Am nächsten Tag kehrte Swan in Mqarets Labor zurück. Auch diesmal saß er in seinem Büro und starrte ins Leere. Mit einem Mal wurde Swan klar, dass es eine Erlösung war, etwas zu haben, worüber man sich aufregen konnte.
Mqaret erhob sich. »Wie war dein Ausflug mit Wahram?«
»Er ist dumm und ungehobelt und autistisch. Er ist langweilig.«
Mqaret lächelte ein wenig. »Eigentlich klingt das, als ob du ihn interessant findest.«
»Unsinn.«
»Nun ja, ich kann dir versichern, dass Alex ihn interessant fand. Sie hat ziemlich oft von ihm gesprochen. Ein paarmal hat sie durchblicken lassen, dass sie sich mit Dingen beschäftigten, die in ihren Augen von größter Wichtigkeit waren.«
Das brachte Swan ins Grübeln, so wie es Mqaret auch beabsichtigt hatte. »Opa, kann ich mich noch mal in ihrem Arbeitszimmer umschauen?«
»Natürlich.«
Swan ging über den Korridor zu Alex’ Zimmer am anderen Ende, trat ein und machte die Tür hinter sich zu. Durch das einzige Fenster blickte sie hinaus auf die Stadt, die von hier aus wie eine Ansammlung von Dachziegeln und grünem Blattwerk aussah.
Sie ging im Arbeitszimmer umher und schaute sich um. Mqaret hatte hier bisher nichts verändert. Sie fragte sich, ob er das noch tun würde, und wenn, wann. Alex’ Sachen lagen wie eh und je im Zimmer verteilt. Ihre Abwesenheit war eine Art von Anwesenheit, und einmal mehr spürte Swan den Stich des Kummers am ganzen Leib, und sie musste sich setzen.
Nach einer Weile stand sie auf und begann mit einer methodischeren Untersuchung. Wenn Alex ihr etwas hatte hinterlassen wollen, wo würde es sich befinden? Swan hatte nicht die geringste Ahnung. Alex hatte ihre Angelegenheiten immer so weit wie möglich offline geregelt, außerhalb der Cloud, ohne Aufzeichnungen, direkt und in Echtzeit. Sie musste sich also etwas Ausgefallenes überlegt haben. Wie Swan sie kannte, handelte es sich um etwas beiläufig Offensichtliches; eine auf Papier geschriebene Nachricht mitten auf ihrem Schreibtisch zum Beispiel.
Also durchwühlte Swan kleine Papierstapel auf ihrem Schreibtisch, während sie weiter überlegte. Wenn Alex Informationen gehabt hatte, von denen sie wollte, dass Swan sie weitergab, ohne dass Swan dabei zwangsläufig erfuhr, womit sie es zu tun hatte … falls es sich um größere Datenmengen handelte … dann würde es wahrscheinlich nicht nur ein handschriftlicher Brief sein. Und wahrscheinlich würde sie wollen, dass nur Swan und niemand sonst es fand.
Sie begann, im Zimmer auf und ab zu gehen und Selbstgespräche zu führen, während sie sich weiter umsah. Die Kontroll-KI des Zimmers wusste, dass sich nur eine Person im Zimmer befand, und sicherlich konnte man sie so einstellen, dass sie diese Person anhand von Stimme und Netzhaut identifizierte.
Neben dem Arbeitszimmer befand sich eine kleine Toilette mit Waschbecken und Spiegel, die Swan nun betrat. »Ich bin hier, Alex«, sagte Swan traurig. »Wenn du etwas von mir willst, bin ich hier.«
Sie blickte in den Spiegel an der Wand und dann in einen kleinen, ovalen Spiegel am Waschbecken. Sah in ihre traurigen, blutunterlaufenen Augen.
Ein Schmuckkästchen neben dem ovalen Spiegel öffnete sich – Swan machte einen Satz nach hinten und prallte gegen die Wand. Sie riss sich zusammen und warf einen Blick in das Kästchen. Darin befand sich ein Einsatz, in dem der Schmuck lag, darunter fand sie drei kleine weiße Papierumschläge. Bei jedem stand auf einer Seite Im Falle meines Todes. Auf der anderen Seite stand einmal Für Mqaret, einmal Für Swan und einmal Für Wang auf Io.
Mit zitternden Fingern nahm Swan den Umschlag, auf dem ihr Name stand, und riss ihn auf. Zwei kleine Datenstreifen fielen heraus. Einer davon sagte leise: »Swan, Swan, Swan.« Swan hielt ihn sich ans Ohr. Sie hatte die Zähne fest zusammengebissen, und Tränen traten ihr in die Augen.
»Meine liebe Swan, es tut mir so leid, dass du das hören musst«, sagte Alex’ Stimme. Es war, als hörte man einen Geist, und Swan krallte sich die Hand in die Brust.
Die leise Stimme fuhr fort: »Es tut mir wirklich sehr leid, denn wenn du dies hörst, bedeutet das, dass ich nicht mehr bin. Die KI in meinem Zimmer hat von meinem Tod erfahren, und sie weiß, dass sie das Kästchen öffnen soll, wenn du hier alleine hereinkommst. Ein besserer Plan ist mir nicht eingefallen. Ich bedaure es, dich so damit zu überfallen, aber es ist wichtig. Das hier ist eine Art Versicherung, weil ich gewisse Projekte am Laufen habe, die auch im Falle meines Todes weitergehen müssen, und ich möchte niemandem sonst hier von ihnen erzählen. Und weil man in unserem Alter eigentlich jeden Tag abtreten kann, treffe ich lieber meine Vorbereitungen. Wenn du das hier hörst, bedeutet das, dass ich deine Hilfe brauche. Bitte bring den Umschlag für Wang nach Io und händige ihn ihm persönlich aus. Wang, ich und ein paar andere arbeiten gemeinsam an mehreren Projekten von größter Wichtigkeit, die wir vollständig offline zu halten versuchen, was sehr schwer ist, wenn man so weit voneinander weg wohnt. Es wäre mir eine enorme Hilfe, wenn du ihm seinen Umschlag bringst. Aber bitte behalte das ganz für dich. Könntest du außerdem den anderen Chip in deinem Umschlag von Pauline einlesen lassen und ihn anschließend zerstören, als Sicherheitskopie? Beide Dateien kann man nur einmal auslesen. Eigentlich fühle ich mich nicht mal damit wohl. Aber ich weiß, dass du Pauline normalerweise nicht mit anderen Qubes verbindest, und es wäre besser für unseren Plan, wenn du es dabei belässt. Wang wird dir Weiteres erklären, genau wie Wahram vom Titan. Lebe wohl, meine Swan. Ich liebe dich.«
Das war alles. Swan versuchte, es sich erneut anzuhören, aber die Aufzeichnung war inaktiv.
Sie hielt den anderen Streifen an Paulines Membran unter der Haut an ihrem Halsansatz. Als Pauline »fertig« sagte, steckte sie die inaktiven Streifen und die beiden verbleibenden Umschläge in ihre Tasche und ging Mqaret suchen.
Er war in seinem Büro und stocherte in einem 3D-Bild herum, das wahrscheinlich ein Protein darstellen sollte. »Sieh mal, was ich gefunden habe«, sagte Swan. Sie erklärte, was geschehen war.
»Das Kästchen war verschlossen«, sagte Mqaret. »Ich wusste, dass es ihren Schmuck enthielt und dachte, dass ich früher oder später schon über den Schlüssel stolpern würde.«
Er starrte ausdruckslos auf seinen Umschlag. Anscheinend hatte er es nicht eilig, ihn zu öffnen. Vielleicht hatte er sogar ein wenig Angst davor. Swan verließ das Zimmer, um ihm seine Ruhe zu lassen. »Pauline«, sagte sie draußen, »hast du den Inhalt dieses Datenstreifens gespeichert?«
»Ja.«
»Was war darauf?«
»Man hat mich angewiesen, die Informationen auf Wangs Qube auf Io zu übertragen.«
»Sag mir bloß, was er so in etwa enthielt.«
Pauline antwortete nicht, und nach einer Weile fluchte Swan auf sie und schaltete sie ab.
Beide Datenstreifen waren nun inaktiv. Alex’ Geist war fort. Das war vielleicht besser so. Sie zitterte immer noch von dem Schock, den der Klang von Alex’ Stimme bei ihr ausgelöst hatte.
Swan kehrte in Mqarets Büro zurück. Sein Gesicht war weiß, und seine Lippen waren zu einem kleinen Knoten zusammengezogen. Er blickte zu ihr auf.
»Hat sie dir etwas gegeben, was du nach Io mitnehmen sollst?«
»Ja. Weißt du, worum es dabei geht?«
»Nein. Aber ich weiß, dass Alex einen inneren Kreis von Mitarbeitern hatte, der ihr besonders nahestand. Wahram gehörte dazu, und Wang auch.«
»Und was hatten sie für Absichten?«
Mqaret zuckte mit den Schultern. »Mit solchen Sachen hat sie mich in Ruhe gelassen. Aber man hat ihr angemerkt, wie wichtig es ihr war. Ich glaube, es hatte etwas mit der Erde zu tun.«
Swan überlegte. »Wenn es wichtig war und sie darauf geachtet hat, nichts von alledem aufzuzeichnen, dann muss sie gewusst haben, dass ihr Tod Probleme zur Folge haben würde. Deshalb hat sie uns diese Nachrichten hinterlassen.«
»Es war, als hätte ich ihren Geist gehört«, sagte Mqaret zittrig. »Sie hat zu mir gesprochen.«
»Ja«, sagte Swan, die weiter nichts herausbrachte. »Tja. Dann werde ich wohl den dritten Umschlag, den sie hinterlassen hat, nach Io bringen, wie sie es wollte.«
»Gut«, sagte Mqaret.
»Dabei fällt mir ein, dass Wahram mich bereits darum geben hat, ihn dorthin zu begleiten. Und er hat dauernd gefragt, ob sie uns etwas für ihn hinterlassen hätte.«
Mqaret nickte. »Er hat dazugehört.«
»Ja. Und dieser Inspektor auch. Also werde ich ihn wohl begleiten. Aber ich glaube, ich erzähle ihm lieber nichts von den Nachrichten. Davon hat Alex nichts gesagt.«
»Er errät es vielleicht schon deshalb, weil du mitkommst.«
»Lass ihn raten.«
Mqaret kniff die Augen zusammen und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. »Du wirst dir selbst so gut es geht einen Reim auf alles machen müssen. Vielleicht musst du sogar für Alex einspringen und sie bei einigen ihrer Aufgaben ersetzen.«
»Wie soll das gehen? Niemand kann sie ersetzen.«
»Das weißt du nicht. Pauline wird dir helfen, und vielleicht auch dieser Titan. Außerdem – es hätte Alex gefallen, wenn du sie vertrittst.«
»Vielleicht.« Swan war sich da nicht so sicher.
»Alex wird einen Plan gehabt haben. Sie hatte immer einen Plan.«
Swan seufzte, erneut wurde ihr schmerzhaft Alex’ Abwesenheit bewusst. Diese geisterhaften Botschaften waren nicht einmal annähernd ein Ersatz. »Also gut. Ich werde diesen Wang aufsuchen.«
»Gut. Und sei darauf gefasst zu handeln.«
Swan erkundigte sich nach den noch in der Stadt befindlichen Diplomaten von anderen Planeten und begab sich zu der Terrasse, auf der die Gesandtschaft vom Saturn untergebracht war. Als sie den Hof betrat, entdeckte sie sofort Wahram, der sich gerade zu Jean Genette herunterbeugte. Anscheinend berieten sich die beiden. Der Anblick ließ Swan zusammenzucken. Etwas an der Körpersprache von Wahram und Genette verriet, dass sie einander gut kannten. Sie wirkten, als gehörten sie zu einer verschworenen Gemeinschaft.
Mit geröteten Wangen näherte Swan sich den beiden. »Was ist hier los?«, fragte sie forsch. »Ich wusste nicht, dass Sie beide sich kennen?«
Im ersten Moment antwortete keiner der beiden.
Schließlich wedelte Genette mit der Hand. »Fitz Wahram und ich arbeiten bei Systemfragen oft zusammen. Wir haben gerade beschlossen, einen gemeinsamen Bekannten zu besuchen.«
»Wang?«, fragte Swan. »Wang vom Io?«
»Ja, wieso?«, antwortete der Inspektor und schaute neugierig zu ihr auf. »Wang ist ein gemeinsamer Bekannter, und er war auch mit Alex gut bekannt. Wir haben zusammengearbeitet.«
»Wie ich bereits erwähnte«, sagte Wahram mit seiner tiefen, knarzenden Stimme. »Auf dem Rückweg vom Tintoretto-Krater.«
»Ja, ja«, erwiderte Swan bissig. »Sie haben mich gebeten, Sie zu begleiten, ohne mir eine vernünftige Erklärung dafür anzubieten.«
»Tja …« Ein Ausdruck des Unbehagens trat auf das breite Gesicht des Krötenmanns. »Das stimmt, aber wissen Sie, es gibt gute Gründe zur Verschwiegenheit …« Er schaute hilfesuchend zu Genette herunter.
»Ich komme mit«, sagte Swan in den Blickwechsel der beiden hinein. »Ich will mit.«
»Ah«, sagte Wahram mit einem weiteren kurzen Blick zu Genette. »Gut.«