Unmittelbar nach der Rückkehr zum Orbit Hospital stellte man die Rhabwar mitsamt dem an Bord befindlichen terrestrischen Personal unter strenge Quarantäne und verweigerte der Besatzung den Zutritt zum Hospital. Conway hatte seit der Infektion an Bord weder mit den Besatzungsmitgliedern der Tenelphi noch mit denen des Ambulanzschiffs direkten körperlichen Kontakt gehabt und stand praktisch unter doppelter Quarantäne: Entweder steckte er in einer virusfreien Luftblase, die die Form eines Menschen hatte — im Raumanzug also —, oder er befand sich in einer Kabine, die man in aller Eile so umgebaut hatte, daß sie unabhängig von dem verseuchten Lebenserhaltungssystem des Ambulanzschiffs war.
Bei der die Gesundung der beiden Schiffsbesatzungen fördernden Behandlung traten keine wirklich ernsthaften Probleme auf, da Prilicla und Naydrad Conway dabei assistierten. Als Extraterrestrier waren Prilicla und Naydrad natürlich gegen terrestrische Krankheitserreger immun, und auf diese medizinische Tatsache bildeten sie sich nicht gerade wenig ein. Conways Patienten sprachen auf die Behandlung entweder gut an oder befanden sich bereits auf dem Weg der Genesung, wenn auch in unterschiedlichen Stadien. Auch bei der Unterbringung der beiden Besatzungen gab es keine Schwierigkeiten — die Offiziere der Tenelphi hatte man auf dem Unfalldeck einquartiert, und das Personal des Ambulanzschiffs besaß schließlich eigene Kabinen. Trotzdem war die Rhabwar zeitweilig furchtbar überfüllt — und das oftmals ganze dreiundzwanzig Stunden am Tag.
Das eigentliche Problem war nämlich, daß auf der einen Seite praktisch jeder im Hospital arbeitende Terrestrier und Extraterrestrier einen Grund zum Besuch des Ambulanzschiffs zu finden versuchte, während auf der anderen Seite den Kranken der Zutritt zum Hospital verwehrt wurde.
Während der ersten Woche arbeiteten Ärzte- und Technikerteams gemeinsam rund um die Uhr. Die Techniker spülten die Luftsysteme der beiden Schiffe mit Wasser aus und sterilisierten alles, was mit der infizierten Luft in Berührung gekommen war. Die Ärzte überprüften ununterbrochen die Genesungsfortschritte der Patienten und überwachten diese auch nach erfolgter Heilung, um so sicherzustellen, daß sie keine anderen Wesen der Klassifikation DBDG infizieren konnten. Schließlich gab es noch diejenigen, die nur deshalb an Bord kamen, um sich mit den Patienten zu unterhalten und sich womöglich über Conways Verhalten bezüglich der Vorfälle auf der Einstein zu beschweren.
Zu dieser Gruppe gehörte auch Thornnastor, der elefantenartige Tralthaner und leitende Diagnostiker der Pathologie, der hauptsächlich wegen Murchison kam, die eine Mitarbeiterin seiner Abteilung war. Um sie moralisch aufzubauen, berichtete Thornnastor ihr den neuesten Hospitalklatsch, der auf einigen ET-Stationen ganz besonders farbenfrohe Blüten trieb. Des weiteren bestand dieser Personenkreis aus einer bunten Mischung hochqualifizierter Ärzte und bitter enttäuschter Amateurhistoriker. Diese Besucher wollten mit der Besatzung der Tenelphi über deren Erlebnisse an Bord des Wracks sprechen und Conway tadeln, weil er keine anderen Fundstücke als ein siebenhundert Jahre altes medizinisches Lehrbuch mit zurückgebracht hatte, das obendrein auch noch zu Staub zerfallen war, als man es mit einer heutzutage üblichen Sterilisationstechnik konfrontiert hatte.
Im Innern der sterilen anzugförmigen Luftblase bemühte sich Conway stets eine betont kühle und unbeteiligte Haltung zu bewahren — allerdings nicht immer erfolgreich. Captain Fletcher hingegen, der schon so weit genesen war, daß ihn seiner Überzeugung nach nur noch medizinischer Bürokratismus an der Wiederaufnahme seiner Pflichten hinderte, fiel es noch schwerer, Gleichgültigkeit vorzugaukeln. Besonders dann, wenn sich das Personal der Rhabwar zu den Mahlzeiten versammelte.
„Schließlich sind Sie der Chefarzt und immer noch der ranghöchste Offizier auf diesem Schiff“, stellte der Captain in betrübtem Ton fest, während er über das von den Ernährungswissenschaftlern des Hospitals verordnete ziemlich fade schmeckende Essen herfiel. „Anders als wir sind Sie ja nie Patient gewesen, Doktor. Deshalb hat man Ihnen auch nicht Ihren Offiziersrang mit der Aushändigung eines Krankenhemds genommen. Ich meine, Thornnastor ist als Wesen ja ganz in Ordnung, aber er ist eben ein FGLI, und seine Bewegungen strahlen ungefähr die Grazie und Eleganz eines sechsbeinigen Elefantenbabys aus. Haben Sie eigentlich gesehen, was er mit der Leiter auf dem Unfalldeck und mit Ihrer Kabinentür angestellt hat, Murchison.?“
Fletcher brach ab und lächelte Murchison bewundernd an. Lieutenant Haslam murmelte irgend etwas vor sich hin, wie daß er selbst schon häufig Lust gehabt hätte, die Tür der Pathologin einzutreten, doch der Captain brachte ihn mit einem Stirnrunzeln zum Schweigen. Lieutenant Dodds und Chen blieben als artige rangniedrige Offiziere in respektvoller Weise stumm. Zusammen mit den restlichen anwesenden männlichen Terrestriern der Klassifikation DBDG strahlten sie gedämpfte, angenehme Emotionen aus, die Prilicla als mit dem Drang zur Paarung verknüpft beschrieben hätte. Oberschwester Naydrad, die nur selten eine Störung bei der Nahrungsaufnahme zuließ, nahm von den Äußerungen und Vorgängen keine Notiz und fuhr mit der Einverleibung großer Portionen grüner und gelber Pflanzenfasern fort, die von ihrer Spezies als Nahrung besonders geschätzt wurden.
Der für Emotionen empfängliche Doktor Prilicla, der einfach niemanden ignorieren konnte, schwebte ohne Anzeichen emotionalen Leidens still über der Tischkante. Ganz offensichtlich war der Captain also gar nicht so verärgert, wie er klang.
„… jetzt mal im Ernst, Doktor“, fuhr Fletcher fort. „Es ist ja nicht nur Thornnastor, der sich in nicht für FGLIs bestimmten Schiffsabschnitten wie ein Elefant im Porzellanladen aufführt. Einige andere Extraterrestrier nehmen schließlich auch ganz schön viel Platz ein. Manchmal sitzt jedem einzelnen Besatzungsmitglied der Tenelphi ungefähr ein halbes Dutzend ETs oder Terrestrier zu Füßen und lauscht den Berichten über das, was sie auf diesem Wrack gesehen haben. Aber uns hier vom Ambulanzschiff behandeln die, als hätten wir uns eine besonders entartete Form von Lepra eingefangen. Dabei haben wir uns mit dem gleichen Grippevirus angesteckt wie die Besatzung vom Aufklärungsschiff“
Conway lachte und entgegnete: „Ich kann die Vorbehalte dieser Leute verstehen, Captain. Denen ist schließlich historisches Material von unermeßlichem Wert entgangen, das man schon seit vielen Jahrhunderten unwiederbringlich verloren geglaubt hatte. Das bedeutet, sie haben es gleich zweimal verloren, und deshalb sind sie mir auch doppelt böse, weil ich nicht mit einem ganzen Ambulanzschiff voller Dokumente und Gebrauchsgegenstände von der Einstein zurückgekehrt bin. Ehrlich gesagt, war ich damals sogar in der Versuchung, das zu tun. Aber wer weiß, was ich zusammen mit diesen Dokumenten noch an siebenhundertjährigen Bakterien- und Virusinfektionen mitgebracht hätte, gegen die wir nur geringe oder gar keine Widerstandskräfte besitzen. Dieses Risiko konnte ich einfach nicht eingehen. Und wenn meine Kritiker endlich aufhören, die bitter enttäuschten Amateurhistoriker zu spielen und sich wieder ihren Aufgaben als Ärzte und Diagnostiker dieses Hospitals widmen, dann wird ihnen schon klar werden, daß sie unter solchen Umständen genauso gehandelt hätten wie ich.“
„Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu, Doktor“, erwiderte Fletcher. „Ich hab sowohl für Ihre Probleme als auch für die der Amateurhistoriker vollstes Verständnis. Ich weiß aber auch, daß die sich vorm Verlassen des Schiffs alle einem äußerst gründlichen und — na ja — körperlich höchst unangenehmen Dekontaminierungsverfahren haben unterziehen müssen. Und diese Prozedur sondert mit Ausnahme der Enthusiasten und Masochisten unter den Amateurhistorikern alle anderen aus. Ich wollte lediglich wissen, ob man diesen Leuten auf höfliche Art beziehungsweise überhaupt irgendwie mitteilen kann, daß sie sich von meinem Schiff fernhalten sollen?“
„Nun, unter diesen Leuten sind auch einige Diagnostiker“, antwortete Conway etwas hilflos.
„Also, Sie sagen das so, als wenn das eine Antwort auf meine Frage wäre, Doktor“, erwiderte der Captain mit verblüffter Miene. „Was gibt es denn so Besonderes an einem Diagnostiker?“
Die gesamte Tischrunde hörte auf zu essen und blickte Conway an, der als einziger an Bord außerhalb seiner sterilen Kabine nirgendwo Mahlzeiten zu sich nehmen durfte. Priliclas Schweben wurde ein wenig unruhiger, und Naydrad ließ einen kurzen, unübersetzbaren Nebelhornstoß ertönen, der bei Kelgianern wahrscheinlich einem ungläubigen Schnauben entsprach. Auf Fletchers Frage antwortete aber nicht Conway selbst, sondern Murchison.
„Die Diagnostiker sind tatsächlich etwas ganz Besonderes, Captain“, sagte sie und fügte lächelnd hinzu: „Und auch etwas höchst Eigenartiges. Ihnen ist ja bereits bekannt, daß Diagnostiker das ranghöchste medizinische Personal im Hospital darstellen und daher nicht so ohne weiteres herumkommandiert werden können. Zudem weiß man bei einem Gespräch mit einem Diagnostiker nie so genau, mit wem oder was man eigentlich spricht.“
Wie Murchison weiter erklärte, verfügte das Orbit Hospital zwar über die Ausrüstung zur Behandlung jeder intelligenten Lebensform, aber kein einzelnes Lebewesen konnte auch nur einen Bruchteil der für diesen Zweck notwendigen physiologischen Daten im Kopf behalten. Natürlich eignete man sich durch Übung und Erfahrung chirurgisches Geschick und einen gewissen Grad an diagnostischen Fähigkeiten an, doch das vollständige physiologische Wissen für eine angemessene Behandlung irgendeines Patienten wurde durch das sogenannte Schulungsbandsystem vermittelt. Ein solches Band war nichts anderes als die Aufzeichnung der Gehirnströme einer medizinischen Kapazität, die derselben oder einer ähnlichen Spezies angehörte wie der zu behandelnde Patient.
Wenn zum Beispiel ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten medizinisch zu versorgen hatte, speicherte er bis zum Abschluß der Behandlung eins der DBLF-Schulungsbänder im Gehirn und ließ es anschließend wieder löschen. Die einzige Ausnahme bildeten neben den Diagnostikern die Chefärzte, zu deren Aufgabe auch die Weiterbildung des medizinischen Personals gehörte. Sie mußten häufig ein, zwei Bänder über einen längeren Zeitraum im Kopf behalten und konnten sich allenfalls damit trösten, daß es Diagnostikern noch schlechter erging als ihnen.
Ein Diagnostiker gehörte der geistigen Elite des Orbit Hospitals an. Er war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurde, permanent bis zu zehn Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.
Mit einem Schulungsband wurden einem aber nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingeimpft, sondern auch die gesamte Persönlichkeit und das komplette Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte. Praktisch setzte sich ein Diagnostiker freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus. Die fremden Persönlichkeiten, die seinen Geist scheinbar mit ihm teilten, konnten durchaus unangenehme und aggressive Wesen mit allen Arten von Reizbarkeit und Phobien sein — schließlich sind Genies, ob auf medizinischem oder irgendeinem anderen Gebiet, nur selten freundliche Leute.
Zwar wurde die eigene Persönlichkeit durch ein Schulungsband niemals vollständig unterdrückt, doch wenn man einem Diagnostiker gegenüber einen Wunsch nichtmedizinischer Natur äußerte, hing seine Reaktion stets von dem Fall oder Forschungsprojekt ab, an dem er gerade arbeitete, und wieviel Konzentration er dafür aufwenden mußte. Darüber hinaus war es auch noch eine Frage des Anstands, zunächst einmal herauszufinden, was für eine Persönlichkeit gerade partiell die Kontrolle über das Gehirn des betreffenden Diagnostikers übernommen hatte, bevor man überhaupt einen Ton sagte. Diagnostiker gehörten nicht gerade zu denjenigen, denen man Anweisungen erteilte. Selbst der Chefpsychologe des Orbit Hospitals, O'Mara, mußte sie mit einem gewissen Grad an Besonnenheit behandeln.
„…deshalb können Sie den Diagnostikern leider nicht einfach befehlen, von Bord zu gehen, Captain“, fuhr Murchison fort. „Außerdem werden die Chefärzte, die diese Diagnostiker begleiten, für ihre Anwesenheit hier neben ihrer Neugier sicherlich auch noch vernünftige medizinische Gründe haben. Des weiteren sollten Sie bedenken, daß die Diagnostiker in den letzten zwei Wochen unsere Körper praktisch Zelle für Zelle durchgecheckt haben. Wenn wir ihnen nun nahelegen, die Gespräche mit den Besatzungsmitgliedern der Tenelphi über die Geschichte der Raumfahrt einzustellen, weil das reine Zeitverschwendung ist, würden sie uns womöglich noch gründlicher untersuchen, aber.“
„Bloß das nicht!“ unterbrach Fletcher sie hastig und seufzte. „Aber dieser Thornnastor scheint ja ein ziemlich freundliches Wesen zu sein, wenn auch ein wenig groß und tolpatschig, und er ist unser häufigster Besucher. Könnten Sie ihm nicht vorschlagen, vielleicht nicht ganz so oft und vor allem ohne sein medizinisches Gefolge zu kommen, weil wir dann.?“
Murchison schüttelte entschieden den Kopf. „Thornnastor ist der leitende Diagnostiker der Pathologie und als solcher der Chefdiagnostiker des Orbit Hospitals. Außerdem ist er eine wichtige Nachrichtenquelle, ein Freund und mein Abteilungsleiter. Also, ich freue mich jedenfalls über Thornys Besuche. Sie finden es vielleicht seltsam, daß ein tralthanischer FGLI, ein übergroßer, elefantenartiger, sechsbeiniger warmblütiger Sauerstoffatmer mit vier Greiforganen und schon unanständig vielen Augen Geschmack an einem Gespräch über einen pikanten Klatsch aus der SNLU-Abteilung der Methanstationen findet. Vielleicht wundern Sie sich sogar, wie überhaupt irgend etwas Skandalträchtiges zwischen zwei kristallinen Lebensformen bei minus einhundertfünfzig Grad Celsius vorfallen kann, oder warum deren Freizeitaktivitäten für einen warmblütigen Sauerstoffatmer von solchem Interesse sind. Aber Sie müssen verstehen, Thornys Sympathie für andere ETs und selbst für uns Terrestrier ist einzigartig. Er ist eine der psychisch und physisch stabilsten und ausgewogensten Mehrfachpersönlichkeiten des Hospitals und.“
Fletcher hob beide Hände als Zeichen der Kapitulation und entgegnete: „Und besitzt darüber hinaus auch noch die Fähigkeit, seinem Personal einen — gelinde gesagt — ungewöhnlich hohen Grad an persönlicher Loyalität abzuverlangen. Na gut, Madam, Sie haben mich überzeugt. Was Diagnostiker betrifft, bin ich ab jetzt im Bilde, und ich kann eben nichts dagegen tun, daß diese Leute einfach über mein Schiff herfallen.“
„Leider nicht, Captain“, erwiderte Murchison mitfühlend. „Dagegen könnte nur O'Mara etwas machen. Aber der mag seine Diagnostiker viel zu gern. Einer seiner Lieblingssätze lautet, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden will, schon von vornherein verrückt sein muß.“
Während des Gesprächs zwischen Murchison und Fletcher hatte sich die Beleuchtung in der Schiffskantine fast unmerklich verändert. Der Grund dafür war das Aufflackern des Bildschirms, auf dem jetzt die zerfurchten Gesichtszüge des Chefpsychologen zu sehen waren.
„Wie kann es eigentlich angehen, daß jedesmal, wenn ich ein Gespräch unterbreche, die Leute über mich reden?“ fragte O'Mara griesgrämig. „Aber bitte jetzt keine Entschuldigungen oder Erklärungen, Sie würden ja doch nur meine Leichtgläubigkeit auf die Probe stellen. Conway, Fletcher, ich hab Neuigkeiten für Sie. Doktor, Sie können den Raumanzug ausziehen und Ihre Kabine wieder mit der Klimaanlage des Schiffs verbinden. Sie dürfen auch wieder mit Ihren Kollegen und Kolleginnen essen und sogar in direkten Körperkontakt treten.“ Er lächelte süffisant, sah Murchison aber lieber nicht an. „Das Schiff steht ab sofort nicht mehr unter Quarantäne. Aber offen gesagt, hat diese ganze Angelegenheit eine ernsthafte Schwachstelle in unserer Verfahrensweise bezüglich der Patientenaufnahme offenbart.
Bisher hatten wir immer angenommen, daß neue Patienten oder Verletzte keine Bedrohung darstellen, weil die Krankheitserreger einer x-beliebigen Spezies nicht auf die Angehörigen einer anderen Spezies übertragbar sind — und damit hatten wir auch recht. Da sich jedes raumreisende Wesen selbst nach den kürzesten interplanetarischen Abstechern strengen Gesundheitstests unterziehen muß, haben wir leider zu einer etwas laxen Haltung gegenüber der Ansteckungsgefahr zwischen Angehörigen der gleichen Spezies geneigt. Deshalb sind wir jetzt besonders vorsichtig und gestatten nur der Besatzung der Tenelphi, von Bord zu gehen. Sie müssen leider noch fünf Tage auf der Rhabwar bleiben. Die Besatzung der Tenelphi hat die Grippe ja zuerst bekommen, und die Crew des Ambulanzschiffs ist erst später daran erkrankt. Wenn Sie selbst also in den nächsten fünf Tagen keine Grippe kriegen, Conway, dann gibt es auf Ihrem Schiff logischerweise keine Viren mehr, und Sie und die gesamte Besatzung sind erlöst. Damit Ihnen und Ihren Leidensgenossen aber vor lauter Nichtstun nicht langweilig wird, hab ich einen Auftrag für Sie. Captain Fletcher, die Offiziere und Sie selbst haben den aktiven Dienst ja schon wieder aufgenommen. Wie schnell könnten Sie losfliegen?“
„Inoffiziell sind wir schon seit letzter Woche wieder im aktiven Dienst“, antwortete Fletcher, wobei er sich verzweifelt bemühte, seinen neuerwachten Eifer nicht allzu deutlich zu zeigen. „Das Schiff ist startklar, Major, vorausgesetzt, daß wir sofort damit beginnen können, unseren Vorrat an Lebensmitteln und Medikamenten zu ergänzen, und uns keine übergroßen Extraterrestrier im Weg stehen.“
„Das kann ich Ihnen versprechen“, entgegnete O'Mara.
„… dann könnten wir innerhalb von zwei Stunden starten“, schloß Fletcher.
„Na prima!“ freute sich der Chefpsychologe unverhohlen. „Sie werden zu einer weit am Rande der Galaxis entdeckten Notsignalbake ausrücken, und zwar in Sektor fünf Nach dem gesendeten Signal zu urteilen, ist das keine von unseren Baken, und da draußen fliegen sowieso keine Schiffe der Föderation herum. Wegen der sehr geringen Sternendichte haben wir uns auch noch die Zeit genommen, diesen Abschnitt kartographisch zu erfassen. Wenn es da draußen aber wirklich eine raumreisende Spezies gibt, dann sollten wir deren Karten im Austausch gegen unsere bestimmt kopieren dürfen. Erst recht, wenn Sie einigen dieser Wesen aus der Patsche helfen. Aber vielleicht sollte ich so edle und selbstaufopferungsvolle Charaktere wie Sie lieber nicht auf den Aspekt des beiderseitigen Vorteils bei dieser Angelegenheit hinweisen. Die Koordinaten der Bake werden Sie demnächst vom Kommunikationszentrum erhalten. Wie gesagt, es handelt sich mit nahezu an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine Notsignal, das von einem Schiff einer bisher unentdeckten Spezies stammt.
Und noch etwas, Conway“, beendete O'Mara seine Ausführungen mit ironischem Unterton, „versuchen Sie doch dieses Mal, ruhig ein paar gewöhnliche, von mir aus sogar auch ungewöhnliche Verletzte mitzubringen, aber bitte nicht wieder gleich irgendeine grassierende Epidemie.“
Captain Fletcher vergeudete keine Zeit damit, auf Sprungdistanz zu gehen, weil er diesmal im Gegensatz zur ersten Mission volles Vertrauen in die Fähigkeiten seines Schiffs hatte. Zwar beklagte er sich ein wenig darüber — obwohl seine Beschwerden in Conways Ohren eher wie eine Entschuldigung klangen — wie schon während des ersten Flugs an Unterrichtseinheiten teilnehmen zu müssen, aber man wollte sowohl die Offiziere als auch die medizinischen Mitarbeiter an Bord zumindest in theoretischer Hinsicht dazu befähigen, im Notfall auch Aufgaben außerhalb ihrer Spezialgebiete übernehmen zu können.
Gemäß der für das Ambulanzschiffprojekt bestehenden Direktive mußte Conway die Offiziere in den Grundlagen der ET-Physiologie unterrichten, ihnen also Kenntnisse über den Körperbau, die Muskulatur und das Kreislaufsystem von Aliens vermitteln. Die Offiziere sollten wenigstens so viel über diese Spezialgebiete wissen, daß sie nicht trotz bester Absichten aus Versehen einen extraterrestrischen Verletzten töteten. Unterdessen sollte sich Fletcher bei den medizinischen Mitarbeitern durch Vorträge über seine besonderen Spezialgebiete, die Konstruktion von ET-Schiffen und die vergleichende Technik, revanchieren. Auf diese Weise wollte man grundlegenden Fehlern des medizinischen Teams bei der Bergung eines Patienten aus einem extraterrestrischen Raumschiff vorbeugen.
Fletcher war mit Conway einer Meinung, daß bei diesem Auftrag zwar keine Zeit für die Aufstellung eines Vortragsprogramms bleiben würde, sie so etwas aber für die Zukunft im Hinterkopf behalten sollten. Das Ergebnis war, daß Conway den größten Teil der Hyperraumreise zusammen mit Naydrad, Prilicla und Murchison auf dem Unfalldeck verbrachte und sich fragte, ob sie auf die Aufnahme einer unbekannten Anzahl von Verwundeten einer fremden physiologischen Klasse richtig vorbereitet waren. Auf Fletchers Einladung hin befand er sich allerdings kurz vor dem anstehenden Auftauchen aus dem Hyperraum im Kontrollraum des Schiffs.
„Schiffstrümmer, Sir“, meldete Lieutenant Dodds ein paar Sekunden nach dem Eintauchen der Rhabwar in den Normalraum.
„Das glaube ich einfach nicht.!“ rief Fletcher überrascht aus. Dann fuhr er in etwas ruhigerem Ton fort: „Also, Ihre Astronavigation ist doch viel zu exakt, Dodds. Das kann doch nur reines Glück gewesen sein.“
„Nun, ich weiß nicht, Sir“, entgegnete Dodds grinsend. „Die Entfernung beträgt jedenfalls neunzehn Kilometer. Ich stelle jetzt das Teleskop ein. Wissen Sie, Sir, das hier könnte die schnellste Rettungsaktion seit Beginn der Raumfahrt werden.“
Der Captain gab keine Antwort. Er sah zufrieden und aufgeregt zugleich aus und war — genau wie der zusehende Conway — aufgrund des unverhofften Glücks ein klein wenig mißtrauisch. Der Bildschirm zeigte das Wrack als flimmernden, verschwommenen grauen Fleck, der in der Dunkelheit des Alls schnell um die eigene Achse rotierte. Hier draußen am Rande der Galaxis war die Sternendichte gering, und der größte Teil des herrschenden Lichts kam von der langen, nur schwach leuchtenden Milchstraße, die wie eine Nebelbank wirkte. Plötzlich wurde das Bild zwar heller, dafür aber noch verschwommener, weil Dodds auf die Infrarotempfänger umgeschaltet hatte und man an Bord der Rhabwar jetzt nur noch die Hitzeabstrahlung des Wracks sah.
„Was sagen die Sensoren?“ fragte der Captain.
„Ausschließlich anorganisches Material, Sir“, berichtete Haslam. „Keine Atmosphäre im Schiff. Bezogen auf die Umgebungstemperatur ist das Wrack sehr warm. Was immer dort auch geschehen ist, es muß also erst vor kurzem und als Folge einer Explosion passiert sein.“
Bevor der Captain antworten konnte, meldete Dodds: „Noch ein Trümmerteil, Sir. Ein größeres Stück. Entfernung dreiundachtzig Kilometer. Dreht sich sehr schnell.“
„Geben Sie mir die Kurszahlen für die Annäherung an das größere Trümmerstück“, befahl Fletcher. „Maschinenraum, machen Sie sich für Maximalschüb in fünf Minuten bereit.“
„Noch drei Trümmerteile“, berichtete Dodds. „Groß. Entfernung über einhundertsechzig Kilometer, stark voneinander abweichende Bewegungen.“
„Zeigen Sie mir ein Verbreitungsdiagramm“, sagte der Captain schnell. „Berechnen Sie Kurs und Geschwindigkeit aller Wrackteile, damit wir die ursprüngliche Explosionsstelle ausfindig machen können. Haslam, können Sie mir irgend etwas über die drei Trümmerstücke berichten?“
„Die haben die gleiche Temperatur wie die anderen Teile, Sir“, meldete Haslam. „Aber die drei Stücke befinden sich an der Grenze der Sensorenreichweite, und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, daß sie ganz und gar aus Metall bestehen. Eine Atmosphäre enthält jedoch keins der Teile, nicht einmal Reste davon.“
„Wenn da also organische Substanz drin ist“, folgerte Fletcher mit grimmiger Miene, „lebt sie jedenfalls nicht mehr.“
„Noch mehr Wrackteile, Sir“, meldete Dodds.
Jedenfalls wird das alles andere als eine schnelle Rettungsaktion, dachte Conway. Vielleicht wird es sogar überhaupt keine Rettungsaktion.
Fletcher mußte Conways Gedanken gelesen haben, denn er deutete auf den großen Repeaterschirm und sagte: „Geben Sie die Hoffnung nicht auf, Doktor. Nach den ersten Anzeichen hat es auf diesem Schiff eine verheerende Explosion gegeben, und wegen dieser Katastrophe an Bord wurde automatisch die Notsignalbake ausgesetzt. Dafür ist also kein Überlebender verantwortlich, wenn es überhaupt welche gibt. Aber sehen Sie mal auf den Bildschirm.“
Das Bild auf dem Schirm sagte Conway nicht sehr viel. Er wußte nur, daß der blinkende blaue Punkt die Rhabwar war, wohingegen die alle paar Sekunden auftauchenden weißen Zeichen die Wrackteile darstellten, die vom Rundsichtradar und von den Sensoren aufgespürt wurden. Die feinen gelben, in der Mitte des Bildschirms zusammenlaufenden Linien waren die Flugbahnen der Wrackteile von der Explosionsstelle aus. Aber diese eigentlich einfache Darstellung wurde durch neben jedem Punkt flimmernde, wechselnde oder ständig leuchtende Symbol- und Zahlengruppen völlig verwirrend.
„.für eine Explosion ist die Ausdehnung der Wrackteile ein wenig einseitig“, fuhr Fletcher fort. „Die Verbreitung scheint nicht von einem einzigen Punkt, sondern vielmehr von einer kurzen, leicht gebogenen Linie ausgegangen zu sein, obwohl man das wegen des zu geringen Maßstabs auf dem Bildschirm nicht sehen kann. Darüber hinaus sind es relativ wenige, große Trümmer mit nahezu gleicher Rotationsgeschwindigkeit. Wenn ein Schiff von einer Explosion zerrissen wird, die normalerweise durch eine Funktionsstörung des Reaktors hervorgerufen wird, dann haben die Trümmerstücke eine geringe Größe und drehen sich lediglich mit unbedeutender Geschwindigkeit. Außerdem ist die Temperatur dieser Wrackteile für eine Reaktorexplosion viel zu niedrig, denn wie wir inzwischen wissen, hätte so eine Explosion vor weniger als sieben Stunden stattfinden müssen.
Wahrscheinlich hat es sich um eine Funktionsstörung der Hyperantriebsgeneratoren gehandelt, Doktor, und nicht um eine Explosion“, schloß der Captain.
Conway versuchte, seine Verärgerung über den Vortrag und den leicht herablassenden Ton des Captains zu unterdrücken, da er sich darüber im klaren war, daß Fletcher schließlich nichts für seine akademische Bildung konnte. Wenn einer der beiden zusammengekoppelten Hyperantriebsgeneratoren ausfiel, dann sollte sich der andere automatisch ausschalten, das war Conway bekannt. Das betreffende Schiff tauchte daraufhin schlagartig irgendwo zwischen den Sternen im Normalraum auf Dort trieb es dann herum, bis die Besatzung den defekten Generator repariert hatte oder Hilfe eintraf; denn mit dem normalen Raketenantrieb allein konnte das Schiff nicht zum Ausgangspunkt zurückfliegen. Es hatte aber auch Fälle gegeben, wo die Sicherheitsabschaltung an dem intakten Generator versagte oder den Bruchteil einer Sekunde zu spät ansprach. Das hatte zur Folge, daß ein Teil des Schiffs mit Hypergeschwindigkeit weiterflog, während der Rest ruckartig unter Lichtgeschwindigkeit abgebremst wurde. Die Wirkung auf das betreffende Schiff war im besten Fall nur etwas weniger verheerend als eine Reaktorexplosion — dafür mußte man sich bei der bevorstehenden Rettungsaktion wenigstens nicht über Hitzeverschmelzung, radioaktive Strahlung und die anderen bei einer Reaktorexplosion entstehenden Komplikationen Sorgen machen. Auch die Chance, Überlebende zu finden, war ein klein wenig größer.
„Ich verstehe“, sagte Conway. Dann betätigte er einen Schalter auf dem Pult und teilte über Bordfunk mit: „Unfalldeck, hier Conway. Sie können sich ausruhen. Die nächsten zwei Stunden wird höchstwahrscheinlich nicht viel passieren.“
„Das ist eine sehr genaue Schätzung“, bemerkte Fletcher trocken. „Seit wann sind Sie zum Astronavigator geworden, Doktor? Na ja, ist ja auch egal. Dodds, berechnen Sie den Verbindungskurs zwischen den drei größten Wrackteilen, und geben Sie die Werte auf den Repeaterschirm des Maschinenraums. Chen, wir geben in zehn Minuten Maximalschub. Um Zeit zu sparen, hab ich vor, dicht an den Trümmern vorbeizufliegen, die für Überlebende am ehesten in Frage kommen. Wir werden unsere Fluggeschwindigkeit nur dann verringern, wenn es sich laut Haslams Sensoren oder der empathischen Fähigkeit Doktor Priliclas lohnt. Haslam, bleiben Sie an den Sensoren, und suchen Sie mir noch ein paar Wrackteile mit möglichen Überlebenden heraus. Die sehen wir uns an, sobald wir die ersten drei untersucht haben. Und gehen Sie auch weiterhin die Funkfrequenzen durch, falls ein Überlebender auf diese Art auf sich aufmerksam machen will. Behalten Sie auch das Teleskop im Auge, um eventuelle Lichtzeichen eines Schiffbrüchigen mitzubekomrnen.“
Als Conway das Kommandodeck verließ, um sich wieder nach achtern auf das Unfalldeck zu begeben, entgegnete Haslam gerade mit ruhiger und durchaus respektvoller Stimme: „Ich hab aber nur zwei Augen, Sir, und die lassen sich nicht unabhängig voneinander bewegen.“
Eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten später flog die Rhabwar so nah am ersten Wrackteil vorbei, daß der Besatzung fast das Herz stehenblieb. Die Sensoren hatten bereits negative Ergebnisse geliefert — außer Mobiliar und Verschalungsteilen aus Plastik waren im Wrackteil keine organischen Substanzen vorhanden, und es gab auch keine Atmosphäreblasen, in denen ein Wesen hätte überleben können. Als die Besatzung der Rhabwar einen Traktorstrahl zur Abbremsung der schnellen Drehung auf das Wrackteil zu richten versuchte, stoben die gesamten Trümmerstücke in sämtliche Richtungen auseinander, und die Rhabwar mußte ein gewagtes Ausweichmanöver durchführen.
Nach knapp einer Stunde hatte die Rhabwar das zweite Wrackteil erreicht. Man mußte die Fluggeschwindigkeit herabsetzen, um sich ihm zu nähern, weil sich nach Angabe der Sensoren im Innern des Wracks kleine Atmosphäreblasen befanden sowie nicht zur Konstruktion gehörende organische Substanzen, die jedoch nicht notwendigerweise noch leben mußten. Damit die lockere Trümmermasse nicht auseinanderbrach und die möglicherweise lebensspendenden Luftblasen nicht in den Raum verpufften, riskierte die Besatzung diesmal aber keinen Abbremsungsversuch der Drehung. Statt dessen wurden während des langsamen, vorsichtigen und extrem nahen Anflugs die Aufzeichnungsgeräte für die Sensoren und die Kameras eingeschaltet. Diesen nahen Anflug führte man wegen Prilicla durch, doch der Empath berichtete mit Bedauern, daß keine lebenden organischen Substanzen vorhanden waren.
Bevor sie das dritte Wrackteil erreichten, das wegen seiner Größe für eine Untersuchung am vielversprechendsten schien, blieben ihnen zur Auswertung der Aufnahmen noch drei Stunden Zeit. Im Verlauf dieser Untersuchung erfuhren sie aus der Art, in der die Bauelemente durch den Unfall verbogen und auseinandergerissen worden waren, eine ganze Menge über die Konstruktionsphilosophie der extraterrestrischen Schiffbauingenieure. Von den Abmessungen der Gänge und Kabinen ließ sich auf die Größe der Wesen schließen, die die Schiffsbesatzung gebildet hatten. Man entdeckte Gegenstände, die wie im Wrack eingeklemmte und teilweise verdeckte dicke, vielfarbige Pelzstücke aussahen. Es hätte sich um Bodenbelag oder Bettzeug handeln können, wenn nicht ein paar dieser Stücke durch Gurte gehalten worden wären. Außerdem wiesen viele dieser Pelzstücke rotbraune Farbtupfer auf, die eine sehr große Ähnlichkeit mit geronnenem Blut hatten.
„Nach der Farbe dieser Flecke zu urteilen, ist die Annahme berechtigt, daß es sich um warmblütige Sauerstoffatmer handelt“, sagte Murchison, als sie zusammen mit Conway die Standbilder auf dem Repeaterschirm des Unfalldecks betrachtete. „Aber glaubst du, daß jemand ein solches Unglück überhaupt überleben kann?“
Conway schüttelte zwar den Kopf, bemühte sich aber in optimistischem Ton zu antworten: „Die Flecken auf dem Fell scheinen kaum etwas mit Rißwunden oder Quetschungen zu tun zu haben, die man sich durch heftiges Abbremsen oder einen Aufprall zuzieht. Denn in so einem Fall gräbt sich der ja eigentlich zum Schutz bestimmte Sicherheitsgurt tief in den Körper ein. Obwohl man nach diesen Bildern unmöglich sagen kann, was bei den Körpern oben oder unten ist, befinden sich die Flecken anscheinend bei allen Körpern an der gleichen Stelle. Diese Tatsache deutet auf eine explosionsartige Dekompression und den Austritt von Körperflüssigkeit durch natürliche Öffnungen hin und nicht auf schwere äußere Verletzungen durch plötzliches Abbremsen oder eine Kollision. Zwar hat keins dieser Lebewesen einen Raumanzug getragen, aber wenn einer dieser Raumfahrer schnell genug war, sich einen Anzug anzuziehen, oder aus irgendeinem glücklichen Umstand heraus bereits einen trug, dann müßte er es eigentlich geschafft haben zu überleben.“
Bevor Murchison antworten konnte, wechselte das Bild auf dem Schirm, und das dritte Wrackteil war zu sehen. Gleichzeitig kam die Stimme des Captains aus dem Wandlautsprecher.
„Das hier sieht nach unserem bislang besten Fund aus, Doktor“, berichtete Fletcher aufgeregt. „Das Wrackstück hat keine nennenswerte Drehung, das heißt, wir können, falls nötig, leicht an Bord gehen. Der Nebel, den Sie sehen, besteht nicht nur aus entwichener Luft, sondern setzt sich auch aus verdampftem Wasser und verbrannter Flüssigkeit aus den hydraulischen Systemen des Schiffs zusammen. Falls aus dem Wrack Luft entwichen sein sollte, dann könnte jedenfalls an Bord noch eine ganze Menge davon vorhanden sein. Es scheint auch noch so etwas wie ein Notstromkreis in Betrieb zu sein. Der ist aber ziemlich schwach und versorgt wahrscheinlich die Notbeleuchtung. Wir sollten vielleicht an Bord gehen. Sind Sie alle bereit?“
„Ich bin bereit, Freund Fletcher“, bestätigte Dr. Prilicla.
„Na klar“, versicherte Naydrad.
„Wir sind in zehn Minuten an der Unfalldeckschleuse, Captain“, meldete Conway.
„Für den Fall, daß technische oder konstruktionsbedingte Probleme auftreten sollten, werden Lieutenant Dodds und ich selbst Sie begleiten“, entgegnete der Captain. „Also in zehn Minuten, Doktor.“
Kurz darauf war in der Luftschleuse des Unfalldecks nicht mehr viel Platz, als Captain Fletcher, Lieutenant Dodds, Oberschwester Naydrad mit der bereits aufgeblasenen Drucktragbahre, und die Doktoren Prilicla und Conway mit Fuß- und Handgelenkmagneten an Boden und Wänden der Schleuse hafteten und das Herannahen des Wrackteils beobachteten. Es sah wie ein großes rechteckiges, in Nebel gehülltes Metalldickicht aus, das wiederum von kleineren Metallklumpen umgeben war, von denen einige schnell rotierten, andere hingegen ohne Eigenbewegung umhertrieben. Als Conway nach dem Grund dafür fragte, schwieg der Captain wie jemand, der sich selbst schon dieselbe Frage gestellt hatte, sie jedoch auch nicht beantworten konnte. Also warteten sie, während sich das Ambulanzschifff zwischen zweien der wie wild rotierenden Trümmersatelliten hindurch langsam näher an das Wrack heranschob. Das Licht ihrer Anzugscheinwerfer wurde ebenso wie das der Schiffslampen von der verbeulten Metallhaut und den vorspringenden Bauteilen des Wracks reflektiert. Sie warteten so lange weiter, bis der kleine Cinrussker in seinem Raumanzug auf einmal zu zittern begann.
„Da drinnen ist noch irgend jemand am Leben“, berichtete Prilicla schließlich.
Da die emotionale Ausstrahlung des Überlebenden nur sehr schwach und typisch für ein Gehirn war, das mit jeder Minute in immer tiefere Bewußtlosigkeit versank, war notgedrungen eine zwar eilige, aber dennoch möglichst umsichtige Suche angesagt. Wenn Prilicla nicht mehr vorangehen konnte, zeigte er zumindest den richtigen Weg, und Captain Fletcher und Dodds bahnten dann mit Schneidbrennern einen Pfad durch metallene Hindernisse oder schoben frei herumfliegende Trümmer und verhedderte Kabelstränge mit isolierten Handschuhen beiseite — schließlich war noch ein Stromkreis in Betrieb. Dicht hinter den beiden folgte Conway, der sich in der Schwerelosigkeit mit einer Art schwebendem Kriechen durch nur einen Meter zwanzig hohe Gänge und Schiffsabschnitte voranzog.
Zwar waren die Mitglieder der Schiffsbesatzung größer, gingen aber anscheinend nicht aufrecht.
Zweimal entdeckte Conway im Lichtkegel seines Anzugscheinwerfers die Körper von Besatzungsmitgliedern, die er befreite und sanft den vorhin von ihm selbst genommenen Weg zurückschob, damit die wartende Naydrad die Toten in den nicht unter Druck gesetzten Teil der Bahre legen konnte. Denn sollte der Überlebende eine dringende operative Behandlung benötigen, wäre Conway viel wohler, wenn Murchison ein paar Leichen zum Sezieren hätte, weil sie ihm so sagen könnte, wie er den Lebenden wieder zusammenzuflicken hatte.
Da die Körper der Toten in Raumanzügen steckten, hatte Conway immer noch kein klares Bild von ihrem Aussehen. Darüber hinaus waren die Anzüge und das darunterliegende Zellgewebe durch einen heftigen Zusammenprall mit Metalltrümmern zerrissen worden. Und wenn die daraus resultierenden Wunden die Wesen nicht getötet hatten, dann ganz sicher die Dekompression. Nach den Raumanzügen zu urteilen, hatten diese Wesen die Form von ungefähr einen Meter achtzig langen, abgeflachten Zylindern. Hinter einem kegelförmigen Teil — wahrscheinlich dem Kopf — befanden sich vier Paar Greiforgane sowie vier weitere Gliedmaßen, die zur Fortbewegung dienen mußten. Am vermutlich hinteren Teil des Anzugs war eine deutliche Verdickung festzustellen. Abgesehen von der geringeren Größe und Anzahl der Gliedmaßen, ähnelten die Wesen rein körperlich der Spezies der Kelgianer, zu der auch Naydrad gehörte.
Als sie am Eingang einer noch mit Druck versehenen Kabine anhielten, hörte Conway, wie der Captain irgend etwas über die in den Raumanzügen steckenden Aliens vor sich hin murmelte. Voll konzentriert versuchte Prilicla mit seiner empathischen Fähigkeit den Überlebenden aufzuspüren, der sich irgendwo hinter diesem Abschnitt befinden mußte. Bevor der Captain und Dodds die Tür herausschweißten, bohrte Conway zur Entnahme einer Atmosphäreprobe, die Murchison analysieren sollte, ein Loch hindurch, damit sie das passende Lebenserhaltungssystem für den Überlebenden vorbereiten konnte. Im Innern der Kabine brannte Licht.
Es war ein warmes orangefarbenes Licht, das wichtige Informationen über das Heimatgestirn und die Sehorgane dieser Spezies liefern würde. Aber im Moment beleuchtete es lediglich ein heilloses Durcheinander aus umhertreibendem Mobiliar, verbogener Wandverschalung und einem Gewirr von Rohren und Aliens, die zwar teilweise Raumanzüge trugen, jedoch samt und sonders tot waren.
Plötzlich sah Conway, daß der dickere Abschnitt am hinteren Teil der Raumanzüge zur Aufnahme eines langen pelzigen Schwanzes diente.
„Das hier sind Kollisionsschäden, verdammt noch mal!“ fluchte Fletcher los. „So was hätte ein ausgefallener Hyperantriebsgenerator allein nie anrichten können!“
Conway räusperte sich und sagte: „Captain, Lieutenant Dodds, ich weiß zwar, daß wir keine Zeit haben, um Material für ein größeres Forschungsvorhaben zu sammeln, aber falls Sie so etwas wie Fotografien, Bilder oder Abbildungen sehen sollten, irgendwas, das mir Aufschluß über die Physiologie und die Umweltbedingungen dieser Aliens geben könnte, dann bringen Sie es bitte mit.“ Er suchte eine weitere, nicht allzu stark entstellte Alienleiche heraus, wobei ihm der spitze, fuchsartige Kopf und das dicke, breitgestreifte Fell auffielen, wodurch der Allen wie ein pelziges, kurzbeiniges Zebra mit einem gewaltigen Schwanz aussah. „Naydrad, hier ist noch einer für Sie“, fügte er hinzu.
„Ja, das muß die Lösung sein“, sagte der Captain halb zu sich selbst. An Conway gewandt fuhr er fort: „Doktor, diese Wesen hatten doppeltes Pech, der Überlebende dagegen doppeltes Glück.“
Laut Fletcher hatte der Ausfall des Hyperantriebsgenerators das Schiff auseinandergerissen, wobei die Einzelteile in alle Richtungen zerstreut wurden. Doch in diesem Wrackstück überlebte ein Teil der Besatzung und konnte noch die Raumanzüge anlegen. Vielleicht hatten sie sogar eine Vorwarnung vom Herannahen der zweiten Katastrophe — nämlich daß ihr Wrackteil von einem zweiten Trümmerstück von der gleichen enormen Größe eingeholt wurde. Bei der Kollision mußte das vordere Ende des ersten Wrackteils nach unten, der hintere Teil des zweiten dagegen nach oben geschwungen sein. Dadurch wurde die kinetische Energie der beiden Trümmerstücke aufgehoben, die Teile selbst in den Ruhezustand versetzt und praktisch miteinander verschmolzen. Das war nach Meinung des Captains die einzige Erklärung für die hier entstandenen Verletzungen und Schäden und ebenso für die Tatsache, daß es sich bei diesem Wrackteil um den einzigen nicht rotierenden Abschnitt des Alienschiffs handelte.
„Ich glaube, da haben Sie recht, Captain“, entgegnete Conway und fischte aus den umhertreibenden Trümmern ein flaches Plastikstück heraus, auf dessen einer Seite sich anscheinend eine Landkarte befand. „Aber im Moment ist das alles doch noch nur reine Theorie.“
„Ja, natürlich“, erwiderte Fletcher knapp. „Aber ich hab nun mal was gegen offene Fragen. Doktor Prilicla, wo geht es jetzt lang?“
Der kleine Empath deutete schräg nach oben zur Decke der Kabine und antwortete: „Fünfzehn bis zwanzig Meter in diese Richtung, Freund Fletcher. Aber ich muß Ihnen eine gewisse Verwirrung meinerseits eingestehen. Denn seit wir hier in der Kabine sind, scheint sich der Überlebende langsam zu bewegen.“
Fletcher seufzte laut auf. „Also ein noch bewegungsfähiger Überlebender im Raumanzug“, stellte er mit erleichterter Stimme fest. „Das wird die Rettungsaktion ungemein vereinfachen.“ Er blickte Dodds an, und dann begannen sie gemeinsam, die Deckenplatten aufzuschneiden.
„Nicht unbedingt“, widersprach Conway. „Wir würden nämlich gleichzeitig mit der Rettung auch noch in eine Erstkontaktsituation geraten. Mir ist es viel lieber, wenn unbekannte und verwundete Aliens nicht bei Bewußtsein sind. Dann kann man den Kontakt nach erfolgter Heilbehandlung herstellen und übt größere Kontrolle über den.“
„Doktor“, unterbrach ihn der Captain, „eine raumreisende Spezies mit dem aus dieser Fähigkeit abzuleitenden technischen und philosophischen Wissen wird doch wohl damit rechnen, auf Lebewesen zu stoßen, die in ihren Augen Aliens sind. Und selbst wenn diese Wesen so etwas nicht erwarten, würden sie sich zumindest der hohen Wahrscheinlichkeit für eine Begegnung mit fremden Lebensformen bewußt sein.“
„Gut, zugegeben“, entgegnete Conway. „Aber ein verletzter ET, der nur zum Teil bei Bewußtsein ist, könnte beim Anblick eines Aliens, der körperlich womöglich einem natürlichen Feind oder Raubtier auf seinem Heimatplaneten ähnelt, instinktiv und unlogisch reagieren. Und ein Extraterrestrier, der bei vollem Bewußtsein ist und keinerlei Vorkenntnisse über die ihn behandelnden Wesen besitzt, könnte einen operativen Eingriff oder das, was wir als ärztliche Fürsorge verstehen, als etwas ganz anderes auslegen. Möglicherweise als Folter oder als ein medizinischen Experiment.
Nur allzuoft muß ein Arzt einem Patienten grausame Schmerzen bereiten, obwohl er ihm nur helfen will.“
In diesem Augenblick löste sich ein großer, kreisförmiger Teil der Decke, dessen Ränder von der Hitze der Schneidbrenner noch feuerrot glühten. Dodds und der Captain schoben das herausgeschweißte Stück beiseite und stiegen durch das Loch hindurch.
Prilicla folgte ihnen und sagte: „Es tut mir leid, wenn ich Sie verwirrt hab, meine Freunde. Der Überlebende bewegt sich zwar langsam, liegt aber in viel zu tiefer Bewußtlosigkeit, um sich selbst zu bewegen.“
Die Anzugscheinwerfer leuchteten jetzt einen Raum aus, der an einigen Stellen zum All hin offen war. Hier wimmelte es von herumschwebenden Trümmerstücken, Regalen und Behältern verschiedener Größen und einer Unmenge glänzender Pakete, die wahrscheinlich versiegelte Lebensmittel enthielten. Die Leichname dreier Aliens, die keine Raumanzüge trugen, waren zerfetzt und angeschwollen — ein Folge des Doppeleffekts der beim Zusammenprall erlittenen starken äußerer Verletzungen und der explosionsartigen Dekompression. Durch ein Gewirr von zerfetztem Metall erhellten die Außenstrahler der Rhabwar jene Bereiche der Kabine, die von den Lichtkegeln der Anzugscheinwerfer nicht mehr erfaßt wurden.
„Ist er hier drin?“ fragte Fletcher ungläubig.
„Ja, ganz bestimmt“, bestätigte Prilicla.
Der Empath deutete auf einen großen Metallbehälter, der langsam an der entferntesten Wand entlangtrieb. Das schrankähnliche Gebilde war durch heftige Zusammenstöße mit anderen Metallteilen völlig zerkratzt und zerschrammt. Außerdem hatte es eine wenigstens fünfzehn Zentimeter tiefe Beule. Ein feiner Dunst umhüllte den Behälter und ließ auf das allmähliche Entweichen der im Innern eingeschlossenen Atmosphäre schließen.
„Naydrad!“ rief Conway entschlossen. „Gehen Sie an Bord, und vergessen Sie Ihre Drucktrage. Der Überlebende hat schon für eine eigene gesorgt. Sie verliert allerdings an Druck. Wir werden ihn jetzt in seinem Metallbehälter nach draußen in Ihr Blickfeld schieben. Dann können Sie ihn mit einem Traktorstrahl an Bord ziehen lassen. Aber machen Sie so schnell wie Sie können, Naydrad.“
Während sie den Container durch einen breiten Spalt in der Außenwand des Wracks nach draußen manövrierten, fragte der Captain: „Sollen wir uns hier noch länger nach Informationen über diese Spezies umsehen oder lieber in anderen Wrackteilen nach weiteren Überlebenden suchen, Doktor?“
„Wir werden auch noch woanders nach Überlebenden suchen, Captain, aber erst werden wir den Alien aus seinem Behälter holen“, antwortete Conway ohne Zögern. „Denn mit etwas Glück wird er uns alles erzählen können, was wir über seine Spezies wissen wollen.“
Als der Container aufs Unfalldeck geschafft worden war, untersuchte der Captain den Mechanismus der Verschlußklappe. Nach seinen Worten handelte es sich um einen einfachen Bedienungsmechanismus. Außerdem habe die Stabilität der Klappe und der Rahmenkonstruktion gerade diese Seite des Containers während des Zusammenpralls vor einer Verformung verschont.
„Er meint damit, die Klappe läßt sich öffnen“, übersetzte Dodds trocken.
Fletcher warf dem Lieutenant einen zornigen Blick zu und sagte dann: „Die Frage ist nur, ob wir die Tür öffnen sollen, ohne vorher zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Was meinen Sie, Doktor?“
Conway hörte auf zu bohren und entnahm aus dem Innern des Schranks eine Atmosphäreprobe, bevor er antwortete. „Captain, in diesem Behälter steckt jedenfalls kein terrestrischer DBDG mit Grippe“, entgegnete er, während er Murchison die Probe zur Analyse übergab. „Vielmehr werden wir auf einen ET einer bislang unbekannten Spezies stoßen, der dringend medizinische Hilfe benötigt. Und von extraterrestrischen Krankheitserregern haben wir nichts zu befürchten, das hab ich Ihnen ja schon erklärt.“
„Ich mache mir ja auch nur Sorgen über die Ausnahme, die die Regel bestätigen könnte, Doktor“, erwiderte der Captain hartnäckig. Dennoch öffnete er das Visier an seinem Helm, um so allen zu zeigen, daß er sich nicht allzu große Sorgen machte.
„Doktor Prilicla, bitte in zehn Minuten zur Luftschleuse“, bat Haslams Stimme aus dem Kontrollraum.
Der kleine Empath schwebte kurz über dem Container und versicherte, daß mit der emotionalen Ausstrahlung des Überlebenden keine spürbare Veränderung vorgegangen sei. Er befinde sich noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit, sei aber weit davon entfernt, unheilbar krank zu sein. Dann eilte Prilicla zur Luftschleuse, damit er beim Nahanflüg des Astronavigators an das nächste Wrackteil sagen konnte, ob auch dort drinnen irgend jemand überlebt hatte oder nicht. Als der Cinrussker das Kommandodeck verließ, blickte Murchison vom Bildschirm des Analysators auf.
„Wenn man davon ausgeht, daß die erste Probe aus einer Kabine mit normaler Atmosphärezusammensetzung und normalem Druck stammt, dann könnten wir uns — abgesehen von ein paar harmlosen, in unserer Schiffsatmosphäre nicht enthaltenen Spurenelementen — ziemlich glücklich schätzen, die gleiche Luft zu atmen wie diese Aliens“, berichtete sie. „Die Probe aus dem Schrank hingegen hat nur den halben Normaldruck und einen hohen Kohlendioxid- und Wasserdampfgehalt. Kurz gesagt, die Luft im Schrank ist gefährlich dünn und verbraucht. Je eher wir den Alien dort herausholen, desto besser.“
„Gut“, erwiderte Conway. Er zog den Bohrer zur Entnahme der Proben heraus, ohne dabei das entstandene Loch wieder zu verschließen. Als die Luft des Unfalldecks pfeifend in den Schrank hineinströmte, fügte er hinzu: „Öffnen Sie bitte die Tür, Captain.“
Der Container lag jetzt auf der Rückseite, so daß sich der Verschluß der Öffnungsklappe, eine rechteckige Metallplatte mit drei kegelförmigen Vertiefüngen, oben befand. Fletcher zog einen seiner Handschuhe aus, drückte drei Finger fest in die Einkerbungen und schob die Platte zur Seite. Es klickte laut und Fletcher schwang die Tür nach oben. Im Innern des Schranks lag eine einzige wirre, blutige Masse.
Conway brauchte mehrere Minuten, um das Vorgefallene zu begreifen und die blutdurchtränkte Kleidung oder das Bettzeug um den Überlebenden herum zu entfernen. Der Container hatte früher einmal tatsächlich als Schrank gedient und wohl über zwanzig Regale enthalten. Diese hatte man eiligst herausgezogen und die metallenen Regalträger zum Schutz des Insassen mit Bettzeug oder Kleidungsstücken gepolstert. Aber die Kollision war sehr heftig gewesen, und außerdem hatte man für eine fachmännische Befestigung der Polsterung an den Trägern keine Zeit mehr gehabt. Deshalb waren sowohl die Polsterung als auch der Überlebende im Innern des Schranks durcheinandergewirbelt worden. Der bedauernswerte Alien, der noch immer aus zahllosen Rißwunden blutete, die von den scharfkantigen Regalträgern herbeigeführt worden waren, war fest in eine Ecke des Metallschranks gepreßt worden. Durch die vom geronnenen Blut völlig verfilzten und büschelig gewordenen Pelzhaare hindurch konnte man das buntgestreifte Fell des Aliens kaum noch erkennen.
Murchison und Naydrad halfen Conway, den Überlebenden mit äußerster Vorsicht aus dem Schrank herauszuheben und auf den Untersuchungstisch zu legen. Eine der klaffenden Wunden an der Seite begann wieder stärker zu bluten, aber bisher wußten sie noch nicht genug über das Wesen, um es zu riskieren, eins der üblichen Gerinnungsmittel anzuwenden.
„In seiner Kabine hat es anscheinend keine Raumanzüge gegeben“, sagte Conway, während er den Körper des Aliens mit dem Scanner abtastete. „Aber die Insassen der Kabine müssen ein paar Minuten vor der Kollision Bescheid gewußt haben. Unserem Patienten hier hat die Zeit anscheinend gereicht, den Schrank leerzuräumen, auszupolstern und hineinzusteigen. Die restlichen drei, die wir gesehen haben, hat er in der Kabine zurückgelassen und so dem.“
„Nein, Doktor“, widersprach der Captain. Er zeigte auf den luftdichten Schrank und fuhr fort: „Den kann man nicht von innen öffnen oder schließen. Die vier Aliens müssen sich entschlossen haben, wer von ihnen überleben sollte. Und für dieses Überleben haben sie ihr Bestes getan. Sie haben äußerst schnell und, ich würde sagen, ohne lange Diskussionen gehandelt. Als Spezies scheinen sie sehr. ah. zivilisiert zu sein.“
„Aha“, entgegnete Conway ohne aufzublicken.
Er wußte zwar nicht, ob eins der inneren Organe des Überlebenden stärker verschoben war, doch nach dem Scanner zu urteilen, wies keins der größeren Orgore Verletzungen oder eine vollkommen falsche Lage auf. Das Rückgrat war ebenfalls unverletzt, ebenso wie der langgestreckte Brustkorb. Auf dem Rücken befand sich direkt über dem Ansatz des dicken, pelzigen Schwanzes eine hellrosa Stelle, die Conway zuerst für einen Fleck hielt, an dem das Fell fehlte, aber eine genauere Untersuchung zeigte, daß es sich um ein natürliches Merkmal handelte. Außerdem entdeckte Conway an dieser Stelle große, schuppige Flocken, an denen anscheinend irgendein Farbstoff haftete. Der gegen den Körper gedrückte und vom Schwanz teilweise verdeckte Kopf des Wesens war kegelförmig, mit dichtem Fell besetzt und erinnerte entfernt an ein Nagetier. Der Schädel selbst schien zwar unversehrt zu sein, wies aber an mehreren Stellen Spuren von subkutanen Blutungen auf, die sich bei einem Wesen ohne Gesichtsfell als starke blaue Flecken gezeigt hätten. Auch aus dem Mund des Alien rann etwas Blut, doch Conway konnte sich nicht sicher sein, ob diese Blutung die Folge einer äußeren Einwirkung oder einer durch Dekompression verursachten Lungenverletzung war.
„Helfen Sie mir, ihn in ausgestreckte Lage zu bringen“, bat er Naydrad. „Es sieht so als, als ob er sich zu einer Kugel zusammenzurollen versucht hat. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine instinktive Verteidigungshaltung, die diese Spezies bei der Bedrohung durch natürliche Feinde einnimmt.“
„Genau das ist einer der Punkte, über die ich mir bei diesem Patienten den Kopf zerbreche“, erklärte Murchison, wobei sie von einer der Leichen aufsah, die sie gerade untersuchte. „Soweit ich das beurteilen kann, verfügen diese Wesen nämlich über keine natürlichen Angriffs- oder Verteidigungswaffen und weisen auch keinerlei Anzeichen auf, sie früher einmal besessen zu haben. Bedenkt man die Tatsache, daß dies hier wahrscheinlich die dominante intelligente Lebensform eines Planeten ist, dann verstehe ich nicht, wie sie dominierend werden konnte. Diese Wesen können nicht einmal vor Gefahren fliehen, weil ihre Gliedmaßen keine schnelle Fortbewegung zulassen. Das zum Gehen benutzte Beinpaar ist zu kurz und mit Ballen versehen, während das vordere Paar schlanker und weniger muskulös gebaut ist und in vier extrem beweglichen Zehen endet, die an der Spitze nicht einmal so einen Schutz wie Fingernägel besitzen. Natürlich gibt es da noch die Zeichnung des Fells, aber es geschieht doch äußerst selten, daß eine Lebensform allein durch die Art der Tarnung an die Spitze des Evolutionsbaums klettert. und erst recht nicht, weil sie so lieb und knuddelig ist. Das alles ist wirklich seltsam.“
„Das klingt ja ganz so, als ob dieser Alien von einem Planeten stammte, der für Cinrussker das reinste Paradies wäre“, warf Prilicla ein, der kurz von seinem Dienst an der Luftschleuse zurückgekommen war.
Conway beteiligte sich nicht an dem Gespräch, da er noch einmal die Lunge des Patienten untersuchte. Die leichte Blutung aus dem Mund hatte ihm Sorgen gemacht. Und jetzt, wo sich der Patient für die Untersuchung in der richtigen Lage befand, gab es unverkennbare Anzeichen für Dekompressionsverletzungen in der Lunge. Da der Patient auf den Rücken gelegt worden war, hatten zudem wieder einige der tieferen Rißwunden zu bluten begonnen. Gegen die Lungen Verletzungen konnte Conway mit dem ihm auf dem Ambulanzschiff zur Verfügung stehenden Mitteln nur sehr wenig tun. Zog man aber den geschwächten Zustand des Patienten in Betracht, dann mußte die Blutung schleunigst gestillt werden.
„Weißt du im Moment schon genug über die Zusammensetzung des Bluts, um ein ungefährliches Gerinnungs- und Narkosemittel empfehlen zu können?“ fragte Conway Murchison.
„Ein Gerinnungsmittel wüßte ich, aber beim Anästhetikum hab ich noch Zweifel“, antwortete Murchison. „Damit würde ich gerne noch bis zur Rückkehr ins Hospital warten. Thornnastor könnte bestimmt ein vollkommen sicheres Narkosemittel vorschlagen oder herstellen. Ist es denn sehr dringend?“
Bevor Conway antworten konnte, erwiderte Prilicla: „Ein Anästhetikum ist völlig überflüssig, mein Freund. Der Patient liegt in tiefer Bewußtlosigkeit, und das wird sich auch in nächster Zeit nicht ändern. Sein Zustand verschlechtert sich langsam, wahrscheinlich durch die eingeschränkte Sauerstoffaufnahme der verletzten Lunge. Der Blutverlust trägt sicherlich auch dazu bei. Diese Regalträger im Schrank haben wie stumpfe Messerklingen gewirkt.“
„Das stimmt“, pflichtete ihm Conway bei. „Und falls Sie damit andeuten wollen, daß der Patient so schnell wie möglich ins Hospital gebracht werden sollte, dann bin ich mit Ihnen darin ebenfalls einer Meinung. Aber immerhin schwebt er nicht in akuter Lebensgefahr, und bevor wir von hier abfliegen, möchte ich absolut sichergehen, daß sich hier keine weiteren Überlebenden befinden. Wenn Sie also weiterhin seine emotionale Ausstrahlung überwachen würden und mir jede unerwartete Veränderung seines.“
„Es kommen weitere Wrackteile in Sicht“, unterbrach ihn Haslams Stimme aus dem Wandlautsprecher. „Doktor Prilicla, kommen Sie bitte in die Luftschleuse.“
„Ja, mein Freund“, versicherte er Conway, während er bereits behende an der Decke entlang zur Luftschleuse zurücktrippelte.
Bevor sich Conway an die Behandlung der äußeren Verletzungen des Schiffbrüchigen machen konnte, mußte er noch einen kleineren Aufstand von Naydrad niederschlagen. Wie alle anderen Angehörigen ihrer Spezies — die mit einem sehr schönen, silbernen Pelz ausgestattet war — es getan hätten, äußerte sie ihren tiefen Abscheu gegen jeden chirurgischen Eingriff, der den nach ihrer Ansicht nach kostbarsten Besitz eines Wesens beschädigen oder verunstalten konnte: das Fell. Für einen Kelgianer kam das Entfernen schon eines winzigen Stückchen Pelzes einer persönlichen Tragödie gleich, die nur allzuoft dauerhafte psychische Schäden zur Folge hatte — das Fell stellte für die kelgianische Spezies nämlich ein dem gesprochenen Wort gleichwertiges Kommunikationsmittel dar und wuchs nicht nach. Ein DBLF mit entstelltem Pelz hatte es sehr schwer einen Lebensgefährten zu finden, der bereit war, jemanden zu akzeptieren, der seine Gefühle nur mangelhaft äußern konnte. Murchison mußte der kelgianischen Oberschwester erst zusichern, daß das Fell des Überlebenden weder beweglich noch zur Äußerung von Gefühlen bestimmt war und zweifellos nachwachsen würde, bevor Naydrad zufrieden war. Sie weigerte sich natürlich nicht, Conway bei dem recht harmlosen chirurgischen Eingriff zu assistieren — doch sowohl durch ihre Stimme als auch durch ihr sich kräuselndes und zuckendes Fell verlieh sie bei der Rasur und der Säuberung des Operationsfelds ihrem Protest Ausdruck.
Während Conway auf die kreuz und quer über den Körper des Patienten verteilten Wunden Gerinnungsmittel auftrug und sie dann vernähte, unterbrach Murchison hin und wieder Naydrads Monolog, indem sie die beiden über irgendwelche Einzelheiten informierte, die sie durch die von ihr fortgesetzte Untersuchung und Sezierung der Leichname herausgefunden hatte.
Die Spezies hatte zwei Geschlechter, weiblich und männlich, und das Fortpflanzungssystem schien ziemlich normal zu sein. Im Gegensatz zu dem Patienten, dessen Fell anscheinend etwas stumpfer wirkte und weniger Farbvariationen aufwies, hatten die toten Aliens beiderlei Geschlechts jedoch ein wasserlösliches Färbemittel zur künstlichen Steigerung der Farbintensität der Streifen in ihrem Körperfell benutzt, die sonst genauso wie die des Patienten ausgesehen hätten. Die Farbstoffe waren eindeutig zu kosmetischen Zwecken aufgetragen worden. Doch warum der Patient, oder besser, die Patientin ihr Fell nicht gefärbt hatte, war Murchison allerdings nicht klar.
Ein möglicher Grund konnte die noch nicht voll erlangte Geschlechtsreife der Patientin oder ein ritueller Kult sein, nach dem ein vorpubertärer Angehöriger dieser Spezies keine Kosmetika benutzte oder benutzen durfte. Es konnte natürlich auch sein, daß die Patientin zwar schon erwachsen, aber nur von kleinem Wuchs war, oder einer Gesellschaftsschicht innerhalb der Spezies angehörte, die das Schminken des Fells ablehnte. Eine genauso einleuchtende Erklärung wäre, daß die Katastrophe eintrat, bevor sie die Möglichkeit zum Schminken hatte. Die einzige Substanz, die einem kosmetischen Mittel ähnelte, waren die wenigen Stückchen bräunlicher Pigmentschuppen, die an der nackten Stelle über dem Schwanz der Patientin geklebt hatten, doch diese Substanz war während der präoperativen Maßnahmen entfernt worden. Da ihre Freunde oder vielleicht auch Familienangehörigen die Überlebende kurz vor der Kollision in einen luftdichten Metallschrank gesteckt hatten, glaubte Murchison, daß es sich eher um ein junges und wahrscheinlich vorpubertäres weibliches Wesen als um eine kleinwüchsige erwachsene Frau handelte.
Denn die Föderation war bisher noch nie auf eine intelligente Spezies gestoßen, in der sich die Erwachsenen nicht zur Rettung der Kinder selbst geopfert hätten.
Während sich Conway, Naydrad und Murchison mit einem lebenden und drei toten Aliens befaßten, kam von Zeit zu Zeit Prilicla mit Berichten über den negativen Verlauf der Suche nach weiteren Überlebenden von der Schleuse aufs Unfalldeck. Bei diesen Gelegenheiten teilte er auch gleichzeitig Unerfreuliches über die gerettete Schiffbrüchige mit, deren Zustand sich nach seiner Interpretation ihrer emotionalen Ausstrahlung weiterhin verschlechterte. Conway wartete, bis Prilicla wieder zur Luftschleuse abberufen wurde, und setzte sich erst dann mit Fletcher im Kontrollraum in Verbindung — er wollte seinen cinrusskischen Freund nicht mit dem belasten, was möglicherweise zu einer regelrechten Flut an unangenehmer emotionaler Ausstrahlung seinerseits hätte werden können.
„Captain, ich muß eine wichtige Entscheidung treffen und brauche Ihren Rat“, sagte er. „Wir haben jetzt zwar die Behandlung der äußeren Verletzungen der Patientin erfolgreich abgeschlossen, aber die Lunge ist durch die Dekompression schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Deshalb ist eine Verlegung ins Orbit Hospital dringend erforderlich. Als Übergangsmaßnahme versorgen wir die Patientin mit sauerstoffangereicherter Luft, aber trotzdem verschlechtert sich ihr Zustand — zwar nicht rapide, aber doch stetig. Wenn wir noch weitere vier Stunden in dieser Gegend bleiben würden, wie wären dann Ihrer Meinung nach die Chancen für die Bergung weiterer Überlebender?“
„Praktisch gleich Null, Doktor“ antwortete der Captain.
„Ich verstehe“, entgegnete Conway skeptisch. Er hatte mit einer wesentlich komplizierteren und von Wahrscheinlichkeitsberechnungen und näheren Wortbestimmungen durchsetzten Antwort gerechnet. Jetzt fühlte er sich erleichtert und besorgt zugleich.
„Sie müssen wissen, Doktor, daß bei den drei ersten von uns untersuchten Wrackteilen die Chancen am größten waren, Überlebende zu finden“, führ Fletcher | fort. „Danach hat die Wahrscheinlichkeit für das Aufspüren von Überlebenden stark abgenommen, genauso wie auch die Größe der Wrackteile, die wir uns angesehen haben, von Mal zu Mal geringer geworden ist. | Wenn Sie nicht an Wunder glauben, Doktor, dann vergeuden wir hier nur unsere Zeit.“
„Ich verstehe“, erwiderte Conway, wobei er diesmal etwas weniger skeptisch klang.
„Falls Ihnen das helfen sollte, eine Entscheidung zu treffen, Doktor, kann ich Ihnen sagen, daß die Bedingungen für den Sübraumfünk hier draußen ausgezeichnet sind“, führ der Captain fort. „Mit dem Kontakt- und Vermessungskreuzer Descartes haben wir bereits in beide Richtungen Funkkontakt hergestellt. Wenn Hinweise auf eine unbekannte intelligente Spezies entdeckt werden, ist das meine Pflicht. Wegen der Dringlichkeit dieser Angelegenheit wird die Besatzung der Descartes das Wrack nach allen verfügbaren Daten über die neue Spezies durchforsten und durch eine Analyse der Geschwindigkeiten und Flugrichtungen der Trümmerteile zumindest grob den Abfugpunkt und das Ziel des Alienschiffs bestimmen. Hier draußen gibt es ja relativ wenig Sterne, deshalb müßten die Leute von der Descartes den Heimatplaneten und sein Sternsystem ziemlich leicht ausfindig machen können — schließlich sind die für so etwas Spezialisten. Höchstwahrscheinlich wird die Kontaktaufnahme mit den Aliens schon innerhalb der nächsten paar Wochen gelingen, vielleicht sogar noch eher. Außerdem hat die Descartes zwei Planetenlandefähren an Bord, die man im All sowohl als Such- als auch als Rettungsschiff für Kurzstrecken einsetzen kann. Natürlich haben die nicht Prilicla an Bord, aber mit Hilfe dieser kleinen Schiffe können die restlichen Wrackteile viel schneller durchsucht werden als das durch uns der Fall wäre, Doktor.“
„Wann trifft die Descartes ein?“ fragte Conway.
„Unter Berücksichtigung verschiedenster Unwägbarkeiten beim Auftauchen aus dem Hyperraum bezüglich der Astronavigation spätestens in vier bis fünf Stunden“, antwortete Fletcher.
„Na prima“, entgegnete Conway, wobei er seine Erleichterung gar nicht erst zu verbergen versuchte. „Wenn sich im nächsten Wrackteil keine Überlebenden befinden sollten, dann kehren wir unverzüglich zum Hospital zurück, Captain.“ Er schwieg einen Moment lang, blickte auf die Überlebende und die Leichname ihrer Artgenossen, die es nicht geschafft hatten, und sah dann Murchison an. „Falls die Descartes den Heimatplaneten findet und schnell Kontakt herstellt, richten Sie der Mannschaft aus, sie möge um medizinische Hilfe für unsere Freundin hier bitten“, fügte er hinzu. „Die Crew soll sich nach einem einheimischen Arzt erkundigen, der freiwillig zum Orbit Hospital mitkommt, um dort bei der Behandlung zu assistieren oder die Patientin, wenn nötig, ganz zu übernehmen. Bei Patienten, die uns völlig unbekannten Lebensformen angehören, dürfen wir uns keinen falschen Stolz leisten.“
Conway dachte auch daran, daß ein solcher einheimischer Arzt bestimmt bereit sein würde, sein Wissen für ein Schulungsband zur Verfügung zu stellen, sobald er sich erst einmal an die Vielfalt der Lebensformen im Orbit Hospital gewöhnt hatte. Sollte nämlich noch einmal ein Angehöriger seiner Spezies als Patient eingeliefert werden, würden die Mitarbeiter des Orbit Hospitals auf diese Weise wissen, was sie zu tun hatten.
„Identifizieren Sie sich bitte“, forderte sie eine ausdruckslose Translatorstimme von der Anmeldezentrale auf.
„Patient, Besucher oder Mitarbeiter? Und welche Spezies?“ Die Rhabwar war erst vor wenigen Minuten im Normalraum wieder aufgetaucht, und das Orbit Hospital wirkte aus der Ferne lediglich wie ein recht großer, verschwommener Planet vor einem Hintergrund aus kleineren und helleren Sternen. „Falls Sie sich allerdings wegen körperlicher Verletzungen, geistiger Verwirrung oder Unkenntnis der relevanten Einzelheiten über die genaue physiologische Klassifikation nicht sicher sind oder diese überhaupt nicht angeben können, stellen Sie bitte Sichtkontakt her.“
Conway sah Captain Fletcher an, der die Mundwinkel nach unten zog und gleichzeitig eine Augenbraue hob. Mit diesem Mittel wortloser Verständigung drückte der Captain die Ansicht aus, daß derjenige, der diese medizinische Fachsprache verstand, auch am besten zur Beantwortung der Fragen geeignet wäre.
„Hier spricht Chefarzt Doktor Conway, Ambulanzschiff Rhabwar“, meldete sich Conway in forschem Ton. „An Bord sind Angehörige des Personals und eine Patientin, alle warmblütige Sauerstoffatmer. Die Klassifikationen der Besatzung lauten: terrestrische DBDGs, cinrusskischer GLNO und kelgianische DBLF. Die Patientin ist eine DBPK unbekannter Herkunft. Sie hat Verletzungen davongetragen, die eine dringende Behandlung erfordern und.“
„Sie werden bereits erwartet, Rhabwar, und ich hab Sie hier als Flügverkehr mit Vorrang verzeichnet“, unterbrach ihn die Stimme aus der Anmeldezentrale. „Bitte benutzen Sie Anflügebene rot zwei und folgen Sie den rot-gelb-roten Baken zur Schleuse fünf…“
„Aber Schleuse fünf ist doch eine.“, protestierte Conway.
„.die, wie Sie wissen, Doktor, der Haupteingang zu den Ebenen der wasseratmenden AUGLs ist“, fuhr die Stimme aus der Anmeldezentrale fort. „Die für Ihre Patientin reservierte Unterkunft befindet sich jedenfalls in der Nähe von Schleuse fünf. Außerdem ist die von Ihnen unter diesen Umständen normalerweise benutzte Schleuse drei von über zwanzig verletzten Hudlarern blockiert. Während der Montage einer melfanischen Orbitalfabrik hat sich ein Bauunfall ereignet, bei dem Strahlung freigesetzt worden ist. Aber mir sind zur Zeit nur die medizinischen Einzelheiten bekannt.
Thornnastor hatte zwar keine Ahnung, was für ein Wesen Sie mitbringen würden, hat es aber von vornherein für ratsam gehalten, Ihre Patientin nicht einmal geringster Reststrahlung auszusetzen. Ihre geschätzte Ankunft, Doktor?“
Conway blickte Fletcher fragend an, und der Captain antwortete: „In zwei Stunden und sechzehn Minuten.“
Das wäre reichlich Zeit, um die DBPK-Patientin in die Drucktragbahre zu legen — eine solche Trage gewährleistete die Aufrechterhaltung des Lebenserhaltungssystems eines Patienten und schützte ihn vor dem luftleeren Raum, vor Wasser und einer ganzen Anzahl todbringender Atmosphären. Auch das medizinische Team der Rhabwar konnte in aller Ruhe leichte Anzüge zur Begleitung der Drucktrage anlegen. Die verbleibende Zeit konnte man über Funk den leitenden Diagnostiker der Pathologie, Thornnastor, zu den Vorbefunden bezüglich der überlebenden DBPK und zu den Ergebnissen von Murchisons Untersuchung an den Leichen befragen. Thornnastor würde wahrscheinlich um einen baldigen Transport der Leichen ins Hospital bitten, um durch eine gründlichere Untersuchung ein vollständiges Bild des Stoffwechsels der DBPK-Lebensform zu gewinnen.
Nach dieser kurzen Denkpause übermittelte Conway schließlich die Schätzung des Captains an die Zentrale und fragte, von wem das medizinische Personal der Rhabwar an Schleuse fünf empfangen werden würde.
Die Stimme von der Anmeldezentrale gab eine Anzahl kurzer, unübersetzbarer und bei einem ET wahrscheinlich dem Stottern gleichzusetzende Laute von sich, und fuhr erst dann verständlich fort: „Tut mir leid, Doktor. Nach meinen Instruktionen steht das Personal der Rhabwar genaugenommen noch immer unter Quarantäne und darf das Hospital auf keinen Fall betreten. Aber Sie persönlich dürfen natürlich die Patientin begleiten, vorausgesetzt, Sie öffnen Ihren Anzug nicht. Die Hilfe Ihres Teams wird bei der Behandlung der Patientin nicht gebraucht, Doktor, aber die Vorgänge werden auf den Unterrichtskanälen übertragen. Das Team kann das Ganze also mitverfolgen und, falls notwendig, auch Ratschläge erteilen.“
„Vielen Dank auch“, erwiderte Conway, wobei der sarkastische Unterton in seiner Stimme durch die Übersetzung natürlich verlorenging.
„Keine Ursache!“ entgegnete das Wesen in der Anmeldezentrale. „Und jetzt hätte ich gern den Kommunikationsoffizier gesprochen. Chefdiagnostiker Thornnastor hat um eine direkte Sprechverbindung mit Pathologin Murchison und Ihnen gebeten, um sich mit Ihnen zu beraten und eine vorläufige Diagnose zu stellen.“
Gut zwei Stunden später wußte Thornnastor alles über die Patientin, was man ihm über Funk hatte vermitteln können. Nach dem Andocken wurde sie äußerst behutsam in der Drucktragbahre durch den Bordtunnel der Rhabwar in den höhlenartigen, als Schleuse fünf bezeichneten Landeflughafen gebracht. Neben Conway gestattete man zur Überwachung der emotionalen Ausstrahlung auch Prilicla die Begleitung der Patientin. Die Hospitalleitung hatte schließlich nach einigem Hin und Her eingesehen, daß der kleine Cinrussker kaum den Grippevirus in sich tragen konnte, von dem die Besatzung der Rhabwar befallen worden war. Davon abgesehen war er gegenwärtig der einzig medizinisch qualifizierte Empath im Mitarbeiterstab des Orbit Hospitals.
Das Transportteam der Unfallaufnahme — Terrestrier in leichten Anzügen mit Helmen, Gürteln und Stiefeln in hellblauer Leuchtfarbe — schob die Drucktragbahre sofort zur Innenluke von Schleuse fünf. Während sich langsam die Außenluke schloß, strömte in die noch vor kurzem luftleere Schleuse sprudelndes und kalt dampfendes Wasser. Als sich das Wasser beruhigt hatte und Conway wieder etwas sehen konnte, verfrachtete das Transportteam die Trage ziemlich unsanft in die lauwarmen grünen Tiefen der Station, die zur Behandlung der wasseratmenden Bewohner von Chalderescol diente.
Conway war regelrecht froh, daß die Patientin nicht bei Bewußtsein war. Denn die Chalder, die trotz ihrer enormen Bandbreite an möglichen Erkrankungen nur äußerst selten zur Bewegungsunfähigkeit verdammt waren, schwammen schwerfällig um die Trage herum — wie alle Patienten legten sie bei jedem Anlaß, der die Monotonie des Stationsalltags zu unterbrechen versprach, unverhohlene Neugier an den Tag.
Die AUGL-Station glich einer ausgedehnten Unterwasserhöhle, die für chalderische Augen mit einer Vielzahl einheimischer Kunstpflanzen geschmackvoll dekoriert war, von denen einige offensichtlich fleischfressend waren. Das war jedoch nicht die normale Umwelt der kulturell und technologisch hochentwickelten Bewohner von Chalderescol, sondern die von gesunden jungen Chaldern im Urlaub aufgesuchte Umgebung. Laut Chefpsychologe O'Mara stellte diese primitive Umwelt eine wichtige Hilfe bei der Genesung dar — und der Chefpsychologe irrte sich in solchen Punkten äußerst selten. Doch selbst für einen über die Vorgänge genauestens unterrichteten terrestrischen DBDG wie Conway war dies ein geradezu gespenstischer Ort.
Eine vollkommen neue Lebensform, deren Sprache erst noch in den Übersetzungscomputer des Hospitals eingegeben werden mußte, würde natürlich überhaupt nicht wissen, was sie davon halten sollte — und erst recht nicht bei einer plötzlichen Konfrontation mit einem der AUGL-Patienten.
Ein erwachsener Bewohner von Chalderescol erinnerte an ein zwölf Meter langes Krokodil, das vom relativ überproportionierten Maul bis zum Schwanz gepanzert und in der Mitte von einem Gürtel bandförmiger Tentakel umgeben war. Trotz Priliclas beruhigend wirkender Anwesenheit war es für die innere Ruhe der Patientin besser, wenn sie die bis auf wenige Meter an die Trage heranschwimmenden chalderischen AUGLs nicht sah, die den Neuankömmling in Augenschein nehmen und ihm alles Gute wünschen wollten.
Prilicla schwamm als vage sichtbare insektenartige Gestalt in der silbrig schimmernden Anzugblase ein kleines Stück vor der Gruppe, und da die emotionale Ausstrahlung auf dieser Station gelegentlich explosionsartig anstieg, zitterte er hin und wieder. Conway wußte aus Erfahrung, daß für diese Reaktion weder die Patientin noch die neugierigen AUGLs verantwortlich waren, sondern vielmehr die vom Transportteam ausgehenden Gefühle der Besorgnis, das die Trage an als Betten dienenden Stahlrahmen, medizinischen Geräten und der künstlichen Flora der Station vorbei und durch den wassergefüllten Teil des Korridors dahinter manövrieren mußte. Die Trocken- und Kühlmittel in den leichten Anzügen des Transportteams funktionierten im warmen Wasser der AUGL-Abteilung nicht wie gewohnt. Und wenn in so einer Umgebung ein körperlicher Kraftakt erforderlich wurde, dann schwoll der Zorn der Männer direkt proportional zum Temperaturanstieg im Anzug an.
Die Beobachtungsstation für die neue Patientin war früher Teil des Voruntersuchungsbereichs der Unfallabteilung für warmblütige Sauerstoffatmer gewesen, bevor diese Sektion erweitert und deshalb in die dreiunddreißigste Ebene verlegt wurde. Ursprünglich wollte man den nun freigewordenen Raum als zusätzlichen AUGL-Operationssaal ausstatten, sobald die technische Abteilung diese Aufgabe in Angriff nehmen konnte. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellte er nicht viel mehr als eine große, würfelförmige Luft- und Lichtblase inmitten des gewaltigen Meers der chalderischen Station und der dazugehörigen Versorgungseinrichtungen dar. In der Mitte des Raums stand allerdings ein Untersuchungstisch, der auf die jeweilige Körperform einer großen Bandbreite von Lebewesen verschiedenster physiologischer Klassifikationen eingestellt werden konnte und den man zusätzlich in einen Operationstisch oder in ein Bett verwandeln konnte. An den jeweils gegenüberliegenden Wänden der Station waren die gleichermaßen unspezialisierten und komplizierten Geräte aufgestellt, die man zum Erhalt des Lebens und zur intensiven Betreuung von Patienten benötigte, deren Lebensvorgänge mitunter ein Buch mit sieben Siegeln waren.
Trotz seiner Größe war der Raum zur Zeit überfüllt — und zwar hauptsächlich mit Ärzten, die hier überhaupt nichts zu suchen hatten und nur aus beruflicher Neugier anwesend waren. Conway sah einen der illensanischen PVSJs, die eine membranartige Schuppenhaut besaßen, und dessen weiter Anzug bis auf den in ihm enthaltenen blaßgelben Chlornebel durchsichtig war. Sogar ein TLTU in einer auf Raupenketten montierten Druckkugel war anwesend. Das war für ein Wesen, das unter hohem Druck lebte und extrem heißen Dampf atmete, die einzige Möglichkeit, beruflich mit Patienten und Kollegen mit weniger exotischem Stoffwechsel in Verbindung zu treten. Die restlichen Anwesenden waren warmblütige Sauerstoffatmer — Melfaner, Kelgianer, Nidianer und ein Hudlarer, die außer ihrer Neugier noch eine weitere Gemeinsamkeit hatten: die goldenen oder in Gold eingefaßten Abzeichen, die sie als Diagnostiker und Chefärzte auswiesen.
Nur selten hatte Conway so viele medizinische Kapazitäten auf solch engem Raum konzentriert gesehen.
Sie alle machten bereitwillig Platz, als das Transportteam die Patientin unter Thornnastors persönlicher Aufsicht von der Drucktragbahre auf den Untersuchungstisch legte. Man ließ die Trage geöffnet und rollte sie wieder zum Eingang der Station, damit sie nicht im Weg stand, woraufhin sämtliche Anwesenden an den Untersuchungstisch näher herantraten.
Conway wußte, daß Murchison und Naydrad jetzt auf dem Bildschirm der Rhabwar die von Thornnastor begonnene Voruntersuchung beobachteten, die in jeder Hinsicht mit der schon von Murchison und Conway auf dem Ambulanzschiff durchgeführten identisch war. Der leitende Diagnostiker der Pathologie überprüfte sorgfältig die Lebenszeichen, obwohl sich selbst zu diesem Zeitpunkt noch niemand sicher sein konnte, welcher Puls, Blutdruck und welche Atmungsfrequenz für einen DBPK eigentlich normal war. Danach tastete er die Patientin ausführlich und bis in die Tiefen des Körpers hinein mit dem Scanner ab und führte eine vorsichtige Untersuchung auf körperliche Verletzungen und Deformierungen durch. Für die vielen Ärzte, die über die Unterrichtskanäle zusahen, beschrieb Thornnastor jeden Schritt in allen Einzelheiten und erläuterte sämtliche Befunde und Schlußfolgerungen. Hin und wieder hielt er inne und stellte Murchison auf dem Ambulanzschiff oder Conway auf der Station Fragen, die zumeist den Zustand der Patientin unmittelbar nach deren Bergung betrafen oder um möglicherweise hilfreiche Tips zu bekommen.
Immerhin hatte Thornnastor seine unangefochtene Stellung als Chefpathologe nur erreicht, indem er Fragen gestellt und über deren Antworten nachgedacht hatte, anstatt nur sich selbst zuzuhören.
Schließlich beendete Thornnastor die Untersuchung. Der Chefdiagnostiker richtete seinen gewaltigen Körper zu voller Größe auf, wobei das knöcherne Schädeldach über dem Gehirn fast vollständig zwischen den Wölbungen der drei riesigen Schultern verschwand. Die vier Stielaugen, die wie ein Teleskop ausgefahren werden konnten, betrachteten gleichzeitig die Patientin, die um den Untersuchungstisch stehenden Ärzte und die aufgestellten Kameras, durch die Murchison und Naydrad an Bord der Rhabwar und die restlichen, nicht anwesenden Zuschauer die Vorgänge mitverfolgten. Dann teilte er seine Erkenntnisse mit.
Die schwersten Verletzungen hatte die Lunge der Patientin davongetragen, in der durch die Auswirkungen der Dekompression Zellgewebe geplatzt und ausgedehnte Blutungen hervorgerufen worden waren. Thornnastor beabsichtigte, diese Situation zu entschärfen, indem er mittels eines kleineren chirurgischen Eingriffs die Flüssigkeit durch die Brusthöhle absaugen wollte. Zusätzlich hatte er vor, einen Luftröhrenschnitt vorzunehmen, um so durch Zuführ von reinem Sauerstoff die Atmung der Patientin zu unterstützen. Für warmblütige Sauerstoffatmer stand dem Orbit Hospital zwar ein breitgefächertes Angebot an Medikamenten zur Regeneration von Zellgewebe zur Verfügung, aber um herauszufinden, welches dieser Mittel für die DBPK-Spezies geeignet gewesen wäre, hätten aufwendige Tests vorgenommen werden müssen, die wenigstens zwei Tage in Anspruch genommen hätten. Ohne einen sofortigen chirurgischen Eingriff würde die Patientin aber nicht mehr länger als zwei Stunden leben. Bei keiner der von Thornnastor vorgeschlagenen Maßnahmen handelte es sich um langwierige Prozeduren, und die damit verbundenen Schmerzen würden minimal sein. Da nach Priliclas Worten die Patientin zudem in zu tiefer Bewußtlosigkeit lag, um überhaupt Schmerzen empfinden zu können, wollte der Chefpathologe mit der Assistenz eines melfanischen Chefarztes und einer kelgianischen Operationsschwester unverzüglich mit dem Eingriff beginnen.
Unter Berücksichtigung des Zustands der Patientin hielt Conway das ebenfalls für die einzig richtige Maßnahme. Es ärgerte ihn allerdings, daß die Operation ohne seine Assistenz durchgeführt werden sollte, schließlich hatte er bereits Erfahrungen mit der DBPK-Lebensform gesammelt. Aber dann konnte er dem respektvollen Geflüster der Zuschauer entnehmen, daß es sich bei dem assistierenden melfanischen Chefarzt um Edanelt handelte, der unwidersprochen als einer der besten ET-Chirurgen des Orbit Hospitals galt. Edanelt hatte ständig vier Schulungsbänder im Kopf gespeichert und stand Gerüchten zufolge kurz vor der Beförderung zum Diagnostiker. Wenn ein Chirurg vom Rang eines Edanelt zum Assistieren gerade gut genug war, dann sollte Conway wenigstens dazu in der Lage sein, bei der Operation auch ohne die Ausstrahlung von allzu großen Neidgefühlen zuzusehen.
Trotz der vielen hundert, von Tralthanern durchgeführten Operationen, die Conway schon mitverfolgt hatte, wunderte er sich immer wieder, wie solch eine riesige und körperlich unbeholfene Spezies die besten Chirurgen der Föderation hatte hervorbringen können. Die DBPK-Patientin ahnte gar nicht, was für ein Glück sie hatte. Denn im Orbit Hospital sagte man, daß kein auch noch so hoffnungslos erkranktes Wesen jemals verloren war,
wenn es unter der persönlichen Obhut von Thornnastor stand. Der Diagnostiker selbst soll einmal dazu gesagt haben, daß so etwas schon deshalb vollkommen undenkbar sei, weil davon überhaupt nichts in seinem Vertrag stünde.
„Sie kommt wieder zu Bewußtsein“, meldete Prilicla keine zehn Minuten nach Beendigung der Operation plötzlich. „Und zwar sehr schnell.“
Thornnastor gab einen geräuschvollen und unübersetzbaren Laut von sich, der wahrscheinlich Freude und Genugtuung ausdrückte, und sagte dann: „Ein so schnelles Ansprechen auf die Behandlung läßt eine vielversprechende Prognose zu und deutet meiner Meinung nach auf eine frühzeitige Genesung der Patientin hin. Aber wir sollten ein bißchen weiter vom Tisch zurücktreten. Denn obwohl ein Angehöriger einer raumreisenden Spezies an den Anblick anderer Lebensformen gewöhnt sein sollte, könnte unsere Patientin in ihrem geschwächten Zustand durch die unmittelbare Nähe einer Gruppe solch großer und unterschiedlicher Wesen wie uns doch einen gehörigen Schrecken bekommen. Meinen Sie nicht auch, Doktor Prilicla.?“
Aber der kleine Empath hatte zu einer Antwort keine Gelegenheit mehr, denn die Patientin öffnete gerade die Augen und kämpfte so gewaltsam gegen die Körpergurte an, daß der in der Luftröhre steckende Schlauch herauszurutschen drohte.
Instinktiv griff Thornnastor über die Patientin, um den Luftschlauch festzuhalten, doch dadurch geriet die DBPK in nur noch größere Panik. Ihre Angst war so groß, daß der für Emotionen empfängliche und an der Decke haftende Prilicla durch sein ungemein heftiges Zittern Gefahr lief abzustürzen. Plötzlich versteifte sich die Patientin und blieb mehrere Minuten lang vollkommen regungslos liegen. Aber als der Cinrussker Mitgefühl und Beruhigung ausstrahlte, entspannte sie sich allmählich wieder.
„Danke schön, Doktor Prilicla“, sagte Thornnastor. „Wenn wir die Verständigung hergestellt haben, werde ich mich wohl bei der Patientin entschuldigen müssen, daß ich sie fast zu Tode erschreckt hab. Versuchen Sie ihr in der Zwischenzeit unser Wohlwollen klarzumachen.“
„Natürlich, Freund Thornnastor“, entgegnete der Empath. „Mittlerweile empfindet sie keine panische Angst mehr, sondern ist eher besorgt. Sie scheint über irgend etwas zutiefst beunruhigt zu sein, das ich.“ Prilicla brach den Satz ab und fing wieder heftig zu zittern an.
Dann geschah etwas vollkommen Unmögliches.
Thornnastor geriet auf seinen sechs stämmigen Beinen, die den Angehörigen der tralthanischen Spezies normalerweise einen so festen Stand gaben, daß sie häufig sogar im Stehen schliefen, gehörig ins Schwanken, dann stürzte er kopfüber auf die Seite, wobei das dadurch entstandene Geräusch Conways Anzugmikrofon total überlastete. Ein paar Meter vom Behandlungstisch entfernt, sank der Melfaner Edanelt, Thornnastors Assistent, langsam zu Boden. Seine sechs mit vielen Gelenken versehenen Beine wurden zunehmend schlaffer, bis er schließlich mit der Unterseite seines Ektoskelett geräuschvoll auf den Boden schlug. Auch die kelgianische Operationsschwester war zu Boden geglitten, während der silbrige Pelz auf dem langen, zylindrischen Körper wogte und Falten warf, als würde über ihn ein kleiner Wirbelstum toben. Ein neben Conway stehendes Mitglied des Transportteams fiel kraftlos auf Hände und Knie, kroch noch ein kurzes Stück über den Boden, rollte schließlich auf die Seite und krümmte sich zusammen. Aus Conways Translator kam jetzt kein einziges verständliches Wort mehr, da viel zu viele ETs gleichzeitig sprachen und die Terrestrier sie noch zu übertönen versuchten.
„Das kann doch einfach nicht wahr sein. “, rief er ungläubig.
Aus dem Kopfhörer in seinem Helm ertönte Murchisons Stimme über die Schiffsfrequenz. „Drei extraterrestrische Lebensformen und ein terrestrischer DBDG mit vier grundlegend verschiedenen Metabolismen und automatischer Immunität gegenüber Krankheiten anderer Spezies. das ist gleich vierfach unmöglich! Soweit ich sehen kann, gibt es keine Anzeichen dafür, daß die anderen im Raum anwesenden Wesen betroffen sind.“
Selbst bei der Beobachtung des Unmöglichen blieb Murchison kühl und sachlich.
„…aber es ist nun mal geschehen“, setzte Conway sein Selbstgespräch fort. Er drehte den Außenlautsprecher des Anzugs lauter und sagte mit fester Stimme: „Hier spricht Chefarzt Conway. Ich gebe Ihnen jetzt folgende Anweisungen: Alle Mitglieder des Transportteams schließen sofort ihre Helme. Teamleiter, geben Sie Kontaminierungsalarm Stufe eins. Alle anderen entfernen sich unverzüglich von der Patientin.“ — wie Conway sah, taten sie das jedoch bereits in an Panik grenzender Eile —, „…diejenigen, die schon einen Schutzanzug tragen, bleiben hier. Die ungeschützten Sauerstoffatmer begeben sich zur Drucktragbahre und schließen sich dort zusammen mit so vielen anderen wie möglich luftdicht ein. Alle dann noch Übriggebliebenen benutzen die Atemmasken und Sauerstoffvorräte der Beatmungsmaschinen auf der Station. Es scheint sich um irgendeine durch die Luft übertragene Infektion zu handeln.“
Als auf dem Hauptbildschirm der Beobachtungsstation die zornigen Gesichtszüge des Chefpsychologen aufflammten, brach Conway ab. Während O'Mara sprach, konnte Conway im Hintergrund das ständig wiederholte, aus einem langen und zwei kurzen Huptönen bestehende Signal der Notsirene hören, das den Worten des Chefpsychologen zusätzliche Dringlichkeit verlieh.
„Warum, zum Teufel, melden Sie da unten eine lebensbedrohliche Verseuchung, Conway? Verdammt noch mal, bei Ihnen kann gar keine Verseuchung der Luft oder des Wassers stattgefunden haben, es sei denn, die ganze Station ist überflutet und Sie alle ertrinken gerade. Aber dafür kann ich überhaupt keine Anzeichen erkennen!“
„Einen Moment“, bat Conway. Er kniete gerade neben dem zu Boden gestürzten Mitglied des Transportteams und tastete mit der Hand durch das offene Helmvisier an der Schläfenarterie nach dem Puls. Schließlich fand er ihn, ein schnelles, unregelmäßiges Pochen, das ihm überhaupt nicht gefiel, und er verschloß sofort das Visier des Mannes. „Vergessen Sie nicht,
sämtliche nicht von den Masken bedeckte Atemöffnungen wie Nasenlöcher, die Kiemen der Melfaner und die Sprechöffnung bei den Kelgianern zu verschließen“, sagte Conway zu den Anwesenden auf der Station. „Und Sie da, der illensanische Arzt! Würden Sie Thornnastor und den Melfaner Edanelt untersuchen? Schnell, bitte! Prilicla, wie geht es der Patientin?“
Der Chloratmer watschelte sofort zum umgestürzten Thornnastor. „Ich heiße übrigens Gilvesh, Conway“, sagte er, wobei sein transparenter Anzug laut raschelte. „Aber für mich sehen die DBDGs auch alle gleich aus, deswegen sollte ich wohl nicht beleidigt sein.“
„Entschuldigen Sie, Gilvesh“, erwiderte Conway schnell. Die chloratmenden Illensaner galten allgemein als optisch abstoßendste und gleichzeitig körperlich eitelste Spezies der Föderation. „Eine schnelle Diagnose, bitte. Für andere Sachen haben wir jetzt keine Zeit. Was ist mit Thornnastor passiert, und worin bestehen die unmittelbaren physiologischen Auswirkungen?“
„Mein Freund“, meldete sich der immer noch heftig zitternde Prilicla zu Wort. „Der DBPK-Patientin geht es schon viel besser. Sie strahlt zwar noch Verwirrung und Beunruhigung aus, dafür aber keine Furcht mehr und nur noch minimales körperliches Unbehagen. Dagegen macht mir der Zustand der vier Kollegen große Sorgen. Aber leider ist deren emotionale Ausstrahlung wegen des hohen Emotionspegels auf der Station für eine genaue Bestimmung zu schwach.“
„Aha“, erwiderte Conway. Er wußte, daß es der kleine Empath niemals über sich bringen würde, die emotionalen Unzulänglichkeiten anderer Wesen auch nur ansatzweise zu kritisieren. „Achtung, alle mal herhören!“ führ er fort. „Abgesehen von den vier bereits betroffenen Wesen, gibt es keine unmittelbaren Anzeichen für eine weitere Ausbreitung der Krankheit, Infektion oder was auch immer. Ich würde sagen, alle, die durch die Hülle des Druckzelts geschützt sind oder durch eine Maske atmen, sind im Moment sicher. Also beruhigen Sie sich bitte! Wir sind darauf angewiesen,
daß uns Prilicla mit einer schnellen Diagnose der Beschwerden Ihrer Kollegen hilft. Die kann er aber nicht stellen, wenn Sie alle Ihren Emotionen freien Lauf lassen.“
Während Conway diese Bitte vorbrachte, löste sich Prilicla von der Decke und flatterte mit seinen schimmernden Flügeln zu der kelgianischen Operationsschwester hinüber, die zur Zeit nur noch wie ein silbriger Fellhaufen aussah. Er zog seinen Scanner heraus und untersuchte damit den Körper der Kelgianerin. Gleichzeitig bemühte er sich, die emotionale Ausstrahlung der DBLF-Raupe aufzuspüren, zu isolieren und zu bestimmen. Doch während dieser Aktion zitterte Prilicla nicht mehr.
„Keine Reaktion auf körperliche Stimulierung“, berichtete Gilvesh von der Untersuchung Thornnastor s. „Normale Temperatur, Atmung aktiv, Herztätigkeit schwach und unregelmäßig, die Augen reagieren zwar noch auf Licht, aber. das ist merkwürdig, Conway. Offensichtlich ist die Lunge stark in Mitleidenschaft gezogen worden, aber die auslösenden Faktoren sind mir völlig unklar. Außerdem beeinträchtigt der daraus resultierende Sauerstoffmangel die Herz- und Gehirntätigkeit. Ich kann allerdings weder Anzeichen von Lungengewebeschäden entdecken, die durch das Einatmen ätzender oder hochgiftiger Substanzen entstanden sind, noch irgend etwas, das auf die Aktivierung von Thornnastors Immunsystem hinweist. Die Muskeln sind nicht angespannt und üben keinerlei Widerstand aus. Die willkürlichen Muskeln scheinen sogar vollkommen entspannt zu sein.“
Ohne den leichten Anzug zu öffnen, hatte Conway mit dem Scanner die oberen Atemwege, die Luftröhre, die Lunge und das Herz des Mitglieds des Transportteams untersucht und war zu genau den gleichen Ergebnissen gekommen. Aber bevor er noch etwas sagen konnte, schilderte Prilicla bereits die Untersuchungsergebnisse bezüglich der Kelgianerin.
„Meine Patientin zeigt die gleichen Symptome“, berichtete er. „Flache und unregelmäßige Atmung, der Herzschlag ist kurz vorm Flattern, die Bewußtlosigkeit wird immer tiefer, und es sind alle physischen und emotionalen Anzeichen von Atemnot vorhanden. Soll ich Edanelt auch untersuchen?“
„Das mache ich schon“, sagte Gilvesh schnell. „Prilicla, gehen Sie bitte zur Seite, damit ich nicht auf Sie drauftrete. Conway, meiner Meinung nach brauchen die vier so bald wie möglich eine Intensivbehandlung, und die Atmung muß sofort unterstützt werden.“
„Der Meinung bin ich auch, Freund Gilvesh“, pflichtete ihm der wieder zur Decke flatternde Empath bei. „Der Zustand aller vier Wesen ist außerordentlich ernst.“
„Gut“, entgegnete Conway knapp. „Teamleiter! Bringen Sie Ihren Mann, die DBLF-Raupe und den ELNT soweit wie möglich von der Patientin weg, aber in die Nähe eines Auslaßventils der Sauerstoffversorgung. Doktor Gilvesh wird das Anpassen der richtigen Atemmasken überwachen. Lassen Sie bitte den Anzug Ihres Teammitglieds versiegelt, und erhöhen Sie die interne Sauerstofffversorgung auf fünfzig Prozent. Was Thornnastor betrifft, werden Sie wohl den Rest Ihres Teams brauchen, um ihn auch nur.“
„Oder einen G-Schlitten“, unterbrach ihn der Teamleiter. „Auf der nächsten Ebene gibt es einen.“
„…ein paar Meter weit zu bewegen“, fuhr Conway ungerührt fort. „Angesichts seines sich verschlechternden Zustands wäre es wohl besser, einen Schlauch an irgendeine Sauerstoffleitung anzuschließen und Thornnastors Atmung dort zu unterstützen, wo er gerade liegt. Und verlassen Sie unter keinen Umständen wegen eines Schlittens oder irgend etwas anderem die Station, bevor wir nicht ganz genau wissen, was hier drinnen freigesetzt worden ist. Sie müssen schon entschuldigen, aber das gilt übrigens für alle.“
O'Mara wollte einfach nicht mehr länger schweigend zusehen.
„Also ist bei Ihnen tatsächlich irgend etwas freigesetzt worden, Doktor?“ fragte der Chefpsychologe barsch. „Anscheinend handelt es sich ja um etwas viel Schlimmeres als um einen einfachen Fall atmosphärischer Verseuchung durch eine Nachbarstation. Haben Sie schließlich doch noch die Ausnahme entdeckt, die die Regel bestätigt? Einen Bazillus, von dem quer durch die Bank alle Spezies befallen werden.?“
„Meines Wissens können terrestrische Krankheitserreger nicht auf ETs übertragen werden, und umgekehrt funktioniert das auch nicht“, erwiderte Conway ungeduldig, wobei er sich O'Maras Gesicht auf dem Stationsschirm zuwandte. „Das ist also eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, aber auf dieser Station scheint das Unmögliche zu passieren. Und wir brauchen dringend Hilfe, um dieses.“
„Mein Freund“, unterbrach ihn Prilicla. „Thornnastors Zustand verschlechtert sich zusehends. Mittlerweile spüre ich bei ihm Strangulationsund Erstickungsgefühle.“
„Doktor“, ertönte nun auch die Translatorstimme von Gilvesh, „die Sauerstoffmaske der Kelgianerin nützt nicht besonders viel. Der doppelte Mund der DBLF und die mangelnde Kontrolle über die Muskeln werfen ernsthafte Probleme auf Um einen vollständigen Stillstand der Atmung zu verhindern, benötigt die Schwester unbedingt eine Druckbeatmung der Lunge direkt durch die Luftröhre.“
„Können Sie bei der Kelgianerin einen Luftröhrenschnitt durchführen, Doktor Gilvesh?“ fragte Conway und wandte sich vom Bildschirm ab.
„Nicht ohne Physiologieband“, antwortete Gilvesh.
„Sie bekommen weder ein Band noch sonst irgendwas“, lehnte O'Mara in bestimmtem Ton kategorisch ab.
Conway fuhr zum Bild des Chefpsychologen herum und wollte protestieren, aber O'Maras Antwort kannte er bereits.
„Doktor, als Sie lebensbedrohlichen Verseuchungsalarm gegeben haben, war das, wie ich vermute, zwar nur eine instinktive, aber dennoch korrekte Handlung“, fuhr der Chefpsychologe grimmig fort. „Dadurch haben Sie wahrscheinlich Tausenden von Wesen im Hospital das Leben gerettet. Aber ein Kontaminierungsalarm Stufe eins bedeutet nun einmal, daß der verseuchte Bereich bis zum Aufspüren und Beheben der Ursache der Kontaminierung abgeriegelt bleibt. Und im vorliegenden Fall ist das noch viel ernster zu nehmen. Bei Ihnen scheint nämlich ein Bazillus virulent sein, der die warmblütigen Sauerstoffatmer des Hospitals stark dezimieren könnte. Aus diesem Grund ist Ihre Station hermetisch abgeriegelt worden. Ihnen stehen zwar weiterhin Energie, Licht, Kommunikations- und Übersetzungsgeräte zur Verfügung, aber Sie sind inzwischen vollständig vom Hauptluftversorgungssystem und dem automatischen Nahrungsvertriebsnetz abgeschnitten. Sie werden auch keinerlei Medikamente erhalten. Außerdem wird man kein Lebewesen, kein Gerät und keine Probe aus Ihrer Station herauslassen. Kurz, ich werde weder Doktor Gilvesh einen Besuch bei mir wegen eines Physiologiebands gestatten, noch irgendeinem kelgianischen, melfanischen oder tralthanischen Arzt die freiwillige medizinische Hilfe bei den betroffenen Wesen auf ihrer Station erlauben. Haben Sie das verstanden, Doktor?“
Conway nickte langsam.
Während O'Mara Conway mehrere Sekunden lang musterte, zeigte sich auf den kantigen Gesichtszügen des Chefpsychologen ein tiefes und für ihn ganz untypisches Mitgefühl. Es hieß, O'Maras normalerweise aggressive und sarkastische Art wäre nur seinen Freunden vorbehalten, in deren Gesellschaft er sich gern entspannte und bei denen er seiner Übellaunigkeit freien Lauf lassen konnte, ohne daß jedes Wort von ihm auf die Goldwaage gelegt wurde. Ruhig und mitfühlend sei er dagegen nur, wenn er sich in seiner Funktion als Psychologe über jemanden wirklich Sorgen machte.
Er hat unglaublich viele Freunde, dachte Conway, und im Moment stecke ich gerade bis zum Hals in Schwierigkeiten…
„Sie wollen bestimmt wissen, wieviel Zeit ihnen noch verbleibt. Nun, die Werte ergeben sich aus den Sauerstofffvorräten auf der Station und in den Tanks und aus der Anzahl der momentan Anwesenden und dem für ihre jeweilige Spezies spezifischen Sauerstoffbedarf“, führ der Major fort. „Diese Angaben kann ich Ihnen in ein paar Minuten übermitteln. Und noch etwas, Conway. Sehen Sie bloß zu, daß Sie eine Lösung finden.“
Mehrere Sekunden lang starrte Conway auf den leeren Bildschirm und sagte sich selbst, daß er ohne Physiologieband weder Thornnastor noch Edanelt, der kelgianischen Schwester oder dem Teammitglied wirklich helfen konnte, die wie aus dem Nichts ihre Rollen als medizinische Kräfte mit denen schwerkranker Patienten vertauscht hatten.
Normalerweise hätte sich Dr. Gilvesh ein DBLF-Physiologieband ins Gehirn überspielen lassen und bei der Kelgianerin wie selbstverständlich einen Luftröhrenschnitt durchgeführt. Außerdem hätte der illensanische Chefarzt bei O'Mara wahrscheinlich auch gleich auf die Einspielung des tralthanischen Bands für Thornnastor und der ELNT-Version für Edanelt bestanden. Diesem Wunsch wäre der Chefpsychologe sicherlich auch nachgekommen, wenn er Gilvesh' psychische Verfassung für stabil genug erachtete hätte, kurzfristig drei Physiologiebänder auf einmal gespeichert zu haben. Aber Gilvesh durfte selbst dann nicht die Station verlassen, wenn sein eigenes Leben davon abhing — was schon sehr bald der Fall sein würde.
Conway bemühte sich, nicht an den schwindenden Luftvorrat in der Drucktragbahre zu denken, wo fünf oder sechs ETs rapide den in Behältern gespeicherten Sauerstoff verbrauchten. Er versuchte auch, den Gedanken an die Wesen zu verdrängen, die an den Wänden entlang mit den eigentlich für Patienten vorgesehenen Atemmasken verbunden waren. Den von den Mitgliedern des Transportteams und ihm selbst getragenen vierstündigen Sauerstoffvorrat oder die infizierte und verbrauchte Luft auf der Station wagte er sich gar nicht erst vorzustellen. Und die Überlegungen über die von Gilvesh mitgeführte, streng begrenzte Menge an atembarem Chlor oder die vom TLTU benötigte überhitzte Atmosphäre schob er gleich beiseite. Zuallererst mußte er an die Patienten denken und versuchen, sie so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Und das nicht nur, weil es sich um Freunde und Kollegen handelte, sondern auch, weil sie als erste befallen worden waren. Er mußte den Infektionsverlauf so vollständig wie möglich aufzeichnen, damit die Hospitalärzte aller Dienstgrade und Spezies später genau wissen würden, welche Krankheit sie zu bekämpfen hatten.
Aber der Kampf mußte erst einmal hier auf der Beobachtungsstation beginnen, und es gab ein paar Dinge, die Conway tun oder zumindest versuchen konnte zu tun.
Er sagte: „Gilvesh, gehen Sie doch bitte in die Ecke zu dem TLTU und dem Hudlarer mit der Maske. Ich weiß nämlich nicht, ob deren Translatoren mich auf diese Entfernung empfangen können. Bitten Sie die beiden, Thornnastor zu der freien Stelle an der Wand neben dem Eingang zur Schleuse zu bringen. Falls die beiden glauben, das schaffen zu können, weisen Sie sie darauf hin, daß man Tralthaner unter normalen Schwerkraftverhältnissen nie auf den Rücken drehen darf, weil sich dadurch die inneren Organe verlagern und die Atembeschwerden noch schlimmer werden können. Bitten Sie auch einen der Männer vom Transportteam, während dieser Aktion Thornys Maske festzuhalten.
Wenn Thornnastor sich schließlich an der Wand befindet, legen Sie ihn dort so hin, daß seine Beine in den Raum zeigen, und bitten Sie vier Teammitglieder, Ihnen bei.“
Während seiner Anweisungen dachte Conway an all die Physiologiebänder, die er sich während seiner beruflichen Laufbahn im Orbit Hospital gezwungenermaßen ins Gehirn hatte überspielen lassen müssen und die in einigen wenigen Fällen nicht vollkommen wieder gelöscht worden waren. Natürlich war keine dieser gleichzeitig seltsamen wie wunderbaren Persönlichkeiten, die diese Aufzeichnungen ihrer Gehirnströme zur Verfügung gestellt hatten, auch nur teilweise in seinem Gedächtnis zurückgeblieben, denn das hätte psychologisch äußerst gefährlich sein können. Doch konnte er sich noch bruchstückhaft an Informationen erinnern, die in erster Linie physiologische und chirurgische Verfahren betrafen, weil sich während der partiellen Kontrolle der ET-Persönlichkeit über sein Gehirn der terrestrische Teil für dieses Wissen ganz besonders interessiert hatte. Das, was er mit der kelgianischen OP-Schwester zu tun beabsichtigte, war sehr gefährlich — und da er an die Physiologie der DBLFs im Bereich der Atemwege eine nur noch äußerst vage Erinnerung hatte, konnte er es wahrscheinlich auch nur stümperhaft durchführen. Aber zuerst einmal mußte er etwas für Thornnastor tun, auch wenn es nicht mehr als eine Erste-Hilfe-Maßnahme war.
Der Druckanzug des TLTU-Arztes, dessen Spezies in einer Umwelt aus eßbaren Mineralien und extrem heißem Dampf lebte, glich einem auf Raupenketten montierten kugelförmigen Dampfkochtopf mit Fernbedienung. Dieses Fahrzeug war zwar eigentlich nicht zum Transport von bewußtlosen Tralthanern gedacht, konnte solch eine Aufgabe aber ohne größere Schwierigkeiten übernehmen.
Der hudlarische Arzt, der der Klassifikation FROB angehörte, war ein bulliges, birnenförmiges Wesen, dessen Heimatplanet die vierfache Erdanziehungskraft besaß. Die Atmosphäre auf Hudlar war voll von aufgelösten Substanzen tierischer und pflanzlicher Organismen, so daß sie einer dickflüssigen Suppe ähnelte. Obwohl die FROBs zu den Warmblütern gehörten und praktisch gesehen Sauerstoffatmer waren, konnten sie lange Zeit ohne Luft überleben, wenn sie ausreichend mit Nahrung versorgt wurden, die sie direkt durch den zwar dicken, jedoch äußerst durchlässigen Hautpanzer aufnahmen. Nach Conways Schätzung hatte sich der hudlarische Arzt die letzte Mahlzeit vor weniger als zwei Stunden auf die Haut gesprüht, dafür sprach die flockige Konsistenz der Nährstoffschicht auf dem Panzer. Eigentlich müßte der FROB also auch ohne Sauerstoffmaske lange genug aushalten können, um Thornnastor zu helfen.
„…während der TLTU und der Hudlarer Thornnastor zur Wand hinüberbringen, lassen Sie Ihre Leute die Drucktragbahre so nah wie möglich an die kelgianische Oberschwester heranschieben“, setzte Conway seine Anweisungen an den Leiter des Transportteams fort. „In der Trage befindet sich nämlich ein kelgianischer Diagnostiker. Bitten Sie ihn, mir bei der Durchführung des Luftröhrenschnitts die notwendigen Anleitungen zu geben, und sorgen Sie dafür, daß er durch die Hülle der Trage einwandfreie Sicht auf das Operationsfeld hat. Ich bin in ein paar Minuten bei der kelgianischen Schwester, sobald ich nach Edanelt gesehen hab.“
„Edanelts Zustand ist stabil, mein Freund“, berichtete Prilicla, der zu dem Hudlarer und dem zischenden, metallenen Schwerlaster des TLTUs respektvollen Abstand einhielt, als die beiden gerade Thornnastor zur Wand brachten. Der Cinrussker landete zur besseren Wahrnehmung der emotionalen Ausstrahlung Edanelts federleicht auf dem Panzer des Melfaners. „Er atmet zwar unter Schwierigkeiten, schwebt aber nicht in unmittelbarer Lebensgefahr.“
Von den drei betroffenen ETs hatte sich der Melfaner von der DBPK-Patientin während der Untersuchung und den nachfolgenden operativen Eingriffen die ganze Zeit am weitesten entfernt aufgehalten: das mußte irgend etwas bedeuten. Conway schüttelte verärgert den Kopf — es passierte einfach gleichzeitig zu viel, um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Er hatte überhaupt keine Chance nachzudenken…
„Mein Freund“, sagte Prilicla, der mittlerweile zur DBPK-Patientin geflattert war. „Ich spüre bei der Patientin ein zunehmendes körperliches Unbehagen, das nicht mit den Verletzungen zusammenhängt und einer Art Befangenheit gleicht. Außerdem ist sie über irgend etwas äußerst beunruhigt, ohne allerdings Angst davor zu haben. Sie fühlt sich zutiefst schuldig und besorgt. Vielleicht leidet die Patientin nicht nur an den Verletzungen, die sie sich auf dem Schiff zugezogen hat, sondern auch an gewissen psychischen Störungen, wie sie bei Heranwachsenden, die in der Vorpubertät stecken, häufig vorkommen.“
Die geistige Verfassung der DBPK stand im Moment auf Conways Prioritätenliste ganz unten, deshalb war er nicht in der Lage, seine Ungeduld vor Prilicla zu verbergen.
„…darf ich die Gurte der Patientin ein bißchen lockern, mein Freund?“ fragte der Empath schnell.
„Ja, aber lassen Sie die Patientin bloß nicht frei“, antwortete Conway, merkte aber gleich darauf, daß diese Antwort ziemlich dumm gewesen war.
Schließlich stellte das kleine, pelzige und vollkommen harmlose Wesen selbst keine physische Bedrohung dar. Die Gefahr ging vielmehr von den Bakterien im Körper der Patientin aus — und die flogen ja offenbar schon überall auf der Station herum. Als Prilicla mit seinen feingliedrigen Greiforganen auf die Knöpfe drückte, mit denen die Gurte gelockert werden konnten, die die DBPK auf dem Untersuchungstisch festhielten, unternahm die Patientin keinen Fluchtversuch. Statt dessen drehte sie sich vorsichtig so weit, bis sie wie eine schlafende terrestrische Katze dalag — zusammengekugelt und den Kopf unter den langen und pelzigen Schwanz geschoben. Bis auf den nackten Fleck am Schwanzansatz, wo die Haut ein rötliches Braun aufwies, sah sie wie ein Hügel aus gestreiftem Fell aus.
„Sie fühlt sich jetzt sehr viel wohler, ist aber trotzdem noch beunruhigt, mein Freund“, berichtete der Cinrussker. Gleich darauf trippelte er an der Decke entlang, bis er sich über Thornnastor befand. Weil der bewußtlose Diagnostiker im Zentrum starker Emotionen lag, zitterte der Empath entsprechend.
Der TLTU hatte Thornnastors Hinterbeine mit Klebeband zusammengebunden und sich dann zurückgezogen, um dem Hudlarer und den vier Teammitgliedern ihre Arbeit zu ermöglichen. Jeweils ein Mann hatte sich ein vorderes oder mittleres Bein gegriffen, und zusammen mühten sie sich ab, die vier Gliedmaßen diagonal auseinanderzuspreizen, um die Brust des Tralthaners so weit wie möglich auszudehnen.
Der Hudlarer sagte gerade: „Gleichzeitig ziehen! Fester! Halt! Jetzt wieder loslassen!“ Als er „loslassen“ sagte, nahmen die Beine wieder die natürliche Position ein, während der Hudlarer selbst gleichzeitig mit seinem nicht unerheblichen Gewicht auf Thornnastors gewaltigen Brustkorb drückte, damit sich vor der Wiederholung dieses Vorgangs auch ganz bestimmt keine Luft mehr in der Lunge befand. Hinter den Visieren der Männer, die an Thornnastors Beinen zogen, waren gerötete, schweißüberströmte Gesichter zu erkennen, und einige der Äußerungen waren alles andere als übersetzungsreif Jedem Arzt, Pfleger und Wartungstechniker des Orbit Hospitals wurden die Grundlagen der auf alle Spezies der galaktischen Föderation anwendbaren Ersten Hilfe beigebracht. Sie lernten natürlich nur die Maßnahmen für solche Spezies, deren Umweltbedingungen nicht so übermäßig exotisch waren, daß ein Patient nur von einem Angehörigen seiner eigenen Spezies unverzüglich behandelt werden konnte. Nach der Regel zur künstlichen Beatmung eines tralthanischen FGLI mußte man dessen zwei Hinterbeine zusammenbinden und die restlichen vier spreizen und wieder zusammendrücken, um Luft in die Lunge des FGLIs zu pumpen. Die Atemmaske befand sich bei Thornnastor in der richtigen Lage, und der Diagnostiker war zum Atmen von reinem Sauerstoff gezwungen. Außerdem stand Prilicla bereit, um jede Veränderung von Thornnastors Zustand sofort zu melden.
Ein Luftröhrenschnitt bei einer Kelgianerin hingegen gehörte absolut nicht zu den Erste-Hilfe-Maßnahmen. Die Spezies der Klassifikation DBLF besaß außer einer dünnen Hülle um das Gehirn kein Knochengerüst. Der Körper eines Kelgianers setzte sich aus kreisförmigen, äußeren Muskelbändern zusammen, die sowohl zur Fortbewegung dienten, als auch die lebenswichtigen inneren Organe schützten. Für die kelgianische Spezies waren schon leichte Verletzungen häufig lebensbedrohlich, weil das komplizierte und äußerst empfindliche Blutkreislaufsystem, das die gewaltigen, den Körper kreisförmig umgebenden Muskeln mit Blut versorgen mußte, direkt unter der Haut verlief und nur durch das dichte Fell geschützt wurde. Folglich konnte eine, von vielen anderen Spezies lediglich als oberflächlicher Kratzer angesehene Verletzung bei einem DBLF in Minutenschnelle zum Verbluten führen. Conways Problem bestand darin, daß die kelgianische Luftröhre tief unter der Halsmuskulatur und nicht einmal einen Zentimeter neben der Hauptschlagader verlief, die das Gehirn mit Blut versorgte.
Da nun Conway als ein terrestrischer Chirurg nach der mündlichen Anleitung eines zweiten Kelgianers operieren mußte und er zudem noch durch das Fehlen eines DBLF-Physiologiebands und die Anzughandschuhe gehandikapt war, versprach der Eingriff ebenso schwierig wie gefährlich zu werden.
„Ich würde diese Operation lieber selbst durchführen, Doktor“, sagte der kelgianische Diagnostiker, wobei er sein Gesicht gegen die durchsichtige Hülle der Drucktragbahre preßte.
Conway gab keine Antwort. Denn hätte der Diagnostiker die Trage verlassen, würde er genauso wie die anderen Insassen der Stationsluft und den darin enthaltenen, wie auch immer gearteten Viren oder Bakterien ausgesetzt sein. Das war beiden klar. Also entfernte Conway am Hals der kelgianischen Schwester ein kleines Stück Fell, und Golvesh desinfizierte die Stelle.
„Versuchen Sie, so wenig wie möglich Fell abzurasieren, Doktor“, bat der kelgianische Diagnostiker, der sich als Towan vorgestellt hatte. „Das wächst nämlich bei Erwachsenen nicht mehr nach, und der Fellzustand ist für Kelgianer von größter psychologischer Bedeutung, ganz besonders bei der zur Paarung unternommenen Annäherung ans andere Geschlecht.“
„Das weiß ich doch alles“, entgegnete Conway ungeduldig.
Bei der Operation stellte er fest, daß zwar einige der Erinnerungen an das kelgianische Physiologieband verläßlich waren, viele andere jedoch nicht. Deshalb war er über die aus der Drucktragbahre dringende Stimme äußerst froh, da sie ihn zumindest von fatalen Fehlern abhielt. Während der fünfzehnminütigen Operation überschüttete Towan ihn unaufhörlich mit Anleitungen, Ratschlägen und Warnungen, die manchmal nicht mehr von persönlichen Beleidigungen zu unterscheiden waren — das Zusammengehörigkeitsgefühl war unter Kelgianern sehr stark ausgeprägt. Doch schließlich hatten sowohl die Operation als auch die Beschimpfungen ein Ende. Gilvesh bereitete den Anschluß der kelgianischen Schwester an ein Beatmungsgerät vor, während Conway quer durch die Station zu Thornnastor ging, um ihn näher in Augenschein zu nehmen.
Plötzlich flammte der Stationsschirm wieder auf, diesmal mit den Gesichtern von O'Mara und Colonel Skempton, dem Leiter der Ingenieursdivision, die in erster Linie für das Nachschub- und Nachrichtenwesen und die Wartung des Orbit Hospitals verantwortlich war. Es war schließlich der Colonel, der das Wort ergriff.
„Wir haben die Zeit berechnet, die Ihnen noch bis zum vollständigen Verbrauch der momentan auf der Station zur Verfügung stehenden Luftvorräte verbleibt“, sagte er ruhig. „Alle Leute mit Atemmasken haben noch für ungefähr drei Tage Luft — wenn sie sich nicht im Schlaf die Masken vom Gesicht reißen oder durch eine andere Körperöffnung von dem Krankheitserreger befallen werden. Die sechs Ventilationssysteme der Station enthalten nämlich jeweils einen zehnstündigen Vorrat an Sauerstoff und auch an anderen Gasen wie Stickstoff, CO2 und dergleichen, die für Sie in der gegenwärtigen Situation aber uninteressant sind. Die Mitglieder des Transportteams verfügen in ihren leichten Anzügen jeweils über einen vierstündigen Vorrat, wenn sie, indem sie sich möglichst nicht bewegen, soviel Sauerstoff wie möglich sparen.“
Der Colonel hielt kurz inne und Conway spürte, wie Skempton die vier Teammitglieder anstarrte, die dem Hudlarer gerade bei der künstlichen Beatmung von Thornnastor halfen. Schließlich räusperte er sich und führ fort: „Der Kelgianer, der Nidianer und die drei Terrestrier in der schützenden Drucktragbahre haben nur noch Luft für knapp eine Stunde. Die Mitglieder des Transportteams können jedoch die Trage und ihre eigenen Anzüge bei Bedarf wieder mit frischer Luft aus dem Ventilationssystem auffüllen. Wenn all das getan wird, und sich jeder soviel wie möglich ausruht, dann müßten also alle, die nicht durch den Bazillus infiziert sind, in, sagen wir mal, dreißig Stunden noch am Leben sein. Dadurch haben wir genügend Zeit, die not.“
„Was ist mit Gilvesh und dem TLTU?“ fragte Conway in scharfem Ton.
„Die Auffrischung des Lebenserhaltungssystems eines TLTUs ist eine Arbeit für Spezialisten“, antwortete Colonel Skempton. „Jedes unfachmännische Herumgebastel könnte zu einer Dampfexplosion führen, womit Sie dann noch ein weiteres Problem am Hals hätten. Und was Doktor Gilvesh betrifft, so haben Sie bestimmt nicht vergessen, daß Sie sich in einer Beobachtungsstation für warmblütige Sauerstoffatmer befinden. Da ist also nirgends Chlor vorhanden. Tut mir leid, Doktor.“
Mit ruhiger, aber fester Stimme antwortete Conway: „Wir brauchen in Flaschen abgefüllte Sauerstoff- und Chlorvorräte, eine Sprühdose mit Nährlösung für den Hudlarer, ein Gerät zur Auffrischung der TLTU-Atmosphäre und hochwertige Lebensmittel mit einem geringen Anteil an Ballaststoffen, komplett mit Schläuchen, die das Essen beim Einnehmen vor direktem Kontakt mit der Stationsluft schützen. Bis auf das Gerät zur Auffrischung der TLTU-Atmosphäre ist keiner dieser Gegenstände sperrig. Und ich bin mir sicher, daß der Teamleiter mit diesem Gerät umgehen kann, wenn ihm von einem Ihrer Wartungstechniker jeder Schritt einzeln erklärt wird. Sie könnten die Sachen durch die AUGL-Station in unsere Schleusenkammer bringen lassen. Dabei hätten Sie wahrscheinlich weniger Probleme als wir damals mit dem Transport der DBPK-Patientin.“
Skempton schüttelte den Kopf, und mit ebenso ruhiger und fester Stimme wie Conway entgegnete er: „Wir haben über diese Versorgungsmöglichkeit natürlich auch schon nachgedacht, Doktor. Aber wir haben leider feststellen müssen, daß die Schleusenkammer geöffnet geblieben ist, nachdem man die Patientin hindurchtransportiert hat. Deshalb ist sie der Kontaminierung schon genauso lange ausgesetzt wie die restliche Station. Wenn wir nun die Schleuse mit den benötigten Gegenständen beladen wollten, müßte sie vorher mit Wasser aus der AUGL-Station geflutet werden. Zum Entladen der Schleuse müßte das Wasser durch Ihre Leute notwendigerweise wieder abgepumpt werden. So würde das Wasser, das mit was auch immer infiziert ist, wieder in die AUGL-Station gelangen. Was das für Folgen hätte, können wir nicht einmal ahnen. Denn ich hab von einer ganzen Menge Ihrer Kollegen gehört, daß durch die Luft übertragene Bakterien häufig auch in Wasser überleben und sich dort sogar vermehren können.
Ihre Station muß also unter strikter Quarantäne bleiben, Doktor“, fügte der Colonel abschließend hinzu. „Ein Krankheitserreger, der womöglich nicht nur die Lebensformen seines Ursprungsplaneten, sondern auch Angehörige von vier anderen, außerplanetarischen Spezies befällt, darf einfach nicht frei herumvagabundieren. Das müssen Sie genauso einsehen wie ich.“
Conway nickte und erwiderte dann: „Möglicherweise reagieren wir etwas übertrieben und machen uns selbst unnötig Angst, nur weil ein paar.“
„Immerhin sind ein tralthanischer FGLI, eine kelgianische DBLF, ein melfanischer ELNT und ein terrestrischer DBDG so krank geworden, daß man die Atmung schon wenige Minuten später künstlich unterstützen mußte“, unterbrach ihn der Colonel. Der Gesichtsausdruck, mit dem er Conway ansah, war wie bei einem Arzt, der dem unheilbar kranken Patienten mitzuteilen versuchte, wie hoffnungslos seine Lage war.
Conway spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. „Die auf der Station beobachteten Auswirkungen sind doch völlig anders als die an Bord der Rhabwar“, gab Conway zu bedenken, wobei er durch eine bewußt ruhige Stimme bei niemanden das Gefühl aufkommen lassen wollte, er bettele um das Unmögliche. „Wir haben ohne irgendwelche negativen Folgen auf dem Schiff mit der Patientin und einer ganzen Reihe von DBPK-Leichen gearbeitet und sie dabei natürlich auch berührt.“
„Vielleicht sind einige terrestrische DBDGs von Natur aus gegen den Erreger immun“, unterbrach ihn Skempton. „Soweit es das Hospital betrifft, ist das allerdings nur ein schwacher Trost.“
„Doktor Prilicla und Schwester Naydrad haben sich aber ebenfalls ohne Schütz mit den DBPKs beschäftigt“, wandte Conway ein.
„Ich verstehe“, entgegnete der Colonel nachdenklich. „Auf der Station wird eine Kelgianerin vom Erreger befallen, während eine zweite Kelgianerin an Bord der Rhabwar unbehelligt bleibt. Vielleicht gibt es bei mehr als einer Spezies von Natur aus immune Individuen, und das Personal der Rhabwar hatte einfach nur Glück gehabt. Zudem ist der Besatzung ja jeglicher Kontakt mit dem Hospital oder in der Nähe befindlichen Schiffen untersagt, obwohl die Probleme mit der Versorgung der Rhabwar im Vergleich zu denen, die bei Ihnen bestehen, relativ leicht zu lösen sind.
Aber uns bleiben noch dreißig Stunden zur Bewältigung der Schwierigkeiten, wenn Sie Sauerstoff sparen und sich.“
„Bis dahin ist mein Dampf längst zu Wasser kondensiert“, warf der TLTU mit seiner emotionslosen Translatorstimme ein. „Und ich selbst bin dann schon längst an Hyperthermie gestorben.“
„Ich auch“, fügte Gilvesh hinzu, ohne seine Aufmerksamkeit von dem Luftschlauch abzuwenden, den er gerade in die geöffnete Luftröhre der Kelgianerin schob. „Und dabei ist der Bazillus, der Ihnen allen so viel Kopfzerbrechen bereitet, wahrscheinlich gar nicht an einem Chloratmer interessiert.“
Conway schüttelte grimmig den Kopf und sagte: „Was ich eigentlich sagen will, ist, daß wir überhaupt nichts über diesen Bazillus wissen.“
„Halten Sie es nicht für langsam an der Zeit, schleunigst etwas über den Erreger herauszufinden, Doktor?“ fragte O'Mara in einem Ton, dessen Schärfe dem von Conway erst kürzlich geschwungenen Skalpell gleichkam.
Längere Zeit herrschte Schweigen, und Conway spürte die im Gesicht aufsteigende Hitze. Dann wurde die Stille von der Stimme des Hudlarers unterbrochen, der den Mitgliedern des Transportteams Anweisungen bei den an Thornnastor vorgenommenen Beatmungsversuchen gab.
„Na ja, während der letzten Stunden ging es hier ein wenig hektisch zu“, entgegnete Conway verlegen, „und Thornnastors Analysator eignet sich praktisch nur für Tralthaner. Aber ich werde sehen, was ich damit anfangen kann.“
„Je eher, desto besser“, erwiderte O'Mara bissig.
Conway überhörte den Ton des Chefpsychologen, weil O'Mara sehr wohl wußte, was auf der Station vorgefallen war, und eine Zurschaustellung verletzter Gefühle nichts als Zeitverschwendung gewesen wäre.
Ganz unabhängig von dem, was mit den auf der Station eingeschlossenen Wesen letztendlich geschah, mußte man nach Conways Dafürhalten den restlichen warmblütigen Sauerstoffatmern im Hospital so viele Daten und Fakten wie möglich verschaffen, einschließlich der zu diesem Problem gehörigen Hintergrundinformationen. Als er zu Thornnastors Analysator hinüberging und sich mit dem Bedienungspult befaßte, begann Conway zu sprechen und berichtete den auf der Station Anwesenden und den vielen Zuschauern an den Bildschirmen von der Suche nach etwaigen Überlebenden in den weit verstreuten Wrackteilen des DBPK-Schiffs. Zweifellos hätte Captain Fletcher eine viel detailliertere Beschreibung der Suchaktion geben können und würde sie später ganz bestimmt auch noch nachholen, aber Conway ging es dabei auch nur um die medizinischen und physiologischen Aspekte dieses Vorgangs.
„Der Analysator sieht fürchterregender aus, als er in Wirklichkeit ist“, beruhigte ihn Murchisons Stimme, als er sich vor ein Rätsel gestellt sah und verdutzt dreinblickte. „Statt der beschrifteten Knöpfe sind auf dem Bedienungsfeld Sensortasten angebracht. Ansonsten ist aber alles exakt so aufgebaut wie auf der Rhabwar. Ich hab Thorny ein paarmal bei der Bedienung geholfen. Die Displays funktionieren natürlich auf Tralthanisch, aber das Audiosystem ist an den Translator angeschlossen. Die Flaschen zur Entnahme von Atmosphäreproben befinden sich gleich hinter der blauen Schiebetür.“
„Vielen Dank auch“, sagte Conway. Dann führ er mit dem Bericht über die Bergung und die nachfolgende Untersuchung und Beobachtung der überlebenden DBPK-Patientin fort. Gleichzeitig öffnete er die Ventile der Flaschen, ließ die infizierte Atmosphäre der Station in die luftleeren Glaskolben zischen und schloß dann die Ventile wieder. Er entnahm die Luftproben aus einem Bereich, der nur wenige Zentimeter von der Patientin entfernt begann und sich bis zur Einlaßschleuse am anderen Ende der Station erstreckte. Danach entnahm er mit einer Saugpumpe Proben vom Fell der Patientin und der darunterliegenden Haut und sammelte Abschabungen von der Oberfläche des Untersuchungstischs, den benutzten Instrumenten, dem Boden und den Wänden der Station ein. Schließlich war er gezwungen, eine kurze Arbeitspause einzulegen, weil er sich bei Murchison nach der richtigen Eingabeart der Proben in den Analysator erkundigen mußte.
Gilvesh nutzte die Unterbrechung in Conways Schilderung, um von der tiefen und regelmäßigen Atmung der Kelgianerin zu berichten, die natürlich in Wirklichkeit von der Beatmungsmaschine durchgeführt wurde. Und nach Priliclas Angaben blieb Edanelts Zustand genauso wie Thornnastors stabil — allerdings auf besorgniserregend niedrigem Niveau.
„Machen Sie weiter, Conway“, befahl O'Mara in barschem Ton. „Ihnen sieht und hört praktisch jeder dienstfreie Arzt im Hospital zu.“
Conway fuhr mit dem Bericht über die Bergung und Rettung der verletzten Schiffbrüchigen und den Transport der Leichen auf die Station der Rhabwar fort. Dabei betonte er besonders die Tatsache, daß nach der Rückkehr aufs Schiff kein einziges Mitglied der Besatzung und des medizinischen Personals Masken getragen hatte, als die Patientin und die mehreren toten DBPKs untersucht worden waren. Da die Überlebende das Bewußtsein nicht wiedererlangt und sich ihr Zustand zusehends verschlechtert habe, sei man schließlich zu dem Entschluß gekommen, die Suche nach weiteren Überlebenden lieber abzubrechen.
„Wir haben den Vermessungs- und Kontaktkreuzer Descartes gebeten, die Gegend weiter abzusuchen, falls sich.“
„Sie haben was getan.?“ fiel ihm Colonel Skempton ins Wort, dessen Gesicht plötzlich eine aschgraue Farbe angenommen hatte.
„Wir haben die Descartes gebeten, die Gegend weiter nach Überlebenden abzusuchen und Material über die Aliens, also Bücher, Bilder, persönliche Gegenstände und so weiter, zu sammeln und zu untersuchen“, antwortete Conway. „Denn solches Material würde der Besatzung der Descartes vor der Herstellung des offiziellen Kontakts behilflich sein, diese neue Lebensform besser zu begreifen. Die Descartes ist eins der wenigen Raumfahrzeuge, das einen Computer besitzt, der auch noch die Bewegungen sehr weit verstreuter Wrackteile analysieren kann, um daraus einen ungefähren Annäherungswert des ursprünglichen Hyperraumkurses des zerstörten Schiffs zu berechnen. Sie kennen ja die Vorgehensweise, Colonel. In solchen verfolgt man stets den errechneten Kurs zurück. Sobald man den Planeten ausfindig gemacht hat, tritt man so schnell wie möglich mit dem Heimatplaneten der Überlebenden in Kontakt, um die Hilfe eines Arztes ihrer eigenen Spezies zu erbitten.“
An dieser Stelle brach Conway seine Erklärungen ab, weil der Colonel ihm inzwischen gar nicht mehr zuhörte.
„Geben Sie sofort mit voller Leistung einen Hyperraumfunkspruch der höchsten Dringlichkeitsstufe durch“, befahl Skempton irgend jemandem, den man nicht auf dem Bildschirm sehen konnte. „Setzen Sie zur Verstärkung des Energieversorgungsgenerators auch die Zusatzenergie des Hospitals ein. Geben Sie der Descartes Anweisung, keine, ich wiederhole, keine Gegenstände, technische Materialien oder organische Proben aus dem Wrack mit an Bord zu nehmen. Falls sich bereits irgend etwas davon auf dem Schiff befindet, soll die Besatzung diese Gegenstände unverzüglich über Bord werfen. Unter gar keinen Umständen darf die Descartes den Herkunftsplaneten des Wracks ausfindig machen oder gar Kontakt mit den Bewohnern herstellen. Ihr ist außerdem jeder direkte Kontakt mit allen anderen Schiffen, Stützpunkten, Satellitenstationen und bewohnten oder unbewohnten Planeten und Planetoiden verboten. Die Descartes soll auf der Stelle zum Orbit Hospital zurückkehren und weitere Anweisungen abwarten. Einzig Funkkontakt ist erlaubt. Das Einlaufen in den Dockbereich des Orbit Hospitals ist ihr ausdrücklich untersagt. Die Besatzungsmitglieder werden auf dem Schiff bleiben und bis auf weiteres keine Besucher irgendeiner Spezies an Bord lassen. Verschlüsseln Sie den Funkspruch als Föderationsnotfall. Na los, wird's bald?“
Der Colonel wandte sich wieder um, sah Conway an und führ fort: „Dieser Bazillus oder dieses Virus oder was auch immer das ist, befällt also warmblütige Sauer stoffatmer und vielleicht auch andere Lebensformen. Wie Sie selbst sehr gut wissen, Doktor, sind drei Viertel der Bürger der Föderation warmblütige Sauerstoffatmer, und den größten Teil davon machen wiederum die kelgianischen, tralthanischen, melfanischen und terrestrischen Lebensformen aus. Hier im Hospital haben wir gute Chancen, den Erreger aufzuhalten und etwas zu entdecken, womit wir ihn bekämpfen können. Aber wenn er die Descartes befällt, könnte er sich auf dem Schiff so schnell verbreiten, daß der Mannschaft vor dem Aussetzen der Notsignalbake nicht einmal mehr die Zeit bleibt, darüber nachzudenken, was für neue Probleme sie damit hervorruft. Denn das oder die Schiffe, die aufgrund des Notsignals zu Hilfe eilen, tragen dann die Infektion nach Hause oder, noch viel schlimmer, zu anderen Anlaufhäfen. Eine Epidemie von solchen Dimensionen würde ganz bestimmt das Ende der Föderation und ziemlich sicher den Untergang der Zivilisation auf einem Großteil der Planeten bedeuten.
Wir können nur hoffen, daß die Descartes die Nachricht noch rechtzeitig erhält“, fügte er mit grimmiger Miene hinzu. „Aber da der Zusatzreaktor des Hospitals die Ausgangsleistung des Senders verstärkt, müßte die Besatzung schon blind, stumm und taub sein, wenn sie nichts von dem Funkspruch mitbekommt.“
„Oder bereits sehr krank“, gab O'Mara in ruhigem Ton zu bedenken.
Das darauf folgende lange Schweigen wurde schließlich von der respektvollen Stimme Captain Fletchers vom Bord der Rhabwar aus unterbrochen.
„Wenn ich Ihnen einen Vorschlag machen dürfte, Colonel“, sagte er, „wir kennen die Position der Wrackteile und der Descartes, falls sie sich noch an der Unglücksstelle aufhält, und auch annähernd den galaktischen Sektor, in dem sich wahrscheinlich der Heimatplanet des zerstörten Schiffs befindet. Wenn also in dem Gebiet eine Notsignalbake ausgesetzt werden sollte, muß sie mit ziemlicher Sicherheit von der Descartes stammen. Die Rhabwar könnte auf das Signal dergestalt reagieren, daß sie sich zwar dorthin begibt, aber nicht um zu helfen, sondern um alle anderen angehenden Retter zu warnen.“
Ganz offensichtlich hatte der Colonel das Ambulanzschiff völlig vergessen. Barsch fragte er: „Sind Sie etwa immer noch über den Bordtunnel mit dem Hospital verbunden, Captain?“
„Seit dem Kontaminierungsalarm nicht mehr“, antwortete Fletcher. „Aber falls Sie den Vorschlag annehmen, brauchen wir Energie und Lebensmittel für einen ausgedehnten Flug. Normalerweise ist ein Ambulanzschiffja nur höchstens ein paar Tage unterwegs.“
„Vorschlag angenommen. Danke schön, Captain“, entgegnete Skempton. „Lassen Sie die Vorräte so bald wie möglich vor Ihre Luftschleuse schaffen. Zur Vermeidung von direktem Kontakt mit dem Hospitalpersonal können Ihre Männer die Sachen dann später an Bord holen.“
Conways Aufmerksamkeit hatte die ganze Zeit sowohl dem Gespräch als auch dem Analysator gegolten, der allem Anschein nach kurz vor der Verkündung eines Ergebnisses stand. Jetzt sah er zu dem Bildschirm auf und protestierte: „Colonel Skempton, Captain Fletcher, das können Sie nicht machen! Wenn die Rhabwar abfliegt, sind wir auch die Pathologin Murchison und die DBPK-Leichen los und nehmen uns selbst jegliche Möglichkeit einer schnellen Identifizierung und Neutralisierung des Erregers. Murchison ist hier die einzige Pathologin, die Erfahrungen mit dieser Lebensform aus erster Hand hat.“
Skempton blickte einen Moment nachdenklich drein. Dann erwiderte er: „Das ist zwar ein berechtigter Einwand, Doktor, aber denken Sie doch einmal nach. Hier im Hospital herrscht kein Mangel an Pathologen, die Ihnen bei der Untersuchung der Patientin helfen könnten, auch wenn die nur Erfahrungen aus zweiter Hand besitzen und die DBPK-Leichen an Bord der Rhabwar bleiben müssen. Wir können den Erreger trotzdem unter Kontrolle bringen und mit der Zeit eine Behandlungsmethode für diese Krankheit hier im Hospital entwickeln. Die Rhabwar hingegen könnte verhindern, daß die Descartes warmblütige Sauerstoffatmer auf womöglich Dutzenden von Planeten infiziert. Der ursprüngliche Befehl bleibt bestehen. Die Rhabwar wird ihre Vorräte auffüllen und sich bereithalten, um auf den zu erwarteten Notruf der Descartes sofort zu reagieren.“
Skempton hatte noch eine ganze Menge über den voraussichtlichen Verlauf zukünftiger Ereignisse zu sagen. Dazu gehörte auch die hohe Wahrscheinlichkeit für die Verhängung einer strikten Quarantäne über den Heimatplaneten der DBPK-Patientin und dessen außerplanetarische Kolonien sowie die Verweigerung jeglichen Kontakts mit der neuen Spezies. Diese Quarantäne würde die Föderation schon zum eigenen Schutz verhängen müssen, was durchaus zu einem interstellaren Krieg führen könnte. Dann fiel auf einmal der Ton aus, obwohl Skempton ganz offensichtlich noch mit irgend jemandem außerhalb des Bildschirms sprach. Und dieser jemand protestierte ebenso energisch gegen den nahe bevorstehenden Abflug der Rhabwar wie zuvor Conway.
Aber der oder die Abfluggegner gehörten zum medizinischen Personal, dem es um die Lösung eines einzigartigen Problems extraterrestrischer Physiologie oder Pharmakologie ging. Colonel Skempton hingegen wollte in seiner Eigenschaft als leidenschaftlicher Ordnungshüter des Monitorkorps bloß eine beängstigend große Zahl unschuldiger Wesen schützen. Wovor, wußte er allerdings selbst nicht.
Conway sah jetzt auf das Bild von O'Mara und sagte: „Sir, mir ist ebenfalls die äußerst erschreckende Gefahr der Ausbreitung einer bösartigen Infektion bewußt, die sogar zum Zusammenbruch der Föderation führen und den technologischen Rückfall vieler ihrer Einzelplaneten ins finstere Mittelalter bewirken könnte. Aber bevor wir handeln, müssen wir doch erst einmal etwas über die von uns zu bekämpfende Bedrohung wissen. Wir müssen also die Handlungen einstellen und nachdenken. Im Moment reagieren wir vollkommen übertrieben und unüberlegt. Könnten Sie nicht mit dem Colonel vernünftig reden, Sir, und ihn darauf hinweisen, daß eine Kurzschlußreaktion häufig mehr Schaden anrichtet als das.“
„Das machen Ihre Kollegen schon“, entgegnete der Chefpsychologe trocken. „Und zwar viel nachdrücklicher und überzeugender als ich das jemals könnte, bisher allerdings ohne Erfolg. Aber wenn Sie uns allen Kurzschlußreaktionen unterstellen, Doktor, dann werden Sie uns sicherlich demonstrieren, welch großen Sachverstand und welch ungemeine Kaltschnäuzigkeit die richtige Handhabung dieses Problems erfordert, nicht wahr?“
Warum mußt du zynischer… brauste Conway im stillen auf. Doch bevor er antworten konnte, gab es eine Unterbrechung. Thornnastors Analysator bildete plötzlich helle, unverständliche tralthanische Symbole ab und verbalisierte die Ergebnisse über die Verbindung mit dem Translator.
„Analyse der Proben eins bis dreiundfünfzig, gesammelt in der Beobachtungsstation eins, AUGL-Ebene“, begann die ausdruckslose Stimme. „Allgemeine Untersuchungsergebnisse: Sämtliche Atmosphäreproben enthalten Sauerstoff, Stickstoff und die üblichen Spurenelemente im normalen Verhältnis, außerdem geringe Mengen von Kohlendioxid, Wasserdampf und Chlor, die mit einer akzeptablen Austrittsmenge der Gase aus dem Lebenserhaltungssystem des TLTU und dem Schutzanzug des Illensaners, dem ausgestoßenen Atem der physiologischen Typen DBDG, DBLF, ELNT, FGLI und FROB sowie der Transpiration des ersten, zweiten und dritten dieser Typen in Verbindung stehen. In den Proben ebenfalls vorhanden sind die mit den Körpergerüchen der anwesenden Spezies, deren Körper nicht komplett von einer Schutzhülle umgeben sind, in Beziehung zu bringenden Erscheinungen, wozu auch bislang nicht verzeichnete Geruchsmoleküle gehören, die durch das Ausschlußverfahren der DBPK-Patientin zugeordnet werden konnten. Weiterhin sind sehr geringe Mengen Staub, Späne und Fasern nachzuweisen, die von den Wänden, Arbeitsoberflächen und Instrumenten abgetragen wurden. Einige dieser Substanzen können zwar ohne eine umfangreichere Probenentnahme nicht analysiert werden, aber sie sind alle biochemisch inaktiv und unbedenklich. Es sind darüber hinaus auch Follikel des terrestrischen Haars, des kelgianischen und des DBPK-Fells, Flocken abgefallener Nährlösung des Hudlarers und tralthanische und melfanische Hautschuppen enthalten.
Schlußfolgerung: Keine der in diesen Proben festgestellten Gasarten, gallertartigen Staubsuspensionen, Bakterien- und Virusformen ist für eine der sauerstoffatmenden Lebensformen gefährlich.“ Ohne es zu merken, hatte Conway den Atem angehalten. Als er ihn nun mit einem kurzen, schweren Seufzer der Enttäuschung wieder ausstieß, beschlüg kurz das Visier seines Helms. Nichts. Der Analysator konnte nichts Gefährliches auf der Station entdecken!
„Ich warte, Doktor“, sagte O'Mara.
Conway blickte sich langsam auf der Station um. Er betrachtete den immer noch künstlich beatmeten Thornnastor, die kelgianische Operationsschwester und den mit ausgebreiteten Armen und Beinen daliegenden Melfaner, den stillen Gilvesh und den leise in einer Ecke des Raums zischenden TLTU, die völlig überfüllte Drucktragbahre und die unter Atemmasken steckenden Wesen mehrerer verschiedener Klassifikationen — sie alle sahen ihn an.
Irgend etwas befindet sich hier auf der Station, dachte er verzweifelt. Irgend etwas, das sich in den Proben nicht nachweisen läßt oder vom Analysator jedenfalls als ungefährlich eingestuft wird. Ein Stoff, der auch an Bord der Rhabwar ungefährlich gewesen ist…
Laut sagte er: „Auf dem Rückflug zum Hospital haben wir ohne jeglichen Körperschutz mehrere DBPK-Leichen untersucht und seziert und eine gründliche Untersuchung und Vorbehandlung der Patientin durchgeführt, all das hatte keinerlei negative Folgen. Natürlich ist es möglich, daß die terrestrischen und extraterrestrischen Wesen an Bord der Rhabwar eine natürliche Immunität besessen haben, aber so eine Deutung strapaziert meiner Meinung nach die Zufallswahrscheinlichkeit doch um einiges über die zulässigen Grenzen hinaus. Erst nach dem Transport der Überlebenden ins Orbit Hospital ist ein Schütz erforderlich geworden, weil Vertreter von vier verschiedenen physiologischen Typen einfach auf der Stelle zusammengebrochen sind. Wir müssen uns also fragen, wodurch sich die Umstände an Bord des Ambulanzschiffs und im Hospital unterscheiden oder unterschieden haben.
Wir sollten uns ebenfalls die Frage stellen, die schon Pathologin Murchison nach Beendigung ihrer ersten DBPK-Sezierung aufgeworfen hat“, fuhr Conway fort, „nämlich wie es angehen kann, daß eine solch schwache, scheue und offensichtlich unaggressive Lebensform wie diese die oberste Stufe der Evolutionsleiter ihres Heimatplaneten erklimmen konnte und dort lange genug geblieben ist, um sich zu einer Zivilisation zu entwickeln, die zu interstellaren Raumreisen befähigt ist. Die DBPKs sind Vegetarier. Sie besitzen nicht einmal Fingernägel, die ja der evolutionäre Überrest von Krallen sind, und scheinen keinerlei natürliche Verteidigungswaffen zu besitzen.“
„Und wie sieht es mit verborgenen natürlichen Verteidigungswaffen aus?“ fragte O'Mara. Conway wollte dem Major gerade eine Antwort darauf geben, aber Murchison kam ihm zuvor.
„Dafür gibt es keinerlei Anzeichen, Sir“, erklärte sie. „Besondere Aufmerksamkeit hab ich dem nackten bräunlichen Hautfleck am Ende des Rückgrats gewidmet, da dies das einzige unverständliche physiologische Merkmal des Wesens ist. Sowohl die männlichen als auch die weiblichen Leichname besitzen dieses Merkmal. Dabei handelt es sich um kleine Beulen oder Schwellungen von zehn bis dreizehn Zentimetern Durchmesser, die aus trockenem, porösem Gewebe bestehen. Sie sondern keinerlei Flüssigkeit ab und erwecken den Eindruck einer inaktiven oder verkümmerten Drüse oder eines Organs. Bei den Erwachsenen sind diese pigmentartigen Flecken von einer einheitlichen blaßbraunen Farbe. Die Überlebende hingegen, bei der es sich, soweit wir das beurteilen können, um ein Mädchen in der Pubertät oder Vorpubertät handelt, hat eine blaßrosa Stelle, die in dem Braun der Flecken der Erwachsenen gefärbt worden ist.“
„Haben Sie die Farbe analysiert?“ fragte O'Mara.
„Ja, Sir“, antwortete Murchison. „Ein Teil der Farbe wies bereits Risse auf und war abgeblättert, wahrscheinlich ist das passiert, als die DBPK die Verletzungen erlitten hat. Den Rest haben wir bei der präoperativen Säuberung vor dem Transport der Patientin ins Hospital entfernt. Die Farbe war organisch inaktiv und chemisch ungiftig. Unter Berücksichtigung des Alters der Patientin bin ich von einer zu kosmetischen Zwecken aufgetragenen Schmuckfarbe ausgegangen. Die junge DBPK hat wahrscheinlich versucht, älter zu wirken, als sie tatsächlich war.“
„Das scheint eine berechtigte Annahme zu sein“, entgegnete O'Mara. „Wir haben es also mit einem Wesen zu tun, das zwar natürliche Eitelkeit, aber keine natürlichen Waffen besitzt.“
Farbe… schoß es Conway plötzlich durch den Kopf. Im hintersten Winkel seines Gehirns regte sich zwar eine Idee, aber er konnte ihr noch keine konkrete Form geben. Es hatte irgend etwas mit Farbe oder vielleicht mit den verschiedenen Verwendungsarten von Farbe zu tun. Schmuck, Isolierung, Schütz, Warnung. Das mußte es sein! Das Auftragen von organisch inaktiver, ungiftiger und ungefährlicher Farbe.
Er begab sich rasch zum Instrumentenschrank und nahm eine der Sprühdosen heraus, mit denen sich eine ganze Anzahl von ETs eine Schützschicht auf die Greiforgane auftrug, anstatt Operationshandschuhe anzuziehen. Conway probierte die Dose kurz aus, weil der Sprühkopf eigentlich nicht für die Finger eines DBDGs vorgesehen war. Als er sich sicher war, mit der Dose punktgenau sprühen zu können, ging er zu der Patientin hinüber, die in ihrem weichen Pelz schutzlos dalag.
„Was, zum Teufel, machen Sie da, Conway?“ fragte O'Mara.
„Unter diesen Umständen dürfte dem Patienten die Farbe der Schützschicht ziemlich egal sein“, sagte Conway, der lediglich laut dachte und im Moment vom Chefpsychologen überhaupt keine Notiz nahm. „Prilicla, kommen Sie doch bitte mal näher an die Patientin heran“, führ er fort. „Die emotionale Ausstrahlung der DBPK wird sich in den nächsten paar Minuten merklich verändern, das spüre ich ganz deutlich.“
„Ich bin mir Ihrer Gefühle durchaus bewußt, mein Freund“, antwortete Prilicla.
Conway lachte nervös und entgegnete: „In dem Fall, mein Freund, spüre ich ziemlich deutlich, daß ich die Lösung gefunden habe. Aber wie sieht es denn mit den Emotionen der Patientin aus?“
„Die sind unverändert, mein Freund“, antwortete der Empath. „Die Patientin empfindet eine allgemeine Besorgnis. Das gleiche Gefühl hatte ich schon nach ihrem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit und der Überwindung der anfänglichen Angst und Verwirrung festgestellt. Im Moment strahlt die DBPK Besorgnis, Traurigkeit, Hilflosigkeit und. und Schuldgefühle aus. Vielleicht denkt sie an ihre toten Freunde.“
„Sie denkt an ihre Freunde, ja“, entgegnete Conway, drückte auf den Kopf der Dose und besprühte die kahle Stelle über dem Schwanz der Patientin mit der knallroten, chemisch inaktiven Schutzfarbe. „Aber sie denkt dabei an ihre Freunde, die leben.“
Die Farbe trocknete schnell und wurde zu einem stabilen, biegsamen Schutzfilm. Nachdem Conway noch eine zweite Schicht aufgesprüht hatte, zog die Patientin den Kopf unter dem Schwanz hervor und betrachtete den frisch versiegelten Fleck nackter Haut. Dann wandte sie das Gesicht Conway zu und musterte ihn fest mit ihren großen, sanften Augen. Conway unterdrückte den unwiderstehlichen Drang, ihr den Kopf zu streicheln.
Prilicla trillerte aufgeregt — diesen Laut konnte der Translator natürlich nicht übersetzen — und sagte dann: „Die emotionale Ausstrahlung der Patientin hat sich deutlich verändert, mein Freund. Statt tiefer Besorgnis und Traurigkeit empfindet sie jetzt hauptsächlich riesige Erleichterung.“
Genau dasselbe Gefühl herrscht bei mir im Moment auch vor, dachte Conway bewegt. „Tja, das war's dann wohl“, sagte er laut. „Die Gefahr einer Verseuchung ist gebannt.“
Alle auf der Station Anwesenden starrten ihn ungläubig an und strahlten dabei so heftige und gemischte Gefühle aus, daß sich Prilicla, wie von einem emotionalen Wirbelsturm geschüttelt, an der Decke festklammern mußte. Colonel Skemptons Gesicht war vom Bildschirm verschwunden, so daß ihn allein die kantigen Gesichtszüge von O'Mara anstarrten.
„Conway“, rief der Chefpsychologe barsch. „Erklären Sie mir das!“
Conway begann seine Erläuterungen mit der Bitte, die von der Behandlung der DBPK-Patientin angefertigte Aufzeichnung zu starten, und zwar von einem Punkt an, der ein paar Minuten vor der Wiedererlangung ihres vollen Bewußtseins lag. Während sie kurz darauf noch einmal sehen konnten, wie Thornnastor, die kelgianische OP-Schwester und der Melfaner Edanelt ein kleines Stück vom Untersuchungstisch zurückgetreten waren, um den Sitz des Luftschlauchs der Patientin zu überprüfen, erklärte Conway: „Der Grund, warum niemand an Bord der Rhabwar während des Rückflugs zum Hospital in Mitleidenschaft gezogen worden ist, liegt in der ununterbrochenen Bewußtlosigkeit der Patientin begründet. Ob die beiden behandelnden Ärzte und die ihnen assistierende OP-Schwester nun von ihren Artgenossen als gutaussehend betrachtet werden oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen, aber auf ein Wesen, das mit ihnen zum erstenmal im Leben konfrontiert wird — und dazu noch nicht einmal erwachsen ist —, könnten sie optisch durchaus ziemlich abstoßend oder gar furchterregend wirken. Unter diesen Umständen sind die Angst und die Kurzschlußreaktion der Patientin durchaus verständlich. Aber achten Sie jetzt besonders auf die Reaktion des DBPK-Körpers, als sich die Patientin ein paar Sekunden lang physisch bedroht fühlte.
Die Augen sind weit geöffnet, der Körper ist versteift und der Brustkorb stark ausgedehnt“, beschrieb er die jetzt auf dem Hauptbildschirm ablaufende Szene. „Eine ziemlich normale Reaktion, da werden Sie mir sicherlich zustimmen. Anfangs ein kurzer Moment der Lähmung, gefolgt von einer Hyperventilation, damit die Lunge entweder für einen Hilferuf oder die Aktivierung der Muskeln zur schnellen Flucht mit soviel Sauerstoff wie möglich versorgt ist. Zu diesem Zeitpunkt galt unsere ganze Aufmerksamkeit dem Vorfall mit den drei medizinischen Mitarbeitern und dem betroffenen Teammitglied. Deshalb haben wir gar nicht bemerkt, daß der Brustkorb der Patientin mehrere Minuten lang ausgedehnt geblieben ist — sie hat nämlich den Atem angehalten.“
Auf dem Bildschirm stürzte Thornnastor jetzt schwer zu Boden, die kelgianische Schwester brach zu einem schlaffen Haufen Fell zusammen, die Unterseite von Edanelts knöchernem Panzer krachte lautstark auf den Boden und auch das Mitglied des Transportteams sackte zusammen. Alle anderen Anwesenden ohne Schutzanzüge rannten zur Drucktragbahre und den Atemmasken. „Die Auswirkungen dieser vermeintlichen Viren waren plötzlich und dramatisch“, fuhr Conway fort. „Vollständiger oder partieller Atemstillstand, Kreislaufkollaps sowie deutliche Anzeichen eines negativen Einflusses auf die willkürliche und unwillkürliche Muskulatur. Allerdings war bei den Betroffenen kein Anstieg der Temperatur festzustellen, was eigentlich bei einer körperlichen Abwehrreaktion auf eine Infektion zu erwarten wäre. Wenn man eine Infektion also ausschließen konnte, dann war die DBPK-Patientin gar nicht so schutzlos, wie sie aussah.“
Wie Conway in seinen Erklärungen fortfuhr, mußten die DBPKs auf ihrem Weg zur dominanten Lebensform ihres Planeten irgendein Mittel zur eigenen Verteidigung entwickelt haben. Oder in anderen Worten: Jedes Wesen, das einen Schutzmechanismus braucht, hat auch einen. Wahrscheinlich waren die erwachsenen DBPKs irgendwann geistig flexibel genug, um Schwierigkeiten zu vermeiden und ihre Kinder zu beschützen, solange sie noch klein und leicht zu tragen waren. Doch sobald die Kinder für den elterlichen Schutz zu groß geworden und für den eigenen noch zu unerfahren waren, entwickelten sie einen Verteidigungsmechanismus, der gegen alles wirkte, das lebte und atmete.
Bei der Bedrohung durch natürliche Feinde stießen die jungen DBPKs ein Gas aus, das die Wirkung des alten terrestrischen indianischen Pfeilgifts Curare mit der Schnelligkeit späterer Nervengase in sich vereinigte. Daraufhin kam die Atmung des Feinds zum Stillstand, und er stellte keine Bedrohung mehr dar. Dieser Schutzmechanismus war allerdings ein zweischneidiges Schwert, weil er bei jedem Sauerstoffatmer zur Bewußtlosigkeit führen konnte, auch bei den DBPKs selbst. Da aber das den Gasausstoß auslösende Ereignis gleichzeitig den betreffenden DBPK veranlaßte, die Luft anzuhalten, ließ sich daraus schließen, daß die giftige Substanz eine komplexe und wenig stabile Molekularstruktur besitzen mußte, die schon wenige Augenblicke nach der Freisetzung zerfiel und ungefährlich wurde. Und zu diesem Zeitpunkt stellte der Feind natürlich schon längst keine Bedrohung mehr dar.
Mit dem Aufstieg der Zivilisation, der Gründung von Städten und dem daraus resultierenden engen Zusammenleben von Wesen aller Altersgruppen wurde der Schützmechanismus der DBPK-Kinder eher zu einer gefährlichen Funktionsstörung. Ein plötzlich erschrecktes und instinktiv reagierendes Kind konnte versehentlich eigene Familienangehörige, Passanten auf der Straße oder Klassenkameraden in der Schule außer Gefecht setzen. Deshalb bestrich und versiegelte man das Organ zum Gasausstoß, bis das Kind erwachsen und das Organ funktionsunfähig geworden war. Daß die auf das aktive Organ aufgetragene Farbe den braunen Flecken der „ungefährlichen“ Erwachsenen ähnelte, hatte nach Conways Ansicht wahrscheinlich psychologische oder soziologische Gründe.
„…diese Patientin ist ein Mädchen in der Vorpubertät, gehört einer raumreisenden Spezies an und dürfte damit gerechnet haben, auf fremde Lebensformen zu stoßen“, führ Conway fort und wandte sich vom Bildschirm ab, als die Aufzeichnung zu Ende war. „Wegen ihrer Schwäche und der Körperverletzungen hat sie aber instinktiv reagiert, wobei ihr fast im selben Augenblick klargeworden ist, was sie angerichtet hatte. Nach Priliclas Angaben über die empfangenen Emotionen hatte sie starke Schuldgefühle, und es tat ihr furchtbar leid, was sie einigen ihrer Retter angetan hatte. Gleichzeitig fühlte sie sich völlig hilflos, weil sie uns nicht vor der noch immer akuten Gefahr warnen konnte. Aber jetzt haben wir sie praktisch „entschärft“, und deshalb ist sie sehr erleichtert. Ihre emotionalen Reaktionen lassen jedenfalls meiner Meinung nach darauf schließen, daß die DBPKs ausgesprochen liebenswürdige Wesen sind und.“
Conway brach ab, als der Bildschirm erneut aufflackerte und die Gesichter von Colonel Skempton und Major O'Mara erschienen. Skempton wirkte nervös und verlegen und blickte beim Sprechen die ganze Zeit auf irgend etwas, das er außer Reichweite der Kamera hielt.
„Vor ein paar Minuten haben wir einen Funkspruch von der Descartes erhalten, in dem folgendes steht: „Ihre im letzten Funkspruch gegebenen Anweisungen werden wir nicht befolgen. Der Heimatplanet der DBPKs ist lokalisiert, und das Kontaktverfahren ist bereits weit fortgeschritten. Nach dem Inhalt Ihrer Mitteilung zu urteilen, handelt es sich bei der Überlebenden um eine DBPK in der Vorpubertät, und Sie haben Probleme. Warnung: Behandeln Sie dieses Wesen keinesfalls ohne Gesichtsmasken oder leichte Schutzanzüge, und begeben Sie sich auch nicht ohne einen ähnlichen Schutz in die Nähe der Patientin. Falls Sie diese Sicherheitsmaßnahmen nicht getroffen haben und bereits Hospitalpersonal betroffen sein sollte, muß man die Atmung der Opfer sofort länger als zwei Stunden künstlich unterstützen. Danach wird sich die Atemtätigkeit ohne Nachwirkungen wieder normalisieren. Die Ursache dieser Beschwerden ist eine natürliche Verteidigungswaffe, die nur junge DBPKs besitzen. Die Funktionsweise wird man ihnen nach der Ankunft von zwei DBPK-Ärzte erklären, die in den nächsten vier Stunden mit der Torrance eintreffen und die Patientin nach einer Untersuchung mit nach Hause nehmen werden. Sie sind außerdem sehr an der Idee eines Hospitals mit vielfältigen Umweltbedingungen interessiert und haben um die Erlaubnis gebeten, später zu Studienzwecken für eine gewisse Zeit ins Orbit Hospital zurückkehren zu dürfen, um dort.. ““
Auf einmal wurde es unmöglich, weiterhin Skemptons Stimme oder die Nachricht der Descartes zu hören, weil Doktor Gilvesh Conway etwas zurief und dabei auf die kelgianische Schwester zeigte. Ihr Fell kräuselte sich stark, ein Ausdruck der Enttäuschung, weil der in der Luftröhre steckende Schlauch sie am Sprechen hinderte. Auch ein Mitglied des Transportteams rief nach Conway, weil Thornnastor auf seine sechs mammuthaften Beine zu kommen versuchte und sich dabei lautstark über seine eigene Unbeholfenheit beklagte. Der zusammengebrochene Melfaner war ebenfalls wieder auf den Beinen und wollte deutlich hörbar wissen, was denn überhaupt passiert sei. Der Hudlarer schrie, er habe Hunger. Alle, die in der Drucktragbahre gesteckt hatten, kamen herausgekrochen, und die restlichen Wesen hatten sich von ihren Atemmasken befreit. Alle Anwesenden versuchten gleichzeitig, sich bei Conway oder untereinander Gehör zu verschaffen.
Conway schnellte herum, um einen Blick auf die Patientin zu werfen, denn er sorgte sich plötzlich darum, welche Auswirkungen dieses zunehmende Chaos auf sie haben könnte. Zwar bestand nun keine Gefahr mehr, durch eine Kurzschlußreaktion der Überlebenden das Bewußtsein zu verlieren, da er erst vor ein paar Minuten die Schützschicht aufgetragen hatte, aber das arme Kind könnte sich ja möglicherweise zu Tode fürchten.
Die junge Patientin sah sich mit ihren großen, sanft dreinblickenden Augen in der Station um, aber es war unmöglich, irgendeinen Ausdruck auf dem pelzigen, dreieckigen Gesicht zu deuten. Dann ließ sich Prilicla von der Decke fallen und schwebte bis auf wenige Zentimeter an Conways Ohr heran.
„Sie brauchen nicht besorgt zu sein, mein Freund“, beruhigte ihn der kleine Empath. „Das vorherrschende Gefühl der Patientin ist nichts als pure Neugier.“
Über diesen ganzen tumultartigen Radau hinweg konnte Conway sehr schwach im Hintergrund die Folge langer Sirenentöne hören, die Entwarnung für den Kontaminierungsalarm gaben.