verengten sich.
»Ich kann Ihnen Hans-Erik Wennerström ausliefern. Ich kann beweisen, dass er ein Betrüger ist. Er hat seine Karriere nämlich vor fünfunddreißig Jahren bei mir begonnen, und ich werde Ihnen seinen Kopf auf dem Silbertablett liefern. Lösen Sie das Rätsel, und Sie können Ihre Niederlage vor Gericht zur Reportage des Jahres ummünzen.«
7. Kapitel
Freitag, 3. Januar
Erika stellte die Kaffeekanne auf dem Tisch ab und drehte Mikael den Rücken zu. Sie stand am Fenster seiner Wohnung und blickte über die Altstadt. Es war der 3. Januar, 9 Uhr vormittags. Der Schnee war über Neujahr vom Regen fortgespült worden.
»Ich habe diesen Ausblick immer geliebt«, sagte sie. »Für eine Wohnung wie diese könnte ich glatt Saltsjöbaden aufgeben.«
»Du kannst gerne dein High-Society-Reservat verlassen und hier einziehen. Du hast ja die Schlüssel.« Er machte seinen Koffer zu und stellte ihn in den Flur. Erika drehte sich um und sah ihn zweifelnd an.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte sie. »Wir stecken in der allergrößten Krise, und du packst einfach zwei Koffer, um dich am Ende der Welt niederzulassen.«
»In Hedestad. Ein paar Stunden mit dem Zug. Und es ist doch nicht für immer.«
»Du könntest genauso gut nach Ulan Bator fahren. Begreifst du nicht, dass es so aussieht, als würdest du mit eingezogenem Schwanz das Feld räumen?«
»Das tu ich ja auch. Außerdem muss ich dieses Jahr noch eine Gefängnisstrafe absitzen.«
Christer Malm saß auf Mikaels Sofa. Er fühlte sich unwohl. Zum ersten Mal seit der Gründung von Millennium erlebte er, wie Mikael und Erika vollkommen gegensätzliche Ansichten vertraten. In all den Jahren waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie hatten zwar heftige Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, aber dabei war es immer um Sachfragen gegangen, die meist rasch geklärt wurden, bevor sich die beiden umarmten und zusammen in die nächste Kneipe gingen. Oder ins Bett. Christer Malm fragte sich, ob er gerade den Anfang des Endes von Millennium miterlebte.
»Ich habe keine Wahl«, sagte Mikael. »Wir haben keine Wahl.«
Er goss sich Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Erika schüttelte den Kopf und setzte sich ihm gegenüber.
»Wie denkst du darüber, Christer?«, fragte sie.
Christer Malm hob hilflos die Hände. Diese Frage hatte er erwartet und den Augenblick gefürchtet, in dem er Stellung beziehen musste. Er war der dritte Teilhaber, aber alle drei wussten, dass Mikael und Erika Millennium waren. Sie fragten ihn immer nur dann um Rat, wenn sie sich überhaupt nicht einigen konnten.
»Ehrlich gesagt«, antwortete Christer, »wisst ihr beide ganz genau, dass es egal ist, was ich darüber denke.«
Er schwieg. Er liebte es, Bilder zu kreieren. Er liebte seine Arbeit im grafischen Bereich. Er hatte sich nie als Künstler betrachtet, aber er wusste, dass er ein begnadeter Designer war. Wenn es allerdings um Intrigen oder politisches Taktieren im Geschäftsleben ging, war er ein richtiger Dilettant.
Erika und Mikael blickten sich an. Sie voll kühler Wut. Er nachdenklich.
Das ist kein Streit, dachte Christer Malm. Das ist eine Scheidung. Mikael brach schließlich das Schweigen.
»Okay, lasst es mich ein letztes Mal erklären.« Er sah Erika tief in die Augen. »Das hier bedeutet nicht, dass ich Millennium aufgegeben habe. Dafür haben wir viel zu hart gearbeitet.«
»Aber du wirst nicht mehr in der Redaktion sein - Christer und ich müssen die ganze Last tragen. Begreifst du denn nicht, dass du dich selbst ins Exil schickst?«
»Damit sind wir bei Punkt zwei. Ich brauche eine Pause, Erika. Ich funktioniere nicht mehr. Ich bin völlig fertig. Ein bezahlter Urlaub in Hedeby ist jetzt vielleicht genau das, was ich nötig habe.«
»Die ganze Sache ist doch total krank, Mikael. Du könntest genauso gut auf einem UFO arbeiten.«
»Ich weiß. Aber ich kriege 2,4 Millionen dafür, dass ich ein Jahr lang auf meinem Hintern sitze, und ich habe nicht vor, die Hände in den Schoß zu legen. Das ist Punkt drei - die erste Runde gegen Wennerström ist vorbei, er hat durch k. o. gewonnen. Die zweite Runde läuft bereits. Er wird versuchen, Millennium endgültig zu vernichten, denn er weiß, solange unser Magazin existiert, wird es auch eine Redaktion geben, die weiß, was für ein Mensch er wirklich ist.«
»Ich weiß. Ich habe es an den monatlichen Anzeigeneinnahmen fürs letzte halbe Jahr gesehen.«
»Genau. Darum muss ich aus der Redaktion verschwinden. Ich bin ein rotes Tuch für ihn. Ich glaube, er ist geradezu paranoid, wenn es um mich geht. Solange ich noch hier bin, wird er seinen Feldzug fortsetzen. Wir müssen uns auf die dritte Runde vorbereiten. Wenn wir auch nur die geringste Chance gegen ihn haben wollen, sollten wir uns ein bisschen zurückziehen und uns eine neue Strategie zurechtlegen. Wir müssen einen richtigen Hammer finden. Das wird nächstes Jahr mein Job sein.«
»Ich verstehe das ja alles«, antwortete Erika. »Nimm dir Urlaub. Fahr ins Ausland und leg dich einen Monat an den Strand. Recherchier das Liebesleben der spanischen Frauen. Entspann dich. Setz dich in Sandhamn an den Strand und sieh den Wellen zu.«
»Und wenn ich zurückkomme, ist alles wie vorher. Wennerström wird Millennium zermalmen. Das weißt du. Und wir können ihn nur daran hindern, wenn wir etwas finden, das wir gegen ihn verwenden können.«
»Und du glaubst, das findest du in Hedestad.«
»Ich habe die Artikel noch mal durchgesehen. Wennerström hat von 1969 bis 1972 bei Vanger gearbeitet. Er saß im Führungsstab des Konzerns und war für strategische Anlagen verantwortlich. Er hat sehr überstürzt seinen Hut genommen. Wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass Henrik Vanger tatsächlich etwas gegen ihn in der Hand hat.«
»Aber wenn er vor dreißig Jahren etwas gemacht hat, können wir das heute kaum noch beweisen.«
»Henrik Vanger hat versprochen, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen und zu erzählen, was er weiß. Er ist wie besessen von dem Verschwinden seiner Großnichte - das ist anscheinend das Einzige, was ihn noch interessiert, und wenn er Wennerström ans Messer liefern muss, dann wird er es höchstwahrscheinlich tun. Wir dürfen uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen - er ist der Erste, der bereit wäre, öffentlich eine Aussage über diesen ganzen Wennerström-Filz zu machen.«
»Wir könnten das nicht gegen ihn verwenden. Nicht mal, wenn du Beweise bringen könntest, dass Wennerström das Mädchen eigenhändig erwürgt hat. Nicht nach so langer Zeit. Er würde uns vor Gericht massakrieren.«
»An Erwürgen hatte ich auch schon gedacht. Doch leider war er an der Wirtschaftshochschule und hatte keinerlei Verbindung zum Vanger-Konzern, als sie verschwand.« Mikael legte eine Pause ein. »Erika, ich werde Millennium nicht verlassen, aber es muss so aussehen, als ob. Du und Christer, ihr müsst mit dem Magazin weitermachen. Wenn ihr … wenn ihr die Chance habt, ein Friedensabkommen mit Wennerström zu schließen, dann müsst ihr es tun. Und das könnt ihr nicht, solange ich in der Redaktion sitze.«
»Okay, die Lage ist schlimm, aber ich glaube, du klammerst dich da an einen Strohhalm mit deiner Hedestad-Reise.«
»Hast du etwa eine bessere Idee?«
Erika zuckte mit den Achseln. »Wir sollten uns lieber auf die Jagd nach verlässlichen Informanten machen. Die Story von vorne aufziehen. Aber diesmal richtig.«
»Ricky - die Story ist toter als tot.«
Erika legte resigniert den Kopf in ihre Hände. Sie wollte Mikael zuerst nicht in die Augen sehen, als sie anfing zu sprechen.
»Ich bin so sauwütend auf dich. Nicht, weil du eine falsche Story geschrieben hast - ich habe mich ja genauso drauf gestürzt. Und auch nicht, weil du deinen Posten als verantwortlicher Herausgeber abgibst - das ist in dieser Situation ein weiser Entschluss. Ich kann akzeptieren, dass wir es wie ein Zerwürfnis oder einen Machtkampf zwischen dir und mir aussehen lassen. Ich verstehe, warum es klug ist, Wennerström glauben zu lassen, ich wäre die harmlose dumme Blondine und du die eigentliche Bedrohung für ihn.«
Sie hielt inne und sah ihm verbissen in die Augen.
»Aber ich glaube, dass du dich täuschst. Wennerström wird auf den Bluff nicht reinfallen. Er wird weiterhin versuchen, Millennium zu ruinieren. Der einzige Unterschied wird darin liegen, dass ich ab jetzt alleine mit ihm kämpfen muss. Du weißt genau, dass wir dich in der Redaktion jetzt mehr brauchen als je zuvor. Den Kampf gegen Wennerström nehme ich gerne an, aber was mich so sauer macht, ist, dass du einfach das sinkende Schiff verlässt. Du kneifst im brenzligsten Augenblick.«
Mikael streckte seine Hand aus und strich ihr über das Haar.
»Du bist nicht allein. Du hast Christer und die restliche Redaktion hinter dir.«
»Janne Dahlman nicht. Ich glaube übrigens, es war ein Fehler, ihn einzustellen. Er ist fähig, aber er schadet uns mehr, als dass er uns nützt. Ich traue ihm nicht. Er hat sich den ganzen Herbst seine Schadenfreude anmerken lassen. Ich weiß nicht, ob er auf deinen Platz spekuliert oder ob zwischen ihm und dem Rest der Redaktion ganz einfach die Chemie nicht stimmt.«
»Ich fürchte, du hast recht«, antwortete Mikael.
»Und, was soll ich machen? Ihn rauswerfen?«
»Erika, du bist Chefredakteurin und hast die meisten Anteile bei Millennium. Wenn du ihn rauswerfen willst, dann tu’s.«
»Wir haben noch nie jemand rausgeworfen, Micke. Und jetzt schiebst du diese Entscheidung auch noch mir zu. Es macht keinen großen Spaß mehr, morgens in die Redaktion zu gehen.«
In diesem Moment stand Christer Malm überraschend auf. »Wenn du den Zug erwischen willst, dann müssen wir uns jetzt ein bisschen beeilen.« Erika wollte protestieren, aber er hob die Hand. »Warte, Erika, du hast mich doch gefragt, wie ich über die ganze Geschichte denke. Ich finde die Situation grauenvoll. Aber wenn Mikael wirklich an seine Belastungsgrenze stößt, wie er sagt, dann muss er fahren, um seiner selbst willen. Das sind wir ihm schuldig.«
Mikael und Erika sahen ihren Partner verblüfft an. Der schielte verlegen zu Mikael.
»Ihr wisst, dass ihr beide Millennium seid. Ihr habt nie krumme Spielchen mit mir gemacht, und ich liebe dieses Magazin und alles, aber ihr könntet mich ohne Weiteres gegen jeden x-beliebigen Art Director austauschen. Doch ihr habt mich nach meiner Meinung gefragt. Was Janne Dahlman angeht, gebe ich euch recht. Und wenn du ihn rauswerfen möchtest, Erika, dann kann ich das für dich machen. Wir brauchen nur einen triftigen Grund.«
Er legte eine kurze Pause ein, bevor er fortfuhr: »Ich finde ja auch, dass es ungut ist, wenn Mikael ausgerechnet jetzt verschwindet. Aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl.« Er blickte zu Mikael. »Ich fahre dich zum Bahnhof. Erika und ich halten die Stellung, bis du zurück bist.«
Mikael nickte langsam.
»Ich habe Angst, dass Mikael nicht zurückkommt«, sagte Erika leise.
Dragan Armanskij weckte Lisbeth Salander, als er sie nachmittags um halb zwei anrief.
»Was ist?«, fragte sie schlaftrunken. Sie hatte einen Teergeschmack im Mund.
»Es geht um Blomkvist. Ich habe gerade mit Frode, unserem Auftraggeber, gesprochen.«
»Und?«
»Er hat angerufen und mir mitgeteilt, dass wir die Untersuchung zu Wennerström fallen lassen können.«
»Fallen lassen? Ich hab doch gerade erst angefangen.«
»Okay, aber Frode hat kein Interesse mehr.«
»Einfach so?«
»Er trifft die Entscheidungen. Wenn er nicht mehr will, dann will er nicht mehr.«
»Wir haben ein festes Honorar vereinbart.«
»Wie viel Zeit haben Sie denn investiert?«
Lisbeth Salander dachte nach.
»Gut drei Tage.«
»Wir hatten 40 000 Kronen als oberstes Limit vereinbart. Ich stelle eine Rechnung über 10 000 Kronen aus. Sie bekommen die Hälfte, das ist in Ordnung für drei Tage vergeudete Zeit. Das muss er dafür bezahlen, dass er das Ganze angeleiert hat.«
»Was soll ich mit dem Material machen, das ich bereits recherchiert habe?«
»Ist was Dramatisches dabei?«
Sie überlegte nochmals. »Nein.«
»Frode hat keinen Bericht erbeten. Aber behalten Sie das Material eine Weile in Ihrer Ablage, für den Fall, dass er es sich anders überlegt. Ansonsten können Sie es wegwerfen. Ich habe nächste Woche einen neuen Job für Sie.«
Lisbeth Salander behielt den Telefonhörer noch einen Augenblick in der Hand, nachdem Armanskij aufgelegt hatte. Sie ging zu ihrem Arbeitsplatz im Wohnzimmer und sah sich die Notizen an, die sie an die Wand geheftet hatte, sowie die Papiere, die sich auf dem Schreibtisch türmten. Was sie bis jetzt gefunden hatte, waren vor allem Zeitungsausschnitte und Texte aus dem Internet. Sie ließ sämtliche Unterlagen in einer Schreibtischschublade verschwinden.
Sie runzelte die Brauen. Blomkvists seltsames Benehmen im Gerichtssaal hatte nach einer interessanten Herausforderung ausgesehen, und wenn Lisbeth Salander erst einmal etwas angefangen hatte, brach sie es ungern ab. Jeder Mensch hat Geheimnisse. Man muss nur herausfinden, welche.
Teil II
Konsequenzanalyse
3. Januar bis 17. März
46% aller schwedischen Frauen über fünfzehn sind schon einmal Opfer männlicher Gewalt geworden.
8. Kapitel
Freitag, 3. Januar - Sonntag, 5. Januar
Als Mikael Blomkvist zum zweiten Mal in Hedestad aus dem Zug stieg, war der Himmel pastellblau und die Luft eiskalt. Ein Thermometer an der Außenwand des Bahnhofsgebäudes zeigte 18 Grad minus an. Er trug immer noch ungeeignete, dünne Schuhe. Im Gegensatz zum vorigen Besuch wartete diesmal aber kein Rechtsanwalt Frode mit einem warmen Auto auf ihn. Mikael hatte nur angekündigt, an welchem Tag er kommen würde, aber nicht, mit welchem Zug. Er nahm an, dass irgendein Bus nach Hedeby fuhr, hatte jedoch keine Lust, auf der Suche nach der Haltestelle zwei schwere Koffer und eine Schultertasche durch die Gegend zu schleppen. Stattdessen ging er zum Taxistand auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes.
In der Zwischenzeit hatte es an der Küste von Norrland heftig geschneit. Den Spuren der Räumfahrzeuge und den aufgehäuften Schneebergen nach zu urteilen, hatte der Winterdienst in Hedestad auf Hochtouren gearbeitet. Der Taxifahrer, der laut Ausweis an der Windschutzscheibe Hussein hieß, schüttelte den Kopf, als Mikael fragte, ob das Wetter sehr hart gewesen sei. Er erklärte in breitestem Norrland-Dialekt, es sei der schwerste Schneesturm seit Jahrzehnten gewesen, und er bereue es bitter, über Weihnachten nicht in Griechenland Urlaub gemacht zu haben.
Mikael dirigierte das Taxi zu Henrik Vangers frisch geräumter Auffahrt, wo er die Koffer auf dem Treppenabsatz abstellte und dem Auto hinterhersah, als es wieder Richtung Hedestad verschwand. Plötzlich fühlte er sich einsam und verunsichert. Vielleicht hatte Erika recht gehabt, als sie das ganze Projekt als verrückt bezeichnete.
Er hörte, wie die Tür hinter ihm aufging, und drehte sich um. Henrik Vanger war in einen dicken Ledermantel gehüllt, trug solide Stiefel und eine Mütze mit Ohrenklappen. Mikael stand in Jeans und einer dünnen Lederjacke vor ihm.
»Wenn Sie hier wohnen, müssen Sie lernen, sich in dieser Jahreszeit besser anzuziehen.« Sie gaben sich die Hand. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht im großen Haus wohnen wollen? Nein? Dann fangen wir wohl am besten damit an, dass Sie sich in Ihrer neuen Wohnung einrichten, denke ich.«
Mikael nickte. Eine seiner Forderungen in den Verhandlungen mit Vanger und Frode war gewesen, dass er seinen eigenen Haushalt führte und nach Belieben kommen und gehen konnte. Vanger führte Mikael wieder auf die Straße und bog durch ein Tor auf einen frisch geräumten Hof mit einem Holzhäuschen, das sich unmittelbar neben der Brücke befand. Es war unverschlossen, und der alte Mann hielt ihm die Tür auf. Sie traten in einen kleinen Vorraum, wo Mikael mit einem Seufzer der Erleichterung seine Koffer abstellte.
»Das ist unser sogenanntes Gästehäuschen, hier quartieren wir Leute ein, die etwas länger bleiben. Hier haben Sie 1963 mit Ihren Eltern gewohnt. Es ist tatsächlich eines der ältesten Häuser am Ort, aber es ist modernisiert worden. Ich habe Gunnar Nilsson - das ist mein Hausmeister - heute Morgen einheizen lassen.«
Das ganze Haus bestand aus einer großen Küche und zwei kleineren Zimmern, insgesamt ungefähr 50 Quadratmeter. Die Küche beanspruchte die Hälfte der Fläche und war modern ausgestattet: Elektroherd, kleiner Kühlschrank und fließend Wasser. Auf dem Flur stand aber auch noch ein alter gusseiserner Ofen, mit dem tagsüber eingeheizt worden war.
»Diesen Ofen brauchen Sie nicht zu benutzen, außer wenn es wirklich eiskalt ist. Der Holzkasten steht draußen im Vorraum, und hinterm Haus ist noch ein Holzschuppen. Das Häuschen steht seit dem Herbst leer. Wir haben heute Morgen Feuer gemacht, um einmal richtig durchzuheizen. Aber für den täglichen Gebrauch reicht der Elektro-Radiator. Sie dürfen bloß keine Kleidung drauflegen, die kann anfangen zu brennen.«
Mikael nickte und sah sich um. Die Fenster gingen in drei Richtungen; vom Küchentisch aus hatte man die ungefähr dreißig Meter entfernte Brücke im Blick. Ansonsten war die Küche mit ein paar großen Schränken, Küchenstühlen, einem alten Küchensofa und einem Regal mit Zeitungen möbliert. Ganz obenauf lag eine alte Zeitschrift von 1967. In der Ecke stand ein Abstelltisch, der als Schreibtisch herhalten konnte.
Die Küchentür befand sich auf der einen Seite des gusseisernen Ofens. Auf der anderen Seite führten zwei schmale Türen in die kleinen Zimmer. Das rechte, das näher an der Außenwand war und als Arbeitszimmer diente, war eher eine Kammer, möbliert mit einem kleinen Schreibtisch, einem Stuhl und einem Regal, die hintereinander an der Längswand standen. Das andere Zimmer, zwischen dem Eingangsflur und Arbeitszimmer gelegen, war eine ziemlich kleine Schlafkammer. Die Möblierung bestand aus einem schmalen Doppelbett, einem Nachttischchen und einem Kleiderschrank. An den Wänden hingen ein paar Bilder mit Naturmotiven. Die Möbel und Tapeten im ganzen Haus waren alt und ausgeblichen, aber es roch sauber und angenehm. Irgendjemand hatte sich mit einer ordentlichen Portion Schmierseife über den Boden hergemacht. In der Schlafkammer gab es noch eine seitliche Tür, die in den Vorraum zurückführte, wo eine alte Abstellkammer zu einer Toilette mit kleiner Dusche umgebaut worden war.
»Mit dem Wasser kann es manchmal Probleme geben«, erklärte Henrik Vanger. »Wir haben heute Morgen überprüft, ob es funktioniert, aber die Rohre liegen zu nah an der Oberfläche, und wenn sich die Kälte länger hält, können sie zufrieren. Draußen steht ein Eimer. Wenn nötig, können Sie hochkommen und bei uns Wasser holen.«
»Ich werde ein Telefon brauchen«, sagte Mikael.
»Habe ich schon angefordert. Sie kommen morgen vorbei und installieren alles. Na, was sagen Sie? Wenn Sie Ihre Meinung ändern, können Sie immer noch ins große Haus ziehen.«
»Es ist ganz wunderbar hier«, antwortete Mikael. Er war jedoch längst nicht überzeugt, dass die Situation, in die er sich gebracht hatte, vernünftig war.
»Gut. Es ist noch eine Stunde hell. Wenn wir noch eine Runde gehen, können Sie sich mit der Stadt vertraut machen. Aber ich schlage vor, Sie ziehen sich Stiefel und warme Socken an. Sie finden alles im Schrank, draußen im Vorraum.«
Mikael folgte Vangers Rat und beschloss, sich schon morgen lange Unterhosen und ein Paar vernünftige Winterschuhe zu besorgen.
Der alte Mann erklärte Mikael zu Beginn ihres Rundgangs, dass schräg gegenüber von Mikael Gunnar Nilsson wohnte, der Gehilfe, den Henrik Vanger hartnäckig als »Hausknecht« bezeichnete, obwohl er, wie Mikael bald begriff, eher Hausmeister sämtlicher Gebäude auf der Hedeby-Insel und zusätzlich als Verwalter für ein paar Häuser in Hedestad verantwortlich war.
»Sein Vater war Magnus Nilsson, der in den sechziger Jahren mein Hausknecht war. Er gehörte bei dem Unfall auf der Brücke zu den Helfern. Magnus lebt noch, aber er ist schon pensioniert und wohnt in Hedestad. In diesem Haus hier wohnt Gunnar mit seiner Frau, Helen heißt sie. Ihr Kind ist schon weggezogen.«
Henrik Vanger machte eine Pause und überlegte kurz, bevor er weitersprach.
»Mikael, die offizielle Erklärung für Ihren Aufenthalt ist übrigens, dass Sie mir bei meiner Autobiografie helfen. Das verschafft Ihnen einen Vorwand, in allen möglichen dunklen Ecken zu stöbern und den Leuten Fragen zu stellen. Ihr wahrer Auftrag ist eine Angelegenheit zwischen Ihnen und mir und Dirch Frode. Wir drei sind die Einzigen, die davon Kenntnis haben.«
»Verstehe. Aber ich möchte noch einmal wiederholen, was ich Ihnen bereits gesagt habe: Es ist Zeitverschwendung. Ich werde das Rätsel auch nicht lösen können.«
»Alles, was ich will, ist, dass Sie es versuchen. Aber wir müssen aufpassen, was wir sagen, wenn Leute in der Nähe sind.«
»Okay.«
»Gunnar ist sechsundfünfzig, war also neunzehn Jahre alt, als Harriet verschwand. Auf eine Frage habe ich niemals eine Antwort erhalten - Harriet und Gunnar waren gute Freunde, und ich glaube, es gab da so eine Art kindliche Romanze zwischen den beiden. Jedenfalls war er sehr interessiert an Harriet. An dem Tag, an dem sie verschwand, hielt er sich jedoch in Hedestad auf und blieb auf der Festlandseite hängen, als die Brücke blockiert war. Aufgrund ihres Verhältnisses wurde er natürlich besonders sorgfältig unter die Lupe genommen, nachdem Harriet verschwunden war. Es war ziemlich unangenehm für ihn, doch sein Alibi war hieb- und stichfest. Er war den ganzen Tag mit Freunden zusammen und kam erst spätabends wieder hierher zurück.«
»Ich schätze, Sie haben ein komplettes Verzeichnis, welche Personen auf der Insel waren und wer wann was getan hat.«
»Richtig. Wollen wir weitergehen?«
An der Kreuzung auf der Anhöhe vor seinem Haus blieb Henrik Vanger erneut stehen und zeigte hinunter zum alten Fischerhafen.
»Der gesamte Grund und Boden auf der Hedeby-Insel gehört der Familie Vanger, genauer gesagt, mir. Der Hof von Östergården und ein paar Häuser sind die einzigen Ausnahmen. Die Häuschen da unten am Fischerhafen gehören auch nicht mir, aber das sind Sommerhäuser, die im Winter größtenteils unbewohnt sind. Außer der Baracke ganz hinten - wie Sie sehen, raucht dort der Schornstein.«
Mikael nickte. Er fror bereits bis ins Mark.
»Das ist eine elende, zugige Bruchbude, die das ganze Jahr über bewohnt wird. Dort wohnt Eugen Norman, ein siebenundsiebzigjähriger Maler. Ich finde seine Bilder kitschig, aber er ist ein ziemlich bekannter Naturmaler - gewissermaßen der obligatorische Sonderling der Stadt. Wenn Sie ihn treffen, werden Sie verstehen, was ich meine.«
Henrik Vanger führte ihn die Straße entlang bis zur Landzunge und sagte ihm etwas zu jedem Haus. Die Siedlung bestand aus sechs Häusern auf der westlichen und vier auf der östlichen Seite der Straße. Das erste Haus, das Mikaels Häuschen und Vangers Anwesen am nächsten lag, gehörte Henrik Vangers Bruder Harald. Es war ein viereckiges, zweistöckiges Steinhaus, das auf den ersten Blick verlassen aussah: Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, der Weg zur Tür war nicht geräumt und lag unter einem halben Meter Schnee begraben. Auf den zweiten Blick verrieten Fußabdrücke, dass jemand zwischen Straße und Haustür durch den Schnee gestapft war.
»Harald ist ein Einzelgänger. Wir haben uns nie verstanden. Abgesehen von Streitereien wegen des Unternehmens - er ist ja Teilhaber - haben wir fast sechzig Jahre kaum miteinander gesprochen. Er ist älter als ich, zweiundneunzig, und der Einzige meiner fünf Brüder, der noch lebt. Ich erzähle Ihnen später die Details. Er hat Medizin studiert und dann vor allem in Uppsala gearbeitet. Als er siebzig wurde, ist er nach Hedeby zurück gezogen.«
»Sie mögen sich also nicht. Trotzdem wohnen Sie in unmittelbarer Nachbarschaft.«
»Ich kann ihn nicht ausstehen und hätte es lieber gehabt, wenn er in Uppsala geblieben wäre, aber das Haus gehört ihm. Höre ich mich an wie ein Schuft?«
»Sie hören sich so an wie jemand, der seinen Bruder nicht mag.«
»Ich habe die ersten fünfundzwanzig, dreißig Jahre meines Lebens damit verbracht, solche Menschen wie Harald zu entschuldigen und ihnen zu verzeihen, weil sie nun mal zur Verwandtschaft gehörten. Dann ging mir auf, dass Verwandtschaft kein Garant für Liebe ist und ich sehr wenig Gründe hatte, Harald in Schutz zu nehmen.«
Das nächste Haus gehörte Isabella, Harriet Vangers Mutter.
»Sie wird dieses Jahr fünfundsiebzig und ist immer noch schick und eitel. Außerdem ist sie die Einzige in der Stadt, die mit Harald spricht und ihn ab und zu besucht, aber besonders viel gemeinsam haben sie nicht.«
»Wie war das Verhältnis zwischen Harriet und ihr?«
»Richtiger Gedanke. Auch dieses Weib gehört zum Kreis der Verdächtigen. Ich habe Ihnen ja erzählt, dass sie verantwortungslos war und die Kinder oft sich selbst überließ. Ich weiß nicht recht, ich glaube, dass sie eigentlich guten Willens war, aber die Verantwortung nicht tragen konnte. Harriet und sie standen sich nicht sonderlich nahe, aber auch nicht feindlich gegenüber. Isabella kann schon schwierig sein, manchmal ist sie ein bisschen seltsam. Wenn Sie ihr begegnen, werden Sie verstehen, was ich meine.«
Isabellas Nachbarin war eine Cecilia Vanger, die Tochter von Harald Vanger.
»Sie war früher in Hedestad verheiratet, hat sich aber vor knapp zwanzig Jahren getrennt. Das Haus gehört mir, und ich habe ihr angeboten, dort einzuziehen. Cecilia ist Lehrerin und in vieler Hinsicht das komplette Gegenteil ihres Vaters. Eines der wenigen Mitglieder des Vangerschen Familienkreises, das ich wirklich mag. Ich kann Ihnen noch verraten, dass sie und ihr Vater auch nicht mehr als notwendig miteinander sprechen.«
»Wie alt ist sie?«
»Jahrgang 1946. Sie war also zwanzig, als Harriet verschwand. Und ja, sie war an jenem Tag auch unter den Gästen auf der Insel.«
Er überlegte einen Moment.
»Cecilia kann ziemlich fahrig wirken, aber eigentlich ist sie hochintelligent. Unterschätzen Sie sie nicht. Wenn jemand dahinterkommt, womit Sie sich hier wirklich beschäftigen, dann sie. Ich würde sagen, sie ist eine der Verwandten, die ich am meisten schätze.«
»Heißt das, Sie verdächtigen sie nicht?«
»Das würde ich nicht sagen. Ich möchte, dass Sie die Sache vorbehaltlos untersuchen, unabhängig von dem, was ich sage oder glaube.«
Das Haus neben Cecilias gehörte Henrik Vanger, war aber an ein älteres Paar vermietet, das früher leitende Positionen im Konzern gehabt hatte. Sie waren in den achtziger Jahren auf die Hedeby-Insel gezogen und hatten mit Harriets Verschwinden nichts zu tun. Das nächste Haus gehörte Birger Vanger, dem Bruder von Cecilia. Das Haus stand seit mehreren Jahren leer, da Birger sich in einem modernen Einfamilienhaus in Hedestad niedergelassen hatte.
Die meisten Häuser an der Straße waren solide Steinbauten, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden waren. Das letzte Haus unterschied sich im Charakter von ihnen: Es war ein modernes, architektonisch ambitioniertes Einfamilienhaus aus weißem Backstein mit dunklen Fensterrahmen. Es war schön gelegen, und Mikael konnte erkennen, dass die Sicht aus dem Obergeschoss grandios sein musste, aufs Meer im Osten und auf Hedestad im Norden.
»Hier wohnt Martin Vanger, Harriets Bruder und Geschäftsführer des Konzerns. Früher stand auf diesem Grundstück Otto Falks Pfarrhaus, aber das Gebäude wurde bei einem Brand in den siebziger Jahren teilweise zerstört. Martin baute sich dieses Haus 1978, als er die Geschäftsführung übernahm.«
Am östlichsten Ende der Straße wohnten Gerda Vanger, die Witwe eines Bruders von Henrik, und ihr Sohn Alexander.
»Gerda ist kränklich, sie leidet unter Rheumatismus. Alexander hat einen kleinen Anteil am Vanger-Konzern, betreibt aber ein paar eigene Unternehmen, Restaurants unter anderem. Er verbringt jedes Jahr ein paar Monate auf den Westindischen Inseln, auf Barbados, wo er einiges an Geld in die Touristikbranche gesteckt hat.«
Zwischen Gerdas und Henriks Haus befand sich ein Grundstück mit zwei kleineren Gebäuden, die leer standen und als Gästehäuschen dienten, wenn Familienmitglieder zu Besuch kamen. Auf der anderen Seite von Henriks Anwesen stand ein Haus, das von einem weiteren pensionierten Angestellten des Unternehmens gekauft worden war. Er bewohnte es mit seiner Frau; es stand jedoch leer, wenn das Paar den Winter in Spanien verbrachte.
Sie waren wieder an der Kreuzung angekommen, damit war ihr Rundgang abgeschlossen. Es begann schon zu dämmern. Mikael ergriff die Initiative.
»Ich kann immer nur wiederholen, Henrik: Diese ganze Geschichte hier wird sich nicht lohnen. Aber ich werde tun, wofür Sie mich eingestellt haben. Ich werde behaupten, dass ich Ihre Biografie schreibe, und werde Ihrem Wunsch entsprechend das gesamte Material über Harriet so sorgfältig und kritisch durchlesen, wie ich nur kann. Ich möchte nur, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass ich kein Privatdetektiv bin. Setzen Sie also keine überhöhten Erwartungen in mich.«
»Ich erwarte gar nichts. Ich will nur einen letzten Versuch unternehmen, die Wahrheit herauszufinden.«
»Gut.«
»Ich bin ein Nachtmensch«, erklärte Vanger, »und werde immer ab Mittag für Sie erreichbar sein. Ich lasse Ihnen ein Arbeitszimmer hier oben einrichten, über das Sie frei verfügen können.«
»Nein, danke. Ich habe schon ein Arbeitszimmer im Gästehaus, und dort werde ich auch arbeiten.«
»Wie Sie wollen.«
»Unsere Gespräche könnten wir in Ihrem Arbeitszimmer führen. Aber heute Abend werde ich Sie noch nicht mit Fragen bestürmen.«
»Ich verstehe.« Der alte Mann wirkte verräterisch schüchtern.
»Es wird ein paar Wochen dauern, das ganze Material zu sichten. Wir arbeiten an zwei Fronten. Ich schlage vor, wir treffen uns täglich für ein paar Stunden, in denen ich Sie interviewe und Material für Ihre Biografie sammle. Wenn Fragen zu Harriet auftauchen, werde ich sie mit Ihnen besprechen.«
»Das klingt vernünftig.«
»Ich werde sehr frei arbeiten und keine festen Arbeitszeiten einhalten.«
»Sie arbeiten ganz nach Ihren Vorstellungen.«
»Sie wissen ja, dass ich in ein paar Monaten ins Gefängnis muss. Ich weiß nicht, wann das aktuell wird, aber ich werde keine Berufung einlegen. Das heißt, dass es wahrscheinlich irgendwann im Laufe des Jahres so weit sein wird.«
Henrik Vanger runzelte die Stirn.
»Das passt schlecht. Das Problem müssen wir lösen, wenn es so weit ist. Sie können Aufschub beantragen.«
»Wenn ich bis dahin genügend Material beisammen habe, kann ich im Gefängnis an dem Buch über Ihre Familie weiterarbeiten. Aber darum kümmern wir uns, wenn die Zeit gekommen ist. Noch etwas: Ich bin immer noch Teilhaber bei Millennium, und das Magazin steckt in der Krise. Wenn irgendetwas vorfällt, das meine Anwesenheit in Stockholm nötig macht, werde ich die Arbeit hier unterbrechen müssen und hinfahren.«
»Ich habe Sie nicht als Leibeigenen eingestellt. Ich will, dass Sie konsequent und beständig an Ihrem Auftrag arbeiten, aber Sie können selbstverständlich Ihre eigenen Arbeitsgewohnheiten beibehalten und nach Ihren Vorstellungen vorgehen. Wenn Sie frei brauchen, gerne, aber sollte ich merken, dass Sie Ihren Job vernachlässigen, werde ich das als Vertragsbruch betrachten.«
Mikael nickte. Henrik Vanger sah zur Brücke hinüber. Er war mager, und Mikael fand, dass er aussah wie eine unglückliche Vogelscheuche.
»In Sachen Millennium sollten wir uns vielleicht mal darüber unterhalten, wie die Krise aussieht und ob ich irgendwie behilflich sein kann.«
»Die beste Art, wie Sie mir behilflich sein könnten, wäre, mir Wennerströms Kopf schon heute auf dem Silbertablett zu servieren.«
»Oh nein, das habe ich nicht vor.« Der Alte sah Mikael scharf an. »Sie haben diesen Auftrag doch nur deswegen angenommen, weil ich Ihnen versprochen habe, Wennerström hochgehen zu lassen. Wenn ich Ihnen den Gefallen jetzt schon tue, könnten Sie diesen Job schleifen lassen. Sie bekommen die Information in einem Jahr.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, Henrik, aber ich bin nicht mal sicher, ob Sie nächstes Jahr noch leben.«
Henrik Vanger seufzte und blickte gedankenverloren zum Fischerhafen hinunter.
»Ich verstehe. Ich werde mit Dirch Frode sprechen; mal sehen, was uns da einfällt. Aber mit Millennium kann ich Ihnen vielleicht auf eine andere Art helfen. Ich weiß, dass sich Ihre Anzeigenkunden zurückziehen.«
Mikael nickte langsam.
»Die Anzeigenkunden sind das unmittelbar sichtbare Problem, aber die Krise geht noch tiefer. Wir haben ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Es ist egal, wie viele Anzeigenkunden wir haben, wenn die Leute die Zeitschrift nicht mehr kaufen wollen.«
»Verstehe. Ich bin immer noch Vorstandsmitglied eines ziemlich großen Konzerns, wenn auch ein passives. Auch wir müssen irgendwo werben. Lassen Sie uns später darüber reden. Wenn Sie zu Abend essen möchten …«
»Nein, danke. Ich will mich erst mal einrichten, einkaufen und mich ein bisschen umsehen. Morgen fahre ich nach Hedestad und kaufe Winterkleidung.«
»Gute Idee.«
»Ich hätte gerne, dass Sie das Archiv über Harriet zu mir schaffen.«
»Bitte seien Sie …«
»… ganz vorsichtig damit - schon kapiert.«
Mikael ging wieder zum Gästehaus und klapperte mit den Zähnen, als er vor der Eingangstür stand. Er warf einen Blick auf das Thermometer vor dem Fenster. Es zeigte 15 Grad unter null, und er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben derart durchgefroren gewesen zu sein wie nach diesem knapp zwanzig Minuten dauernden Spaziergang.
Die nächste Stunde verbrachte er damit, sich in den Räumen einzurichten, die für das nächste Jahr sein Zuhause sein würden. Seine Kleider aus der einen Tasche hängte er in den Kleiderschrank in der Schlafkammer. Die Toilettenartikel räumte er in das Minibad. Dann nahm er sich den Koffer mit den Rollen vor. Aus ihm nahm er Bücher, CDs, einen CD-Player, Notizbücher, ein kleines Diktiergerät von Sanyo, einen kleinen Scanner von Microtek, einen tragbaren Tintenstrahldrucker, eine Minolta-Digitalkamera und andere Utensilien, die er für ein Jahr im Exil als unerlässlich betrachtete.
Er stellte die Bücher und die CDs ins Bücherregal im Arbeitszimmer, neben zwei Ordner mit Recherchematerial zu Hans-Erik Wennerström. Das Material war wertlos, aber er konnte es nicht zurücklassen. Diese zwei Ordner mussten irgendwie zu Bausteinen für seine weitere Karriere werden.
Schließlich öffnete er seine Schultertasche und stellte sein iBook 600 auf den Schreibtisch. Dann hielt er inne und sah sich mit schafsdummem Gesichtsausdruck um. The benefits of living in the countryside. Plötzlich ging ihm auf, dass er keine Breitbandverbindung hatte. Es gab nicht einmal eine Telefonbuchse, in die man ein altes Modem hätte einstecken können.
Mikael ging zurück in die Küche und rief von seinem Handy aus bei der Telefongesellschaft Telia an. Nach ein bisschen Hin und Her suchte ihm ein Mitarbeiter die Bestellung heraus, die Henrik Vanger für das Gästehäuschen aufgegeben hatte. Er erkundigte sich, ob die Leitungsqualität für ADSL ausreiche, und erfuhr, dass sich das über einen Router in Hedeby bewerkstelligen ließe. Es würde ein paar Tage dauern.
Es war kurz nach vier Uhr am Nachmittag, als Mikael endlich fertig war. Er schlüpfte wieder in die dicken Socken und Stiefel und zog einen Extrapullover an. An der Tür hielt er inne - er hatte keine Hausschlüssel bekommen, und seine Stockholm-Instinkte schlugen Alarm bei dem Gedanken, man könne Haustüren unverschlossen lassen. Er ging zurück in die Küche und öffnete die Schubladen. Schließlich fand er die Schlüssel an einem Nagel in der Speisekammer.
Die Temperatur war auf minus 17 Grad gefallen. Mikael überquerte schnell die Brücke und ging über den Hügel bei der Kirche. Der Supermarkt lag in bequemer Entfernung, ungefähr dreihundert Meter weiter. Er füllte zwei Papiertüten bis zum Rand mit den wichtigsten Artikeln, die er zuerst heimbrachte, bevor er nochmals die Brücke überquerte. Diesmal ging er in Susannes Brücken-Café. Die Frau hinter dem Tresen war in den Fünfzigern. Er fragte, ob sie Susanne sei, und stellte sich vor, indem er erklärte, dass er in Zukunft wohl Stammkunde in ihrem Café werden würde. Er war der einzige Gast, und Susanne gab ihm einen Kaffee aus, als er ein belegtes Brötchen bestellte und noch Brot und einen Hefezopf dazu kaufte. Er nahm sich einen Hedestads-Kurir aus dem Zeitungsständer und setzte sich an einen Tisch mit Aussicht auf die Brücke und die beleuchtete Kirche. In der Dunkelheit sah das Ganze aus wie eine Weihnachtskarte. Er brauchte ungefähr vier Minuten, um die Zeitung durchzulesen. Die einzig interessante Nachricht war ein kurzer Artikel, der davon handelte, dass ein Kommunalpolitiker namens Birger Vanger sich für IT TECH-CENT einsetzen wollte - ein Technisches Entwicklungszentrum in Hedestad. Er blieb noch eine halbe Stunde sitzen, bis das Café um sechs Uhr schloss.
Abends um halb acht rief Mikael Erika an und bekam zu hören, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Er setzte sich aufs Küchensofa und versuchte einen Roman zu lesen, den der Klappentext als das sensationelle Debüt einer Feministin im Teenie-Alter bezeichnete. Der Roman handelte vom Versuch der Autorin, auf einer Reise nach Paris ihr Sexleben in Ordnung zu bringen, und Mikael fragte sich, ob man ihn wohl einen Feministen nennen würde, wenn er in gymnasialem Ton einen Roman über sein eigenes Sexleben schriebe. Vermutlich nicht. Mikael hatte das Buch vor allem gekauft, weil der Verlag sie als eine »neue Carina Rydberg« anpries. Er stellte bald fest, dass dies nicht den Tatsachen entsprach, weder in stilistischer noch in inhaltlicher Hinsicht. Er legte das Buch beiseite und las stattdessen eine Western-Novelle über Hopalong Cassidy in einer alten Zeitschrift aus den fünfziger Jahren.
Alle halbe Stunde war ein einzelner kurzer, gedämpfter Ton von der Kirchenglocke zu hören. Die Fenster bei Hausmeister Gunnar Nilsson auf der anderen Straßenseite waren erleuchtet, aber Mikael konnte niemanden im Haus sehen. In Harald Vangers Haus war es dunkel. Gegen neun fuhr ein Auto über die Brücke und verschwand in Richtung Landzunge. Um Mitternacht wurde die Beleuchtung der Kirchenfassade ausgeschaltet. So sahen in Hedeby wohl unterm Strich die Vergnügungen an einem Freitagabend Anfang Januar aus. Es war erstaunlich still.
Er unternahm einen neuen Versuch, Erika anzurufen. Diesmal war der Anrufbeantworter dran, und er wurde gebeten, eine Nachricht zu hinterlassen. Das tat er, dann machte er das Licht aus und legte sich schlafen. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass unmittelbare Gefahr bestand, in Hedeby einen Koller zu bekommen.
Es war seltsam, bei absoluter Stille zu erwachen. Mikael, der gerade noch tief geschlafen hatte, war innerhalb von Sekundenbruchteilen hellwach. Er blieb liegen und horchte. Im Zimmer war es kalt. Er drehte den Kopf und sah auf die Armbanduhr, die er auf einen Hocker neben dem Bett gelegt hatte. Es war acht Minuten nach sieben - er war noch nie ein Morgenmensch gewesen und wurde normalerweise nur schwer wach, wenn er nicht mindestens zwei Wecker stellte. Nun war er von selbst aufgewacht und fühlte sich obendrein auch noch ausgeruht.
Er setzte Kaffee auf, bevor er sich unter die Dusche stellte und plötzlich das lustvolle Gefühl erlebte, sich selbst zu beobachten. Kalle Blomkvist - Forschungsreisender in der Wildnis.
Bei der geringsten Berührung des Boilers wechselte die Wassertemperatur von brühheiß zu eiskalt. Auf dem Küchentisch lag keine Morgenzeitung. Die Butter war tiefgefroren. In der Besteckschublade lag kein Käsehobel. Draußen war es immer noch pechschwarz. Das Thermometer zeigte 21 Grad minus. Es war Samstag.
Die Bushaltestelle lag dem Supermarkt genau gegenüber, und Mikael begann sein Leben im Exil damit, seine Shoppingpläne in die Tat umzusetzen. Er stieg am Bahnhof aus dem Bus und ging einmal quer durch die Innenstadt. Er kaufte dick gefütterte Winterstiefel, zwei Paar lange Unterhosen, einige warme Flanellhemden, eine ordentliche halblange wattierte Winterjacke, eine warme Mütze und gefütterte Handschuhe. Im Elektrogeschäft fand er einen kleinen tragbaren Fernseher mit Teleskopantenne. Der Verkäufer versicherte ihm, dass er auch im entlegenen Hedeby zumindest das staatliche Schwedische Fernsehen empfangen könne, und Mikael kündigte an, sein Geld zurückzuverlangen, falls das nicht stimmte.
Er machte halt bei der Bibliothek, legte sich einen Mitgliedsausweis zu und lieh sich zwei Krimis von Elizabeth George aus. In einem Schreibwarenladen besorgte er sich Kugelschreiber und Notizblöcke.
Zum Schluss kaufte er noch eine Schachtel Zigaretten. Er hatte vor zehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört, doch ab und zu erlitt er Rückfälle und verspürte plötzlich unglaubliche Lust auf Nikotin. Die Schachtel steckte er ungeöffnet in seine Jackentasche. Sein letzter Besuch galt einem Optiker, bei dem er Reinigungsflüssigkeit kaufte und sich neue Kontaktlinsen bestellte.
Gegen zwei Uhr war er zurück in Hedeby und entfernte gerade die Preisschilder von seinen neuen Kleidern, als er die Tür gehen hörte. Eine blonde Frau um die fünfzig klopfte an den Türrahmen und trat gleichzeitig über die Schwelle. Sie hatte einen Napfkuchen auf einer Kuchenplatte dabei.
»Hallo, ich wollte Sie nur willkommen heißen. Ich heiße Helen Nilsson und wohne auf der anderen Straßenseite. Wir sind quasi Nachbarn.«
Mikael gab ihr die Hand und stellte sich vor.
»Ach ja, ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Wie schön, dass hier abends Licht im Gästehaus brennt.«
Mikael setzte Kaffee auf - sie protestierte zwar, setzte sich aber doch an den Küchentisch und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster.
»Da kommen Henrik und mein Mann. Sieht so aus, als brächten sie Ihnen ein paar Kartons vorbei.«
Henrik Vanger und Gunnar Nilsson blieben mit ihrem Karren draußen stehen, und Mikael ging hinaus, um ihnen die Hand zu schütteln und Gunnar beim Reintragen der vier Umzugskartons zu helfen. Der Hausmeister schien nicht zu wissen, was in den Kartons war. Dann stellten sie den Karren neben dem eisernen Ofen ab, Mikael deckte den Kaffeetisch und schnitt Helens Kuchen an.
Gunnar und Helen Nilsson waren nette Menschen. Sie schienen nicht sonderlich neugierig darauf zu sein, warum Mikael sich in Hedestad aufhielt - dass er für Henrik Vanger arbeitete, schien ihnen Erklärung genug. Mikael beobachtete, wie die Nilssons und Henrik Vanger miteinander umgingen, und stellte fest, dass sie sich ungezwungen verhielten und es keine sichtbare hierarchische Rollenverteilung gab. Sie unterhielten sich über die Stadt und darüber, wer das Gästehaus gebaut hatte, in dem Mikael wohnte. Das Ehepaar Nilsson korrigierte Vanger, als er sich falsch erinnerte, und er erzählte im Gegenzug eine witzige Geschichte, wie Gunnar Nilsson einmal nach Hause gekommen war und beobachtet hatte, wie eine der ortsansässigen Intelligenzbestien von der anderen Seite der Brücke versuchte, durchs Fenster ins Gästehaus einzusteigen. Er war hinübergegangen und hatte den zurückgebliebenen Einbrecher gefragt, warum er nicht die unverschlossene Haustür benutze. Dann musterte Gunnar Nilsson skeptisch den kleinen Fernseher und bot Mikael an, abends zu ihnen rüberzukommen, wenn es irgendeine Sendung gab, die er sehen wolle. Sie hatten eine Parabolantenne.
Nachdem die Nilssons gegangen waren, blieb Henrik Vanger noch ein wenig. Der alte Mann hielt es für das Beste, wenn Mikael das Archiv selbst sortierte. Falls er ein Problem habe, könne er zu ihm kommen und fragen. Mikael bedankte sich und meinte, es werde sich schon alles finden.
Als Mikael wieder allein war, trug er die Umzugskartons ins Arbeitszimmer und fing an, den Inhalt zu begutachten.
Henrik Vangers private Nachforschungen zum Verschwinden seiner Großnichte erstreckten sich über sechsunddreißig Jahre. Mikael konnte nur schwer beurteilen, ob das Interesse eine ungesunde Besessenheit war oder ein intellektuelles Spiel. Nicht zu übersehen war jedoch, dass der alte Patriarch sich mit dem systematischen Ansatz eines Hobbyarchäologen ans Werk gemacht hatte. Die Ergebnisse füllten an die sieben Regalmeter.
Der Kern des Materials bestand aus den sechsundzwanzig Ordnern mit dem polizeilichen Untersuchungsbericht zu Harriets Verschwinden. Mikael konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass eine normale Vermisstenmeldung zu derart umfangreichen Ermittlungen führte, aber auf der anderen Seite hatte Vanger mit allergrößter Wahrscheinlichkeit den nötigen Einfluss besessen, die Polizei von Hedestad mit der Untersuchung aller möglichen und unmöglichen Spuren auf Trab zu halten.
Neben dem Bericht der Polizei gab es noch Bücher mit Zeitungsausschnitten, Fotoalben, Karten, Erinnerungsstücke, Informationsmaterial über Hedestad und den Vanger-Konzern, Harriets Tagebuch (das jedoch nicht besonders umfangreich war), Schulbücher, Gesundheitszeugnisse und anderes. Außerdem nicht weniger als sechzehn gebundene A4-Notizbücher mit jeweils hundert Seiten, die man quasi als Henrik Vangers persönliches Logbuch der Ermittlungen bezeichnen konnte. In diese Bücher hatte der Patriarch mit säuberlicher Handschrift seine eigenen Überlegungen, Einfälle, falsche Spuren und Beobachtungen eingetragen. Mikael blätterte aufs Geratewohl ein wenig darin herum. Der Text hatte Prosa-Charakter, und Mikael hatte den Eindruck, dass diese Bände die Reinschrift von Dutzenden älterer Notizbücher enthielten. Schließlich gab es noch zirka zehn Ordner mit Material über verschiedene Mitglieder der Familie Vanger. Hier waren die Seiten maschinengeschrieben und offenbar über einen langen Zeitraum hinweg entstanden.
Henrik Vanger hatte gegen seine eigene Familie ermittelt.
Gegen sieben hörte Mikael ein energisches Miauen und öffnete die Tür. Eine rotbraune Katze flitzte blitzschnell an ihm vorbei ins Warme.
»Ich kann dich verstehen«, sagte Mikael.
Die Katze drehte schnuppernd eine Runde durchs Haus. Mikael goss ein bisschen Milch auf einen Teller, die von seinem Gast aufgeschleckt wurde. Danach sprang die Katze aufs Küchensofa, rollte sich zusammen und wollte diesen Platz offenbar so schnell nicht mehr verlassen.
Es war schon nach zehn Uhr abends, als Mikael das Material einigermaßen gesichtet und alles in einer sinnvollen Ordnung in den Regalen verteilt hatte. Er ging in die Küche, setzte eine Kanne Kaffee auf, strich sich zwei Brote und spendierte der Katze ein bisschen Wurst und Leberpastete. Er hatte den ganzen Tag nichts Ordentliches gegessen, aber seltsamerweise kaum Hunger. Nachdem er Kaffee getrunken hatte, holte er die Zigaretten aus der Tasche und öffnete die Schachtel.
Er hörte die Mailbox seines Handys ab. Erika hatte nicht angerufen, und als er versuchte, sie zu erreichen, sprang wieder nur ihr Anrufbeantworter an.
Als einen der ersten Schritte bei seinen privaten Ermittlungen scannte Mikael die Karte der Hedeby-Insel ein, die ihm Henrik Vanger geliehen hatte. Da er sämtliche Namen von ihrem Rundgang noch in frischer Erinnerung hatte, trug er ein, wer in welchem Haus wohnte. Ihm wurde schnell klar, dass der Vanger-Clan eine so umfassende Personengalerie abgab, dass er eine Weile brauchen würde, sich zu orientieren.
Kurz vor Mitternacht zog er warme Kleidung und seine neuen Schuhe an und machte einen Spaziergang über die Brücke. Er bog auf die Straße ab, die unterhalb der Kirche seitlich am Sund entlanglief. Das Eis bedeckte den Sund und auch den alten Hafen, aber etwas weiter draußen sah er einen dunklen Streifen offenes Wasser. Während er dort stand, erlosch die Fassadenbeleuchtung der Kirche, und um ihn herum wurde es dunkel. Es war kalt und sternenklar.
Mit einem Mal fühlte Mikael sich zutiefst niedergeschlagen. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie er sich von Henrik Vanger hatte überzeugen lassen können, diesen wahnwitzigen Auftrag anzunehmen. Erika hatte völlig recht, wenn sie den Job als heillose Zeitverschwendung bezeichnete. Eigentlich sollte er in Stockholm sein - beispielsweise mit ihr im Bett - und seinen Krieg gegen Hans-Erik Wennerström planen. Aber auch in dieser Beziehung fühlte er sich lustlos, und er hatte keinen blassen Schimmer, was er dagegen tun könnte.
Früher am Tag wäre er zu Henrik Vanger gegangen, hätte den Vertrag aufgelöst und die Heimfahrt angetreten. Aber vom Hügel bei der Kirche konnte er sehen, dass das vangersche Haus schon still und dunkel dalag. Von der Kirche aus konnte er die gesamte Bebauung am Saum der Insel sehen. Harald Vangers Haus lag ebenfalls im Dunkeln, doch bei Cecilia Vanger, bei Martin Vanger draußen auf der Landzunge sowie in dem vermieteten Haus war es noch hell. Auch bei Eugen Norman, dem Maler, der neben dem Bootshafen in seinem zugigen Häuschen wohnte, brannte noch Licht, und aus dem Schornstein stob heftiger Funkenregen. Das Obergeschoss des Cafés war gleichfalls erleuchtet, und Mikael fragte sich, ob dort Susanne wohnte, und wenn ja, ob sie allein war.
Am Sonntagmorgen schlief Mikael lange und erwachte dann panisch, als das Gästehaus plötzlich von einem unwirklichen Dröhnen erfüllt wurde. Er brauchte eine Sekunde, bis er sich wieder orientiert hatte, und begriff, dass er die Kirchenglocken hörte, die zum Gottesdienst riefen, und dass es also kurz vor elf sein musste. Er fühlte sich lustlos und blieb noch eine Weile liegen. Als er das fordernde Miauen an der Tür hörte, stand er auf und ließ die Katze hinaus.
Gegen zwölf hatte er geduscht und gefrühstückt. Entschlossen ging er ins Arbeitszimmer und holte den ersten Ordner des Untersuchungsberichts hervor. Dann zögerte er. Durchs Fenster sah er das Reklameschild von Susannes Brücken-Café, packte den Ordner in seine Umhängetasche und zog sich an. Als er zum Café kam, stellte er fest, dass es völlig überfüllt war, und wusste auf einmal die Antwort auf die Frage, die er die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt hatte: Wie kann ein Café in einem Loch wie Hedeby nur überleben? Susanne hatte sich auf Kirchgänger spezialisiert, und nach Begräbnissen oder anderen Anlässen ging man zu ihr zum Kaffeetrinken.
Stattdessen ging er spazieren. Der Supermarkt hatte sonntags geschlossen, und so schlenderte er noch ein paar hundert Meter weiter auf der Straße nach Hedestad, wo er an einer Tankstelle Zeitungen kaufte. Er streifte eine Stunde durch Hedeby und machte sich mit der Umgebung auf der Festlandseite vertraut. Das Gebiet um die Kirche und beim Supermarkt bildete den Kern mit älterer Bebauung: zweigeschossige Steinhäuser, die nach Mikaels Schätzung wohl zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden waren und eine Art kurze Hauptstraße bildeten. Nördlich der Straße, die in die Ortschaft hineinführte, standen gepflegte Mietshäuser. Am Wasser entlang und südlich der Kirche lagen hauptsächlich Einfamilienhäuser. Hedeby war zweifellos eine bevorzugte Wohngegend.
Als er zur Brücke zurückkam, hatte der Ansturm auf Susannes Café nachgelassen, aber Susanne war immer noch damit beschäftigt, das Geschirr von den Tischen abzuräumen.
»Der übliche Sonntagstrubel?«, fragte er.
Sie nickte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Hallo, Mikael.«
»Du weißt also noch, wie ich heiße.«
»Kaum zu vermeiden«, antwortete sie. »Ich hab dich bei der Gerichtsverhandlung vor Weihnachten im Fernsehen gesehen.«
Mikael genierte sich plötzlich. »Irgendetwas müssen sie ja bringen, um ihre Sendezeit zu füllen«, murmelte er und zog ab zum Ecktisch mit der Aussicht auf die Brücke. Als er Susannes Blick begegnete, lächelte sie.
Um drei Uhr nachmittags verkündete Susanne, dass das Café jetzt für den Rest des Tages schloss. Als der Ansturm nach dem Gottesdienst vorüber war, waren nur noch vereinzelt Gäste gekommen. Mikael hatte knapp ein Fünftel der ersten Akte mit dem Untersuchungsbericht zu Harriets Verschwinden gelesen. Er klappte den Ordner zu, steckte sein Notizbuch in die Tasche und ging schnell über die Brücke nach Hause.
Die Katze wartete schon auf der Treppe. Mikael sah sich um und fragte sich, wem sie wohl gehörte. Er ließ sie ins Haus, weil sie zumindest eine Art Gesellschaft für ihn war.
Er versuchte abermals, Erika anzurufen, erreichte jedoch immer nur ihre Mailbox. Sie war offenbar ziemlich wütend auf ihn. Er hätte sie direkt auf ihrem Apparat im Büro oder zu Hause anrufen können, beschloss aber trotzig, es nicht zu tun. Er hatte ihr bereits genug Nachrichten hinterlassen. Stattdessen kochte er Kaffee, schob die Katze auf dem Küchensofa zur Seite und schlug den Ordner auf.
Er las konzentriert und langsam, damit ihm kein Detail entging. Bald hatte er mehrere Seiten in seinem Notizbuch vollgeschrieben - stichwortartige Notizen und Fragen, auf die er in den folgenden Ordnern Antwort zu finden hoffte. Das Material war chronologisch geordnet, aber er war sich nicht sicher, ob Henrik Vanger es so sortiert hatte oder ob es sich um das System der Polizei aus den sechziger Jahren handelte.
Das allererste Blatt war die Kopie eines handgeschriebenen Meldeformulars von der Notrufzentrale Hedestad. Der Polizist, der den Anruf entgegennahm, hatte mit W Ryttinger unterschrieben, was Mikael als wachhabender Polizist interpretierte. Als Anrufer war Henrik Vanger angegeben, seine Adresse und Telefonnummer waren notiert worden. Der Bericht war datiert vom 23. September 1966, 11:14 Uhr am Sonntagmorgen. Der Text war kurz und trocken:
Anruf v. Henrik Vanger meld. Nichte (?) Harriet Ulrika VANGER, geb. 15. Jan. 1950 (16 Jahre) verschwunden von zu Hause auf Hedeby-Insel seit Samstagnachm.
Anr. sehr beunruhigt.
Um 11:20 Uhr eine Anmerkung, die besagte, dass P-014 Befehl zum Ausrücken erhalten hatte.
Um 11:35 Uhr war in einer anderen, schwerer zu entziffernden Handschrift als Ryttingers angefügt worden:
Magnusson meld. Brücke nach Hedeby-Insel immer noch gesp. Transp. m. Boot.
Am Rand eine unleserliche Unterschrift.
Um 12:14 Uhr wieder Ryttinger:
Tel. gespr. Magnusson in H-by meld., dass 16-jährige Harriet Vanger seit dem frühen Samstagnachm. vermisst. Fam. sehr beunruhigt. Scheint nachts nicht in ihrem Bett geschlafen zu haben. Kann Insel wg. Unfall a. d. Brücke nicht verlassen haben. Keines der befr. Familienmitgl. kennt HVs Aufenthaltsort.
Um 12:19 Uhr:
G. M. telefon. v. Vorfall inform.
Die letzte Anmerkung war um 13:42 Uhr gemacht worden:
G. M. vor Ort in H-by; übernimmt Fall.
Schon das nächste Blatt verriet, dass hinter den kryptischen Initialen G. M. ein Kommissar namens Gustav Morell steckte, der mit dem Boot auf die Hedeby-Insel gekommen war, die Ermittlungen übernommen und eine offizielle Vermisstenanzeige zu Harriet Vanger aufgenommen hatte. Im Gegensatz zu den Notizen auf der ersten Seite waren Morells Berichte maschinengeschrieben und in leicht verständlicher Sprache abgefasst. Auf den folgenden Seiten wurden die ergriffenen Maßnahmen mit einer Sachlichkeit und Detailliertheit beschrieben, die Mikael überraschte.
Morell war systematisch zu Werke gegangen. Er hatte zuerst Henrik Vanger zusammen mit Isabella Vanger, Harriets Mutter, vernommen. Danach hatte er der Reihe nach mit einer Ulrika Vanger, Harald Vanger, einem Greger Vanger, Harriets Bruder Martin Vanger und einer Anita Vanger gesprochen.
Ulrika war Henrik Vangers Mutter und schien den Status einer Königinwitwe zu genießen. Sie wohnte auf dem Vangerschen Hof und konnte keinerlei Auskünfte geben. Sie hatte sich am Abend zuvor frühzeitig schlafen gelegt und Harriet seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen. Anscheinend hatte sie nur darauf bestanden, Kriminalkommissar Morell zu sprechen, um ihrer Ansicht Ausdruck zu verleihen, dass die Polizei umgehend handeln müsse.
Harald Vanger rangierte auf Platz zwei der einflussreichen Familienmitglieder. Er erklärte, er habe Harriet nur kurz zu Gesicht bekommen, als sie vom Festumzug in Hedestad zurückkam, aber er habe sie seit dem Unfall auf der Brücke nicht mehr gesehen und kenne ihren derzeitigen Aufenthaltsort nicht.
Greger Vanger, Henriks und Haralds Bruder, gab an, er habe die verschwundene Sechzehnjährige nach ihrem Besuch in Hedestad gesehen, als sie in Henriks Arbeitszimmer kam und ihn um ein Gespräch bat. Greger erklärte, dass er selbst, abgesehen von einem kurzen Gruß, nicht mit ihr geredet habe. Er wusste nicht, wo sie sich möglicherweise aufhalten könnte, äußerte jedoch die Vermutung, sie sei wahrscheinlich nur zu einer Schulfreundin gefahren - gedankenloserweise ohne jemand Bescheid zu geben - und werde sicher bald wieder auftauchen. Auf die Frage, wie sie in diesem Fall die Insel verlassen haben sollte, wusste er keine Antwort.
Martin Vanger wurde am kürzesten vernommen. Er absolvierte gerade sein letztes Jahr am Gymnasium in Uppsala, wo er bei Harald Vanger untergebracht war. Da in Haralds Auto kein Platz mehr für ihn gewesen war, hatte er den Zug nach Hedeby genommen und war so spät angekommen, dass er auf Grund des Unfalls auf der falschen Seite der Brücke hängen blieb. Er hatte erst spätabends mit dem Boot übersetzen können. Man vernahm ihn in der Hoffnung, seine Schwester könnte sich mit ihm verständigt und ihm einen Hinweis gegeben haben, wohin sie ausreißen wollte. Die Frage löste Proteste bei Harriets Mutter aus, aber Kommissar Morell war zu jenem Zeitpunkt der Meinung, dass es die hoffnungsvollere Variante sei, wenn Harriet nur fortgelaufen wäre. Martin hatte jedoch seit den Sommerferien nicht mehr mit seiner Schwester gesprochen und konnte keine nützlichen Angaben machen.
Anita war Harald Vangers Tochter, wurde aber irrtümlich als Kusine von Harriet aufgelistet - sie war eigentlich eine Kusine zweiten Grades. Sie studierte im ersten Jahr an der Universität Stockholm und hatte den Sommer in Hedeby verbracht. Sie und Harriet waren fast gleichaltrig und sehr enge Freundinnen geworden. Sie gab an, dass sie am Samstag gemeinsam mit ihrem Vater auf die Insel gekommen war und sich darauf gefreut hatte, Harriet zu treffen. Sie erklärte, sie sei beunruhigt, denn es sehe Harriet nicht ähnlich, irgendwohin zu verschwinden, ohne der Familie Bescheid zu sagen. Dieser Aussage schlossen sich Henrik und Isabella Vanger an.
Kommissar Morell hatte während der Vernehmungen der Familienmitglieder auch gleich die Beamten Magnusson und Bergman - Patrouille 014 - beauftragt, eine erste Suchmannschaft zu organisieren, solange es noch hell war. Wegen der immer noch gesperrten Brücke war es schwierig, Verstärkung vom Festland anzufordern. Die erste Suchmannschaft bestand aus ungefähr dreißig Personen verschiedenen Alters und Geschlechts. Folgendes Gebiet wurde am Nachmittag abgesucht: die leer stehenden Häuser am Fischerhafen, die Strände an der Landzunge und den Sund entlang, das Waldstück bei der Siedlung sowie der sogenannte Söderberg oberhalb des Fischerhafens. Letzterer wurde untersucht, weil jemand die Theorie aufgestellt hatte, Harriet könnte dorthin gegangen sein, um sich aus sicherem Abstand einen Überblick über den Unfallort zu verschaffen. Man schickte sogar Streifen nach Östergård und zu Gottfrieds Haus auf der anderen Seite der Insel.
Die Suche blieb jedoch ergebnislos und wurde erst lange nach Einbruch der Dunkelheit gegen zehn Uhr abends abgebrochen. Die Temperatur fiel nachts auf ungefähr null Grad.
Im Laufe des Nachmittags hatte Kommissar Morell sein Hauptquartier in einem Zimmer im Erdgeschoss des vangerschen Hofes eingerichtet, das Henrik Vanger ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er hatte eine Menge Maßnahmen ergriffen.
Zusammen mit Isabella Vanger hatte er Harriets Zimmer in Augenschein genommen und herauszufinden versucht, ob etwas fehlte, was darauf hindeuten würde, dass Harriet von zu Hause fortgelaufen war. Isabella war ihm keine sonderlich große Hilfe und schien nicht allzu gut über die Garderobe ihrer Tochter Bescheid zu wissen. Sie hatte oft Jeans an, aber die sehen ja alle gleich aus. Harriets Handtasche wurde auf ihrem Schreibtisch gefunden. Darin befanden sich ihr Ausweis, eine Brieftasche mit neun Kronen und fünfzig Öre, ein Kamm, ein Handspiegel und ein Taschentuch. Nach dieser Durchsuchung war Harriets Zimmer versiegelt worden.
Morell hatte mehrere Personen zur Vernehmung bestellt, sowohl Familienmitglieder als auch Angestellte. Alle Gespräche waren sorgfältig aufgezeichnet worden.
Als die Teilnehmer der ersten Suchmannschaft schließlich mit entmutigenden Nachrichten zurückgekommen waren, entschied der Kommissar, die Suche systematischer aufzuziehen. Er forderte abends und nachts Verstärkung an. Unter anderem wandte er sich an den Vorsitzenden des Hedestader Vereins für Orientierungsläufe und bat ihn, sämtliche Mitglieder telefonisch für die Suchaktion einzuberufen. Gegen Mitternacht teilte man ihm mit, dass sich dreiundfünfzig aktive Mitglieder am nächsten Morgen um 7 Uhr auf dem Hof der Vangers einfinden würden. Henrik Vanger leistete seinen Beitrag, indem er einen Teil der Frühschichtarbeiter aus der Vangerschen Papierfabrik abstellte. Er organisierte sogar Essen und Getränke.
Mikael Blomkvist konnte sich die Szenen lebhaft vorstellen, die sich in diesen dramatischen Stunden auf dem Hof der Vangers abgespielt haben mussten. Der Unfall auf der Brücke hatte in den ersten Stunden zur allgemeinen Verwirrung beigetragen: Es war sehr schwierig, Verstärkung vom Festland zu bekommen, zum anderen dachten alle, dass zwei dramatische Ereignisse doch irgendwie miteinander in Verbindung stehen mussten. Als der Tanklaster entfernt wurde, war Kommissar Morell sogar zur Brücke gegangen, um sich davon zu überzeugen, dass Harriet Vanger nicht auf irgendeine unwahrscheinliche Art und Weise unter dem Wrack gelandet war. Das war die einzige irrationale Handlung, die Mikael im Vorgehen des Kommissars entdeckte, denn das Mädchen war nach dem Unfall ja nachweislich auf der Insel gesehen worden.
Während der ersten chaotischen vierundzwanzig Stunden schwanden die Hoffnungen, dass die Geschichte ein baldiges und glückliches Ende nehmen könnte. Trotz aller offensichtlichen Schwierigkeiten, die Insel unbemerkt zu verlassen, wollte Morell die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Harriet von zu Hause weggelaufen sein könnte. Er beschloss, eine Fahndung einzuleiten, und wies die Streifenpolizisten in Hedestad an, die Augen offen zu halten. Er beauftragte sogar einen Kollegen von der Kriminalabteilung, Busfahrer und Bahnhofspersonal zu vernehmen, ob irgendjemand sie gesehen hätte.
Mit jedem negativen Bescheid wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass Harriet Vanger einem Unfall zum Opfer gefallen war. Diese Theorie dominierte in den nächsten Tagen die Gestaltung der Ermittlungen.
Die große Suchaktion zwei Tage nach ihrem Verschwinden war - soweit Mikael Blomkvist dies beurteilen konnte - äußerst kompetent aufgezogen worden. Polizei und Feuerwehrleute mit entsprechender Erfahrung hatten die Suche organisiert. Auf der Insel gab es zwar ein paar Gebiete, die nicht ohne Weiteres zugänglich waren, aber die Fläche war eben doch begrenzt, und die Insel konnte innerhalb eines Tages komplett durchkämmt werden. Ein Polizeiboot und zwei Freiwillige mit ihren Pettersson-Booten durchsuchten das Wasser rund um die Insel.
Am nächsten Tag wurde die Suche mit einer verkleinerten Mannschaft fortgesetzt. Diesmal wurden Patrouillen in besonders unübersichtlichen Gebieten erneut auf die Suche geschickt, auch in ein Gebiet, das »die Befestigung« genannt wurde - ein verlassenes Bunkersystem, das von den Truppen im Zweiten Weltkrieg zur Verteidigung der Küste angelegt worden war. An jenem Tag kontrollierte man im Ort jeden kleinen Unterschlupf, Brunnen und Schuppen, jedes Erdloch und jede Dachkammer.
In den Aufzeichnungen war eine gewisse Frustration zu erkennen, als die Suche am dritten Tag nach Harriets Verschwinden abgebrochen wurde. Harriet Vanger schien sich in Luft aufgelöst zu haben, und damit begann Henrik Vangers fast vierzig Jahre währende Qual.
9. Kapitel
Montag, 6. Januar - Mittwoch, 8. Januar
Mikael hatte bis weit in die frühen Morgenstunden weitergelesen und war am 6. Januar spät aufgestanden. Ein marineblauer Volvo parkte genau vorm Eingang zu Henrik Vangers Haus. In dem Moment, als Mikael die Hand auf die Klinke legte, wurde die Tür von einem etwa fünfzigjährigen Mann geöffnet, der das Haus gerade verlassen wollte. Die beiden stießen fast zusammen. Der Mann wirkte gehetzt.
»Ja? Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte zu Henrik Vanger«, antwortete Mikael.
Die Miene des Mannes hellte sich auf. Er lächelte und streckte ihm die Hand entgegen.
»Sie müssen wohl Mikael Blomkvist sein, der Henrik bei seiner Familienchronik hilft?«
Mikael nickte und gab ihm die Hand. Henrik Vanger hatte offensichtlich angefangen, die cover story zu verbreiten, die Mikaels Aufenthalt in Hedestad erklären sollte. Der Mann hatte Übergewicht - das Ergebnis vieler Jahre zäher Verhandlungen in Büros und Sitzungsräumen -, aber Mikael erkannte sofort die Ähnlichkeit mit den Gesichtszügen auf Harriet Vangers Foto.
»Ich heiße Martin Vanger«, bestätigte er. »Willkommen in Hedestad.«
»Danke.«
»Ich habe Sie vor einiger Zeit im Fernsehen gesehen.«
»Hier haben mich anscheinend alle im Fernsehen gesehen.«
»Wennerström ist … nicht grade besonders populär in diesem Haus.«
»Henrik hat es schon erwähnt. Ich warte auf den Rest der Geschichte.«
»Er hat mir erzählt, dass er Sie vor ein paar Tagen engagiert hat.« Martin Vanger lachte plötzlich. »Er meinte, wahrscheinlich hätten Sie den Job hier oben wegen Wennerström angenommen.«
Mikael zögerte kurz, bevor er sich entschloss, die Wahrheit zu sagen.
»Das war ein wichtiger Grund. Aber ehrlich gesagt, musste ich einfach raus aus Stockholm, und da kam mir Hedestad gerade recht. Glaube ich. Ich kann auch nicht so tun, als hätte es diesen Prozess nicht gegeben. Ich muss ins Gefängnis.«
Martin Vanger nickte und war plötzlich ganz ernst.
»Können Sie Berufung einlegen?«
»Das hilft in diesem Fall nicht sonderlich viel.«
Martin Vanger sah auf seine Armbanduhr.
»Ich muss heute Abend in Stockholm sein und mich beeilen. In ein paar Tagen bin ich wieder zurück. Kommen Sie doch mal zum Abendessen zu mir rüber. Ich würde furchtbar gerne hören, was bei dieser Verhandlung wirklich passiert ist.«
Sie schüttelten sich die Hände, dann ging Martin Vanger an Mikael vorbei und öffnete die Tür seines Volvo. Er dreht sich noch einmal um und rief Mikael zu: »Henrik ist oben. Gehen Sie einfach die Treppe hoch.«
Henrik Vanger saß auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer. Eine Reihe Zeitungen lag vor ihm auf dem Tisch.
»Ich bin gerade Martin begegnet.«
»Da hetzt er davon, das Imperium zu retten«, sagte Henrik Vanger und hob die Thermoskanne. »Kaffee?«
»Danke, gern«, antwortete Mikael. Er nahm Platz und fragte sich, warum Henrik Vanger so amüsiert aussah.
»Wie ich sehe, beschäftigen sich die Zeitungen wieder mit Ihnen.«
Henrik Vanger schob ihm eine der Abendzeitungen zu, die bei der Überschrift »Medialer Kurzschluss« aufgeschlagen war. Der Artikel stammte von einem Kolumnisten mit gestreiftem Sakko, der früher für das Wirtschaftsmagazin Monopol gearbeitet hatte und sich den Ruf eines Experten erworben hatte, indem er in spöttischem Ton über alle herzog, die sich für etwas engagierten. Nun hatte er sich offensichtlich auf Medienkritik verlegt. Ein paar Wochen nach dem Prozess in der Wennerström-Affäre konzentrierte er all seine Energie auf Mikael Blomkvist, der namentlich als Vollidiot hingestellt wurde. Erika Berger hingegen ließ er aussehen wie eine dumme Blondine:
Es geht das Gerücht, dass Millennium auf den Ruin zusteuert, obwohl die Chefredakteurin eine Minirock tragende Feministin ist und ständig ihr Schmollmündchen in die Fernsehkameras hält. Das Magazin hat mehrere Jahre mit Hilfe des Images überlebt, das die Redaktion in der Öffentlichkeit erfolgreich aufgebaut hatte - junge Journalisten, die Enthüllungsjournalismus betreiben und die Bösewichte der Geschäftswelt enttarnen. Dieser Werbetrick funktioniert vielleicht bei ahnungslosen jungen Leuten, die diese Art Message hören wollen, beim Amtsgericht funktioniert er jedoch nicht - wie Kalle Blomkvist kürzlich selbst erfahren musste.
Mikael schaltete sein Handy ein und sah nach, ob er einen Anruf von Erika erhalten hatte, aber das war nicht der Fall. Henrik Vanger wartete wortlos, bis Mikael begriff, dass der alte Mann es ihm selbst überlassen wollte, das Schweigen zu brechen.
»Ein Idiot ist das.«
Vanger lachte, kommentierte jedoch völlig unsentimental: »Kann schon sein. Aber er ist nicht vom Amtsgericht verurteilt worden.«
»Stimmt. Und das wird er auch nie werden. Er ist Experte darin, selbst nie etwas Kontroverses zu äußern, dafür andere umso ausgiebiger mit Schmutz zu bewerfen.«
»Solche habe ich zu meiner Zeit viele gesehen. Ein guter Rat - falls Sie einen von mir annehmen: Ignorieren Sie sein Gezeter, vergessen Sie nichts, und zahlen Sie es ihm zurück, sobald Sie die Gelegenheit dazu haben. Aber nicht jetzt, wo er die Oberhand hat.«
Mikael sah ihn fragend an.
»Ich habe im Laufe der Jahre viele Feinde gehabt. Eines habe ich dabei gelernt, nämlich niemals zu kämpfen, wenn man nur verlieren kann. Trotzdem darf man einem Menschen seine Beleidigungen nicht durchgehen lassen. Man muss den richtigen Augenblick abwarten und zurückschlagen, sobald man selbst am längeren Hebel sitzt - auch wenn man dann nicht mehr zurückzuschlagen brauchte.«
»Danke für die Lehrstunde. Jetzt hätte ich gerne, dass Sie mir von Ihrer Familie erzählen.« Mikael stellte ein Tonbandgerät auf den Tisch und drückte die Aufnahmetaste.
»Was wollen Sie wissen?«
»Ich habe die erste Akte gelesen, über Harriets Verschwinden und die Suche in den ersten Tagen. Aber es tauchen so unendlich viele Vangers in den Texten auf, dass ich sie nicht mehr auseinanderhalten kann.«
Lisbeth Salander stand regungslos im leeren Treppenhaus und fixierte das Messingschild mit der Aufschrift Rechtsanwalt N. E. Bjurman, bevor sie schließlich klingelte. Das Türschloss klickte.
Es war Dienstag, es war die zweite Sitzung, und sie hatte böse Vorahnungen.
Sie hatte keine Angst vor Anwalt Bjurman - Lisbeth Salander hatte fast vor nichts und niemand Angst. Der neue Betreuer hingegen flößte ihr äußerstes Unbehagen ein. Sein Vorgänger, der Anwalt Holger Palmgren, war aus ganz anderem Holz geschnitzt gewesen, korrekt, höflich und freundlich. Ihre Zusammenarbeit war vor drei Monaten beendet worden, als Palmgren einen Schlaganfall erlitt und Nils Erik Bjurman sie einer ihr unbekannten bürokratischen Hackordnung gemäß »geerbt« hatte.
In den knapp zwölf Jahren, in denen Lisbeth Salander in sozialer und psychiatrischer Betreuung gewesen war, darunter zwei Jahre in einer Kinderklinik, hatte sie niemals - nicht bei einer einzigen Gelegenheit - auch nur auf die einfache Frage »Wie geht es dir denn heute?« geantwortet.
Als sie dreizehn wurde, hatte das Gericht auf Grundlage des Gesetzes über die Fürsorge Minderjähriger entschieden, dass sie auf der geschlossenen Station in der Kinderpsychiatrie der St.-Stefans-Klinik in Uppsala untergebracht werden sollte. Die Entscheidung gründete darauf, dass sie als psychisch gestört eingestuft wurde und wegen ihrer Gewalttätigkeit als Gefahr für ihre Klassenkameraden und vielleicht sogar für sich selbst galt.
Diese Annahme gründete eher auf empirischen Erkenntnissen als auf einer sorgfältig abwägenden Analyse. Jeder Arzt und jeder Vertreter einer Behörde, der versuchte, mit ihr ein Gespräch über ihre Gefühle, ihr Seelenleben oder ihren Gesundheitszustand zu führen, stieß auf mürrisches Schweigen. Sie starrte intensiv Boden, Decke und Wände an, hielt die Arme konsequent vor der Brust verschränkt und weigerte sich, psychologische Tests zu absolvieren. Ihr totaler Widerstand gegen jeglichen Versuch, sie zu messen, wiegen, untersuchen, analysieren und zu erziehen, erstreckte sich auch auf den schulischen Bereich - die Behörden konnten sie wohl in ein Klassenzimmer transportieren und sie am Tisch festketten, aber das hielt sie nicht davon ab, die Ohren auf Durchzug zu schalten und sich zu weigern, einen Füller in die Hand zu nehmen. Sie verließ die Schule ohne ein Abschlusszeugnis.
Kurz und gut, Lisbeth Salander war alles andere als leicht zu handhaben.
Als sie dreizehn war, wurde ein Betreuer bestellt, der ihre Interessen wahrnehmen und ihr Vermögen verwalten sollte, bis sie die Volljährigkeit erreichte. Dieser Betreuer wurde Holger Palmgren, der trotz eines ziemlich komplizierten Starts tatsächlich Erfolg hatte, wo Psychiater und Ärzte gescheitert waren: Er hatte nicht nur ein gewisses Vertrauen erworben, das störrische Mädchen hatte ihm sogar spärlich dosierte Wärme entgegengebracht.
Als sie fünfzehn wurde, waren sich die Ärzte mehr oder weniger einig, dass sie zumindest nicht gemeingefährlich oder eine unmittelbare Gefahr für sich selbst war. Da ihre Familie als dysfunktional definiert worden war und sie keine Verwandten hatte, die für ihr Wohlergehen hätten sorgen können, hatte man beschlossen, Lisbeth Salander aus der Kinderpsychiatrie von St. Stefan in Uppsala zu entlassen und sie mittels einer Pflegefamilie wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Der Weg war nicht einfach gewesen. Von der ersten Pflegefamilie riss sie schon nach zwei Wochen aus. Pflegefamilie Nummer zwei und drei waren auch schnell abgehakt. Danach hatte Palmgren ein ernstes Gespräch mit ihr geführt und ihr rundheraus erklärt, wenn sie weitermache wie bisher, würde sie zweifellos wieder in irgendeine Anstalt eingewiesen werden. Die versteckte Drohung hatte zur Folge, dass sie Pflegefamilie Nummer vier akzeptierte - ein älteres Paar im Vorort Midsommarkransen.
Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie sich jetzt besser aufgeführt hätte. Als Siebzehnjährige wurde sie viermal von der Polizei aufgegriffen, zweimal so schwer betrunken, dass sie in die Intensivstation eingeliefert werden musste, und einmal offensichtlich im Drogenrausch. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte man sie sternhagelvoll und mit ungeordneter Kleidung auf dem Rücksitz eines Autos gefunden, das am Söder Mälarstand parkte. Sie hatte sich in Gesellschaft eines ebenso betrunkenen und wesentlich älteren Mannes befunden.
Das letzte Mal wurde sie aufgegriffen, als sie am Durchgang zur U-Bahn-Station Gamla Stan, drei Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag, in nüchternem Zustand einem männlichen Passanten Fußtritte gegen den Kopf versetzt hatte. Der Vorfall endete damit, dass sie wegen Körperverletzung festgenommen wurde. Salander hatte sich damit gerechtfertigt, dass der Mann sie befummelt hätte, und da sie nach Statur und Aussehen eher für zwölf als für achtzehn Jahre durchging, war sie der Meinung, der Mann habe pädophile Neigungen. Ihre Aussage gegenüber den Polizisten, die sie verhörten, bestand zunächst aus zwei Sätzen: »Er hat mich begrapscht. Beschissener Lustgreis.« Die Aussage wurde jedoch von Zeugen gestützt, sodass der Staatsanwalt die Sache fallen ließ.
Insgesamt war ihr Hintergrund aber solcherart, dass das Gericht eine psychiatrische Untersuchung anordnete. Da sie sich wie gewohnt weigerte, Fragen zu beantworten oder sich an den Untersuchungen zu beteiligen, fällten die vom Gesundheits- und Sozialamt konsultierten Ärzte schließlich ein Gutachten, das auf der »Beobachtung der Patientin« basierte. Was genau man an einer jungen Frau beobachten konnte, die mit verschränkten Armen und vorgeschobener Unterlippe auf einem Stuhl saß, blieb unklar. Das rechtsmedizinische Gutachten plädierte für Betreuung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. Dieser Expertenmeinung schloss sich auch der stellvertretende Chef des Sozialausschusses in seinem Gutachten an.
Mit Verweis auf ihren Lebenslauf stellte das Gutachten fest, dass eine große Gefahr des Alkohol- oder Drogenmissbrauchs bestehe und sie offenbar keine Einsicht in ihr eigenes Handeln habe. Ihre Krankengeschichte war zu diesem Zeitpunkt voller belastender Formulierungen wie introvertiert, sozial gehemmt, Mangel an Empathie, egoistisch, psychopathisches und asoziales Verhalten, Schwierigkeiten bei der sozialen Zusammenarbeit und Lernunfähigkeit. Außerdem wurde ihr vorgehalten, dass Streetworker sie mehrmals mit verschiedenen Männern in der Gegend um Mariatorget gesehen hätten. Man nahm an, dass Lisbeth Salander sich möglicherweise prostituierte oder in absehbarer Zeit Gefahr lief, dies zu tun.
Als das Gericht zusammentrat, um die Entscheidung zu fällen, schien der Ausgang von vornherein klar. Sie war ein Problemkind, und es war unwahrscheinlich, dass das Gericht von der Empfehlung der rechtspsychiatrischen und sozialen Gutachten abweichen würde.
Am Morgen, bevor das Gericht zusammentreten sollte, wurde Lisbeth Salander aus der Kinderpsychiatrie abgeholt, in der sie seit dem Vorfall in Gamla Stan eingesperrt gewesen war. Der Erste, den sie im Gerichtssaal erblickte, war Holger Palmgren, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er an jenem Tag nicht in seiner Eigenschaft als Vormund auftrat, sondern als ihr Anwalt und juristischer Vertreter. Sie bekam eine ganz neue Seite an ihm zu sehen.
Zu ihrer Verwunderung hatte Palmgren sich eindeutig auf ihre Seite geschlagen und vehement dem Vorschlag widersprochen, sie in eine Anstalt zu überführen. Sie hatte ihre Überraschung nicht einmal durch eine hochgezogene Augenbraue kundgetan, aber sie hörte jedem Wort mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Palmgren glänzte mit einem zweistündigen Kreuzverhör des Arztes, eines Dr. Jesper H. Löderman, der seinen Namen unter die Empfehlung gesetzt hatte, dass man Salander in eine Anstalt sperren sollte. Jedes Detail des Gutachtens wurde streng überprüft und der Arzt gebeten, den wissenschaftlichen Grund jeder Behauptung zu erläutern. Schließlich trat offen zutage, dass die Schlussfolgerungen der Ärzte nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf Vermutungen basierten, da die Patientin sich geweigert hatte, auch nur einen einzigen Test zu absolvieren.
Am Ende der Verhandlung hatte Palmgren darauf hingewiesen, dass eine Zwangseinweisung nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit gegen einen Reichstagsbeschluss über derartige Fälle verstieß, sondern sogar politische und mediale Repressalien nach sich ziehen könnte. Es liege also im Interesse aller Beteiligten, eine passende Alternative zu finden. Die Wortwahl war ungewöhnlich für Verhandlungen dieser Art, und die Mitglieder des Gerichts wanden sich unruhig auf ihren Stühlen.
Die Lösung war ein Kompromiss. Das Gericht konstatierte, dass Lisbeth Salander psychisch krank, eine Einweisung in eine Anstalt jedoch nicht nötig sei. Allerdings folgte man der Empfehlung des Sozialausschusses, einen umfassenden Betreuer einzusetzen. Woraufhin sich der Vorsitzende mit giftigem Lächeln an Holger Palmgren wandte, der bis dahin nur ihr Teilbetreuer gewesen war, und ihn fragte, ob er willens sei, diese Aufgabe zu übernehmen. Es war offensichtlich, dass der Vorsitzende geglaubt hatte, Palmgren würde einen Rückzieher machen und versuchen, die Verantwortung jemand anders zuzuschieben. Aber der Anwalt hatte erklärt, dass er mit Vergnügen die Aufgabe übernehmen würde, Frau Salander als umfassender Betreuer zu dienen - unter einer Bedingung.
»Das setzt natürlich voraus, dass Frau Salander Vertrauen zu mir hat und mich als ihren umfassenden Betreuer akzeptiert.«
Er hatte sich direkt an sie gewandt. Lisbeth Salander war ein wenig verwirrt von dem Schlagabtausch, dem sie den ganzen Tag über gelauscht hatte. Bis zu diesem Moment hatte sie keiner nach ihrer Meinung gefragt. Sie sah Holger Palmgren lange an und nickte dann einmal.
Palmgren war eine bemerkenswerte Mischung aus Jurist und Sozialarbeiter der alten Schule. Früher war er politischer Abgeordneter im Sozialausschuss gewesen und hatte fast sein gesamtes Leben der Arbeit mit schwierigen Jugendlichen gewidmet. Zwischen dem Rechtsanwalt und seinem mit Abstand schwierigsten Schützling war ein verquerer Respekt entstanden, der fast schon an Freundschaft grenzte.
Ihr Verhältnis währte insgesamt elf Jahre, von ihrem dreizehnten Geburtstag bis zu jenem Tag, ein paar Wochen vor Weihnachten, als sie Palmgren zu Hause aufsuchte, weil er zu einem ihrer monatlichen Treffen nicht erschienen war. Als er nicht aufmachte, obwohl sie Geräusche aus der Wohnung hörte, stieg sie bei ihm ein, indem sie die Regenrinne bis zum Balkon im dritten Stock hochkletterte. Sie hatte ihn im Flur liegend gefunden, bei Bewusstsein zwar, aber nach einem schweren Schlaganfall unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen. Er war erst vierundsechzig Jahre alt. Sie hatte einen Krankenwagen gerufen und war mit ins Söder-Krankenhaus gefahren, während ihr die wachsende Panik den Hals zuschnürte. Knapp drei Tage hatte sie den Flur der Intensivstation kaum verlassen. Wie ein treuer Wachhund hatte sie jeden Schritt der Ärzte und Krankenschwestern überwacht. Zu guter Letzt hatte ein Arzt, dessen Namen sie nie erfuhr, sie in ein Zimmer mitgenommen und ihr den Ernst der Situation auseinandergesetzt. Holger Palmgrens Zustand war nach einer schweren Gehirnblutung sehr kritisch. Man glaubte nicht, dass er wieder aufwachen würde. Sie hatte weder geweint noch eine Miene verzogen. Sie war aufgestanden, hatte das Krankenhaus verlassen und war nie wieder zurückgekommen.
Fünf Wochen später hatte das Vormundschaftsgericht Lisbeth Salander zum ersten Treffen mit ihrem neuen Betreuer bestellt. Sie wollte die Einladung einfach ignorieren, doch Holger Palmgren hatte ihr eingetrichtert, dass jede Handlung Konsequenzen hat. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie bereits gelernt, diese Konsequenzen zu analysieren, bevor sie handelte. Nach genauerem Nachdenken war sie zu dem Schluss gekommen, dass der einzige Ausweg aus dem Dilemma darin lag, so zu handeln, als würde sie die Autorität des Vormundschaftsgerichts anerkennen.
Also hatte sie sich im Dezember brav in Bjurmans Kontor am St.-Eriks-Platz eingefunden, wo eine ältere Dame im Namen des Vormundschaftsgerichts Salanders umfassende Mappe an Rechtsanwalt Bjurman übergeben hatte. Die Dame hatte sie freundlich gefragt, wie es ihr ginge, und schien Lisbeths dumpfes Schweigen als zufriedenstellende Antwort zu akzeptieren. Nach ungefähr einer halben Stunde hatte sie Salander in Bjurmans Obhut zurückgelassen.
Fünf Sekunden nach ihrem ersten Händeschütteln hatte Lisbeth Salander eine Abneigung gegen Anwalt Bjurman gefasst.
Sie beobachtete ihn, während er ihre Akte durchging. Alter fünfzig aufwärts. Durchtrainierter Körper, dienstags und freitags Tennis. Blond. Dünnes Haar. Leichtes Grübchen am Kinn. Riecht nach Boss. Blauer Anzug. Roter Schlips mit goldener Nadel und geckenhafte Manschettenknöpfe mit den Buchstaben NEB. Brille mit Stahlrahmen. Graue Augen. Nach den Zeitschriften auf einem Beistelltischchen zu urteilen, interessierte er sich für Jagd und Schießen.
Während des Jahrzehnts, als sie sich mit Palmgren traf, hatte er ihr immer Kaffee angeboten und sich mit ihr unterhalten. Nicht einmal ihre Fluchten von ihren Pflegefamilien oder ihr systematisches Schuleschwänzen hatten ihn aus der Fassung bringen können. Palmgren war nur ein einziges Mal aus der Haut gefahren: als der schleimige Typ in Gamla Stan sie begrapscht hatte und sie wegen Körperverletzung festgenommen wurde.
Bjurman hatte nicht viel für Small Talk übrig. Er hatte sofort festgestellt, dass zwischen Palmgrens Verpflichtungen und der Tatsache, dass er es Lisbeth Salander anscheinend selbst überlassen hatte, sich um ihren Haushalt und ihre Finanzen zu kümmern, eine große Diskrepanz herrschte. Er hatte sie nach Strich und Faden verhört: Wie viel verdienen Sie? Ich möchte Kopien ihrer Buchführung. Mit was für Leuten treffen Sie sich? Bezahlen Sie Ihre Miete rechtzeitig? Trinken Sie Alkohol? Fand Palmgren diese Ringe in Ordnung, die Sie da im Gesicht tragen? Können Sie sich selbst um Ihre Hygiene kümmern?
Fuck you.
Palmgren hatte darauf bestanden, sie mindestens einmal im Monat zu treffen, manchmal öfter. Seit sie in die Lundagatan zurück gezogen war, waren sie außerdem fast Nachbarn gewesen. Er wohnte in der Hornsgata nur ein paar Blöcke weiter, und in regelmäßigen Abständen waren sie sich zufällig über den Weg gelaufen und hatten einen Kaffee zusammen getrunken. Palmgren hatte sich nie aufgedrängt, sie jedoch an ihrem Geburtstag einmal mit einem kleinen Geschenk überrascht. Er hatte sie eingeladen, ihn jederzeit zu besuchen, ein Privileg, das sie selten nutzte, aber seit sie nach Söder gezogen war, hatte sie Heiligabend nach dem Besuch bei ihrer Mutter immer bei ihm gefeiert. Sie aßen dann Weihnachtsschinken und spielten Schach. Sie interessierte sich nicht im Geringsten für dieses Spiel, doch sobald sie die Regeln gelernt hatte, verlor sie nicht eine einzige Partie. Er war Witwer, und Lisbeth hatte es als ihre Pflicht betrachtet, sich an solch einsamen Feiertagen seiner anzunehmen.
Sie fand, das war sie ihm schuldig. Und ihre Rechnungen pflegte sie zu bezahlen.
Palmgren hatte die Wohnung ihrer Mutter in der Lundagata für sie vermietet, bis Lisbeth eine eigene Wohnung brauchte. Die 49 m2 große Wohnung war lange nicht mehr renoviert worden und ziemlich heruntergekommen, aber sie bedeutete erst einmal ein Dach über dem Kopf.
Jetzt war Palmgren fort, und eine weitere Verbindung zur etablierten Gesellschaft war gekappt worden. Nils Bjurman war ein ganz anderer Typ Mensch. Sie hatte nicht vor, ihren Heiligabend bei ihm zu verbringen. Seine erste Maßnahme bestand darin, neue Regeln für den Umgang mit ihrem Gehaltskonto bei der Handelsbank einzuführen. Palmgren hatte das Gesetz großzügig ausgelegt und es ihr unbekümmert überlassen, sich um ihre Finanzen zu kümmern. Sie bezahlte ihre Rechnungen also selbst und konnte über ihr Sparguthaben verfügen, wie sie wollte.
Bei dem Treffen mit Bjurman in der Woche vor Weihnachten hatte sie ihm ganz vernünftig zu erklären versucht, dass sein Vorgänger ihr vertraut und keinen Anlass gehabt hatte, an ihr zu zweifeln. Dass Palmgren sie ihr Leben selbst hatte regeln lassen, ohne sich in ihre Privatsphäre einzumischen.
»Das ist eines der Probleme«, entgegnete Bjurman und klopfte auf ihre Akte. Er hielt eine längere Rede über die Vorschriften und staatlichen Verordnungen, die für einen rechtlichen Betreuer galten, und verkündete dann, dass er neue Spielregeln einführen werde.
»Er hat Sie an der langen Leine laufen lassen, wenn ich das richtig verstehe. Ich frage mich, wie er damit davonkommen konnte.«
»Ich bin kein Kind mehr«, sagte Lisbeth Salander, als wäre das eine ausreichende Erklärung.
»Nein, Sie sind kein Kind. Aber ich bin zum Betreuer für Sie bestellt worden, und solange ich das bin, bin ich auch juristisch und finanziell für Sie in der Verantwortung.«
Als Erstes eröffnete er ein neues Konto in ihrem Namen, das sie Milton als Gehaltskonto melden sollte und von dem zukünftig ihre laufenden Ausgaben bestritten werden würden. In Zukunft würde Bjurman ihre Rechnungen begleichen und ihr monatlich eine gewisse Summe als Taschengeld auszahlen. Er erwartete von ihr, dass sie über ihre Ausgaben Buch führte und ihm ihre Belege ablieferte. Er setzte fest, dass sie 1400 Kronen pro Woche bekommen sollte - »für Essen, Kleidung, Kinobesuche und solche Dinge«.
Je nachdem, wie viel Arbeit sie annahm, verdiente Lisbeth Salander bis zu 160 000 Kronen im Jahr. Sie hätte den Betrag leicht verdoppeln können, indem sie sich Vollzeit bezahlen ließ und alle Aufträge annahm, die Dragan Armanskij ihr anbot. Aber sie hatte wenig feste Kosten und gab ansonsten nicht viel Geld aus. Die Kosten für die Wohnung lagen bei 2000 Kronen pro Monat, und trotz bescheidener Einkünfte hatte sie 90 000 Kronen auf ihrem Sparkonto - auf das sie allerdings keinen Zugriff mehr hatte.
»Weil ich für Ihr Geld verantwortlich bin«, erklärte er ihr. »Sie müssen Geld für die Zukunft beiseitelegen. Aber keine Sorge, ich kümmere mich um alles.«
Ich hab mich um mich selbst gekümmert, seit ich zehn bin, du beschissener Saftsack!
»Sie funktionieren sozial so weit, dass Sie in keine Anstalt eingewiesen werden müssen, aber die Gesellschaft ist für Sie verantwortlich.«
Er hatte sie gründlich ausgefragt, worin ihre Aufgaben bei Milton Security bestanden. Instinktiv hatte sie ihn über ihre Beschäftigung belogen. Die Antwort, die sie ihm gab, war eine Beschreibung ihrer ersten Wochen bei Milton. Anwalt Bjurman musste also glauben, dass sie Kaffee kochte und die Post sortierte - die passende Beschäftigung für eine Person, die nicht alle Tassen im Schrank hatte. Er schien mit ihrer Antwort zufrieden zu sein.
Sie wusste nicht, warum sie ihn belogen hatte, war aber überzeugt, dass es eine kluge Entscheidung war. Hätte Anwalt Bjurman auf einer Liste vom Aussterben bedrohter Insektenarten gestanden, hätte sie ihn bedenkenlos mit ihrem Absatz zerquetscht.
Mikael Blomkvist hatte fünf Stunden in Henrik Vangers Gesellschaft verbracht und verwendete den Großteil der Nacht und den gesamten Dienstag darauf, seine Notizen ins Reine zu schreiben und die Genealogie der Vangers in eine verständliche Übersicht zu bringen. Die Familiengeschichte, die sich im Gespräch mit Henrik Vanger herauskristallisierte, unterschied sich dramatisch von der offiziellen Version. Mikael wusste, dass jede Familie eine Leiche im Keller hat. Aber die Familie Vanger hatte einen ganzen Friedhof.
Mikael musste sich selbst immer wieder daran erinnern, dass sein Auftrag eigentlich nicht darin bestand, die Biografie der Familie Vanger zu schreiben, sondern herauszufinden, was mit Harriet Vanger passiert war. Er hatte den Job in dem sicheren Glauben angenommen, dass er dabei praktisch auf seinen vier Buchstaben sitzen und ein Jahr vergeuden würde, dass die Recherchen, die er für Henrik Vanger betrieb, eigentlich herzlich sinnlos waren. Nach einem Jahr würde er sein wahnwitziges Honorar einstreichen - der Vertrag, den Dirch Frode aufgesetzt hatte, war unterzeichnet. Sein eigentlicher Lohn, so hoffte er, würde in der Information über Hans-Erik Wennerström bestehen, die Henrik Vanger angeblich besaß.
Nachdem er Vanger zugehört hatte, dämmerte ihm, dass er das Jahr keineswegs vergeudete. Ein Buch über die Familie Vanger hatte auch seinen Wert - es war ganz einfach eine gute Story.
Dass er Harriets Mörder finden würde, daran glaubte er nicht. Mikael teilte Henriks Meinung, dass die Wahrscheinlichkeit gegen null ging, dass ein sechzehnjähriges Mädchen aus eigenem Antrieb verschwinden und sich dann allen bürokratischen Überwachungssystemen zum Trotz sechsunddreißig Jahre versteckt halten konnte. Er wollte jedoch nicht ausschließen, dass Harriet davongelaufen war. Auf dem Weg nach Stockholm konnte ihr etwas zugestoßen sein - Drogen, Prostitution, ein Überfall oder vielleicht schlicht und einfach ein Unfall.
Henrik Vanger war hingegen überzeugt, dass sie von einem Familienmitglied ermordet worden war - eventuell mit Beihilfe eines anderen.
Erika hatte recht gehabt, als sie sagte, dass sein Auftrag jedem gesunden Menschenverstand spottete, wenn er denn wirklich einen ungelösten Mordfall aufklären sollte. Mikael Blomkvist begriff jedoch langsam, dass Harriets Schicksal in den vergangenen sechsunddreißig Jahren eine zentrale Rolle für die gesamte Familie gespielt hatte. Ob er nun recht hatte oder nicht, Henrik Vangers Beschuldigung seiner Verwandtschaft hatte die Familiengeschichte geprägt. Diese mehr als dreißig Jahre offen ausgesprochenen Anschuldigungen hatten zu einer Frontenbildung geführt, die den Konzern destabilisierte. Einer Studie über Harriets Verschwinden würde somit die Funktion eines ganz eigenen Kapitels zukommen. Ob Harriets Verschwinden sein vorrangiger Auftrag war, oder ob er sich damit begnügte, eine Familienchronik zu schreiben, nahe liegender Ausgangspunkt für beides war eine Bestandsaufnahme der beteiligten Personen. Darum hatte sich sein Gespräch mit Henrik Vanger gedreht.
Die Familie Vanger bestand aus zirka hundert Personen, Vettern dritten Grades und die Nachkommenschaft sämtlicher Kusinen mit eingerechnet. Die Personengalerie war so umfangreich, dass Mikael sich eine Datenbank in seinem iBook einrichten musste.
Die Herkunft der Familie konnte mit Sicherheit bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden, damals lautete ihr Name noch Vangeersad. Laut Henrik Vanger stammte der Name möglicherweise vom holländischen »van Geerstad«. Falls das stimmen sollte, konnte das Geschlecht bis ins 12. Jahrhundert nachgewiesen werden.
In modernerer Zeit stammte die Familie aus Nordfrankreich und war Anfang des 19. Jahrhunderts mit Jean Baptiste Bernadotte nach Schweden gekommen. Alexandre Vangeersad hatte einen Posten beim Militär innegehabt und war nicht persönlich mit dem König bekannt. Er hatte sich jedoch als tüchtiger Garnisonschef hervorgetan und bekam 1818 den Hedeby-Hof zum Dank für seine Verdienste. Alexandre Vangeersad besaß auch eigenes Geld und hatte damit beträchtliche Waldgebiete in Norrland gekauft. Sein Sohn Adrian war in Frankreich zur Welt gekommen, zog aber auf Bitten seines Vaters in das entlegene Nest Hedeby, weit weg von den Salons in Paris, um sich um die Verwaltung des Hofes zu kümmern. Er betrieb Land- und Forstwirtschaft mit neuen Methoden, die er vom Kontinent mitgebracht hatte, und gründete die Papierfabrik, um die herum sich später Hedestad gebildet hatte.
Alexandres Enkel hieß Henrik und hatte seinen Namen zu Vanger abgekürzt. Er begann mit Russland Handel zu treiben und gründete eine kleine Handelsflotte, die Mitte des 19. Jahrhunderts Schoner ins Baltikum, nach Deutschland und das für seine Stahlindustrie bekannte England schickte. Henrik Vanger (der Ältere) baute das Familienunternehmen aus und begann in kleinem Rahmen mit dem Bergbau und den ersten Metall verarbeitenden Betrieben in Norrland. Er hinterließ zwei Söhne, Birger und Gottfried, und diese beiden machten Vanger zum Finanzimperium.
»Kennen Sie sich mit altem Erbrecht aus?«, fragte Henrik Vanger.
»Darauf bin ich nicht unbedingt spezialisiert.«
»Verstehe ich. Ich komme damit auch durcheinander. Birger und Gottfried waren entsprechend unserer Familientradition wie Hund und Katz - legendäre Konkurrenten um Macht und Einfluss im Familienunternehmen. Der Machtkampf wuchs sich in vielerlei Hinsicht zur Belastung aus, die das Überleben des Unternehmens gefährdete. Daher beschloss ihr Vater - kurz vor seinem Tod - ein System, in dem alle Familienmitglieder einen Erbteil - einen Anteil - an der Firma bekommen sollten. Der Gedanke war sicher richtig, aber er führte eine Situation herbei, in der wir unsere Unternehmensspitze aus den Familienmitgliedern rekrutierten, die ein paar Prozent Stimmanteile hielten, anstatt fähige Leute und eventuell Partner von außen in die Firma zu holen.«
»Diese Regelung gilt heute noch?«
»Ja. Wenn ein Familienmitglied seinen Anteil verkaufen will, muss er das innerhalb der Familie tun. Auf der jährlichen Eigentümerversammlung kommen derzeit ungefähr fünfzig Familienmitglieder zusammen. Martin hält knapp zehn Prozent der Aktien, ich fünf, weil ich unter anderem an Martin verkauft habe. Mein Bruder Harald hat sieben Prozent, aber die meisten Teilnehmer der Versammlung haben nur ein oder ein halbes Prozent.«
»Davon wusste ich tatsächlich nichts. Klingt irgendwie mittelalterlich.«
»Es ist der reinste Irrwitz. Wenn Martin eine gewisse Geschäftspolitik verfolgen will, dann muss er zuerst einmal Lobbyarbeit betreiben, um sich die Unterstützung von mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der Teilhaber zu sichern. Das Ganze ist ein einziger Flickenteppich aus Allianzen, Fraktionen und Intrigen.«
Henrik Vanger fuhr fort: »Gottfried Vanger starb 1901, kinderlos. Oh, entschuldigen Sie, er hatte natürlich vier Töchter, aber in dieser Zeit zählten die Frauen quasi nicht. Sie hatten Firmenanteile, aber die Männer in der Familie nahmen ihre Interessen wahr. Erst als Anfang des 20. Jahrhunderts das Wahlrecht eingeführt wurde, erhielten die Frauen Zutritt zu den Eigentümerversammlungen.«
»Wie liberal.«
»Seien Sie nicht ironisch. Es war eine andere Zeit. Wie auch immer, sein Bruder Birger Vanger bekam drei Söhne - Johan, Fredrik und Gideon Vanger -, die alle Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Gideon Vanger können wir beiseitelassen, der verkaufte seinen Anteil und ging nach Amerika, wo wir immer noch einen Familienzweig haben. Aber Johan und Fredrik Vanger machten aus dem Unternehmen den modernen Vanger-Konzern.«
Henrik Vanger holte ein Fotoalbum hervor. Die Fotos vom Anfang des vorigen Jahrhunderts zeigten zwei Männer mit kräftigem Kinn und mit Wasser gekämmtem Haar, die ohne die geringste Andeutung eines Lächelns in die Kamera starrten.
Johan Vanger war das Genie der Familie: Er wurde Ingenieur und brachte die Maschinenbauindustrie durch mehrere Erfindungen voran, die er sich patentieren ließ. Stahl und Eisen wurden das Fundament des Konzerns, aber das Unternehmen weitete sich auch auf andere Bereiche aus, Textil zum Beispiel. Johan Vanger starb 1956 und hatte zu diesem Zeitpunkt drei Töchter - Sofia, Märit und Ingrid -, die ersten Frauen, die automatisch an den Eigentümerversammlungen des Konzerns teilnahmen.
»Der andere Bruder, Fredrik Vanger, war mein Vater. Er war Geschäftsmann und Industrieller, der aus Johans Erfindungen Kapital schlug. Mein Vater starb 1964. Er war bis zu seinem Tod in der Geschäftsleitung aktiv, obwohl er mir bereits in den fünfziger Jahren das Tagesgeschäft überließ.
Es war genau wie bei der vorigen Generation. Johan Vanger bekam nur Töchter.«
Henrik Vanger zeigte Fotos von Frauen mit stattlichen Büsten und ausladenden Hüten. »Fredrik, mein Vater, bekam nur Söhne. Wir waren insgesamt fünf Brüder. Und zwar Richard, Harald, Greger, Gustav und ich.«
Um die Familienmitglieder überhaupt auseinanderhalten zu können, zeichnete Mikael einen Familienstammbaum auf ein paar zusammengeklebte A4-Blätter. Er druckte die Namen derjenigen fett, die beim Familientreffen 1966 auf der Insel gewesen waren und somit zumindest theoretisch etwas mit Harriets Verschwinden zu tun haben konnten.
Mikael ließ Kinder unter zwölf Jahren außer Acht - was auch immer geschehen sein mochte, er wollte sich auf Lösungsansätze beschränken, die im Bereich des Plausiblen lagen. Nach kurzer Überlegung strich er auch Henrik Vanger - wenn der Patriarch etwas mit dem Verschwinden seiner Großnichte zu tun gehabt hätte, wäre sein Verhalten während der letzten sechsunddreißig Jahre als psychopathisch zu werten. Auch Henrik Vangers Mutter, die 1966 stolze einundachtzig Jahre alt gewesen war, konnte er getrost vernachlässigen. Blieben dreiundzwanzig Familienmitglieder, die laut Henrik Vanger zur Gruppe der »Verdächtigen« gerechnet werden mussten. Sieben von ihnen waren mittlerweile gestorben, einige andere hatten ein respektables Alter erreicht.
Mikael war jedoch nicht ohne Weiteres bereit, zu glauben, dass ein Mitglied der Familie hinter Harriets Verschwinden steckte. Man musste der Liste der Verdächtigen vielmehr eine Reihe anderer Personen hinzufügen.
Dirch Frode hatte 1962 begonnen, als Rechtsanwalt für Henrik Vanger zu arbeiten. Und wer gehörte zum Personal, als Harriet verschwand? Hausmeister Gunnar Nilsson - Alibi hin oder her - war damals neunzehn, und sein Vater Magnus Nilsson hatte sich ebenso auf der Insel befunden wie der Künstler Eugen Norman und der Pastor Otto Falk. War Falk verheiratet? Auch der Bauer auf Östergården und sein Sohn Jerker waren auf der Insel gewesen. Welches Verhältnis hatte Harriet zu ihnen gehabt? War Martin Aronsson verheiratet? Gab es noch weitere Bewohner auf dem Hof?
Mikael fing an, alle Namen aufzuschreiben, und die Gruppe wuchs auf ungefähr vierzig Personen an. Schließlich warf er frustriert den Filzstift beiseite. Es war schon halb vier Uhr morgens, und das Thermometer zeigte weiterhin 21 Grad minus. Schien wohl eine etwas längere Kältewelle zu werden. Er sehnte sich nach seinem Bett in der Bellmansgata in Stockholm.
Mikael Blomkvist wurde am Mittwochmorgen um 9 Uhr geweckt, als ein Mitarbeiter der Firma Telia an der Tür klopfte und eine Telefondose und ein ADSL-Modem installierte. Um 11 Uhr hatte er seinen Anschluss. Dennoch schwieg sein Telefon immer noch beharrlich. Erika hatte seine Anrufe seit einer Woche nicht beantwortet. Sie musste wirklich sauer sein.
Er öffnete seine Mailbox und sah die gut dreihundertfünfzig Mails durch, die im Laufe der letzten Woche eingegangen waren. Die erste Mail, die er öffnete, kam von »demokrat88@yahoo.com« und enthielt die Message HOFFENTLICH LASSEN SIE DICH IM KNAST SCHWÄNZE LUTSCHEN VERDAMMTES KOMMUNISTENSCHWEIN. Mikael speicherte die Mail in einem Ordner mit dem Namen Intelligente Kritik.
Er schrieb eine kurze Nachricht an »erika.berger@millennium. se«.
Hallo, Ricky, ich nehme an, du bist stinksauer auf mich, weil du so gar nicht zurückrufst. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich jetzt Internetanschluss habe und per Mail erreichbar bin, für den Fall, dass du mir verzeihen willst. Hedeby ist übrigens ein nettes Fleckchen, das durchaus einen Besuch wert ist. M.
Gegen Mittag packte er sein iBook ein und ging in Susannes Café, wo er sich an seinem angestammten Ecktisch niederließ. Als Susanne ihm Kaffee und ein belegtes Brötchen brachte, musterte sie neugierig den Laptop und fragte ihn, woran er arbeite. Mikael brachte zum ersten Mal seine cover story an und erklärte ihr, dass er von Henrik Vanger angeheuert worden war, ihm beim Verfassen seiner Biografie zu helfen. Sie tauschten Höflichkeiten aus. Susanne forderte Mikael auf, sich mit ihr zusammenzusetzen, wenn er an echten Enthüllungen interessiert sei.
»Ich habe die Vangers fünfunddreißig Jahre lang bedient und kenne die meisten Gerüchte über die Familie«, sagte sie, bevor sie mit ihrem wiegenden Gang in der Küche verschwand.
Der Stammbaum, den Mikael gezeichnet hatte, zeigte, dass die Familie Vanger ein fruchtbares Geschlecht war. Mit allen Kindern, Enkeln und Urenkeln - die er erst gar nicht eingezeichnet hatte - kamen die Brüder Fredrik und Johan Vanger auf ungefähr fünfzig Nachfahren. Mikael stellte auch fest, dass die Familienmitglieder tendenziell sehr alt wurden. Fredrik Vanger war achtundsiebzig Jahre alt geworden, sein Bruder Johan zweiundsiebzig. Ulrika Vanger war mit vierundachtzig Jahren gestorben. Von den zwei noch lebenden Brüdern war Harald Vanger zweiundneunzig Jahre alt und Henrik Vanger zweiundachtzig.
Die einzige Ausnahme war Henrik Vangers Bruder Gustav, der im Alter von siebenunddreißig Jahren an einer Lungenkrankheit verstorben war. Henrik Vanger erklärte, dass Gustav immer gekränkelt habe und seine eigenen Wege gegangen sei, ein bisschen abseits vom Rest der Familie. Er war unverheiratet und kinderlos geblieben.
Mikael bemerkte noch zwei andere Besonderheiten im Familienstammbaum. Zum Ersten, dass die Ehen auf Lebenszeit geschlossen wurden - anscheinend hatte sich keiner aus dem Geschlecht der Vangers jemals scheiden lassen oder ein zweites Mal geheiratet, wenn der Partner etwa in jungen Jahren verstorben war. Cecilia Vanger hatte sich vor mehreren Jahren von ihrem Mann getrennt, war aber immer noch verheiratet, soweit Mikael das nachvollziehen konnte.
Die andere Besonderheit lag darin, dass die Familie sich geografisch in einen »männlichen« und einen »weiblichen« Teil aufspaltete. Fredrik Vangers Zweig der Familie, zu dem auch Henrik Vanger gehörte, hatte traditionell eine führende Rolle im Unternehmen gespielt und war hauptsächlich in und um Hedestad ansässig. Johan Vangers Zweig, der nur weibliche Erben hervorgebracht hatte, war durch Heirat in andere Landesteile verschlagen worden. Die Erbinnen wohnten hauptsächlich in Stockholm, Malmö und Göteborg oder im Ausland und kamen nur in den Sommerferien oder für wichtige Versammlungen des Konzerns nach Hedestad. Einzige Ausnahme war Ingrid Vanger, deren Sohn Gunnar Karlman in Hedestad lebte. Er war Chefredakteur der Lokalzeitung Hedestads-Kuriren.
Henrik nahm an, das »zugrunde liegende Motiv für den Mord an Harriet« sei vielleicht in der Unternehmensstruktur zu suchen. Da war die Tatsache, dass Henrik Harriet schon frühzeitig als etwas ganz Besonderes herausgestellt hatte. Vielleicht hatte man durch Harriets Verschwinden ihm einen Schlag versetzen wollen. Oder Harriet hatte irgendwelche Informationen besessen, die den Konzern betrafen und damit eine Drohung für jemand darstellten. Das alles war nichts als vage Spekulation, gleichwohl hatte er auf diese Art einen Kreis von dreizehn Personen herausgearbeitet, die er als »besonders interessant« einstufte.
Das gestrige Gespräch mit Henrik Vanger war in einem anderen Punkt sehr aufschlussreich gewesen. Vom ersten Moment an, schon bei ihrem Treffen am 26. Dezember, hatte der alte Mann so verächtlich und abschätzig über seine Familie geredet, dass Mikael sich gefragt hatte, ob der Verdacht gegen seine Familie, Harriets Verschwinden betreffend, das Urteilsvermögen des Patriarchen getrübt haben mochte. Aber nun ging ihm langsam auf, dass Henrik Vanger die Dinge tatsächlich verblüffend nüchtern beurteilte.
Das Bild, das sich herauskristallisierte, zeigte eine Familie, die sozial und finanziell erfolgreich dastand, in alltäglichen Belangen jedoch völlig versagte.
Henrik Vangers Vater war ein kalter und gefühlloser Mensch, der seine Kinder zeugte und seiner Frau dann die Sorge um ihre Erziehung und ihr Wohlbefinden überließ. Bis die Kinder fünfzehn, sechzehn Jahre alt waren, begegneten sie ihrem Vater hauptsächlich bei besonderen Familienveranstaltungen, bei denen sie gefälligst anwesend und gleichzeitig unsichtbar zu sein hatten. Henrik Vanger konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater jemals auch nur mit der kleinsten Geste seine Liebe ausgedrückt hätte. Umso öfter war er Zielscheibe dessen vernichtender Kritik gewesen. Körperliche Züchtigungen waren selten vorgekommen, sie waren nicht nötig. Er hatte sich den Respekt seines Vaters erst erworben, als er sich später um den Vanger-Konzern verdient machte.
Henriks ältester Bruder hingegen, Richard Vanger, hatte aufbegehrt. Nach einem Streit, dessen Grund in der Familie hartnäckig verschwiegen wurde, war Richard zum Studium nach Uppsala gezogen.
Dort hatte er die Nazi-Karriere eingeschlagen, von der Henrik Vanger bereits berichtet hatte und die ihn Schritt für Schritt in die Schützengräben des finnischen Winterkrieges führten.
Was der alte Mann vorher nicht erzählt hatte, war, dass zwei weitere Brüder eine ähnliche Karriere gemacht hatten.
Sowohl Harald als auch Greger waren dem großen Bruder 1930 nach Uppsala gefolgt, aber Henrik Vanger konnte nicht genau sagen, in welchem Maße sie mit Richard Umgang gepflegt hatten. Es stand jedoch fest, dass die Brüder sich Per Engdahls faschistischer Bewegung Das neue Schweden anschlossen. Harald Vanger war Per Engdahl über die Jahre loyal gefolgt, erst zum Schwedischen Nationalverband SNF, danach zur Schwedischen Opposition und zum Schluss zur Neuschwedischen Bewegung, die nach Kriegsende gegründet wurde. Er blieb Mitglied bis zu Per Engdahls Tod in den neunziger Jahren. Zeitweise war er einer der wichtigsten Geldgeber für den überwinternden schwedischen Faschismus.
Harald Vanger hatte Medizin in Uppsala studiert und sich bald den Kreisen angeschlossen, die für Rassenhygiene und Rassenbiologie schwärmten. Er arbeitete eine Weile am Schwedischen Institut für Rassenbiologie und wurde als Arzt einer der Hauptverfechter für die Sterilisierung unerwünschter Elemente in der Bevölkerung.
Zitat Henrik Vanger, Band 2, 02950:
Harald ging noch weiter. 1937 war er unter Pseudonym Co-Autor eines Buches mit dem Titel Ein neues völkisches Europa. Ich erfuhr davon erst in den siebziger Jahren. Es ist wahrscheinlich eines der widerlichsten Bücher, die jemals auf Schwedisch erschienen sind. Harald argumentierte nicht nur für die Sterilisierung, sondern sogar für Euthanasie - aktive Sterbehilfe für Menschen, die sein ästhetisches Empfinden störten und nicht in sein Bild vom perfekten schwedischen Volksstamm passten. Er plädierte also für Massenmord, und das in einem Text, der in tadelloser akademischer Prosa abgefasst war und alle notwendigen medizinischen Argumente enthielt. Beseitigt alle Behinderten. Erlaubt der samischen Bevölkerung nicht, sich auszubreiten; sie sind von mongolischer Seite beeinflusst. Psychisch Kranke werden den Tod als Befreiung erleben. Er spricht von losen Frauenzimmern, Zigeunern und Juden. In den Fantasien meines Bruders hätte Auschwitz in unserer Provinz Dalarna liegen können.
Greger Vanger wurde nach dem Krieg Gymnasiallehrer und später Rektor des Gymnasiums in Hedestad. Henrik hatte zunächst geglaubt, dass er seit dem Krieg parteilos war und den Nazismus aufgegeben hatte. Er starb 1974, und erst als Henrik seine Hinterlassenschaft durchging, erfuhr er durch Briefe, dass sein Bruder sich in den fünfziger Jahren der politisch bedeutungslosen, aber restlos unzurechnungsfähigen Sekte der Nordischen Reichspartei, NRP, angeschlossen hatte.
Zitat Henrik Vanger, Band 2, 04167: Drei meiner Brüder waren also politisch geisteskrank. Wie krank waren sie in anderer Hinsicht?
Der einzige seiner Brüder, der vor Henrik Vangers Augen ein wenig Gnade fand, war der kränkliche Gustav, der 1955 an seiner Lungenkrankheit gestorben war. Gustav hatte sich nie für Politik interessiert und schien eher eine weltfremde Künstlerseele gewesen zu sein, die nicht im Geringsten an Geschäften oder einer Arbeit im Vanger-Konzern interessiert war.
Mikael fragte Henrik Vanger: »Heute leben nur noch Sie und Harald. Wann ist er nach Hedeby zurück gezogen?«
»Er kam 1979 zurück, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag. Das Haus gehört ihm.«
»Es muss sich doch merkwürdig anfühlen, in so direkter Nähe zu einem Bruder zu wohnen, den Sie hassen.«
Henrik Vanger sah Mikael verwundert an.
»Sie haben mich missverstanden. Ich hasse meinen Bruder nicht. Ich empfinde vielleicht Mitleid für ihn. Er ist ein Vollidiot, und er hasst mich.«
»Er hasst Sie?«
»Ganz genau. Ich glaube, dass er deswegen zurück gezogen ist. Um seine letzten Jahre damit verbringen zu können, mich aus nächster Nähe zu hassen.«
»Warum hasst er Sie?«
»Weil ich geheiratet habe.«
»Ich glaube, das müssen Sie mir näher erklären.«
Henrik Vanger hatte schon früh den Kontakt zu seinen älteren Brüdern verloren. Er war der Einzige von ihnen, der einen gewissen Geschäftssinn an den Tag legte - die letzte Hoffnung seines Vaters. Er interessierte sich nicht für Politik und mied Uppsala. Stattdessen entschied er sich für ein Wirtschaftsstudium in Stockholm. Seit seinem achtzehnten Geburtstag hatte er alle Ferien und jeden Sommerurlaub als Praktikant in einem der vielen Büros des Vanger-Konzerns verbracht.
Am 10. Juni 1941 - während des Zweiten Weltkriegs - wurde Henrik für sechs Wochen zu einem Besuch des Hamburger Handelsbüros nach Deutschland geschickt. Er war damals erst einundzwanzig Jahre alt, und man stellte ihm den deutschen Agenten des Unternehmens, einen alternden Firmenveteran namens Hermann Lobach, als Aufpasser und Mentor zur Seite.
»Ich will Sie nicht mit all den Details langweilen, aber als ich kam, waren Hitler und Stalin noch gute Freunde, und es gab keine Ostfront. Alle hielten Hitler immer noch für unbesiegbar. Das war so ein Gefühl von … Optimismus und Verzweiflung sind vielleicht die richtigen Worte, denke ich. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach ist es immer noch schwer, die Stimmung zu beschreiben. Missverstehen Sie mich nicht, ich war nie ein Nazi, und Hitler wirkte in meinen Augen wie eine lächerliche Operettenfigur. Aber es war schwierig, sich nicht von dem allgemeinen Optimismus anstecken zu lassen, der in Hamburg unter den ganz normalen Leuten herrschte. Obwohl der Krieg immer näher rückte und während meines Aufenthalts mehrere Bombenangriffe auf Hamburg geflogen wurden, glaubten die meisten Menschen weiterhin, dass bald der Frieden kommen und Hitler sein neues Europa errichten würde.«
Henrik Vanger schlug eines seiner vielen Fotoalben auf.
»Das ist Hermann Lobach. Er verschwand 1944, ist vermutlich bei irgendeinem Bombenangriff umgekommen und unter den Trümmern begraben worden. Wir haben nie erfahren, was mit ihm geschah. Während meiner Wochen in Hamburg freundeten wir uns an. Ich war bei ihm und seiner Familie untergebracht, in einer vornehmen Wohnung in einem Hamburger Nobelviertel. Wir hatten täglich miteinander zu tun. Er war genauso wenig ein Nazi wie ich, aber er war aus Bequemlichkeit Mitglied in der Partei. Der Mitgliedsausweis öffnete Türen und erleichterte es ihm, Geschäfte für den Vanger-Konzern zu machen - und Geschäfte machten wir, oh ja. Wir bauten Güterwagen für ihre Züge. Ich habe mich immer gefragt, ob unsere Waggons nach Polen gingen. Wir verkauften Stoff für ihre Uniformen und Röhren für ihre Radios, obwohl wir ja offiziell nicht wussten, wofür sie unsere Produkte verwendeten. Und Hermann Lobach wusste, wie man einen Vertrag an Land zieht, er war unterhaltsam und gesellig. Der perfekte Nazi. Im Nachhinein dämmerte mir, dass er auch ein Mann war, der verzweifelt versuchte, ein Geheimnis zu verbergen.
In der Nacht zum 22. Juni 1941 klopfte Hermann Lobach plötzlich an die Tür meines Schlafzimmers. Mein Raum lag direkt neben dem Schlafzimmer seiner Frau, und er bedeutete mir, leise zu sein, mich anzuziehen und ihm zu folgen. Wir gingen ein Stockwerk tiefer und setzten uns in den Rauchsalon. Offensichtlich war Lobach die ganze Nacht auf gewesen. Das Radio lief, und ich begriff, dass irgendetwas Dramatisches passiert sein musste. Das ›Unternehmen Barbarossa‹ hatte begonnen. Deutschland hatte in der Mittsommernacht die Sowjetunion überfallen.«
Henrik Vanger machte eine resignierte Handbewegung.
»Hermann Lobach holte zwei Gläser und goss uns einen ordentlichen Schnaps ein. Er war sichtlich erschüttert. Als ich ihn fragte, was das bedeutete, antwortete er mit großem Weitblick, dies sei das Ende für Deutschland und den Nationalsozialismus. Ich glaubte es ihm nur halbwegs - Hitler schien schließlich unbesiegbar -, aber Lobach prostete mir zu: auf Deutschlands Untergang. Dann wandte er sich den praktischen Dingen zu.«
Mikael nickte, um zu signalisieren, dass er aufmerksam zuhörte.
»Zum einen hatte er keine Möglichkeit, mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen. So beschloss er auf eigene Verantwortung, meinen Besuch in Deutschland abzubrechen und mich bei der ersten Gelegenheit wieder heimzuschicken. Zum anderen wollte er mich um einen Gefallen bitten.«
Henrik Vanger zeigte auf ein vergilbtes, abgestoßenes Foto von einer dunkelhaarigen Frau im Halbprofil.
»Hermann Lobach war seit vierzig Jahren verheiratet, aber 1919 begegnete er einer umwerfend schönen Frau, in die er sich unsterblich verliebte. Sie war eine einfache, arme Schneiderin und nur halb so alt wie er. Lobach machte ihr den Hof, und wie so viele andere wohlhabende Männer konnte er es sich leisten, sie in einer Wohnung in bequemem Abstand zu seinem Büro unterzubringen. Sie wurde seine Geliebte. 1921 gebar sie ihm eine Tochter, die auf den Namen Edith getauft wurde.«
»Älterer reicher Mann, junge arme Frau und ein Kind der Liebe - das dürfte nicht mal in den vierziger Jahren wirklich zum Skandal gereicht haben«, kommentierte Mikael.
»Das stimmt schon. Aber da war noch etwas. Die Frau war Jüdin und Lobach damit Vater einer jüdischen Tochter mitten in Nazideutschland. Er hatte praktisch seine Rasse verraten.«
»Oh, das verändert die Situation zweifellos. Was geschah weiter?«
»Ediths Mutter wurde 1939 verhaftet. Sie verschwand, und wir können nur mutmaßen, wie ihr Schicksal aussah. Es war bekannt, dass sie eine Tochter hatte, die noch auf keiner Deportationsliste stand und nun von der Abteilung der Gestapo gesucht wurde, die flüchtige Juden verfolgte. Im Sommer 1941, in derselben Woche, als ich in Hamburg ankam, war Ediths Mutter mit Hermann Lobach in Verbindung gebracht worden, und man bestellte ihn zum Verhör. Er gab das Verhältnis und seine Vaterschaft zu, behauptete aber, er habe keine Ahnung, wo sich seine Tochter aufhalte. Er habe zehn Jahre keinen Kontakt mit ihr gehabt.«
»Und wo war seine Tochter?«
»Ich bin ihr jeden Tag in Lobachs Wohnung begegnet. Ein nettes, stilles zwanzigjähriges Mädchen, das mein Zimmer sauber machte und beim Auftragen des Abendessens half. 1937 war die Judenverfolgung schon ein paar Jahre im Gange, und Ediths Mutter hatte Lobach um Hilfe angefleht. Und er hatte ihr tatsächlich geholfen - Lobach liebte seine uneheliche Tochter genauso wie seine ehelichen Kinder. Er hatte sie an der unwahrscheinlichsten Stelle überhaupt versteckt, indem er sie seiner Umgebung direkt vor die Nase setzte. Er hatte ihr falsche Papiere verschafft und sie als Haushälterin angestellt.«
»Wusste seine Frau davon?«
»Nein, sie hatte keine Ahnung von diesem Arrangement.«
»Was passierte dann?«
»Vier Jahre lang ging es gut, aber Lobach merkte, wie die Schlinge sich langsam zuzog. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gestapo an seine Tür klopfen würde. All das erzählte er mir in dieser Nacht, nur eine Woche vor meiner Heimfahrt nach Schweden. Dann holte er seine Tochter und stellte uns einander vor. Sie war still und blass und wagte mir kaum in die Augen zu sehen. Lobach flehte mich an, ihr Leben zu retten.«
»Wie?«
»Er hatte alles vorbereitet. Eigentlich sollte ich noch drei Wochen bleiben, dann mit dem Nachtzug nach Kopenhagen fahren und die Fähre über den Sund nehmen - auch in Kriegszeiten eine relativ ungefährliche Reise. Doch zwei Tage nach unserer Unterredung sollte ein Frachtschiff des Vanger-Konzerns aus Hamburg Richtung Schweden ablegen. Lobach wollte mich nun mit diesem Schiff schicken, auf direktem Weg hinaus aus Deutschland. Die Änderungen der Reisepläne mussten vom Sicherheitsdienst abgesegnet werden, eine bürokratische Maßnahme, aber kein Problem. Lobach wollte jedenfalls, dass ich mit dem Schiff fuhr.«
»Zusammen mit Edith, nehme ich an.«
»Edith wurde in einer von dreihundert Kisten mit Maschinenteilen an Bord geschmuggelt. Für den Fall, dass sie entdeckt werden sollte, während wir uns noch in deutschen Hoheitsgewässern befanden, sollte ich sie beschützen und den Kapitän davon abhalten, Dummheiten zu machen. Ansonsten sollte ich warten, bis wir ein gutes Stück von Deutschland entfernt waren, und sie dann aus ihrem Versteck befreien.«
»Ich verstehe.«
»Es klang einfach, aber die Reise geriet zum Alptraum. Der Kapitän hieß Oskar Granath, und er war alles andere als begeistert davon, die Verantwortung für einen Erben seines Arbeitgebers übernehmen zu müssen. Wir legten eines Abends Ende Juni gegen neun Uhr ab und waren gerade auf dem Weg aus dem Binnenhafen, da begannen die Sirenen zu heulen: Bombenalarm. Ein englischer Bombenangriff, der heftigste, den ich erlebt hatte, und der Hafen war natürlich ein bevorzugtes Ziel. Ich übertreibe nicht, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich mir fast in die Hosen machte, als die Detonationen immer näher kamen. Aber irgendwie schafften wir es, und nach einem Motorschaden und einer wüsten Sturmnacht in minenverseuchtem Gewässer liefen wir am nächsten Tag in Karlskrona ein. Jetzt wollen Sie von mir wissen, was mit dem Mädchen geschah.«
»Ich glaube, ich weiß es schon.«
»Mein Vater tobte natürlich vor Wut. Ich hatte durch mein idiotisches Unterfangen alles aufs Spiel gesetzt. Und das Mädchen konnte jederzeit deportiert werden - vergessen Sie nicht, wir schrieben das Jahr 1941. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bereits unsterblich in sie verliebt, wie Lobach in ihre Mutter. Ich fragte sie, ob sie meine Frau werden wollte, und stellte meinem Vater ein Ultimatum - entweder er akzeptierte die Ehe, oder er musste sich anderweitig nach Nachwuchs fürs Familienunternehmen umsehen. Er gab nach.«
»Sie starb?«
»Ja, viel zu jung. 1958 schon. Wir hatten knapp sechzehn Jahre miteinander. Sie hatte einen angeborenen Herzfehler. Und es stellte sich heraus, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Deswegen hasst mich mein Bruder.«
»Weil Sie sie geheiratet haben.«
»Weil ich - um seine Terminologie zu verwenden - eine dreckige Judenhure geheiratet habe. Für ihn war das Verrat an der Rasse, dem Volksstamm, der Moral und eben all dem, wofür er stand.«
»Das ist doch verrückt.«
»Ich selbst könnte es nicht besser ausdrücken.«
10. Kapitel
Donnerstag, 9. Januar - Freitag, 31. Januar
Wenn man dem Hedestads-Kuriren glaubte, dann war Mikaels erster Monat in der Einöde der kälteste seit Menschengedenken oder (wie Henrik Vanger ihn aufklärte) zumindest seit dem Kriegswinter 1942. Bereits nach einer Woche in Hedeby hatte er alles über lange Unterhosen, dicke Socken und doppelte Unterhemden gelernt.
Er erlebte ein paar grauenvolle Tage, als die Temperatur Mitte Januar auf unfassbare 37 Grad minus fiel. Eines Morgens war die Wasserleitung eingefroren. Gunnar Nilsson hatte ihm zwei große Plastikeimer gegeben, damit er Essen kochen und sich waschen konnte, aber die Kälte war einfach lähmend. An der Innenseite der Fensterscheiben hatten sich Eisblumen gebildet, und so viel er auch heizte, er fühlte sich permanent durchgefroren. Jeden Tag verbrachte er ein gutes Weilchen damit, hinter dem Schuppen Brennholz zu hacken.
Manchmal war er den Tränen nahe und spielte mit dem Gedanken, ein Taxi in die Stadt zu nehmen und dort den ersten Zug in Richtung Süden zu besteigen. Stattdessen zog er sich einen zusätzlichen Pullover an und wickelte sich in eine Decke, während er Kaffee trinkend am Küchentisch saß und alte Polizeiprotokolle las.
Allmählich stieg die Temperatur auf behagliche 10 Grad minus.
Langsam lernte Mikael auch Leute in Hedeby kennen. Martin Vanger hatte sein Versprechen gehalten und ihn zu einem eigenhändig zubereiteten Abendessen eingeladen - Elchsteak mit italienischem Rotwein. Er war unverheiratet, aber mit einer Frau namens Eva Hassel befreundet, die ihnen beim Abendessen Gesellschaft leistete. Eva war warmherzig und unterhaltsam und gehörte zu dem Typ Frau, den Mikael als außerordentlich attraktiv betrachtete. Sie war Zahnärztin und wohnte in Hedestad, verbrachte die Wochenenden aber bei Martin Vanger. Mikael erfuhr später, dass die beiden sich schon seit vielen Jahren kannten, aber sie waren sich erst mit der Zeit nähergekommen und hatten keine Veranlassung gesehen zu heiraten.
»Sie ist schließlich meine Zahnärztin«, lachte Martin Vanger.
»Und in diesen verrückten Clan einzuheiraten, ist nicht so wirklich mein Ding«, sagte Eva und tätschelte Martin liebevoll das Knie.
Martins Haus war ein von einem Architekten entworfener Junggesellentraum mit Möbeln in Schwarz, Weiß und Chrom. Die Einrichtung bestand aus ausgesuchten Stücken, die den Designfan Christer Malm fasziniert hätten. Die Küche war ausgestattet wie für einen Berufskoch. Im Wohnzimmer befand sich eine erstklassige Stereoanlage sowie eine großartige Jazzsammlung auf Vinyl, die von Tommy Dorsey bis zu Johnny Coltrane reichte. Martin Vanger hatte Geld, und sein Zuhause war kostspielig und funktionell, aber auch ziemlich unpersönlich. Mikael bemerkte, dass die Bilder an den Wänden einfache Reproduktionen und Poster waren, wie man sie auch bei IKEA finden konnte - hübsch, aber keine Renommierstücke. Die Bücherregale, zumindest in dem Teil des Hauses, den Mikael zu sehen bekam, waren nur dünn bestückt, unter anderem mit einem mehrbändigen Lexikon und ein paar Büchern von der Sorte, wie Leute sie zu Weihnachten verschenken, wenn ihnen nichts Besseres einfällt. Mikael konnte zwei Interessen in Martin Vangers Leben ausmachen: Musik und Kochen. Das erste Interessengebiet manifestierte sich in schätzungsweise dreitausend LPs. Das andere zeichnete sich in der Rundung über Martins Gürtel ab.
Die Person Martin Vanger war eine eigenartige Mischung aus Einfalt, Strenge und Liebenswürdigkeit. Man musste über keine besonderen analytischen Fähigkeiten verfügen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er ein Mensch mit Problemen war. Während A Night in Tunisia lief, kreiste das Gespräch um den Vanger-Konzern, und Martin Vanger machte kein Geheimnis daraus, dass er um den Erhalt der Firma kämpfte. Mikael wunderte sich über diese Themenwahl, denn Martin Vanger war sich durchaus bewusst, dass er einen Wirtschaftsjournalisten zu Gast hatte, den er nur oberflächlich kannte. Dennoch diskutierte er die internen Probleme seiner Firma so offenherzig mit ihm, dass es schon an Fahrlässigkeit grenzte. Er schien davon auszugehen, dass Mikael zur Familie gehörte, da er für Henrik Vanger arbeitete, und er stimmte mit seinem Großonkel darin überein, dass die Familie sich selbst die Schuld geben musste an der Verfassung, in der sich das Unternehmen befand. Er war jedoch frei von Henriks Bitterkeit und dessen unversöhnlicher Verachtung für die Familie. Martin Vanger schien sich über die unverbesserliche Verrücktheit des Vanger-Clans eher zu amüsieren. Eva Hassel nickte, gab aber keine Kommentare ab. Sie kannte das Thema offenbar zur Genüge.
Martin Vanger schien zu billigen, dass Mikael beauftragt worden war, eine Familienchronik zu schreiben, und er fragte, wie die Arbeit voranginge. Mikael antwortete lächelnd, er tue sich schon schwer, die Namen aller Verwandten zu lernen, und bat um Erlaubnis, für ein Interview wiederkommen zu dürfen, sobald es Martin passte. Mehrmals erwog er, das Gespräch auf Henriks Besessenheit von Harriets Verschwinden zu lenken. Er nahm an, dass Henrik Vanger Harriets Bruder bei verschiedensten Gelegenheiten mit seinen Theorien gequält hatte. Außerdem musste Martin klar sein, dass Mikael beim Schreiben einer Familienchronik bemerken musste, dass ein Familienmitglied spurlos verschwunden war. Aber Martin machte keine Anstalten, das Thema aufzugreifen, und Mikael ließ die Sache auf sich beruhen. Sie würden noch früh genug Grund haben, über Harriet zu reden.
Nach ein paar Runden Wodka brach er gegen zwei Uhr morgens auf. Mikael war ziemlich betrunken, als er die dreihundert Meter zu sich nach Hause torkelte. Im Großen und Ganzen war es ein angenehmer Abend gewesen.
Eines Nachmittags, es war bereits Mikaels zweite Woche in Hedeby, klopfte es an seiner Haustür. Er legte den Ordner mit dem Polizeibericht beiseite und schloss die Tür zu seinem Arbeitszimmer, bevor er die Haustür öffnete. Vor ihm stand eine in warme Kleider gehüllte blonde Frau, die ungefähr Mitte fünfzig sein mochte.
»Hallo. Ich wollte nur mal guten Tag sagen. Ich heiße Cecilia Vanger.«
Sie gaben sich die Hand, und Mikael bot ihr einen Kaffee an. Cecilia Vanger, die Tochter des Nazi-Anhängers Harald Vanger, schien eine offene und in vielerlei Hinsicht sehr einnehmende Frau zu sein. Mikael erinnerte sich, dass Henrik Vanger mit Respekt über sie gesprochen und erwähnt hatte, dass sie keinen Umgang mit ihrem Vater pflegte, obwohl sie neben ihm wohnte. Sie plauderten eine Weile, bis sie auf ihr Anliegen zu sprechen kam.
»Ich habe gehört, dass Sie ein Buch über die Familie schreiben. Ich bin mir nicht sicher, ob mir dieser Gedanke gefällt«, sagte sie. »Deshalb wollte ich mir zumindest mal ansehen, was Sie für einer sind.«
»Das ist richtig, Henrik Vanger hat mich damit beauftragt. Es ist also sozusagen seine Story.«
»Der gute Henrik ist ja nicht gerade neutral, was die Einstellung zu seiner Familie betrifft.«
Mikael musterte sie. Er wusste nicht recht, was sie eigentlich sagen wollte.
»Sind Sie dagegen, dass ein Buch über die Familie Vanger geschrieben wird?«
»Das habe ich nicht gesagt. Und was ich denke, spielt sowieso keine Rolle. Aber ich glaube, dass Sie vielleicht schon dahintergekommen sind, dass es nicht immer so leicht gewesen ist, Mitglied dieser Familie zu sein.«
Mikael hatte keine Ahnung, was Henrik gesagt hatte oder wie viel Cecilia über seinen Auftrag wusste. Er zuckte mit den Achseln.
»Ich habe mit Henrik vereinbart, dass ich eine Familienchronik schreiben werde. Er hat in der Tat sehr eigene Ansichten über manche Familienmitglieder, aber ich werde mich an das halten, was ich auch dokumentieren kann.«
Cecilia lächelte kühl.
»Ich will nur wissen, ob ich ins Exil gehen und emigrieren muss, wenn das Buch rauskommt?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Mikael. »Die Leute werden sich schon ein differenziertes Urteil bilden können.«
»Zum Beispiel über meinen Vater.«
»Ihren Vater, den Nazi?«, fragte Mikael. Cecilia Vanger verdrehte die Augen.
»Mein Vater ist verrückt. Ich treffe ihn nur ein paarmal im Jahr, obwohl wir quasi Wand an Wand wohnen.«
»Warum wollen Sie ihn nicht treffen?«
»Warten Sie, bevor Sie mir jede Menge Fragen stellen - haben Sie vor, mich zu zitieren? Oder kann ich ein normales Gespräch mit Ihnen führen, ohne eine öffentliche Blamage befürchten zu müssen?«
Mikael zögerte und überlegte, wie er seine Antwort am besten formulieren sollte.
»Ich habe den Auftrag, ein Buch zu schreiben, das mit Alexandre Vangeersad beginnt und bis in die Gegenwart reicht. Es wird das Familienimperium über mehrere Jahrzehnte darstellen, aber auch behandeln, warum sich dieses Imperium in der Krise befindet und was für Differenzen es innerhalb der Familie gibt. Es wird unvermeidbar sein, dass dabei auch unangenehme Dinge zur Sprache kommen. Aber das heißt nicht, dass ich ein einseitiges oder hassverzerrtes Bild der Familie entwerfen werde. Ich habe zum Beispiel Martin Vanger als sympathischen Menschen kennengelernt, und so werde ich ihn auch beschreiben.«
Cecilia Vanger schwieg.
»Was ich über Sie weiß, ist, dass Sie Lehrerin sind …«
»Es ist sogar noch schlimmer: Ich bin Rektorin am Gymnasium von Hedestad.«
»Verzeihung. Ich weiß, dass Henrik Vanger Sie mag, dass Sie verheiratet sind, aber in Trennung leben … und das war’s dann auch schon. Sie können mit mir reden, ohne fürchten zu müssen, zitiert oder blamiert zu werden. Aber ich werde sicher eines Tages an Ihre Tür klopfen und Sie um ein richtiges Interview bitten. Dann können Sie sich aussuchen, auf welche Fragen Sie antworten wollen und auf welche nicht.«
»Ich kann also … off the record mit Ihnen reden, wie Sie das nennen.«
»Ja, natürlich.«
»Und das hier ist gerade off the record?«
»Sie sind nur eine Nachbarin, die rübergekommen ist, um Hallo zu sagen und eine Tasse Kaffee zu trinken, weiter nichts.«
»Okay. Dann darf ich Sie jetzt mal was fragen?«
»Nur zu.«
»Inwieweit wird dieses Buch von Harriet Vanger handeln?«
Mikael biss sich auf die Unterlippe und zögerte. Er schlug einen ungezwungenen Ton an.
»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Natürlich kann das leicht ein ganzes Kapitel einnehmen. Es ist ja unbestreitbar ein dramatisches Ereignis.«
»Aber Sie sind nicht hier, um ihr Verschwinden zu untersuchen?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Gunnar Nilsson vier Umzugskartons hier reingeschleppt hat. Das müsste so ungefähr Henriks Sammlung privater Ermittlungsergebnisse entsprechen. Und als ich einen kurzen Blick in Harriets Zimmer warf, wo Henrik die Akten normalerweise verwahrt, waren sie verschwunden.«
Cecilia Vanger war nicht auf den Kopf gefallen.
»Das müssen Sie wirklich mit Henrik besprechen, nicht mit mir«, sagte Mikael. »Aber Henrik hat mir natürlich so einiges über Harriets Verschwinden erzählt, und ich finde es interessant, das Material zu lesen.«
Cecilia Vanger lächelte freudlos.
»Manchmal frage ich mich, wer verrückter ist, mein Vater oder mein Onkel. Ich habe Harriets Verschwinden wohl tausend Mal mit ihm durchdiskutiert.«
»Was glauben Sie, was mit ihr passiert ist?«
»Ist das eine Interviewfrage?«
»Nein«, lachte Mikael. »Reine Neugier.«
»Und ich bin neugierig zu erfahren, ob auch Sie ein Dummkopf sind. Ob Sie Henrik seine Argumentation abgekauft haben oder ob Sie ihn an der Nase herumführen.«
»Sie halten Henrik für einen Dummkopf?«
»Missverstehen Sie mich nicht. Henrik ist einer der warmherzigsten und fürsorglichsten Menschen, die ich kenne. Ich mag ihn sehr gern. Aber in dieser einen Sache ist er wie besessen.«
»Die Besessenheit hat doch einen realen Grund. Harriet ist wirklich verschwunden.«
»Ich habe die ganze Geschichte nur so wahnsinnig satt. Sie hat unser Leben über viele Jahre hinweg vergiftet, und sie nimmt niemals ein Ende.« Sie stand plötzlich auf und schlüpfte in ihre Pelzjacke. »Ich muss gehen. Sie machen einen netten Eindruck. Das findet Martin übrigens auch, aber auf sein Urteil ist nicht unbedingt immer Verlass. Wenn Sie Lust haben, können Sie gerne einmal zu mir auf einen Kaffee vorbeikommen. Abends bin ich fast immer zu Hause.«
»Danke«, sagte Mikael. Als sie zur Haustür ging, rief er ihr nach: »Sie haben mir nicht auf die Frage geantwortet, die keine Interviewfrage war.«
Sie zögerte eine Sekunde an der Tür und antwortete dann, ohne ihn anzusehen: »Ich habe keine Ahnung, was mit Harriet passiert ist. Aber ich glaube, dass es ein Unfall war, der sich so einfach und banal erklären lässt, dass wir völlig verblüfft sein werden, wenn wir irgendwann einmal die Antwort erfahren sollten.«
Sie drehte sich um und lächelte ihn an, zum ersten Mal mit einer gewissen Wärme. Dann winkte sie ihm zu und verschwand. Mikael saß reglos am Küchentisch und dachte darüber nach, dass auch Cecilias Namen in Fettdruck auf seiner Darstellung der Familienmitglieder stand, sie sich also auch auf der Insel befunden hatte, als Harriet verschwand.
War Cecilia Vanger im Großen und Ganzen eine angenehme Bekanntschaft zu nennen, so galt das nicht für Isabella Vanger. Harriets Mutter war fünfundsiebzig Jahre alt und, wie Henrik Vanger ihn gewarnt hatte, eine ungeheuer elegante Frau, die entfernt an eine alternde Lauren Bacall erinnerte. Sie war zierlich, trug einen schwarzen Persianer sowie eine schwarze Pelzmütze und stützte sich auf einen schwarzen Stock, als Mikael ihr eines Morgens über den Weg lief. Er hatte gerade sein Haus verlassen wollen, um in Susannes Café zu gehen. Sie sah aus wie ein alternder Vamp, immer noch bildschön, aber die reinste Giftschlange. Isabella Vanger kehrte anscheinend gerade von einem Spaziergang zurück und rief von der Kreuzung aus nach ihm.