Das dritte Kapitel Meine zukünftigen Eltern lernen sich endlich kennen.

Als die kleine Ida ein junges hübsches Mädchen von sechzehn Jahren geworden war, ging auch sie >in Stellungc. Ihre jüngeren Schwestern, Martha und Alma, waren jetzt groß genug, um der Mutter zur Hand zu gehen. Das Haus wirkte, mit früheren Zeiten verglichen, fast leer. Ida ließ die Eltern und nur fünf Geschwister zurück. Und neue Kindtaufen gab es nicht mehr.

Sie wurde Stubenmädchen. Auf einem Rittergut bei Leisnig. Sie bediente bei Tisch. Sie bügelte die feine Wäsche. Sie half in der Küche. Sie stickte Monogramme in Tisch- und Taschentücher. Es gefiel ihr gut. Und sie gefiel der Herrschaft gut. Bis sie eines Abends dem Rittergutsbesitzer, einem flotten Kavallerieoffizier, allzu gut gefiel! Er wollte zärtlich werden, und da stürzte sie vor Schreck aus dem Hause. Rannte im Finstern durch den unheimlichen Wald und über die Stoppelfelder. Bis sie, tief in der Nacht, weinend bei den Eltern anlangte. Tags darauf holte mein Großvater, mit Pferd und Wagen, den Spankorb der Tochter auf dem Rittergut ab. Der schneidige Offizier ließ sich, zu seinem Glück, nicht blicken.

Nach einiger Zeit fand Ida eine neue Stellung. Diesmal in Döbeln. Bei einer alten gelähmten Dame. Sie diente ihr als Vorleserin, Gesellschafterin und Krankenpflegerin. Kavallerieoffiziere, denen sie zu gut hätte gefallen können, waren nicht in der Nähe.

Dafür aber die älteren Schwestern Lina und Emma! Sie hatten inzwischen geheiratet und wohnten in Döbeln. Beide im gleichen Haus: in der Niedermühle. Das war eine richtige Mühle mit einem großen Wasserrad und hölzernen Wehrgängen. Und der Müller mahlte aus dem Weizen und Roggen, den ihm die Bauern brachten, weißes Mehl, das sie dann, in Zentnersäcken, abholten und den Bäckern und Krämern der Gegend verkauften.

Meine Tante Lina hatte einen Vetter geheiratet, der ein Fuhrgeschäft betrieb, und so hieß sie auch nach der Hochzeit, genau wie vorher, Augustin. Tante Emma, die ein Stockwerk höher wohnte, hieß jetzt Emma Hanns, und ihr Mann handelte mit Obst. Er hatte die endlosen Pflaumen- und Kirschenalleen gepachtet, die, rings um die Stadt, die Dörfer miteinander verbanden. Und wenn sich die Bäume unter der Last der reifen Kirschen und Pflaumen bogen, mietete er viele Männer und Frauen zum Pflücken. Das Obst kam in große Weidenkörbe und wurde auf dem Döbelner Wochenmarkt verkauft.

In manchen Jahren war die Ernte gut. In anderen Jahren war sie schlecht. Die Hitze, der Regen und der Hagelschlag waren des Onkels Feinde. Und oft genug war der Verkaufserlös kleiner als die Pachtsumme. Dann mußte Onkel Hanns Geld borgen, und einen Teil davon vertrank er vor Kummer in den Wirtshäusern.

In solchen Stunden stieg Tante Emma zu Tante Lina hinunter, um ihren Kummer zu klagen. Weil auch das Fuhrgeschäft nicht sonderlich florierte, klagte Tante Lina ihr eignes Leid. So klagten sie zu zweit. Die kleinen Kinder, die in der Stube herumkrochen, ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie weinten im Chor, was das Zeug hielt. Und wenn die Schwester Ida, meine zukünftige Mutter, grad zu Besuch war und das traurige Konzert anhörte, machte sie sich ihre eignen Gedanken. Auch noch auf dem Wege zurück ins Haus der alten gelähmten Dame, der sie bis spät in die Nacht blöde Romane vorlesen mußte. Manchmal schlief sie vor lauter Müdigkeit überm Vorlesen ein und wachte erst wieder, zu Tode erschrocken, auf, wenn die alte Dame wütend mit dem Stock auf den Boden stampfte und die pflichtvergessene Person auszankte!

Was war wohl für ein hübsches, aber armes Mädchen besser? Vor Offizieren davonzulaufen? Gelähmten Damen dumme Bücher vorzulesen und darüber einzuschlafen? Oder sich zu verheiraten und alte Sorgen gegen neue einzutauschen? Hagelwetter gab es überall. Nicht nur dort, wo die Kirschalleen übers Land liefen.

Heutzutage wird ein junges fleißiges Mädchen, wenn das Geld fürs Studieren nicht reicht, Sekretärin, Empfangsdame, Heilgehilfin, Vertreterin für Eisschränke oder Babykleidung, Bankangestellte, Dolmetscherin, Mannequin, Fotomodell, vielleicht sogar, nach Jahren, Leiterin einer Schuhfiliale oder zeichnungsberechtigte Prokuristin einer Zweigstelle der Commerzbank, - das alles gab es damals noch nicht. Schon gar nicht in einer Kleinstadt. Heute gibt es einhundertfünfundachtzig Frauenberufe, hab ich in der Zeitung gelesen. Damals blieb man ein alterndes Dienstmädchen, oder man heiratete. War es nicht besser, in der eignen Wohnung für den eignen Mann als in einem fremden Haushalt für fremde Leute zu waschen, zu nähen und zu kochen?

Die Schwestern in der Niedermühle berieten hin und her. Sie meinten schließlich, eigne Sorgen seien eben doch ein bißchen weniger schlimm als fremde Sorgen. Und so suchten sie, trotz all ihrem Kummer und Ärger, trotz der Arbeit und des Kindergeschreis, in der freien Zeit, die ihnen übrigblieb, für die Schwester Ida einen Bräutigam!

Und da sie zu zweit und sehr energisch suchten, fanden sie auch bald einen Kandidaten, der ihnen geeignet erschien. Er war vierundzwanzig Jahre alt, arbeitete bei einem Döbelner Sattlermeister, wohnte in der Nachbarschaft zur Untermiete, war fleißig und tüchtig, trank nicht über den Durst, sparte jeden Groschen, weil er sich selbständig machen wollte, stammte aus Penig an der Mulde, suchte eine Werkstatt, einen Laden und eine junge Frau und hieß Emil Kästner.

Tante Lina lud den jungen Mann an einigen Sonntagen zu Kaffee und selbstgebacknem Kuchen in die Niedermühle ein. So lernte er die Schwester Ida kennen, und sie gefiel ihm ausnehmend gut. Ein paar Male führte er sie auch zum Tanz aus. Aber er war kein guter Tänzer, und so ließen sie es bald wieder bleiben. Ihm machte das nichts aus. Er suchte ja keine Tänzerin, sondern eine tüchtige Frau fürs Leben und fürs künftige Geschäft! Und dafür schien ihm die zwanzigjährige Ida Augustin die Richtige zu sein.

Für Ida lag die Sache nicht ganz so einfach. »Ich liebe ihn doch gar nicht!« sagte sie zu den älteren Schwestern. Lina und Emma hielten von der Liebe, wie sie in Romanen stattfindet, sehr wenig. Ein junges Mädchen verstehe sowieso von der Liebe nichts. Außerdem komme die Liebe mit der Ehe. Und wenn nicht, so sei das auch kein Beinbruch, denn die Ehe bestehe aus Arbeit, Sparen, Kochen und Kinderkriegen. Die Liebe sei höchstens so wichtig wie ein Sonntagshut. Und ohne einen Extrahut für sonntags komme man auch ganz gut durchs Leben! So wurden Ida Augustin und Emil Kästner am 31. Juli 1892 in der protestantischen Dorfkirche zu Börtewitz getraut. Und im Vaterhaus in Kleinpelsen fand die Hochzeitsfeier statt. Die Eltern und alle Geschwister der Braut und die Eltern und sämtliche Geschwister des Bräutigams waren anwesend. Es ging hoch her. Der Brautvater ließ sich nicht lumpen. Es gab Schweinebraten und Klöße und Wein und selbstgebacknen Streuselkuchen und Quarkkuchen und echten Bohnenkaffee! Und auf das Glück des jungen Paares wurden mehrere Reden gehalten. Man wünschte den beiden viel Erfolg, viel Geld und gesunde Kinder. Man stieß mit den Weingläsern an und war gerührt. Wie das bei solchen Festen üblich ist.

Wenn man sich überlegt, von welchen Zufällen es abhängt, daß man eines Tages in der Wiege liegt, brüllt und man selber geworden ist! Wenn der junge Sattler von Penig nicht nach Döbeln gezogen wäre, sondern beispielsweise nach Leipzig oder Chemnitz, oder wenn das Stubenmädchen Ida nicht ihn genommen hätte, sondern, zum Beispiel, einen Klempnermeister Schanze oder einen Buchhalter Pietsch, wäre ich nie auf die Welt gekommen! Dann hätte es nie einen gewissen Erich Kästner gegeben, der jetzt vor seinem Schreibblock sitzt und euch von seiner Kindheit erzählen will! Niemals!

Das täte mir, bei Lichte betrachtet, sehr leid. Andrerseits: Wenn es mich nicht gäbe, könnte es mir eigentlich gar nicht leidtun, daß ich nicht auf der Welt wäre! Nun gibt es mich aber, und ich bin im Grunde ganz froh darüber. Man hat viel Freude davon, daß man lebt. Freilich auch viel Ärger. Aber wenn man nicht lebte, was hätte man dann? Keine Freude. Nicht einmal Ärger. Sondern gar nichts! Überhaupt nichts! Also, dann hab ich schon lieber Ärger.

Das junge Ehepaar eröffnete in der Ritterstraße in Döbeln eine Sattlerei. Ida Kästner, geborene Augustin, ging, wenn es klingelte, in den Laden und verkaufte Portemonnaies, Brieftaschen, Schulranzen, Aktenmappen und Hundeleinen. Emil Kästner saß in der Werkstatt und arbeitete. Am liebsten verfertigte er Sättel, Zaumzeug, Kumte, Satteltaschen, Reitstiefel, Peitschen und überhaupt alles, was aus Leder für Reit-, Kutsch- und Zugpferde gebraucht wurde.

Er war ein vorzüglicher Handwerker. Er war in seinem Fach ein Künstler! Und die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren zudem für einen jungen Sattlermeister außerordentlich günstig. Es herrschte wachsender Wohlstand, und viele reiche Leute hielten sich Pferd und Equipage oder Reitpferde. Die Brauereien, die Fabriken, die Baufirmen, die Möbeltransporteure, die Bauern, die Großkaufleute und die Rittergutsbesitzer, sie alle brauchten Pferde, und alle Pferde brauchten Lederzeug.

Und in den kleinen Städten ringsum lagen Kavallerieregimenter in Garnison, in Borna, in Grimma, in Oschatz. Husaren, Ulanen, berittene Artillerie, reitende Jäger! Alle hoch zu Roß, und die Leutnants, die Eskadron- und Schwadronchefs auf Eigentumspferden mit besonders elegantem Sattelzeug! Und überall gab es Pferderennen, Reitturniere und Pferdeausstellungen! Heute gibt es Lastautos, Sportwagen, Panzer, damals gab es Pferde, Pferde, Pferde!

Mein zukünftiger Vater war zwar ein erstklassiger Handwerker, ja ein Lederkünstler, aber ein schlechter Geschäftsmann. Und eines hing mit dem ändern eng zusammen. Der Schulranzen, den er mir 1906 machte, war, als ich 1913 konfirmiert wurde, noch genau so neu wie an meinem ersten Schultage. Er wurde dann an irgendein Kind in der Verwandtschaft verschenkt und immer wieder weitervererbt, sobald das jeweilige Kind aus der Schule kam. Ich weiß nicht, wo mein guter alter brauner Ranzen heute steckt. Doch ich würde mich nicht wundern, wenn er nach wie vor auf dem Rücken eines kleinen Kästners oder Augustins zur Schule ginge! Doch das gehört noch nicht hierher. Wir befinden uns ja erst im Jahre 1892. (Und müssen noch sieben Jahre warten, bis ich auf die Welt komme!)

Jedenfalls, wer Schulranzen macht, die nie kaputtgehen, verdient zwar höchstes Lob, aber es ist für ihn und seine Zunft ein schlechtes Geschäft. Wenn ein Kind drei Ranzen braucht, so ist der Umsatz wesentlich höher, als wenn drei Kinder einen Ranzen brauchen. In dem einen Falle würden drei Kinder neun Ranzen brauchen, im ändern Fall einen einzigen. Das ist ein kleiner Unterschied.

Der Sattlermeister Kästner stellte also unverwüstliche Ranzen her, unzerreißbare Mappen und ewige Herren- und Damensättel. Natürlich waren seine Erzeugnisse etwas teurer als anderswo. Denn er verwendete das beste Leder, den besten Filz, den besten Faden und sein bestes Können. Den Kunden gefielen seine Arbeiten weit besser als seine Preise, und mancher ging wieder aus dem Laden hinaus, ohne gekauft zu haben.

Es soll sogar einmal vorgekommen sein, daß ein Husarenrittmeister einen besonders schönen Sattel trotz des hohen Preises kaufen wollte. Aber plötzlich gab mein Vater den Sattel nicht her! Er gefiel ihm selber zu gut! Dabei konnte er nicht reiten und hatte kein Pferd, - ihm war nur eben zumute wie einem Maler, der sein bestes Bild verkaufen soll und lieber hungert, als es fremden Menschen für Geld auszuliefern! Handwerker und Künstler scheinen miteinander verwandt zu sein.

Die Geschichte mit dem Rittmeister hat mir meine Mutter erzählt. Und mein Vater, den ich im vorigen Sommer danach fragte, sagte, es sei kein wahres Wort daran. Aber ich möchte trotzdem wetten, daß die Geschichte stimmt.

Jedenfalls stimmt es, daß er ein zu guter Sattler und ein zu schlechter Geschäftsmann war, um den nötigen Erfolg zu haben. Der Laden ging mäßig. Der Umsatz blieb niedrig. Die Unkosten blieben hoch. Aus kleinen Schulden wurden größere Schulden. Meine Mutter holte ihr Geld von der Sparkasse. Doch auch das half nicht lange.

Im Jahre 1895 verkaufte der achtundzwanzigjährige Sattler Emil Kästner den Laden und die Werkstatt mit Verlust, und die jungen Eheleute überlegten, was sie nun beginnen sollten. Da kam ein Brief aus Dresden! Von einem Verwandten meines Vaters. Alle nannten ihn Onkel Riedel. Er war Zimmermann gewesen, hatte selber lange auf dem Bau gearbeitet und schließlich einen guten Einfall gehabt. Er hatte zwar nicht den Flaschenzug erfunden, wohl aber die nützliche Verwendung des Flaschenzugs beim Häuserbau. Onkel Riedel erfand gewissermaßen den >Großeinsatz< des Flaschenzugs. Er vermietete Flaschenzüge und alle anderen einschlägigen Geräte dutzendweise an kleinere Baufirmen und Bauherren und brachte es damit zu einigem Vermögen.

Was ein Flaschenzug ist, laßt ihr euch am besten von eurem Vater oder einem Lehrer erklären. Zur Not könnte ich’s zwar auch, aber es würde mich eine Menge Papier und Nachdenken kosten. Im Grunde handelte es sich darum, daß die Maurer und Zimmerleute nun nicht mehr jeden Ziegelstein und Balken auf Leitern hochschleppen mußten, sondern am Neubau über ein Rollensystem an Seilen hochkurbeln und in der gewünschten Etagenhöhe einschwenken und abladen konnten.

Damit verdiente also mein Onkel Riedel ganz schönes Geld, und er hat mir später manches Zehn- und goldne Zwanzigmarkstück zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag geschenkt! Ach ja, der Onkel Riedel mit seinen Flaschenzügen, das war ein netter, würdiger Mann! Und die Tante Riedel auch. Das heißt, die Tante Riedel war kein netter Mann, sondern eine nette Frau. In ihrem Wohnzimmer stand ein großer Porzellanpudel am Ofen. Und einen Schaukelstuhl hatten sie außerdem.

Onkel Riedel schrieb also seinem Neffen Emil, er möge doch nach Dresden, der sächsischen Residenzstadt, ziehen. Mit dem eignen Geschäft und größeren Plänen sei es ja nun wohl für längere Zeit Essig. Es gäbe aber andre Möglichkeiten für tüchtige Sattlermeister. So hätten sich beispielsweise die großen bestickten Reisetaschen und die unförmigen Spankörbe völlig überlebt. Die Zukunft, vielleicht auch die des tüchtigen Neffen Emil, gehöre den Lederkoffern! Es gäbe in Dresden bereits Kofferfabriken!

Und so zogen meine zukünftigen Eltern mit Sack und Pack in die königlich-sächsische Haupt- und Residenzstadt Dresden. In die Stadt, wo ich geboren werden sollte. Aber damit ließ ich mir noch vier Jahre Zeit.

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