Es gibt eine Reihe von Fragen, die sich der Mensch wieder und wieder stellt. Das war schon auf einem Planeten mit Namen Erde so, der für uns kaum mehr bedeutet als eine phantastische kosmische Sage. Und das wird so sein bis in alle Zukunft unseres Planeten Andymon, über der genau wie über der irdischen Vergangenheit der Schleier der Zeit liegt.
Ich bin früh auf diese Fragen gestoßen, fast noch als Kind. Ich hatte die Bücher für mich entdeckt, und ich las viel und je nach Stimmung leichtverständliche Wissenschaft, viel Geschichte, erfundene Abenteuer, aber auch Verse. Und eines dieser Gedichte, dessen Wortlaut in der toten Sprache der Inka ich nicht kenne, fragte: Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich?
Es schien, als ob ich die gereimten Schreie des längst zu Staub zerfallenen Dichters beantworten könnte: Du kamst aus dem Schoß deiner Mutter — soviel wußte ich damals schon, daß die Menschen der Erde Mütter hatten — in dem untergegangenen Reiche der Inka auf dem von uns nie gesehenen Planeten Erde; du warst ein Mensch, ein Homo sapiens, gemäß der Einordnung in die Systematik des Lebenden; und du bist eines gewaltsamen Todes gestorben, als bärtige Barbaren all das zerstörten, was dir als Kultur galt. So einfach erschien es mir, die Fragen des indianischen Dichters zu beantworten.
So einfach… Doch: Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich?
Kann ich die letzte Frage beantworten, solange mir die Umstände meines nicht zu bezweifelnden Todes ungewiß sind? Darf ich die zweite Frage mit einem sachlichen „Homo sapiens“, einem einfachen „Ich bin ein Mensch“ beantworten, da doch mit uns eine neue kosmische Gattung geboren wurde? Genügt es, das Woher mit dem technischen Satz zu erhellen: Ich wurde an Bord eines Raumschiffes ohne Namen vom Inkubationssystem 2 erzeugt, als sich die Große Reise ihrem Ende näherte? Muß ich hinzufügen, daß ich Verschmelzungsprodukt des Spermiums eines mir unbekannten menschlichen Vaters und der Eizelle einer mir unbekannten menschlichen Mutter bin und daher in mir trage, was die biologische Evolution auf der Erde in Jahrmillionen ansammelte?
Ich bin nicht sicher, ob ich die Fragen des indianischen Dichters, dessen Existenz im Dunkel liegt, raumzeitlich beantworten soll, ob sie überhaupt eine artikulierbare Antwort suchen oder nur Ausdruck sind des Fremdseins in einer Welt, die dem Menschen bald feindlich, bald freundlich gegenübersteht und die er mit Taten und Begriffen zu bezwingen sucht. Doch wie könnte ich fremd sein in einer Welt, die ich selbst mit schuf? Ich muß wohl glauben, daß aus diesen Fragen die Offenheit der Welt, die Unendlichkeit von Raum und Zeit zu mir sprechen.
Dieses Gesicht, diese Augen, die mir stets freundlich zulächelten, die weichen sanften Züge, selbst die feingeschnittenen Brauen und die eher breit zu nennende Nase, das schwarze, welligweiche Haar, mit dem ich so oft spielte - ich kann sie nie vergessen, Ramma, meine Ramma. Sie ist das erste Wesen, dessen ich mich entsinnen kann. Keine meiner Erinnerungen reicht weiter zurück. Wie sollte es auch anders sein. Dem erwachenden Bewußtsein eines entstehenden Menschen sind die Anfangsphasen seiner Entwicklung verschlossen. Vom Inkubator erfuhr ich erst Jahre später.
Denke ich zurück, so liebe ich Ramma noch heute, empfinde noch heute einen Anflug jener warmen Geborgenheit, die meine früheste Kindheit bestimmte und so sorgenfrei machte. Dabei war Ramma nichts als ein ausgeklügelter Betrug, falsch bis auf die metallenen Knochen, bloßer Trick und Imitation. Jeder ihrer Gesichtszüge, jede ihrer Bewegungen war so ausgedacht und entworfen, daß sie mir die nicht vorhandene menschliche Mutter vorgaukelten. Jedes ihrer Worte des Trostes und Mitgefühls bei meinen kindlichen Wehwehchen war nichts als Vorspiegelung, raffinierte Lüge einem Wesen gegenüber, das unfähig sein mußte, sie zu durchschauen. Das Werk eines Kollektivs von Kinderpsychologen, Kybernetikern, Designern war vor allem in dieser Beziehung perfekt. - Und doch denke ich mit Liebe an Ramma zurück.
Ist es falsch, daß ich jetzt noch so viel Gefühl, so viele Gedanken auf ein technisches System verschwende, auf meine Robotamme? Ich weiß es nicht. Und wenn sich hinter ihren mütterlichen Gesichtszügen auch hochintegrierte Nanoelektronik verbarg und wenn ich auch aus synthetischen Brüsten trank und, eingelullt von künstlicher Wärme und einem leisen imitierten Herzschlag, einschlief, es war nun einmal meine Ramma.
Ist es nicht gleich, daß ein ausgeklügeltes Programm all ihre Handlungen bestimmte? Daß genetisch determinierte Schlüsselreize berücksichtigt wurden und entwicklungspsychologische Gesetze? Ich liebte Ramma, denn sie war es, die mir zulächelte, mich in ihren unermüdlichen Armen wiegte, mir zärtliche Worte zuflüsterte.
Sie, die Maschine, die komplexe kybernetische Struktur, die Gefühle weder empfangen noch erwidern kann, sie allein hat mein Fühlen erweckt und in den ersten Jahren geleitet. Ohne Ramma wäre ich kein menschliches Wesen geworden, ein wildes Tier nur, ein menschenähnlicher Automat.
Ramma — so paradox es scheint: Ein Roboter erzog mich zum Menschen. Und so haben die Rührung und die Dankbarkeit, mit der ich an sie zurückdenke, ihre Berechtigung.
Alfa war die Erstgeborene. Zwei Monate früher als mich hatten die Inkubatoren sie in unsere stahlummantelte Welt gesetzt. Und eines Tages müssen uns unsere Rammas zusammengebracht haben, eines Tages, an den ich mich nicht entsinnen kann, so weit liegt er zurück im Schatten meiner Kindheit. Kein Bild taucht in mir auf, das mich allein mit der dunklen Alfa zeigt in den zehn Wochen, bevor Gamma unsere Gespielin wurde. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Erinnerungen an die Zeit des Spielens zu dritt echt sind oder ob es sich nicht nur um das nachträgliche Ausmalen wahrscheinlicher Situationen handelt. Aber das ist unwichtig. Ich sehe, wie sich die winzige Gamma auf Alfas Rücken festklammert und wie ich beide eifersüchtig umkreise.
Lange Jahre — die zeitlosen, halbvergessenen Jahre der frühen Kindheit — blieb Alfa in meinen Augen die Große, die Starke, die Überlegene. Sie war kräftiger gebaut, zudem die Ewigkeit von achtundsechzig Tagen älter, die ich nie einzuholen vermochte. Gamma hingegen zeichnete eine unter uns einzigartige Zierlichkeit aus. Kein Wunder, daß Alfa mit ihr „Ramma und Gamma“ spielte und den Bruder, den sie weder richtig auf dem Rücken tragen noch bemuttern konnte, überging. Neidisch beobachtete ich ihr Spiel, versuchte mich dazwischenzudrängen oder ahmte sie nach, indem ich die beiden einzig bekannten Rollen, die des Babys und die der Ramma, annahm. Manchmal stritt ich mich mit Alfa um Gamma. Allein sie wußte ihren Willen meist durchzusetzen, und ich blieb Zuschauer bei diesem Spiel, zumindest in meiner echten oder falschen Erinnerung.
Etwa als Delth in unseren Kreis trat, entdeckte ich, daß Ramma nicht Ramma war, oder vielmehr, daß es Ramma und Ramma und Ramma gab: Sie konnten nebeneinanderstehen. Das verwirrte mich sehr. Und in der ersten Verwirrung hatte ich sogar Mühe, meine, die einzig richtige Ramma herauszufinden. Erst ihre so vertraute, beseligende Stimme gab mir die Sicherheit zurück.
Heute weiß ich natürlich, daß sich um jedes Kind eine spezielle Robotamme kümmerte, damals aber erschütterte diese Entdeckung meine Welt. Ich mußte unterscheiden lernen, und die Grammatik von mein, dein und sein bekam einen tiefen, ungeheuerlichen Sinn.
Wir nannten uns Geschwister und Schwester und Bruder die Spielgefährten. Wie alle Wörter kamen auch diese von den Rammas, wurden uns gelehrt, ohne daß wir es bemerkten. Viel, viel später erst begriff ich, daß diese Wörter auch eine andere, biologische Bedeutung besitzen können. „Blut ist dicker als Wasser“, sagt man auf der Erde. Eine Halbwahrheit. Die Hautfarbe meiner Geschwister ist verschieden wie Tag und Nacht, und doch stehen wir uns durch die gemeinsame Kindheit noch heute so nahe, wie es gemeinsame Gene allein nie hätten bewirken können.
Wir nannten uns Geschwister, wuchsen und bekamen Zuwachs. Nach Delth kam Ilona, auf Zeth folgten Eta und Teth, während die Monate vergingen. Oft mußte eine Ramma einschreiten, wenn wir größeren Geschwister zu rabiat mit den kleineren umgingen. Die Schelte, die ich gesenkten Hauptes empfing, weil ich Eta hatte fallen lassen, kann ich nicht vergessen. Noch heute fasse ich Kinder nur sehr sacht an, betrachte sie als etwas unendlich Zerbrechliches.
Wir spielten mit weichen Bauklötzen aller Farben, rauften uns um Bälle, wurden gebadet und plantschten. Und wir beschmierten mit süßen Buntstiften alles, was uns in den Weg oder in den Sinn kam. Besonders gern haben wir Ilona angemalt, sie war als Kind weißblond und hatte eine entsprechend zarte helle Haut, auf der die Farben wunderbar zur Geltung kamen. Ilona lag nichts daran, von uns verziert zu werden. Alle Beteuerungen, sie werde dadurch schöner, halfen nichts. Sie schrie jämmerlich nach ihrer Ramma, wenn wir sie endlich überwältigt hatten und festhielten. Aber manchmal, insgeheim, bemalte sie sich selbst.
Neben den Geschwistern und Rammas gab es noch ein Wesen in meiner kindlichen Welt, das eher ihnen ähnelte als den toten Dingen wie Stöcken oder Schachteln - meinen Teddy. Er lauschte geduldig meinen langen Erzählungen, verweigerte kein Spiel, ertrug gehorsam, was immer ich mir ausdachte, und liebte mich auch nach der gründlichsten Untersuchung noch. Zweimal mußte mein Teddy nach Zerlegungsversuchen von Ramma wiederhergestellt werden, kurieren nannte sie das und erklärte mir die Leiden eines geschundenen Teddys. Nur Delths Teddy wurde öfter repariert.
Der Mensch ist so eingerichtet, daß sich in der Erinnerung das Verhältnis von Leid und Freude verschiebt. Ich weiß sicher, daß ich als Kind oft geweint habe, schon um meinem Willen Ausdruck zu verleihen. Und doch erscheint mir die Zeit im Kreise der widerborstigen Geschwister und der folgsamen Spielzeuge in einem freundlichen Licht. Die Sorgen des Kinderaugenblicks verblassen vor den Sorgen, Mühen und Anstrengungen, mit denen Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart des Erwachsenen beschatten.
Sehr klein noch müssen wir gewesen sein, als uns eine Ramma zum erstenmal auf die Wiese brachte, denn mir fehlt jegliche Erinnerung an diesen Tag. Aber ich war einmal unbeabsichtigt Zeuge eines solchen Augenblicks im Leben einiger jüngerer Geschwister, als ich mich vor meinen Spielgefährten im Wiesenraum verbarg.
Eine Tür öffnete sich. Ich glaubte mich schon entdeckt, da sah ich zu meiner Überraschung vier Kinder, die gerade laufen konnten, unschlüssig an der Schwelle stehen. Das Schauspiel, das nun stattfand, fesselte mich.
Was war das doch für ein seltsames, überaus großes Zimmer, in das sie Ramma führte! Den Boden bedeckte ein dickes grünes Fell, das sie nicht zu betreten wagten, bis die Ramma, die einige Schritte vorausgegangen war, sie zu sich rief.
„Das ist eine Wiese, eine grüne Wiese“, erklärte die Ramma. „Sie besteht aus Gras.“
Sie echoten die neuen Worte und kugelten zu Boden, um das Gras richtig zu spüren. Es war kühl und kitzelte angenehm auf der Haut.
Vorsichtig zog ich mich zum anderen Ausgang der von hohen Wänden umgebenen Wiese zurück. Ich wollte nicht stören.
„Gras ist nicht eßbar“, sagte die Ramma. Sie hatte die Beine angezogen und sich auf ihren konischen Unterleib niedergelassen, um ihnen näher zu sein.
Sofort stopften sie, allen voran ein dicker, unbeholfener, brauner Junge, die harten Halme in den Mund. Es schmeckte wirklich nicht — ebensowenig wie die Erde, die er aus dem Boden pulte. Er spuckte angewidert das Zeug aus.
„Brei essen“, verlangte er ungeduldig. So ein plumper Knabe war ich vielleicht auch einmal gewesen — oder ähnelte er eher Delth?
Und dann entdeckten sie die Blumen. Gras, das nicht grün war, sondern gelb und blau und rot. Kreischend rissen sie sie aus, zerpflückten auch das letzte Blatt, das letzte Staubgefäß und bewarfen sich juchzend mit den bunten Schnipseln, von denen manche im Haar der Spielgefährten hängenblieben. Sie hatten ihre laute Freude daran. Dann schmückten sie sich, so gut sie mit ihren ungeschickten Händen konnten, steckten sich Blüten in die Ohren und in die Nasenlöcher. Es würde noch seine Zeit dauern, bis sie, wie wir, es lernen würden, aus Blumen Kränze zu flechten.
So oder ähnlich müssen auch Alfa, Delth, Gamma und ich die Wiese kennengelernt haben. In wenigen Tagen war sie uns vertraut wie unser Schlafraum. Und wie die Wiese nach unseren wilden Spielen, Gras-und Dreckschlachten mitunter aussah! Manchmal vergingen Wochen, bis die Narben zugewachsen waren.
Und wie oft erwartete uns am Morgen etwas Neues auf der Wiese! Ein weißes Kaninchen in berechtigter Angst, das sich erst in der letzten Ecke fangen ließ, ein paar Mäuse, die uns einen Schreck einjagten, keine Furcht kannten, uns zu beklettern, und die wir doch nie ergreifen konnten. Ein Vogel, ein fliegendes Tier! Die Wiese war voller Wunder. Von den Rammas lernten wir die Namen der Tiere und die Zahlen von eins bis viele, das auf drei folgte. Und wir fragten und fragten. Gamma entwickelte darin eine besondere Kunst, sie wußte auf jede Antwort der Rammas eine neue Frage.
So ist das bei Kindern. Zu viele von uns haben mit wachsendem Alter das Fragen verlernt, begnügen sich mit vorgegebenen Antworten. Ich aber glaube, daß man sich nie auf die großen Fragen nach dem Woher und Wohin mit einer letzten und endgültigen Antwort zufriedengeben darf.
Die Wiese hatte ich noch bereitwillig akzeptiert als einen neuen Raum, doch als wir später, nach häufigen Begegnungen mit Tieren und Pflanzen, in den Naturpark geführt wurden, schien mir das Herz stillzustehen. Die Wiese konnte ich schnell überqueren, die gegenüberliegende Wand und die Decke waren stets zu sehen, die Größe des Naturparks aber erschreckte mich. In meiner kindlichen Vorstellung war er schlicht unendlich. Die Wände fehlten! Hinter jedem Baum standen weitere, hinter der Wiese kam ein See, und hinter dem See waren erneut Wiesen und Bäume und dann die grauen Flecken, die Felsen hießen. So ging das weiter und weiter und höher hinauf.
Während ich dem Lauf eines glitzernden Bachbandes mit den Augen folgte, die bald nicht mehr alle Details zu erkennen vermochten, mußte ich meinen Kopf heben. Wie sollte ich wissen oder begreifen, daß die grünen, grauen, gelben und blauen Farbtupfen über meinem Kopf noch zum Naturpark gehörten? Wie konnte ich ahnen, daß ich mich in einem kilometergroßen Zylinder befand, da mir die Begriffe dazu fehlten. Für mich verschwand der Park in der Entfernung einfach in einer Art Nebel, ich sah, und zugleich sah ich nicht.
Die jüngeren Geschwister nahmen den Park, wie er war. Meine Furcht vor der Weite mochte ihnen fremd sein.
Am Abend kroch ich verstört in mein Bett, das wohltuend nahe Wände umgaben. Ich träumte einen unvergessenen Traum: Die Wände unseres Zimmers lösten sich grün auf, ich befand mich in einem größeren, das der Wiese ähnelte. Und wieder zergingen die Wände, noch einmal konnte ich unsicher eine feste Hülle um mich in der Entfernung erspähen, dann zerplatzten meine Sinne in ein grenzenloses Nichts, dann erfuhr ich die große Leere, von der ich damals noch nichts wissen konnte.
Ich erwachte und fror. Ich wollte Ramma rufen, aber die Leere verstopfte mir den Mund. Ich kroch, bis ich Alfas Bett fand, stieß sie wach und erzählte ihr unter Tränen, daß nirgendwo eine Wand sei. Dann weinte auch sie, und ich beruhigte mich.
Ich mochte etwa fünf Erdjahre zählen, da saß eines Morgens ein neues Wesen an einem der Felsen. Wir waren es längst gewohnt, ständig neue Tiere kennenzulernen, auch solche, deren Biß uns erkranken ließ oder deren Stich schmerzende Beulen verursachte. Nur der unermüdlichen Aufmerksamkeit der allgegenwärtigen Rammas war es zu verdanken, daß wir mit Schreck und Schmerz davonkamen. Doch dieses neue Wesen ähnelte nicht den Vierbeinern oder den Gefiederten, es glich auf eine verzerrte Weise eher den Rammas und uns.
Zweibeiner sprechen, war die erste Erfahrung, die es uns vermittelte, als wir uns vorsichtig und neugierig näherten. Das Wesen sagte: „Ich heiße Guro. Ab heute werde ich euch alles lehren.“
Ich erwiderte, daß ich Beth heiße, und fragte, ob er mit uns spielen wolle. Guros Lächeln galt uns als Einwilligung.
Noch am selben fag rief uns Guro am Ufer des Sees zusammen. Mit einem Stock malte er Zeichen in den Sand. „Dies ist für dich, Alfa, und das für dich, Beth.“
Ich versuchte sofort, es nachzuzeichnen. Die anderen wollten nicht zurückstehen, holten sich Stöcke und kritzelten im Sand. Ilona schrie, als wäre sie selbst verletzt, als Eta aus Versehen auf ihr kraklig dürres Epsilon trat und es verwischte. Guro war sofort zur Stelle, tröstete sie und übte mit ihr. Er erklärte uns fast jeden Tag neue Zeichen. Als das Spiel den Reiz der Neuheit verloren hatte, mußte Guro zu jedem Zeichen eine Geschichte erfinden, um unser Interesse zu wecken.
Gamma meinte Jahre später, daß Guro eine Abkürzung für „Genialer Universalroboter“ sein müßte, die Erdmenschen erfänden auf diese Art Namen. Beweisen konnte sie es nicht, und Guro verschwieg uns den Ursprung des Namens — auch sein Wissen kannte Grenzen.
Guro hatte viel Arbeit mit uns. Nimmermüde beantwortete er die Fragen der Kleineren, zeigte uns manchen Trick, gab uns Ratschläge für unsere Spiele und später dann Unterricht.
Als mehr Geschwister zu uns in den Naturpark stießen, sagte Guro: „Ihr werdet zu viele, ich muß mich verdoppeln.“
Wir lachten, bis wir sahen, daß im Schatten des Felsens, nur wenige Schritt hinter ihm, ein zweiter Guro stand. Sie glichen einander so sehr, daß uns schon bald jegliche Unterscheidung unmöglich wurde. Oft fragten wir einen Guro etwas und rannten gleich darauf abgelenkt davon, in solchen Fällen konnte auch der andere antworten. Wir wunderten uns nicht wenig, waren aber froh, daß es einen doppelten Guro gab: So konnte er uns mehr erzählen.
Zwei Roboter, die von einem entfernten Computer gesteuert werden — wie wenig Geheimnis barg Guros Verdopplung in sich. Mit seinem Wissen, den in den Informationsspeichern des Schiffes gesammelten Erfahrungen der Menschheit, ist er mir zu jeder Zeit hoch überlegen. Aber seine Genialität und Universalität sind auf die beschränkte Welt des Schiffes zugeschnitten. Heute löst er meine Probleme nicht mehr.
Von dem Zeitpunkt an, als wir acht Ältesten einen Guro bekamen und die Jüngeren einen anderen, begannen wir uns als Gruppe zu betrachten.
Wir, das waren Alfa mit dem zu großen Mund im dunkelbraunen Gesicht, zu der man mit jedem Wehwehchen kommen konnte und von der man nie ungetröstet ging; und die zarte, milchkaffeebraune Gamma, die beim Nachdenken immer ihren Zeigefinger an die Nase hob. Zu uns gehörten die beiden stets dreckverkrusteten Hellhäutigen, das kleine Energiebündel Delth und die flinke, blonde, sommersprossige Ilona. Zeth, Eta und Teth, die drei Jüngsten, hatten noch nicht viel zu sagen, sie suchten noch den Anschluß zu gewinnen und ahmten fleißig nach, was wir ihnen vormachten.
Guro beachtete zwar die damals noch bedeutsamen Altersunterschiede, er versuchte trotzdem, uns allen dasselbe beizubringen, gleich, ob es sich um das kleine Einmaleins oder das Verhalten von Körpern im Wasser handelte. Er erzählte stundenlang, lehrte uns neue Spiele und führte uns auf lange Expeditionen.
„Wir wandern“, sagte er dann und teilte kleine Beutel mit Verpflegung aus. Wir warfen sie uns über die Schulter, und schon ging es los.
Die nähere Umgebung des Hügeleingangs in den Naturpark hatten wir spielend erkundet, ebenso wie die Wiese mit ihren Bewohnern, den See am Rande der Wiese und ein Stück Laubwald, der die Wiese zur anderen Seite hin begrenzte. Jetzt umrundeten wir den See, überquerten die dahinterliegende Heide und erklommen einen kleinen bewaldeten Berg. Stundenlang marschierten wir durch Wälder, dichtes Gebüsch und Wiesen, deren Gräser uns überragten.
Überall am Weg gab es Sehenswertes: den Ameisenhügel, eine Igelfamilie oder einen umgestürzten, pilzbewachsenen Baum. Guro erklärte, dann gingen wir weiter. Er nahm kaum Rücksicht, wenn wir noch ein wenig mit den Igeln spielen oder rasch quer über eine Lichtung laufen wollten, über der bunte Falter tanzten.
„Heute wollen wir weit gehen“, erinnerte er uns und nahm den Marsch wieder auf. Guro schien auch unsere Klagen über müde Füße zu überhören. Endlich erreichten wir einen Sumpf, rasteten und aßen. Fliegen setzten sich auf unsere Brote, Mücken umschwirrten uns und stachen immer häufiger. Dreckig und abgekämpft, wie wir waren, schmeckte uns jeder Bissen.
Dann liefen wir über schwankende Mooshügel und vorbei an verkrüppeltem Gehölz. Ständig mußte uns Guro in den Bereich zurückrufen, wo der unsichere Boden sein Gewicht noch trug. Delth und ich spielten mit der kalkulierten Gefahr. Wir wußten, daß Guro ohne Zögern im Sumpf versunken wäre, um uns zu retten. Einmal glitt mein Fuß ab — das Bein stak sofort bis zum Knie im schwarzen Morast. Der Schreck ging wie ein Frost durch meinen Körper.
„Bring das Seil zu Beth, Alfa.“ Guro hatte vorgesorgt, und ich stand schnell wieder auf festem Boden.
„Wie verhält man sich in Gefahr, Beth?“
„Bedächtig“, antwortete ich, wie er es uns gelehrt hatte.
Guro nickte.
Trotz aller Warnungen Guros, trotz seiner Ermahnungen und Aufmerksamkeit ging kaum ein Wandertag ohne kleinere oder größere Verletzungen zu Ende. Wie entsetzt schrie Ilona, als eine kleine gelbe Schlange sie biß! Guros Spritze fand sie dann schon wieder interessant.
Ungern traten wir den Rückweg an, der Sumpf hatte uns noch so viel zu bieten, wir hatten nicht einmal eine Libelle gefangen! Aber Guro ließ nicht mit sich handeln. Der Weg wurde länger und länger. Guro schritt flott aus, und wir wollten uns „bloß mal ein bißchen“ ausruhen. Er kannte kein Erbarmen. „Strengt euch ruhig etwas an. In einer Stunde sind wir da.“
„Ich will nicht mehr“, protestierte ich. „Du bist groß und aus Metall, dir macht es nichts aus!“ Ich stolperte, lief dann doch weiter.
Erschöpft kamen wir an, stopften das Abendbrot in uns hinein und schliefen sofort ein. Am nächsten Tag wollten wir wieder wandern.
Guro hat uns viele Märchen erzählt. An eins aber erinnere ich mich nach all diesen Jahren besonders deutlich.
Wir saßen, wie immer etwas unruhig, doch bei den spannenden Passagen ganz Ohr, im Halbrund um Guro. Unsere Finger zerpflückten Gräser oder verflochten Halme. Wir ließen Käfer über die Hände laufen und schauten ins grüne Dickicht, Zentimeter über dem Boden, wo sich manche Ameise mit unmöglich großen Beutestücken abplagte.
„Heute mal von den Ameisen, Guro!“ wünschte sich der sonst eher zurückhaltende Zeth. Seine schrägstehenden dunklen Augen leuchteten gespannt.
„Ja, warum sie so gemein beißen“, bekräftigte Ilona, die jedes unbekannte Tier sofort anfassen wollte.
„Aber das wißt ihr doch schon“, sagte Guro, „nicht wahr? Heute werde ich euch das Märchen von den Ameisen erzählen, die einen neuen Bau anlegen. Es waren einmal 283 Ameisen, die hatten sich ihre 1698 Füße schon fast alle wund gelaufen, so lange waren sie gewandert, bepackt mit vielen Taschen und Eßbeuteln. Sie liefen immer in einer schmalen Reihe, vorn die Wegbereiter, die Umwege fanden um zu große Pflanzen und zu hohe Steine, die kleinere Hindernisse auch zur Seite räumten und jeder Gefahr mutig Trotz boten unter Einsatz von Zangen und Gift. Hinter ihnen kamen die Jäger, die schwärmten oft zur Seite aus und erbeuteten gewaltige Raupen, flinke Hundertfüßler oder auch panzerbewehrte Käfer, die die magere Marschverpflegung angenehm bereicherten. Hinter den Jägern kamen die Träger mit Sack und Pack, wie alle Ameisen schwitzten sie nie und schimpften nicht über ihre Last, die mitunter das Siebenunddreißigkommavierfache ihres Körpergewichts ausmacht. Sie wurden beschützt von den Kriegern mit gewaltigen messerscharfen Kiefern, die die Nachhut bildeten. Zwei Wochen waren sie so gezogen, das ist für Ameisen eine schrecklich lange Zeit.
Tag für Tag und auch in der Nacht, immer nur auf den Beinen, niemals gerastet, und nach jedem Tag noch ein Tag… In den zwei Wochen sind sie von dieser Buche dort, den Ameisenhaufen darunter kennt Ilona sicher, bis zu einem Baum noch hinter den drei Hügeln gelangt. Ihr braucht natürlich nicht lange, diese Strecke zurückzulegen, aber für Ameisen mit einer Schrittweite von durchschnittlich nur eins Komma zwei Millimeter, da ist es eine ungeheure Entfernung. Und bedenkt, sie trugen eine Last, die mitunter das Siebenunddreißigkommavierfache ihres Kör…“
„Das wissen wir doch schon, Guro!“
„Und warum laufen sie solche schrecklichen Strecken, ich würde…“
„Weitererzählen! Guro, erzähl bitte weiter!“
„Ja, ihr habt recht, aber erst muß ich noch Gammas Frage beantworten. Die Ameisen suchten einen geeigneten Standort für ihren neuen Bau, denn im alten war es ihnen zu eng geworden. Deshalb sind sie ausgezogen. Warum sie dann aber gerade bei dem Baum hinter den drei Hügeln hielten, das wußte wahrscheinlich nicht einmal die allererste Ameise genau, die plötzlich stehenblieb, sich umdrehte und mit ihren Fühlern der zweiten zutastete: Alles anhalten, wir sind da. Und die zweite Ameise drehte sich zur dritten um und die dritte zur vierten und so weiter, und die Lastameisen warfen ihre Taschen und Eßbeutel ab, und die Jäger liefen in Grüppchen in das Gelände, um Raupen zu fangen oder Samenkörner einzusammeln, und die Krieger wetzten ihre messerscharfen Kiefer und liefen ebenfalls in kleinen Gruppen in das Gelände, um es von Feinden zu säubern. Und dann endlich kam auch die 283. Ameise, und die 282. tastete ihr zu: Alles anhalten, wir sind da.
Von diesem Moment an begann die Errichtung des neuen Baues. Mit Zangen und Beinen wühlten die Ameisen in der weichen Erde und gruben sich tiefe Gänge und weite Höhlen, andere zernagten Holzstückchen und schleppten sie heran oder fanden Tannennadeln und trugen sie herbei. Jede Ameise wußte, was sie zu tun hatte, sie häuften die Baumaterialien übereinander oder reinigten die unterirdischen Gänge, sie jagten nach Nahrhaftem oder vertrieben Feinde. Zum Schluß packten sie ihre Taschen aus: Darin befanden sich die Sporen der Pilze, die sie züchteten. Aus kleingeschnittenen Blättern bereiteten sie tief unter der Erde Beete für die Pilze, sorgten für die richtige Feuchtigkeit und die richtige Temperatur und beschnitten die Pilze, wie es sein muß, wenn sie wachsen sollen. Und als sie zum erstenmal ein Pilzgericht aßen, wußten sie, daß die große Wanderung und der schwere Aufbau eines neuen Ameisenhaufens vorbei waren.
Aber die jungen Ameisen, sie hatten sich inzwischen schon reichlich vermehrt, waren ungeduldig und sagten: Warum sollen wir nur an eurem Bau ein neues Stockwerk auf setzen, wir gehen lieber selbst auf Wanderschaft. Und sie packten Taschen und Eßbeutel und machten sich auf den Weg.“
Guro schwieg. Nur Zeth fand, daß ein richtiges Märchenende nötig sei. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wandern sie noch heute.“
„Sie sollen mich aber nicht wieder beißen“, bemerkte Ilona und schüttelte energisch den blonden Schopf.
Guro erzählte uns viele Geschichten von den Pflanzen und Tieren, die uns umgaben, wie eines auf das andere angewiesen sei und wie die Natur Fehler und Mängel unnachgiebig bestrafe. Doch eines Tages verwunderte er uns mit ganz unglaublichen Märchen.
„Heute erzähle ich euch von der Erde.“
„Fein“, fragten wir, „und was ist die Erde?“
„Ein riesengroßer Ball, den ein gewaltiger Naturpark umgibt.“
„Unsinn!“ sagte Delth ganz unehrerbietig, und Eta ließ ihr unverkennbares hohes Lachen hören, als wollte Guro scherzen.
Einen Naturpark im Ball hätte ich vielleicht noch hinnehmen können - aber etwas derart Unmögliches? Ich fragte: „Und was passiert mit den Bäumen und den Seen, wenn die Erde auf den Boden fällt und wegrollt?“
„Es gibt keinen Boden für die Erde“, erwiderte Guro und bestand darauf, daß die Erde kein mißlungenes Märchen sei, sondern so real wie er und wir.
Wie konnten wir das glauben! Es gab nichts außer unseren Kinderzimmern und dem Naturpark, alles andere war Traum, Märchen, Einbildung. Doch Guro hatte vorgesorgt, uns schon vor Wochen mit einer Kamera vertraut gemacht, einem kleinen Schächtelchen, das ganz ohne Buntstifte und Papier malte, so genau und getreu malte, daß wir fürchteten, es würde die Bäume und Tiere und Felsen auf den Bildern aus dem Naturpark wegfotografieren. Guro hatte Tage benötigt, um uns die Funktionsweise zu erklären.
Und nun zog er aus seiner Seitentasche Bilder von der Erde hervor, von dem Ball, den wir nie im Naturpark gesehen hatten. An diesem Tag zeigten die Fotos nur eine blaue Kugel mit weißen und braunen Flecken, die in einem schwarzen See schwamm. Wir stießen unsere Finger gegen das Bild und fragten wie noch nie.
„Was ist denn das Braune?“
„Das sind Berge.“
„Und was ist das Weiße?“
Und Guro erklärte und erzählte von irdischen Wolken und vom Regen, der unvergleichlich heftiger sein konnte als in unserer kleinen Welt. Tag für Tag brachte er neue Bilder von der rätselhaften Erde — sie paßten nicht zusammen. Wälder und Tiere sollte es auf dem Riesenball Erde geben — na schön. Aber diese merkwürdigen Felsen mit den eckigen Löchern drin? Und wo sollten diese vielen Menschen herkommen, die darinnen wohnten? Überhaupt diese Menschen, sie waren weder Guros noch Rammas, aber den Geschwistern ähnelten sie auch nicht sehr. Und doch behauptete Guro, daß sie unseresgleichen seien. Er ließ uns die verrückten Wörter „Haus“ und „Stadt“ schreiben und ausrechnen, wie viele Menschen in so einer Stadt lebten — ein Ameisenhaufen, dessen wimmelnde Bewohner uns so beeindruckt hatten, war ein Nichts dagegen.
„Du träumst“, sagte Delth zu Guro mit fester Überzeugung, „oder du hast Fieber wie Eta, als sie so durcheinandergeredet hat.“
Doch Guro bestand darauf, daß er weder träumen noch fiebern könne.
Es dauerte seine Zeit, bis wir uns an die Bilder und Geschichten von der Erde gewöhnten. Über ein Jahr lang blieb die Erde unser großes beunruhigendes Geheimnis, daß wir der zweiten Gruppe verschwiegen. Selbst Teth, unser jüngster, der zu dieser Zeit gern vor Jota, Kapth und den noch Kleineren angab, hielt über die seltsame Erde den Mund. Er ahnte, daß er auf Unverständnis stoßen würde.
Ich glaube, die meisten von uns trauten Guros Berichten erst, als sie später, kurz vor dem Eintritt in das Erwachsensein, die Totaloskope benutzen konnten und nun selbst das Leben auf der Erde erfuhren und erfühlten. Bilder, Abbilder von der Wirklichkeit allein besaßen nicht die nötige Überzeugungskraft. Wir sahen und glaubten doch nicht ganz. Als ob das Totaloskop weniger lügen könnte als ein Diaprojektor! Als ob wir unseren Gefühlen mehr Vertrauen schenken dürften als unsern Augen! Mit letzter Sicherheit werde ich wohl nie wissen, ob es eine Erde so gab, wie Guro sie uns schilderte.
An jenem Abend jedoch, als wir den blauen Ball im schwarzen Nichts hatten schwimmen sehen, da war ich heilfroh, nicht auf der Erde zu leben, die weder Decke und Wände noch einen Boden hatte.
Wieviel können doch sechs Monate und ein paar Zentimeter bewirken! Delths ganze Kindheit stand unter ihrem Zeichen, und auch meine blieb davon nicht unbeeinflußt. Er wurde ein halbes Jahr zu spät geboren, um der Älteste, der Allererste und damit naturgegeben die wichtigste Person zu sein. Daß ich ihn zudem um einen halben Kopf überragte, war für ihn eine ständige Herausforderung. Unablässig setzte Delth alles daran, mich zu übertrumpfen. Alfa, die ihre körperliche Stärke wegen ihrer Gutmütigkeit nie voll ausspielte, hatte er bereits bezwungen. Delth scheute keinen Kampf um das reichliche Spielzeug, er verzichtete auf keinen gefährlichen Alleingang durch den Naturpark, nur um seinen Mut zu beweisen und seinen Anspruch durchzusetzen, unser Anführer zu sein.
Anfangs durfte ich es noch wagen: „Den Ast erreichst du nie, Delth, dazu bist du zu klein!“ zu sagen oder seine großen Ohren mit den Richtmikrofonen Guros zu vergleichen. Es bereitete mir Vergnügen, zu sehen, wie er rot anlief und die Fäuste ballte.
Später kehrte sich das Verhältnis um. „Tja, Delth, du weißt doch: Kurze Beine — kurzer Verstand!“ Schon sprang mich Delth an und begann auf mich einzuschlagen. Ich wehrte mich, wir rollten über den unebenen, steinigen Boden, daß wir blaue Flecke bekamen und uns die Haut an herumliegenden Aststücken aufrissen.
Delths Taktik bestand darin, meinen Kopf und meinen Hals fest und fester zu umklammern. Meist gab ich dann schwitzend und um Atem ringend auf. Wenn ich versuchte, bis zum Äußersten, bis es mir schwarz wurde vor Augen, durchzuhalten, griff Guro ein, trennte uns und verkündete: „Delth hat gewonnen!“ — was uns nicht hinderte, Minuten später erneut übereinander herzufallen.
Manchmal höhnte Delth: „Was denn, Beth, dieses Strampeln soll Schwimmen sein? Ich bin bei der Insel, ehe du dreimal Luft geschnappt hast!“
Natürlich nahm ich die Herausforderung an. Doch wehe, ich holte Delth ein. Er kämpfte auch im Wasser, versuchte mich unterzutauchen, umklammerte meine Arme, auch wenn er dabei selbst tüchtig Wasser schluckte und beinahe unterging. Im Laufe der Zeit lernte ich es, Delth, der nicht so schnell schwimmen konnte wie ich, nie ganz einzuholen. Damit hatte er sein Ziel erreicht: Ich ordnete mich ihm unter.
Mit zehn Jahren war Delth körperlich uns allen überlegen und wußte genau, wie er uns gegeneinander ausspielen konnte. Er erfand immer neue Mutproben, um seinen Anspruch unter Beweis zu stellen. Kein Baum war ihm zu hoch, kein Dschungel zu dicht, kein Tier zu stark. Und wir eiferten ihm nach. Delth machte uns zu den unumstrittenen Herren des Naturparks, denen selbst rebellische Schimpansen und räuberische Kleinkatzen knurrend den Weg frei gaben. Zum Glück hatten die irdischen Konstrukteure des Schiffs keine größeren Raubtiere für die Dschungel des Naturparks vorgesehen, sonst wären unsere Abenteuer trotz der Wachsamkeit Guros und versteckter Rammas nicht immer so glimpflich verlaufen. So kamen wir mit Fleischwunden oder sofort zu behandelnden Schlangenbissen davon.
Noch hatten wir es nicht gelernt, die Gefahren, in die uns unsere Abenteuer brachten, richtig einzuschätzen. „Nur ich wage es, von hier hinunterzuspringen!“ Delth stand auf einem kleinen Felsen, der zu einer Seite hin etwa um zehn Meter steil abfiel. Zweifelnd sahen wir Delth an. Niemand von uns dachte an einen tödlichen Ausgang dieses Abenteuers — sterben, was ist das? —, dennoch war keinem von uns sieben Geschwistern das sinnlose Wagnis eine schmerzhafte Verletzung wert. Delth schon. Er schimpfte auf die beiden Rammas, die seinen Sturz mit Hilfe eines Sprungtuches dämpften. Keine Furcht zeigen, das war sein oberstes Prinzip. Und dann bekam ich die Schläge von ihm, die eigentlich den beiden Rammas galten.
An solchen Tagen haßte ich Delth mit jeder Faser meines Körpers. Ich versteckte mich vor ihm im Geäst eines Baumes oder hinter einer unübersichtlichen Felsgruppe. Mit offenen Augen träumte ich verworrene blutige Pläne, ihn in Fallgruben zu locken und zu steinigen oder ihn mit Lianen an einen Baum zu fesseln, bis er Opfer der von mir aufgestörten Termiten wurde. Doch wenn ich ihn Minuten später sah, wußte ich, wie schwach ich war und daß ich ihn nie würde überwältigen können. Mochte ich auch dabei mit den Zähnen knirschen, ich schickte mich in seine Befehle.
Denke ich heute an Delth, lächle ich über unsere vergangenen Kämpfe und Abenteuer - und ich traure um Delth.
Es gab Dinge, die mußte uns Guro nicht erklären. Auch das Versteckspiel erfanden wir allein. Wir hatten oft Tiere gefangen, waren ihnen in die Gipfel der Bäume nachgeklettert, durch die Seen und Tümpel nachgeschwommen, hatten ihnen Fallen gestellt oder aufgelauert. Mochten sie noch so beißen und kratzen, wir wichen vor ihnen nicht zurück. In ihren Schlupflöchern, Nestern und Höhlen hatten wir sie aufgestöbert. Bald kannten wir ihre Waffen und Tricks.
„Wenn ich ein Stachelschwein wäre“, sagte Eta, „würde ich mich so verbergen.“ Und schon war sie im Unterholz verschwunden, daß kein Fleck ihrer schwarzen Haut und keines ihrer Kraushaare mehr hervorschaute.
„Du und Stachelschwein… Deine Stacheln möcht ich sehen“, stellte Teth sachkundig fest, „du kannst mich nicht pieken!“
Aus dem Gebüsch erklang ein verräterisches Glucksen. Als Teth näher kroch, bewarf Eta ihn mit Ästen.
Es dauerte seine Zeit, bis wir vernünftige Regeln für das neue Spiel gefunden hatten, wir konnten uns ja nicht alle gleichzeitig verkriechen oder gleichzeitig suchen, und wir mußten unseren Bewegungsraum eingrenzen.
Delth teilte ein. „Du suchst, Beth, und wir schleichen uns weg.“
Die Geschwister zu finden fiel mir schwer, auch wenn ich viele Verstecke selbst ausprobiert hatte. Ein ganzer Naturparkdschungel voller verborgener Kuhlen, verdeckter Baumwipfel, dichten Unterholzes … Delth beschmierte sich gewöhnlich vor dem Spiel mit Schlamm, die bleiche Haut hätte ihn sonst verraten. Einmal suchte ich ihn fast einen ganzen Tag, er befand sich weit außerhalb des normalen Spielgebietes. Unmöglich konnte er sich in der festgesetzten Frist verkrochen haben, wie es die Spielregel forderte.
„Ich habe bis dreihundert gezählt — aber ganz langsam“, gab er zu.
Am liebsten hätte ich ihn mit meinen Fäusten gelehrt, daß man die Regeln einhält. Ich schwor mir, ihn am nächsten Tag unbedingt zu besiegen. Ganz lässig und überlegen wollte ich ihm zeigen, wie ich mich vor seiner Nase verstecken konnte, ohne daß er einen Zipfel von mir erspähte.
In dieser Nacht lag ich lange wach und überlegte. Sollte ich auf einen Baum klettern, mich im Blätterdach verbergen, auch auf die Gefahr hin, daß die Schimpansen mich fanden und bissen? Oder mich im weichen Boden einbuddeln? Das hätte zu lange gedauert. Dann kam der Tag heran und mit ihm die rettende Idee. Zu unserem Spielgebiet gehörte ein kleiner schlammiger Tümpel. Ich bastelte ein Atemrohr aus Schilf und tauchte in der warmen, stinkenden Brühe unter. Zuerst ließ es sich ertragen, doch dann saugten sich mehr und mehr Egel an meinem Körper fest. Ich hob den geplagten Kopf wieder über Wasser — Mückenstiche schmerzten weniger — und vollführte einen verkrampften Tanz, um mich von dem Ungeziefer zu befreien.
Plötzlich hörte ich ein verdächtiges Knacken. Delth! Ich zog mich wieder in den Schlamm zurück, verhielt mich ganz still, wagte kaum zu atmen. Und wartete. Dutzende von Atemzügen. Es zwackte an meiner Nase, ich erhob mich, vom Schmerz getrieben, alle Vorsicht beiseite lassend. Niemand war da. Wieviel Zeit mochte vergangen sein? Ich wußte es nicht.
Ein Ruf klang in der Ferne: „Na warte, Beth, dich finde ich schon, und wenn du dich bei den Rammas verkrochen hast!“
Ich atmete auf. Stieg sogar ganz aus meinem Tümpel und zerquetschte die blutsaugerischen Egel. Das gab schöne rote Flecken.
Ruhig, was war das? Fußgetrappel! Ein Sprung, und die Ungetüme plagten mich wieder. Mit verkniffenen Lippen nuckelte ich am Atemrohr. Bei einer unwillkürlichen Bewegung — das war kein Egel, das war mindestens ein Krebs — kam dreckiges Wasser hinein, ich pustete es frei. Ich hockte so, bis meine Knie zu schlottern begannen, dann streckte ich mich vorsichtig.
„Na, was hab ich dir gesagt, jetzt taucht er auf.“ Ilona zeigte triumphierend auf mich. Gamma, Alfa und sogar Zeth lachten lauthals.
Ich stieg aus dem Wasser und bewarf sie mit Egeln, die ich von meinem Körper losriß. Und ich beschloß, das nächste Mal Schimpansenbisse vorzuziehen.
Wir warteten den ganzen Tag auf Delth. Er suchte mich an völlig unmöglichen und von den Regeln verbotenen Orten. Mein Sieg erfüllte mich mit wildem Stolz.
Einmal kam uns die Idee, Guro zum Versteckspiel einzuladen. Er lehnte ab und kommentierte seine Entscheidung nur mit: „Das ist zu einfach für mich.“
Wir stellten ihn auf die Probe und kehrten am Abend nicht in unsere Räume zurück. Das Licht, eine riesige helle Scheibe, die hinter den „südlichen“ Bergen den Boden des Naturparkzylinders bildete, wurde allmählich dunkler. Wir hatten das schon mehrmals beobachtet, aber noch nie mit solcher Ungeduld. In der Dunkelheit würde uns niemand finden. Plötzlich ertönte überlaut Guros Stimme: „Es ist Zeit, kommt.“
Blitzartig stoben wir in unsere Verstecke. Eine Weile später hörte ich es rascheln, ein Kopf schob sich in meine Baumhöhlung. Erst an der Stimme erkannte ich Delth. „Bald wird er uns suchen.“
Ich nickte, es war schon ziemlich duster. Delth zwängte sich neben mich, ich protestierte leise, aber energisch.
„Alle haben sich zu zweit versteckt“, flüsterte Delth in mein Ohr, „ich habe bei allen vorbeigeschaut. Soll Guro ruhig kommen, der sieht nicht eine Zehe.“
„Vielleicht verstecken wenigstens wir uns einzeln?“ Delth war mir einfach zu zapplig.
„Ach was, nicht nötig, der findet den Baum hier nie.“
„Hast du Angst?“ fragte ich Delth.
Um uns klangen seltsame, sich langhinziehende Schreie, Geräusche, wie man sie am Tag nicht vernahm. Schwärzeste Finsternis hüllte uns ein. Mir lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter — oder waren es Insekten?
„Unsinn!“ knirschte Delth barsch. „Ich fürchte mich doch nicht.“
Aber er blieb mit in meinem Versteck. Und obwohl ich jedes andere Geschwister vorgezogen hätte, war ich froh, nicht allein zu sein. Um uns schlurfte es, ein schrilles Kreischen war zu hören, dann war es wieder still. Wir hielten die Luft an. Da, ein Schimmer — und plötzlich fiel helles Licht in die Höhlung unseres Baumes.
„Kommt raus“, sagte Guro. Hinter ihm kicherte Eta. Guro hatte uns alle in unglaublich kurzer Zeit eingesammelt.
„Du hast geschummelt“, beschuldigte Delth ihn, „bestimmt hast du geschummelt.“
„Ihr habt sicher großen Hunger“, sagte Guro, wir folgten ihm auf den Fersen, seine Lampe schnitt einen hellen Tunnel in den Urwald.
Damals hatten wir riesigen Respekt vor Guros Leistung. Dabei war er durch den Computer des Schiffes stets über jede unserer Bewegungen informiert. Von der Nabe des Naturparkzylinders waren ständig hochempfindliche Geräte auf uns gerichtet, langbrennweitige Infrarotfernrohre und Paraboimikrofone. Und in der Nähe besonders gefährlicher Orte waren zusätzliche Detektoren verborgen. Auf Schritt und Tritt wachten die Automaten über uns. Vor ihnen gab es kein Verstecken.
Gamma hatte einen Maulwurf entdeckt, den sie zuerst für eine langsame Maus hielt. Sie ließ ihn über ihre schmalen Hände kriechen, strich ihm übers Fell, bestaunte seine kleinen Augen und die kralligen Pfoten. Er grub sich, noch ehe sie ihre Verwunderung überwunden und uns gerufen hatte, vor ihren Augen in den Boden. „Er hat sich eingebuddelt!“ alarmierte sie uns atemlos.
Was mochte der Maulwurf nur in der Erde suchen? War da vielleicht etwas Wichtiges versteckt? Gammas Arm reichte bis an die Schulter in den Gang des Maulwurfs und fand doch nichts.
Am nächsten Tag sagte Delth: „Heute spielen wir ein neues Spiel, es heißt Maulwurf.“
Ilona protestierte lautstark, sie wollte mit Zeth auf einem Floß fahren. Doch Delth versagte ihnen die Hilfe der Gruppe beim Beschaffen der Stämme. Was blieb ihnen übrig, als mit uns Maulwurf zu spielen?
Mit unseren kleinen, aber recht kräftigen Händen rissen wir das Gras von der Wiese, jeder für sich, zerrten mit ächzenden Fingernägeln die Grasnarbe aus dem Boden, kratzten die harte Erde auf. Es kam darauf an, schnell das tiefste Loch gegraben zu haben. Gamma gab es bald auf, so schnell wie ich oder Delth kam sie nicht voran, und an einem Stein hatte sie sich den Nagel eingerissen.
„Ihr seid ja blöd“, sagte sie, worauf Delth sofort mit: „Und du bist schlapp!“ konterte.
„Ihr seid ja blöd“, wiederholte Gamma, „was interessiert mich, wie schnell ich ein Stück tief bin.“
„Spielverderber“, rief Delth und warf zerfallende Klumpen Dreck in meine Richtung, um möglichst mein Loch zu verschütten. Ich wandte ihm den Rücken zu, um mein Werk zu schützen, selbst wenn mich ein Stein traf, zog ich es vor, nicht zu reagieren.
„Du bist feige, Delth!“ Alfa kam mir unvermutet zu Hilfe.
Wir vereinbarten als Spielregel, die anderen weder zu behindern noch zu stören. Gamma stöberte in unseren winzigen Abraumhalden herum, entdeckte schöne Steine, erschrak über dicke Regenwürmer, die sie dann niedlich fand, und versuchte, uns für die Schätze zu begeistern, die wir ausgruben. Teth gab es später auch auf, hoffnungslos abgeschlagen, wie er unserer Bemerkung „Ich bin schon bis zum Ellenbogen!“ entnehmen konnte.
Ich arbeitete, daß der Schweiß in Strömen über meinen nackten Körper floß und sich meine Finger stumpf anfühlten. Es galt, Delth zu schlagen! Zeth und Ilona gruben dann gemeinsam, auch wenn Delth es für ungültig erklärte. Am Abend, todmüde und hungrig, verglichen wir. Ich hätte gewonnen, wenn nicht soviel Erde von den Rändern des engen Schachtes gebröckelt wäre. Beim Einschlafen noch griffen meine schmerzenden Hände in die Luft, rissen Löcher in sie.
Am nächsten Morgen bettelten wir Guro einzeln um Werkzeuge an; Schaufeln kannten wir noch nicht. Er schüttelte nur den Kopf, und obwohl ich wußte, daß sein Gesicht nur zu einem vereinfachten Mienenspiel befähigt war, glaubte ich in ihm lesen zu können: Strengt euch ruhig mal richtig an, baut euch selbst Geräte, ihr Wunderkinder!
Beim Essen, das wir hastig in uns hineinschlangen, sagte Gamma: „Ist doch blöd, bloß einzeln vor sich hin zu buddeln. Wenn wir alle zusammen graben, kommen wir viel tiefer — wer weiß, was wir da noch alles finden.“
Guro hatte uns nie von vergrabenen Schätzen erzählt, aber ich war in diesem Moment nahe daran, mir welche vorzustellen — oder ein ganz absonderliches Tier, einen „Bodenfisch“. Mag sein, ich nickte kaum merklich, Alfa schien ebenfalls dafür zu sein, und plötzlich sagte Delth: „Ja, das habe ich mir auch schon überlegt, wir werden zusammen graben und das Geheimnis der Tiefe entdecken.“
Ich lachte; manchmal redete Delth wie Guro.
Nach dem Frühstück steckte Delth das neue Loch ab — zwei Meter im Durchmesser. Ich staunte, doch er sagte: „Zwei müssen drin stehen können.“
Wir bewaffneten uns mit Grabstöcken und begannen im Boden zu wühlen. Bereitwillig räumten Teth, Eta und Zeth die gelockerte Erde beiseite. Ich arbeitete mit dem Rücken zu Delth, immer häufiger stießen wir zusammen. Er schimpfte, ich murrte, eine Schlägerei stand kurz bevor. Da sagte Alfa: „Eta, sing mal was!“
Eta überlegte eine Weile, Gamma flüsterte ihr zu: „Vom Maulwurf!“ Und Eta sang los: „Der Maulwurf, der hat schöne Schaufeln…“
Wir wiederholten die Worte, und Eta hatte Zeit, sich neue auszudenken. Das Singen tat seine Wirkung. Ich stieß nicht mehr mit Delth zusammen, das Loch wurde tiefer und tiefer, und allen machte es Spaß. Nur manchmal, wenn ich zu weit an der Melodie vorbeisang, • konnte Eta nicht an sich halten, lachte und quietschte. Dann kamen wir aus dem Takt und fielen in ihr Gelächter ein.
War das ein Jammern am nächsten Tag! Schon als wir erwachten, zwickte es in den Armen, stach es in den Beinen. Wie fiel uns das Aufstehen schwer! Der Rücken schmerzte, und jede Bewegung war eine Pein. Wir glaubten krank zu sein, schlimmer krank als bei jedem Infekt zuvor. Noch vor dem Waschen, sonst eine fröhliche Angelegenheit, humpelten wir zu Guro und klagten unser Leid.
„Das vergeht“, sagte der nur, „in zwei, drei Tagen. Der Muskelkater kommt von der Anstrengung beim Graben. Er ist völlig normal und harmlos, ihr seid so gesund wie eh und je.“
An diesem traurigen Tag betrachteten wir das Loch nicht einmal aus sicherer Entfernung. Und wir bewegten uns nur im Notfall, lagen im Gras und beobachteten die Vögel über uns und die zarten Wölkchen und die gegenüberliegende Seite des Naturparks. Den Biberbach, der aus der Entfernung wie ein dünner Schnörkel aussah, den uns wohlbekannten Sumpf, die dunkelgrünen Flecken von Wäldern, die wir noch nicht durchstreift hatten. Etwa aufstehen und essen gehen? Da mußte der Magen schon mächtig knurren. Und wehe, Eta brachte uns zum Lachen, dann versprachen wir ihr Prügel. Guro nutzte die Ruhepause. Ganz freiwillig, aus reiner Langeweile lasen und rechneten wir alles, was er verlangte.
Auch am nächsten Morgen war der Muskelkater noch nicht vergangen. Teth und Eta liefen sogar, ihr Alter vergessend, zu ihren Rammas, um sich trösten zu lassen. Guro meinte lakonisch, daß die Schmerzen am schnellsten beim Weitergraben nachlassen würden.
Zeth hatte die Idee, die Plastteller von unserem Frühstückstisch einzusammeln. Zwar war der Rand der Teller nicht besonders scharf, doch kamen wir mit ihnen wesentlich schneller voran als mit den Grabstöcken und unseren zerschundenen Fingern. Dann hatten wir alle Schmerzen vergessen und buddelten aus Leibeskräften.
Ungeachtet der neuen Methode und des relativ lockeren Bodens plackten wir uns tagelang. Unsere täglichen Lernaufgaben erledigten wir notdürftig und in Gemeinschaftsarbeit, um schneller zu unserem Loch zurückkehren zu können. Mitunter versuchte einer auszuscheren, Eta, die lieber Vogelstimmen erlauschen und imitieren wollte, oder Zeth, der allein schwimmen ging. Sie trieb es bald wieder zu uns. Und Gamma legte ihren rechten Zeigefinger an die Nase und dachte laut nach, was wir unter dem Erdreich erwarten könnten: eine Höhle oder Wasser, eine Wiese, nur andersherum — vielleicht sogar die Höhlung, in der die Erde kollerte, flog? Sicher aber seltsame Tiere oder Unterlandpflanzen, auf jeden Fall etwas ganz Außergewöhnliches. Nur Delth blieb skeptisch und sagte: „Wartet’s ab.“
Nach zehn Tagen waren wir so tief, daß Delth, selbst wenn er sich auf meine Schultern stellte, den Rand nicht erreichen konnte. Allmählich verbreitete sich eine gedrückte Stimmung. Gammas letzte ungeheuerliche Spekulation, es könne immer so weltergehen, gewann von Tag zu Tag an Glaubwürdigkeit. Schließlich meinte sie sogar, wir müßten mindestens so tief buddeln, wie die Berge am Rand des Naturparks hoch seien. Das war zuviel für uns. Wir krabbelten den Abhang hinauf, warfen Plastteller und die aus Gras geflochtenen Tragekörbe zur Seite und beschlossen, nie wieder so ein unsinniges Riesenloch zu graben. Allein Gamma schmollte.
„Ihr habt einfach keine Ausdauer. Zum Herumspielen reicht’s, aber wenn man etwas Großes..
Ilona bot ihr Schläge an, war aber zu müde, um ihre Drohung wahr zu machen.
Am nächsten Tag spielten wir am See. Gamma fehlte, und Alfa sagte zu mir: „Ich weiß, wo sie ist.“
Natürlich, es gab nur eine Möglichkeit. Wir suchten sie an unserem kraterförmigen Loch. Als wir den Wall erklommen hatten, sahen wir sie bewegungslos im Zentrum des Trichters liegen. Erschrocken sprangen wir hinunter. Gamma lag da und weinte. Ich begriff nicht, warum, bis ich den vermeintlichen Plastteller aufheben wollte — es war der Boden des Trichters, der Boden des Naturparks, damit der Boden, der Rand, die Grenze unserer Welt. Ein Plast, den Steine nicht ritzen, den Säuren nicht ätzen, den Feuer nicht versehrt. Unsere Welt war zu Ende, ich konnte mich in ihrer Abgeschlossenheit wohl fühlen, aber Gamma beunruhigte es.
Wir nutzten den Krater noch für viele Spiele.
Gemeinsam waren wir bis zum Äußersten vorgestoßen — dies war eine Lehre, zu der uns Guro kein Märchen erzählen mußte.
Es war schön, mit den Geschwistern zu spielen. Und doch… Einmal wollte ich meine Kräfte allein erproben, einmal der Bevormundung Delths entgehen und den ständigen Fragen und Vorschlägen und Überfällen meiner Gefährten: Ich wollte allein sein. Dafür war ich bereit, schwere Strapazen auf mich zu nehmen. Irgendwo, jenseits aller Gebiete, die wir auf unseren Streifzügen durchquert hatten, mußte ein Stückchen Land liegen, das mir die gesuchte Einsamkeit verhieß.
Am Morgen, als die anderen noch schliefen und noch ehe die Müdigkeit ganz aus meinen Gliedern gewichen war, schlich ich mich davon. Eilig wanderte ich durch den vertrauten lichten Wald, durchschwamm den kleinen See und überquerte den Schlangensumpf. Unterwegs pflückte ich wildwachsende Früchte und verschlang sie heißhungrig.
Unsere Abenteuer hatten uns schon um unsere ganze Welt geführt. Nach vielen Stunden anstrengender Wanderung hätten wir den Naturpark durchkreist, befanden uns wieder am Ausgangspunkt. Diesen bekannten Weg wollte ich nicht wiederholen. Deshalb schlug ich mich seitlich tiefer und tiefer in das fast undurchdringliche Dickicht. Ich achtete nicht auf die Dornen, die meine abgehärtete Haut ritzten, ich lächelte nur über die Nesseln, die mich brannten, und fürchtete die Giftnattern nicht, die mir entgegenzischten. Mir gehörte ein langes, gekrümmtes Messer, das mir schon viele Dienste geleistet hatte, und ich wußte, daß meiner Entschlossenheit nichts widerstehen konnte.
Mit ganzer Kraft hieb ich auf alles ein, was mir den Weg versperrte, zerschlug Lianen und dünne Zweige, kroch unter dickeren durch, kämpfte mich Meter um Meter durch das dichte Unterholz. Mein rechter Arm begann zu schmerzen, ich nahm das Messer in die Linke, und weiter ging’s. Immer häufiger hielt ich erschöpft inne, wartete, bis meine Beine und Arme wieder Kraft gesammelt hatten. Stunde um Stunde bahnte ich mir meinen Weg durch das Dickicht und sehnte mich nach dem Ende der Wanderung, nach Ruhe. Farnwedel, höher als ich, schütteten mir ihre Sporen ins Gesicht. Öfter strauchelte ich über harte Wurzeln und erschrak vor morschen Ästen oder lose baumelnden Lianen. Das Licht des Tages versiegte schon, als ich am letzten Urwaldriesen vorbei ins Freie humpelte. Ich kannte nur noch einen Wunsch, suchte einen geeigneten Platz und bettete mich auf den unebenen Boden, wickelte mich in die vorsorglich mitgenommene Decke und schlief trotz knurrenden Magens sofort ein.
Das Lärmen einer Affenhorde weckte mich. Im ersten Moment begriff ich nicht, wo ich mich befand, dann aber sprang ich auf meine Füße, um den Ort zu beschauen und etwas Eßbares zu suchen. Hinter mir lag der sirrende, schreiende, stöhnende Dschungel, und vor mir türmten sich Felsen über Felsen zu einem gewaltigen Gebirgsmassiv. Meine Augen folgten ihm bis in schwindelerregende Höhen, weiter und weiter hinauf — bis zum jenseitigen Rand des Naturparks! Mühsam riß ich meinen Blick los.
Zwei Tage blieb ich an diesem Ort der Einsamkeit hinter dem Dschungel, ernährte mich mühselig und kärglich von den Früchten, die mir der Urwald bot.
Einen Freund gewann ich: einen jungen Schimpansen, der nicht wie die alten vor mir davonlief oder mich durch Astwürfe oder drohendes Geschrei zu vertreiben trachtete. Ich folgte ihm in die Baumgipfel, wo die saftigsten Früchte gediehen.
Der Versuchung der Felsen konnte ich auf die Dauer nicht widerstehen. Am dritten Tag machte ich mich auf, kletterte empor über rauhe Steinflächen und messerscharfe Grate, überquerte ein steil hinabschießendes Rinnsal, einen Zulauf des Biberbaches, klomm höher, immer höher, bis gegen Mittag die überforderten Muskeln meiner Arme so unkontrolliert zitterten und zuckten, daß ich fürchten mußte, hinabzustürzen und zu zerschellen. Ich aß ein wenig, legte mich in eine Felsnische und entspannte mich, wie Guro es uns gelehrt hatte.
Als ich die Augen wieder aufschlug, war mein normaler Richtungssinn vergessen. Oben und Unten wechselten nach meinen Wünschen. Ich sah mich auf dem Boden eines tiefen Schachtes liegen und an den runden, vom Naturpark gebildeten Wänden vorbei auf die obere Öffnung schauen. In deren Mitte leuchtete das Große Licht unbeweglich in der Achse des Zylinders. Während ich mich aufrichtete, spürte ich wieder die Schwäche in meinen Gliedern. Ich schwitzte vor Angst und wäre am liebsten dort angewachsen. Nach langem Zögern wagte ich den schwierigen, gefahrvollen Abstieg. In der einsetzenden Dämmerung erreichte ich den sicheren Boden.
An den untersten Felsen gelehnt, betrachtete ich das Große Licht, wie es sich verfärbte und rötete, bis es schließlich bis auf ein kaum erkennbares fahles blaues Glimmen verblaßte. Dies war die künstliche Sonne, unter der ich aufwuchs, die meine Tage durch ihren Schein bestimmte. Ewiger Sommer herrschte in meiner kleinen Welt, der ewige Sommer meiner Kindheit.
Am nächsten Morgen, allein am Fuße des Felsens, hungrig und von Muskelschmerzen geplagt, vermißte ich meine Geschwister wie noch nie zuvor. Ich erkletterte einen Baum, um ein paar Früchte zu essen, nicht einmal die Schimpansen schauten mir zu. Eine Weile spielte ich in den Zweigen, sprach mit den bunten dummen Vögeln, die doch nur aufgescheucht davonflogen. Dann besann ich mich und kehrte zurück.
Den staunenden Geschwistern blieb ich die Antwort schuldig. Delth gegenüber hatte ich ein neues Selbstvertrauen gewonnen, das mich ihm ebenbürtig machte. Er spürte diese innere Kraft, die er nicht bezwingen konnte, da er deren Ursprung nicht kannte.
Die erlebnisreichen und immer wilderen Unternehmungen im Naturpark wurden uns nicht über, es kam keine Gleichförmigkeit auf, denn wir fanden oder erfanden täglich Neues, das unsere Aufmerksamkeit fesselte. Dabei fiel uns nicht auf, daß Guro seit Monaten unser Lernpensum erhöhte. Und ohne daß wir es gewahrten, nahte, so wie wir wuchsen, die Zeit ernsterer Betätigungen.
„Morgen werdet ihr unbekannte Räume kennenlernen“, sagte Guro, der uns zusammengerufen hatte. „Und dafür müßt ihr euch bekleiden.“
Er wies mit einer starren Geste auf acht bunte Stoffhäufchen, die auf der Wiese lagen. Neugierig stürzten wir zu ihnen, fanden Schilder mit unseren Symbolen daran.
„Ihr müßt eure Arme und Beine in die dafür vorgesehenen Öffnungen stecken“, erklärte Guro.
Eifrig probierten wir es. Ich hatte große Schwierigkeiten, verhedderte mich, fiel hin, kam mühsam wieder frei. Eta quietschte vor Vergnügen. Zeth stand mit ernsthaftem Gesichtsausdruck da, wendete seine Bekleidungsstücke um und um, suchte, so schien es, immer noch nach dem Eingang.
„Ihr müßt selbst herausfinden, wie man sich anzieht“, ermunterte uns Guro.
Ilona warf sich auf den Rücken und war schnell in ihre Sachen verknäult. Dann entdeckte Alfa das Prinzip der Hose und humpelte, sie mit den Händen am Bund haltend, von einem zum anderen, ihren Erfolg zu verkünden. Später vertauschten wir Hosen und Jacken, vermummten uns nach Kräften und brachen immer wieder in Lachsalven über unsere eigene Ungeschicklichkeit aus. Es war ein atemberaubendes, kompliziertes Spiel.
In meiner Erinnerung dehnt sich das Anziehen über viele kurzweilige Stunden. Die Kleidung wurde uns jedoch nach einer gewissen Zeit hinderlich. Schwerfällig - bedacht, das Errungene nicht zu zerstören - stolzierten wir auf und ab. Es kniff bald unter den Achseln, bald zwischen den Beinen. Auf meinem Rücken kribbelte es wie unverschämte Termiten.
„Es juckt“, beklagte sich Zeth und streifte seine Sachen so methodisch, wie er sie angezogen hatte, wieder ab.
„In den Räumen, die wir morgen besuchen, werdet ihr die schützende Hülle benötigen; dort ist es kühl“, sagte Guro.
Zeth nickte, akzeptierte das Unvermeidliche und übte noch eine geraume Weile.
So wie wir keinen Begriff von Nacktheit hatten vor diesem Tag, so lag uns der Gedanke fern, daß sich hinter Wänden und Felsen, unter den Seen und Grasböden etwas verbergen könne. Meinen Traum von der Unendlichkeit hatte ich damals vergessen, ich wollte von ihrem Schrecken nichts wissen.
Am Morgen nach unseren Ankleideübungen erwachten wir erwartungsfroh. Guro hatte uns unbekannte Räume versprochen — dafür stiegen wir auch, ohne zu murren, in die hinderliche Bekleidung. Wir hatten schnell gegessen und folgten Guro vor den vertrauten, oft bekletterten Papageienfelsen.
„Seht, hier ist ein Kontakt“, sagte Guro und schob auf bestimmte Weise seine Hand in eine Felsspalte. Atemlos schauten wir auf das Sesam-öffne-dich. Wie eine Tür klappte die fast senkrechte Felswand zur Seite. Helligkeit strahlte uns aus einem kleinen Raum entgegen, der den gewohnten Zimmern nur wenig glich.
Ich nutzte Delths und der anderen Zögern, glitt an Guro vorbei, und schon war ich drin. Seinen Zorn und vielleicht auch seine Furcht verbergend, kam Delth nach und flüsterte mir Worte zu, die ich nicht verstand. Mit den Geschwistern starrte ich auf die fremdartigen Figuren an den Wänden, die Handräder, die Kästen in Augenhöhe.
„Was ist das? Wozu ist das gut? Warum riecht es hier so? Wo…?“ Gamma überschwemmte Guro mit Fragen.
Verstohlen griff ich zu einem der Kästen.
„Wartet, bis ich euch den Mechanismus erklärt habe“, sagte Guro und legte ausführlich dar, wie man die Türen öffnen und schließen könne. Wir drängten uns heran, um es selbst zu probieren. Als die äußere Tür wieder fest verriegelt war, durften wir die fremde Welt des Schiffes betreten.
Die langen, oft nach oben gekrümmten Gänge und Korridore forderten unser Vorstellungsvermögen heraus. Sie waren schmal, schienen sich in der Entfernung noch zu verengen. Überall befanden sich diese seltsamen Kästen, diese Symbole, Tür reihte sich an Tür. Wir schwiegen beeindruckt, wagten nicht zu lärmen oder mit dem hallenden Echo zu spielen. Ich, der ich im Naturpark stets wußte, wo ich mich befand, verlor bald die Übersicht. Alles ähnelte einander, wiederholte sich. Wir hielten uns an Guro, hörten auf seine endlosen Erklärungen und getrauten uns nicht, ihn aus den Augen zu verlieren.
Nach einer unendlichen Stunde rasteten wir in seltsamen Dingern, Sesseln, und Guro erläuterte uns einen groben Plan der Räumlichkeiten. Sicherlich berücksichtigte er, daß wir so gut wie nichts bei dieser Überfülle verstanden, aber ein Anfang mußte gemacht werden.
„Dies also ist das Raumschiff. Ihr werdet die Herren und Meister all seiner Systeme, Maschinerien und Geräte sein. Für euch sind all die tausend Räume geschaffen, ihr werdet das Schiff steuern und lenken — wenn die Zeit dafür gekommen ist.“
So redete Guro mit uns. Ich verstand auf Anhieb nur eins: Nun müssen wir wie die armen Erdmenschen in einer Stadt wohnen, in einem Ameisenhaufen von Zimmern und Gängen. Wie sollen wir uns da zurechtfinden? Wenn wir uns hier verlaufen, finden wir keine Früchte. Wenn wir uns hier verletzen, kann uns keine Ramma helfen. Zum Versteckspielen war diese neue Welt gut geeignet, und interessant mochte es auch hier und da sein, wenn auch nicht so abwechslungsreich wie im Dschungel, aber leben konnte man hier nicht.
Erleichtert hörten wir Guro sagen: „So, das ist genug für heute.“
Guro dicht auf den Fersen bleibend, wanderten wir zurück in unsere heile, lebendige Naturparkwelt. Wir waren erschöpft und zerschlagen, nicht vom Laufen, sondern vom Sehen, vom Hören und Staunen. Doch war es erst Mittag. Wir schlangen Unsere leichte Mahlzeit hinunter und legten uns auf die Wiese am See und redeten, mutmaßten und phantasierten miteinander, trugen zusammen, was wir gesehen hatten oder gesehen haben wollten, wiederholten Guros Erklärungen und was wir davon verstanden hatten. Und während wir uns ereiferten, wurden die Korridore immer gewaltiger, länger, bizarrer, wucherten ineinander und durcheinander. Es war zum Fürchten. Und doch ging von ihnen ein eigentümlicher Reiz aus. Ihre groteske Unverständlichkeit verhinderte nicht, daß es mich in sie zog, daß ich mehr von ihnen sehen, riechen, erfühlen wollte. Die Unbequemlichkeit der Stoffhüllen nahm ich dafür gern in Kauf.
Aber war es damals wirklich nötig, daß wir uns bekleideten? Hätte nicht die Temperatur in den Räumen des Schiffs um wenige Grade erhöht werden können, um uns ein Fortsetzen der unbeschwerten Lebensweise zu ermöglichen? Ja, sicher. Aber irgendwann mußten wir uns an Kleidung gewöhnen, nicht nur für kosmische Ausflüge im Skaphander, sondern auch, weil Andymon eine rauhe Welt ist.
Denke ich heute an das Schiff, so sehe ich die logische Anordnung seiner Sektionen auf den Konstruktionszeichnungen vor mir. Seine Teile fügen sich in ein einziges gigantisches und sinnvolles Aggregat von mathematischer Schönheit mit seinen klaren Linien und seiner präzisen Funktionstüchtigkeit.
Damals aber, nachdem wir zum erstenmal mit Guro den vertrauten Naturpark verlassen hatten, war es für mich ein fremdartiges, unverständliches, aber überwältigendes Chaos von seltsamen Geräten, Türen, die Geheimnisse verbargen, und Symbolen, die ich zwar lesen gelernt hatte, die mir aber doch nichts sagten. Wie hätte ich da widerstehen können?
Bei der ersten Gelegenheit warf ich Früchte in einen Beutel und ein paar Fladen dazu. An Kleidung dachte ich nicht. Eine Sekunde zögerte ich. Sollte ich ein Geschwister mitnehmen? Delth nicht. Und Alfa würde es nicht interessieren. Vielleicht Gamma?
Allein ging ich durch die Tür im Felsen, stand dann in dem mir schon bekannten Korridor.
Die Stimme Guros, die Stimme des Schiffscomputers, fragte: „Beth, wohin willst du? Wohin kann ich dich leiten?“
Ich blickte nach links und nach rechts, in beiden Richtungen stieg der Korridor langsam an. „Es ist gleich“, antwortete ich, „ich brauche deine Hilfe nicht.“
Ich entschied mich für rechts und schritt zügig aus. Bog dann in den erstbesten Quergang ein, er war nicht gekrümmt. So hätte ich sehr weit sehen können; doch nur in dem Gangsegment, in dem ich mich gerade befand, strahlten die langen Leuchtflächen in mildem gelblichem Ton. Ich lief auf das vor mir befindliche Dunkel zu, ohne es zu erreichen, das Licht eilte mir voraus.
In regelmäßigen Abständen kreuzten Korridore den Gang, Reihen von Türen unterbrachen die Monotonie der pastellgelben Wände, sie waren mattoliv und mattkarmin, mattkobaltblau und mattsiena. Weiße, selbstleuchtende Buchstaben verkündeten: 4384 TRAKT RB 6, 4382 TRAKT RB 6. Alle hundert Schritt lief ein zehn Zentimeter breites schwarzes Band um den Gang, hier konnten ihn Schotte versperren. Stahlgraue Intercomgeräte hingen zu beiden Seiten des Bandes. Ich wußte schon, wie man sie bedient, der kleine Bildschirm konnte mir die Geschwister zeigen oder auch Karten der Schiffsarchitektur. Doch ich wollte mich allein zurechtfinden.
In den Dreitausendern wurde mir der Gang zu langweilig. Da eine Glastür! TREPPE las ich. Auf meine bloße Annäherung hin glitt die Tür lautlos noch oben. Eine Flut von Licht mit vielen stumpfen Reflexen flammte auf. Ich stand am Rand einer gigantischen, nach oben und unten führenden Röhre. Die größten Bäume des Naturparks hätten ihren Durchmesser nicht überspannt. Etwa anderthalb Meter ragten die zerbrechlich wirkenden gläsernen Stufen von drei je um ein Drittel des Runds versetzten Treppen in sie hinein. Nach oben setzte sich die Röhre nur um drei Windungen fort. Doch nach unten! Ich hielt mich an dem blauglänzenden und sehr weichen, elastischen Geländer fest und schaute hinab. Zählte ein Dutzend Windungen bis zum Grund. Die Treppe gab unter meinen Schritten leicht nach, federte zurück. Fasziniert begann ich den Abstieg. Bedächtig legte ich die erste Runde zurück. Dann lief ich schneller, immer schneller, bis sich alles um mich drehte. Plötzlich wäre ich fast gestürzt: Die Treppe lief mit sachtem Schwung aus, endete in einem horizontalen Absatz.
War ich am Boden der Röhre angelangt? Schwer atmend lehnte ich mich gegen die Brüstung. Ja und nein. Die Treppen brachen ab, doch die Röhre führte noch ein kurzes Stück weiter und stieß dann auf eine ebenso große, waagerechte Röhre, die wie ein großer dunkler Tunnel wirkte. Ich konnte ein wenig in sie hineinschauen und staunte: Auch diese Röhren umrundeten Treppen — unsinnigerweise; niemand hätte auf ihnen gehen können.
Ich zog einen Fladen heraus, kaute an ihm und starrte auf die seltsamen Treppen. Sie erschienen mir so verrückt, daß ich selbst von Guro keine Erklärung erwartete. Erst Jahre später erfuhr ich, daß während der Konstruktion des Schiffs durch diese Röhren riesige Geräte im schwerefreien Flug an ihren Bestimmungsplatz manövriert worden waren.
Mich fröstelte. Meinen bloßen Körper überzog eine Gänsehaut. Durch eine Doppeltür gelangte ich in einen winzigen Raum. Die mir gegenüberliegende Wand wölbte sich nach innen. Sie klaffte auseinander und gab den Blick auf eine Kuppel mit acht Sesseln frei. Kaum hatte ich mich in einen der beiden vorderen gesetzt, schloß sich die Wand wieder.
Gleichzeitig mit dem Aufleuchten von Armaturen und von einem verworrenem Diagramm auf einem Bildschirm fragte Guro: „Wohin willst du, Beth?“
Seine Stimme erschreckte mich, ich stammelte: „Weiß nicht.“
Da preßte mich eine unsichtbare Kraft sekundenlang in den Sessel. Ich wollte halt schreien, doch ich brachte kein Wort heraus. Auf dem Bildschirm wanderte ein hellroter Punkt langsam durch das Diagramm.
Als der Druck nachließ, stand ich auf, ging zu der Stelle der sich über mir wölbenden Halbkugel, durch die ich hereingetreten war. Nichts öffnete sich. Ich klopfte. Zuerst nur zaghaft, dann schlug ich mit den Fäusten gegen den glatten, weichen Plast. Ich war gefangen. Von Guro festgesetzt.
„Eh, was soll das?“ schimpfte ich.
Ein sachter Ruck ließ mich nach rechts taumeln, dann nach links.
„Du setzt dich besser“, sagte Guros Stimme.
Trotzig blieb ich stehen. Plötzlich warf mich die unsichtbare Kraft zu Boden. Vor Schreck bewegungslos, lag ich da. Nach einigen Sekunden verschwand der Andruck, und wie zum Hohn öffnete sich die Wand. Ich rieb mir das Gesäß, schwang meinen Beutel über die Schulter und verließ den heimtückischen Lift.
Schotte, Glastüren, weite Tore, das Licht begleitete mich. Schilder, Türaufschriften: PHYS.-LAB. 11, REGENERATORTRAKT, TRANSFORMER…
Langsam wurden meine Füße schwer. Ich befand mich in einer riesigen Halle, nur den kleinsten Teil davon konnte ich überschauen. Überdimensionalen Bauklötzen gleich waren hier Container gestapelt. Große Netze aus dicken roten Trossen umspannten sie und teilten die Halle. Ich wollte einen Container öffnen, doch vergeblich kratzte ich an seiner matten Oberfläche. Enttäuscht setzte ich mich und aß. Der Fußboden, der Container, gegen den ich mich lehnte, alles fühlte sich kühl an.
Eine unnatürliche Stille herrschte hier. Und ich war einsam, ein winziges Insekt im weiten Schiff. Ich schluckte den letzten Bissen runter, dann sagte ich vorsichtig: „Hallo.“
Nicht einmal ein Echo erklang. Ich wiederholte den Ruf, nun schon lauter. Alles blieb still. Ich erhob mich und schrie aus Leibeskräften: „Haaallooo!“
Der Schrei versickerte in der Weite. Doch gleich darauf leuchtete neben dem Tor, durch das ich die Halle betreten hatte, ein kleiner Bildschirm rot auf, und über die geringe Distanz konnte ich Guros Stimme vernehmen: „Suchst du jemanden, Beth? Benötigst du etwas, Beth?“
„Nein, danke!“ Meine Stimme überschlug sich.
Das Rot erlosch, und ich verließ die ungastliche Halle.
Türen, Schächte, Korridore, Lifts, Gänge, Treppen, Tore, Hallen. Gekrümmte Korridore und gerade verlaufende. Ein toter Gang. An seinen Seiten standen seltsame Figuren, bald wie ein Mensch, bald wie ein Roboter aussehend. Ich ergriff ihre schlaffen Arme, schaute in die leeren Helme, erwartete eine Bewegung, doch nichts geschah. Einen löste ich aus seiner Halterung, die richtigen Handgriffe fand ich schnell. Er fiel auf mich, mit Armen und Beinen schlenkernd. Entsetzt befreite ich mich von ihm. Er blieb liegen, ein lebloses Bündel, dessen unmenschlich verkrümmte Gliedmaßen mir zu drohen schienen. Vorsichtig schlich ich zurück.
Da! Ein sanftes Surren. Aus der Dunkelheit tauchte ein bedrohlich bizarres Gefährt auf. Ein Serviceroboter mit erhobenen Zangen. Schreckensstarr drückte ich mich ganz eng an die Wand, dann war er vorbei, und ich atmete auf.
Erschöpft und zerschlagen — wie nach der längsten Wanderung durch den Naturpark — suchte ich mir einen Liegeplatz, öffnete Türen aufs Geratewohl und sah in die Räume dahinter: Manche wurden von riesigen Apparaturen ausgefüllt, verschlungenen Glasgeräten, Instrumenten in faltigen Plastikumhüllungen.
Dann entdeckte ich einen Sessel, ich kannte nur noch einen Wunsch, ich setzte mich auf ihn, zog dann meine Füße an, drehte mich zur Seite, rollte mich ganz zusammen, mit der Linken meinen Beutel umklammernd. Frierend schlief ich ein.
Ich träumte vom Gewirr der Kabel und Röhren, die wie Lianen im Dschungel zuckten und lebten, von Millionen Anzeigelichtern, die funkelten und blitzten, vor allem aber von den endlosen, verwinkelten Korridoren mit unzähligen Türen, die sich gespenstisch öffneten und schlossen im Atemrhythmus des Schiffs, durch das ich, von einer unverständlichen Furcht getrieben, hetzte.
Als ich erwachte, wärmte mich eine weiche bunte Decke. Unwillig schob ich sie zur Seite, stand auf, meine Glieder waren noch starr, ich verspürte große Lust nach einem schnellen Bad, aß einen Fladen und zwei Äpfel.
Auf dem Pult vor dem Nachbarsessel strahlte eine kleine Tafel grün: FÄHREN EINSATZBEREIT. Das Pult reichte mir bis zur Brust. Ich drückte wahllos auf die Knöpfe, ein Summen ertönte, Lichter flammten auf, ein Gerät zu meiner Linken spuckte einen langen Papierstreifen aus. Schlagartig schien die Frontwand verschwunden zu sein, ich sah hinab in eine Halle, die größer noch war als die, die ich am Vortag erkundet hatte. In ihr standen riesige metallene Käfer in langen Reihen. Doch sosehr ich auch schaltete, nichts geschah dort unten. Als ob mir das richtige Wort fehlen Würde, als ob ich den entscheidenden Knopf übersehen hätte.
„Du bist noch zu klein, Beth“, sagte die vertraute Stimme Guros. „In zehn Jahren wirst du die Fähren steuern können — und dürfen.“
„Ich bin schon groß“, protestierte ich, „ich bin allein durch das gesamte Schiff gegangen. Ich kann das!“
„Und was willst du mit den Fähren tun?“
Guros Frage verwirrte mich. Ich wollte mit den Fähren spielen, ja, aber was? Ohne antworten zu können, verließ ich den Raum. Ich war zu klein! Ich! Ich würde es Guro schon zeigen. Bald! Nicht erst in zehn Jahren! Die paar Knöpfe! Das ließ sich schnell lernen, wie man mit denen richtig spielte!
Auf und ab. Nach links, nach rechts. Durch diese Tür, durch jenes Schott. HAVARIEAUTOMATIK. ENERGIESEKTION: ZUTRITT NUR IM SCHUTZANZUG. Lichtpfeile an den Wänden, auf den Bildschirmen. Farben und Zahlen. COMPUTERZENTRUM. LIFT β.
Je weiter ich lief, je mehr ich sah, desto weniger verstand ich. Oh, was hätte ich in diesen Stunden des Wanderns darum gegeben, Herr zu sein über all diese versteckten Wunder, über die Räume und Sektionen, zu denen mir der Zutritt verwehrt war, über die unbekannten Geräte, die ich nicht in Gang setzen konnte. So trieb ich dahin, hatte längst jede Orientierung verloren. Der Proviant ging zur Neige. Ich umklammerte fester den Beutel, er allein verband mich noch mit dem Naturpark und meinen Geschwistern. Selbst wenn ich rannte, fror ich bis auf die Knochen. Die Dinge um mich waren kalt und tot, und auch Guros Stimme gehörte zu diesen kalten und toten Dingen. Die leeren Gänge bedrückten mich.- Ich haßte diese gekrümmten Korridore, ich haßte ihre gleichmäßigen Farben. Ich wollte zurück, zurück in den Naturpark. Aber noch hatte ich den Stolz, den Weg dahin allein zu finden.
Nach oben! Dort irgendwo mußte eine Tür in den Naturpark führen. Doch hinter jeder erwartete mich das fade Licht des Schiffs. An den Pfeilen, den Markierungen versuchte ich mich zu orientieren, vielleicht bewegte ich mich im Kreis? Das Schiff war ja so groß und nichts mir vertraut. Ich las die Nummern der Trakte, die Zahlen ver-schwammen vor meinen Augen. Mein Magen knurrte, doch der Beutel enthielt keine Krume mehr. Vor Guro kapitulieren? Niemals! Ich schimpfte auf ihn, doch die Korridore schwiegen. Ich rief nach Alfa, rief sogar nach Delth, aber niemand antwortete, und wehe, Guro versuchte seinen Trick und redete mich an, dann hielt ich mir die Ohren zu und hastete weiter.
Irgendwo schlief ich ein. Als ich erwachte, befand ich mich im Naturpark, eine Stunde von unserem beliebten See entfernt. Laut schimpfte ich auf die Gemeinheit Guros und war so froh dabei.
Wir waren acht. Die jüngeren Geschwister spielten noch im Naturpark, tummelten sich auf der Spielwiese, krabbelten im Kinderzimmer, klammerten sich an ihre Rammas, formten sich in den Inkubatoren oder waren noch nicht gezeugt. Nur wir acht ältesten trugen schon die geschmeidige Kombination. Nur uns hatte Guro bislang in den technischen Teil des Schiffes geleitet. Nicht zu allen Räumen hatten wir Zutritt, oft versperrten uns Türen mit roten Signallampen den Weg. In diesem Alter nahmen wir das noch hin, außerdem hatten wir von dem uns zugänglichen Teil längst nicht alles gesehen. Und jeden Tag stellte uns Guro schwierigere Aufgaben.
Zahnrädchen lagen auf meinem Platz, verstreute Achsen und Schrauben, dazu Werkzeug, ein Heft mit Instruktionen. Woher sollte ich wissen, welche Schraube wohin gehörte? Im Naturpark gab es dergleichen nicht, und die Zeichnung war so kompliziert. Und doch, als ich Zeths vertieften Blick und die Ratlosigkeit von Alfa und Teth sah, faßte ich Mut, probierte eben drauflos. Einzeln oder in Zweiergruppen bastelten wir um die Wette, versuchten, das Geheimnis der zappelnden Federn zu ergründen.
Eta zappelte dabei ebensosehr. Und zu unserem Ärger unterhielt sie sich mit ihrem Material: „Willst du wohl endlich festsitzen, du häßliche Schraube!“ Sosehr wir protestierten, ihre Zunge blieb in ständiger Bewegung. Dann machte sie uns weis, sie sei fertig, und holte von Guro mehr Federn. Sie hatte entdeckt, daß diese, gespannt und angezupft, singende Töne von sich gaben. Ganz entzückt lauschte sie. Wir flehten um Ruhe, schimpften mit ihr und brachten es, wenn sie uns mit Augen voller unschuldiger Freude anschaute, doch nicht übers Herz, sie auszusperren.
Stunden konnten so vergehen, bis Guro uns unterbrach, zum Essen rief. Oder wir warfen den Schraubenzieher protestierend auf den Tisch, auch das geschah. Aber zumindest Zeth setzte sich nach der Pause oder am nächsten Tag wieder an die Arbeit. Dann bastelten auch wir weiter, bis es gelang, bis die primitive Uhr endlich tickte oder die mechanische Maus über den Boden rannte. Das war das Wichtigste, was wir lernten: daß wir mit Geduld alles erreichen, alles schaffen konnten.
Wie unsere Fähigkeiten wuchsen die Aufgaben. Wie leicht war es noch, einfache Stromkreise zusammenzuschalten, und wie vergnüglich, sich krächzend über das eben konstruierte Telefon zu unterhalten. Alle Intercoms des Schiffs waren vergessen. Und Delth fand eine neue Möglichkeit, meinen Mut auf die Probe zu stellen: „Gib mir die Hand, Beth, und greif mit der anderen den Draht an, es sind nur ein paar Volt.“
Guros lange Erzählungen von Forschem und Erfindern inspirierten uns zu den verschiedensten Versuchen. Wir waren Forscher und Erfinder! Dabei reichte unser Wissen kaum für eine Aufgabe. Guro verwies uns, obwohl er über alles informiert war, immer häufiger an die Displays, an denen wir lernten, dem Computer in seiner Sprache Fragen zu stellen: nach chemischen Substanzen, die wir für ein Experiment benötigten, nach Daten von Geräten, die wir uns aus einem Lager beschafft hatten.
Anderes besorgten wir uns aus dem Naturpark, junge Pflanzen und Insekten, Frösche und kleine Nager. Wir wollten wissen, wie sie das zustande brachten, zu wachsen und sich zu vermehren.
„Wenn alles aus deinen Atomen besteht, Guro, wieso können die Dinge dann so verschieden sein wie tote Metallschrauben und Bäume, die wachsen, und wie wir?“ Seine Antworten auf Gammas Fragen klangen ausweichend. Wir wollten uns selbst von der Existenz jener respektheischenden winzigen Bausteine überzeugen, doch Guro vertröstete uns mit seinem Lieblingsspruch: „Ihr müßt noch viel lernen.“
Während ich mit Gamma gern am Computer arbeitete, bevorzugte ich bei Tierversuchen Ilona als Partnerin — genau wie meine Geschwister. Ilona hatte einfach den richtigen Griff. Eine rasche Bewegung -schon stak die Kanüle im Mausefell, ein schnelles Zugreifen — schon hielt sie die Schlange hinter dem Kopf.
Teth dagegen! Daß ihm ständig Mäuse oder Fliegen entkamen, verstand ich. Aber selbst Schrauben schienen unter seinen Fingern lebendig zu werden und sich seinem Griff zy entwinden. Wenn ihm vor Wut die Tränen kamen, ließ er sich von Alfa trösten, die gewöhnlich Zeth überredete, seinem Bruder zu helfen. Sogar Delth nahm ab und zu von Zeth Hilfe an, Zeth war wegen seiner ausgeprägten Zurückhaltung kein Rivale für ihn.
Die Konstrukteure des Schiffs, die auch unser Leben planten, hatten keine Möglichkeit ausgelassen, uns das nötige Wissen möglichst schnell und umfassend zu vermitteln. Wir erfuhren später, daß unsere Speisen chemische Substanzen enthielten, die unsere Aufmerksamkeit erhöhten, und daß unsere Körperfunktionen ständig telemetrisch überwacht wurden, um eine physische Überforderung zu vermeiden. Guro und den wachsamen TV-Kameras des Schiffs entging nicht die geringste Geste, nicht das feinste Schwingen in der Stimme.
Als Teth, unter dessen ungeschickten Händen sich die Fäden am Webstuhl zu einem unentwirrbaren Knäuel verheddert hatten, trübsinnig zu Boden blickend, den Raum verlassen wollte, holte Guro ihn ein. „Teth, ich bin jetzt dein Werkzeug, und du mußt mir sagen, was ich tun soll.“
Teth schluckte ungläubig und zeigte auf seine verfitzten Fäden. Unter Guros kaum zu verfolgenden Fingerbewegungen war in Sekundenschnelle der Ausgangszustand wiederhergestellt. Wir anderen scharten uns um den Webstuhl, wollten das Werkzeug Guro miterleben. Und Teth kommandierte: „So, jetzt den roten Faden, dann gelb mit blau, dann…
Am Ende des Tages mußten wir eingestehen, daß niemand von uns, vielleicht mit Ausnahme von Eta, ein so schönes Muster hätte weben können. Teth war überglücklich, einmal unangefochten der Beste zu sein. Ich glaube, er hat Guro diese Hilfe nie vergessen, auch in dem Alter, in dem er längst wußte, daß Guro tatsächlich nur ein Werkzeug war.
Daran, wie wir unsere Aufgaben bewältigten, wurde unser psychischer Zustand gemessen, unser intellektueller Fortschritt, unsere geistige Reife. Die klassischen Tests der Psychologie waren überflüssig. Unser Wetteifern beim Züchten von Blumen, beim Ertüfteln von Programmen, Ausprobieren von Schaltungen, Experimentieren mit Taufliegen war alles in einem: Arbeit, die den Schweiß auf die Stirn trieb, verbissenes Lernen, ein großartiges, nie enden wollendes Spiel, komplexester Test unserer Fähigkeiten durch den Schiffscomputer und Vorbereitung, Jahre dauernde intensive und umfassende Vorbereitung.
Wir lernten schnell, mehrmals so schnell wie die hypothetischen irdischen Schulkinder. Das Lernen bereitete uns als Befriedigung eines grundlegenden menschlichen Bedürfnisses fast ausnahmslos Vergnügen. Daß es auch anders sein könne, kam uns nicht in den Sinn.
Zwischen glatten Plast- und Metallwänden leben, in Zimmerschachteln und Gangrohren ohne das Grün der Bäume, das Zirpen der Insekten, ohne Gras unter den Füßen, dafür eingezwängt in Kleidung — lange konnten wir uns das nicht vorstellen. Doch nach und nach hatten wir uns durch unzählige Ausflüge und Spiele mit dem technischen Teil des Schiffs etwas vertraut gemacht. Aber noch betrachteten wir den Naturpark als unsere eigentliche Heimat.
Als ich etwa neun Jahre alt war, führte uns Guro in einen kurzen Gang. Jeder fand sein Symbol auf einer der Türen zur Linken oder zur Rechten wieder.
„Jeder von euch hat künftig ein eigenes Zimmer“, sagte Guro, „in das ihr euch zurückziehen könnt, wenn ihr ungestört sein wollt, das ihr ausgestalten könnt ganz nach euren Wünschen. In ihm werdet ihr von nun an auch schlafen.“
Ich öffnete die Tür mit dem blauen β und schaute mich um, noch ohne recht zu wissen, was ich hier sollte. Eine niedrige Liege, ein Computerterminal, das Intercom, ein Arbeitstisch, die Wände kahl bis auf die Leuchtkörper, ein leeres Regal. Ich setzte mich auf das Bett, stand wieder auf, klopfte auf dem Regal herum und lief wieder in den Gang. Teth und Ilona verließen ebenfalls ihre Zimmer.
Hier sollten wir künftig leben, wohnen? Es war kahl hier, leer und kalt. Wir würden nicht mehr einen Schlafsaal teilen, nicht mehr das gleichmäßige Atmen der Geschwister hören, wenn wir nachts erwachten. Wir würden allein sein im isolierten eigenen Raum im nüchternsten Teil des Schiffs, allein mit blanker Technik. Ich zuckte hilflos protestierend mit den Schultern, Guro würde seinen Willen durchsetzen. Teth, der schon Ilonas Hand erfaßt hatte, griff nun auch nach meiner.
„Ihr könnt euch ja gegenseitig besuchen“, bemerkte Guro, wie stets über unsere Gefühle informiert. „Den Schlafsaal braucht jetzt eine jüngere Gruppe. Ihr wißt, das Schiff produziert regelmäßig neue Geschwister.“
Wir schwiegen. Nach einer Weile setzte Guro hinzu: „Ihr müßt euch die Zimmer einrichten nach eurem Geschmack, dann werden sie euch gefallen.“
„Ich brauche keinen eigenen Raum“, verkündete Eta aus ihrem Zimmer heraus.
„Vielleicht noch nicht“, antwortete Guro und betonte das „noch“.
An die erste Nacht im eigenen Zimmer erinnere ich mich gern. Ich lag da auf der neuen, nicht zu weichen Liege, hatte die Augen geschlossen. Es war warm, ja ruhig, alles war in Ordnung, aber nein, alles war fremd und leer. Ich dachte an meine Geschwister, die Tiere im Naturpark, die Gedanken drehten sich im Kreise.
Es kratzte an meiner Tür ganz leise, ich schrak auf. Eine in der dünnen Nachtbeleuchtung nicht zu erkennende Gestalt schlüpfte in mein Zimmer.
„Ich kann nicht einschlafen“, sagte die Gestalt, es war Gamma. Sie setzte sich ganz selbstverständlich auf mein Bett, zog die Füße unter das sehr weite Nachthemd. „Du hast doch genug Platz?“
„Wenn nicht mehr kommen“, sagte ich erleichtert.
Die Liege, Erwachsenen angemessen, bot genug Platz für uns beide. Doch noch ehe wir unsere Beine sortiert hatten - jeder nahm sich ein Ende der Liege — war ein Geräusch auf dem Gang zu vernehmen.
Wir hielten den Atem an. Gamma hatte die Tür einen Spalt offengelassen. Nun hörten wir eine weinerliche Stimme: „Wo seid ihr denn alle? Hallo…“
Teth kam herein und schnaufte. „Da seid ihr…, Beth, du…“ Er rüttelte mich, obwohl ich völlig wach war.
„Beth, Gamma, die anderen sind alle weg. Ich, ich hab nicht schlafen können…, ihre Zimmer ganz leer…, die sind eingeschlafen und puff — weg!“ Teth schnaufte wieder.
„Wir müssen nachsehen, die können nicht weg sein!“ Gammas Stimme klang besorgt.
Zu dritt tapsten wir auf den ebenfalls nächtlich schwach beleuchteten Gang. Zeths Zimmer — leer. Ilonas Zimmer — leer, das Bett unberührt.
„Das ist mein Zimmer“, unterbrach Teth die Suche. Wir gingen weiter. Etas Zimmer — leer, Delths Zimmer — leer, die Bettdecke fehlte. Langsam wurde mir unheimlich, schnell tasteten wir uns an Gammas und an meinem Zimmer vorbei, öffneten die Tür von Alfas Raum.
Leises Geschnatter schlug uns entgegen. Da lagen sie, kreuz und quer, im Bett, auf dem Boden. Wir schubsten uns eine Ecke frei, ich rannte noch nach meiner und Gammas Decke, dann, glücklich vereint, versuchten wir wieder einzuschlafen. Doch jede Minute zuckte jemand, streckte sich ein Bein aus, deckte sich einer auf, um besser Luft zu bekommen. An Schlaf war nicht zu denken.
Schließlich fanden wir den Dreh. Wir gingen zurück in unsere Zimmer, ließen aber die Intercoms eingeschaltet. So konnte jeder jeden hören, die Gemeinschaft blieb erhalten. Langsam erzählten wir uns in den Schlaf. Es war wie am Tag vorher, wie in den guten alten Zeiten des Schlafsaals. Am nächsten Morgen schien das Atmen der noch schlafenden Geschwister das ganze Schiff zu füllen.
In den folgenden Tagen lernten wir, uns einzurichten. Alfa schmückte ihr Zimmer als erste mit Blumen. Tiere entnahmen wir nicht aus dem Naturpark, weshalb auch, wir konnten ja dort mit ihnen spielen.
Delth verzierte sein Zimmer mit Bildern von Vulkanausbrüchen, Überschwemmungen und Wirbelstürmen. Eta entdeckte in dieser Zeit ihre Vorliebe für Musik. Sie stopfte ihren Raum mit Flöten jeden Kalibers voll, die nach irdischen Vorbildern von den Automaten des Schiffs hergestellt wurden. Sie lernte sogar, auf ihnen zu spielen. Später, viel später bestellte sie sich ein Spinettino.
Ich überlegte lange, wie ich mein Zimmer ausgestalten sollte. Alles erschien mir zu speziell. Und die wenigen privaten Dinge, darunter mein Teddy, die ich aus dem Schlafsaal und den Spielzimmern holte, nahmen sich verloren im großen Regal aus. Zeth bastelte gern in seinem Zimmer, aber das konnte ich in einer Werkstatt besser. Von Gamma übernahm ich die Idee, mir Bücher zu bestellen, sie zu lesen und ins Regal zu schieben, das sah bunt und klug aus. Aber war nicht die direkte Benutzung des Computerterminals günstiger? Am ehesten noch glaubte ich durch abstrakten Schmuck der Wände meinem Empfinden Ausdruck verleihen zu können. Jedenfalls hingen in späteren Jahren vielfarbige Risse des Schiffs, bunte Schaltschemata und die verwirrenden Übersichten über biochemische Reaktionswege in meinem Raum. Bis auch sie mir zu langweilig wurden.
Nur das Panoramafenster in der Stirnwand, für das man beliebige Ansichten programmieren konnte, bereitete mir keinerlei Kopfzerbrechen. Mochte Teth es ständig wechseln — von flachen irdischen Wiesen zu zerklüfteten irdischen Gebirgen, zu endlos weiten irdischen Meeren, aber stets mit tiefblauem Himmel und einer strahlenden Sonne so kannte ich nur eine Variante. Und mein letzter Blick, bevor ich einschlief, fiel darauf und der erste, wenn ich erwachte: auf den endlosen schwarzen Abgrund des Kosmos, aus dem nur die gestochen scharfen Punkte der Sterne herausleuchteten. Es war, als hätte die Wand des Schiffs eine Aussparung, als reichte das Vakuum bis in mein Zimmer.
Gamma überraschte uns zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten mit kühnen Gedanken. Sie verbrachte längere Zeit als wir anderen an den Lehrmaschinen, den Computerterminals, bei den Wissensspeichern und saugte begierig alles in sich auf, was die Konstrukteure des Schiffs in den winzigen Kristallen der Informationsträger kodiert hatten.
Neue und verwunderliche Fakten fanden wir alle bei unseren Anfragen aufs Geratewohl. Aber nur Gamma ließ sich von den Ausgabedaten inspirieren, deutete sie um, knüpfte eigene Meinungen daran. Was uns als bare Münze und letztes Wort der Erde galt, bedeutete ihr nur den Ausgangspunkt einer langen und sich ständig verzweigenden Gedankenkette. Und oft verwirrte sie uns mit ihren unbeantwortbaren Fragen und absonderlichen Ideen.
Gamma glaubte den gespeicherten Nachrichten von der Erde und über den Kosmos nicht. Sie stiftete mich an, viele von den trivialeren Fakten auf den unterschiedlichsten Wissensgebieten experimentell zu überprüfen. Tagelang beschäftigten wir uns damit, im Naturpark und in den großen radialen Röhren des Schiffs Steine fallen zu lassen. Die Tabellen von Fallzeit und -strecke, die wir sorgfältig aufstellten, stimmten nicht mit den vom Computer errechneten überein. Unsere Steine fielen schneller und wichen stets von der Geraden ab.
Die Geschwister, denen das geplante Lernen und die normalen Basteleien genügten, lachten nur, wenn wir ihnen von unseren Experimenten berichteten oder sie aufforderten, daran teilzunehmen.
„Das schadet euch gar nichts. Was müßt ihr auch klüger sein wollen als der Computer! Wozu herummessen, wenn er die Ergebnisse von vornherein und besser weiß!“ Delth schlug sich vergnügt auf die Schenkel.
„Habt ihr die Steine richtig gewogen? Und wieviel ist drei mal drei?“ neckte uns Eta.
Die Steine abwiegen! Falsch messen! Verrechnen! Es war eine Beleidigung.
„Ein Widerspruch - und alles kann Schwindel sein!“ verteidigte sich Gamma.
Wenn ich daran dachte, welche Berge von Fakten und Gesetzen wir überprüfen mußten, um sicherzugehen, wurde mir schwarz vor Augen.
„Die Menschheit hat mehrere tausend Jahre gebraucht, um dieses Wissen anzusammeln“ — so Guro. Die Menschheit — ja, gab es die denn überhaupt? In den hektischen Tagen, in denen wir unsere Erfahrungen mit den Daten des Computers nicht in Übereinstimmung bringen konnten, schien unsere Welt Stück für Stück zu zerbröckeln, sich in bloße Vermutungen und blanke Vorspiegelungen aufzulösen.
Abgekämpft und verlegen gingen Gamma und ich zu Guro, der uns als echte Nachfahren irdischer Forscher lobte und den scheinbaren Widerspruch auf klärte: „Im Schiff wirkt nicht wie auf der Erde die Schwerkraft, sondern die Fliehkraft. Deshalb haben wir kein quadratisches Fallgesetz, sondern ein asymptotisch lineares.“ Ich schluckte und ärgerte mich. Daß wir nicht selbst daraufgekommen waren! Es war eigentlich so einfach.
Auch nach der glücklichen Auflösung unseres Welträtsels liebte es Gamma, alles in Frage zu stellen. Nach wie vor wollte sie sich von allem selbst überzeugen, traute sie ihren Augen nicht und nicht den zuverlässigen Schaltkreisen.
„Woher wissen wir, daß die gespeicherten Daten stimmen? Nun gut, das Fallgesetz haben wir geklärt, und viele Sachen lassen sich ausprobieren. Aber wie steht es mit den Aufzeichnungen über die Geschichte der Erde? Das können wir nicht überprüfen, nur glauben oder nicht glauben… Stell dir vor, das Schiff existierte ewig - niemand müßte es geschaffen haben. Doch nein, wir wissen, daß sein Material keine Ewigkeiten übersteht, höchstens einige. Millionen Jahre, wenn die Temperatur nahe an absolut Null abgesenkt ist…
Oder stell dir vor, das Schiff ist gar nicht von den mysteriösen Menschen geschaffen worden, sondern von irgendeinem anderen Wesen, nennen wir es Schöpfer. Angenommen, dieser Schöpfer beabsichtigte, uns über die Entstehung des Schiffs im unklaren zu lassen — was könnte geeigneter sein als das Märchen von der Erde und den arbeitsamen Erdmenschen, die aus unbekanntem Antrieb das Schiff erbauten! Das Schiff wurde konstruiert, bis in das letzte System kunstvoll ausgedacht — warum, Beth, warum sollten die Informationen in den Speichern weniger ausgedacht sein?“
Ich schüttelte den Kopf. Tausende solcher Vermutungen ließen sich aufstellen und keine beweisen. Am ruhigsten zu leben vermochte man aber mit dem Glauben an die Menschen. Gamma gab selbst zu, daß sie sich zu ihrer Hypothese von unwissenschaftlichen Vorstellungen der Erdmenschen hatte verleiten lassen und daß die Annahme ein wenig um die Ecke gedacht sei. Troizdem könne sie all das nicht als entscheidende Gründe akzeptieren.
Manche Ideen Gammas schienen darauf berechnet, meine innersten Ängste aufzustacheln. Sie mochte sich zu Boden gleiten lassen, sich an die Konsole des Displays lehnen und mit dem Kopf sacht gegen die Plastverkleidung schlagen. „Wie wenig, wenig, wenig wissen wir… Kennen noch nicht einmal das Schiff, geschweige seinen Zweck oder wie man es steuert… Beth, wenn nun nicht die Leere des Alls und die entfernten Sterne um das Schiff sind, sondern das Nichts, ich meine, wenn nichts außer dem Schiff existiert… Wäre das nicht schrecklich?“
Welche Vorstellung fürchtete ich mehr: die einer endlosen Welt ohne Wände und Begrenzungen oder die einer endlichen, eines engen Schiffs, in dem nur wir lebten?
Ich schlug Gamma vor, mit mir aus der Scheinwelt der Computer in die Realität des Naturparks zu flüchten, wo jeder Grashalm, jeder Kiesel, jeder Dorn, der unsere Haut ritzte, ergriffen werden konnte, echt war — ein Ding ohne Zweifel.
Manche der großen Fragen der kleinen Gamma könnte ich heute mühelos beantworten, andere nicht. Das vom Schiff gespeicherte naturwissenschaftliche Wissen erwies sich nicht nur als korrekt, sondern auch als umfassend und für viele, viele Jahre ausreichend. Erst heute existieren Ansätze, darüber hinauszugehen. Die Erde aber, sie wird wohl, weil tief in der Vergangenheit verloren, ein grausames und schönes Märchen bleiben, das wahr sein kann, das wir — und Generationen nach uns — aber nicht werden überprüfen können. Und die Konstruktion des Schiffs? Unsere eigenen Projekte werfen ein völlig neues Licht darauf.
Der Ton überraschte mich an einer der Lehrmaschinen, die mir die Anfangsgründe der theoretischen Mechanik vermittelte. Der Ton: ein feines, kaum hörbares Zirpen und Brummen, das sich allen Objekten mitteilte, vor dem es keine Zuflucht gab, das alles durchdrang. Ganz plötzlich hatte es eingesetzt. Später ging das Gerücht um, in diesem Moment hätten die Babys im Chor zu schreien begonnen und der lärmende Dschungel sei für eine kurze Weile verstummt.
Sofort hielt ich ein, schaltete das Gerät ab, weil ich an einen Defekt glaubte. Dann überprüfte ich die restlichen Systeme des Zimmers, versuchte, mit den Fingern ein Vibrieren zu ertasten, doch der Ton ging nicht von ihnen aus. Ob meine Ohren? Selbst heute spielen sie mir manchmal einen Streich, singen, ohne von außen dazu angeregt zu werden. Ich versuchte also, den Ton auf diese Weise zu erklären, ging zur medizinischen Sektion. Heute ist es umgekehrt, unwillkürlich denke ich bei jedem feinen autogenen Fiepen: Bremst die Welt?
Auf dem Gang traf ich Myth, der gleiches vernahm, und dann Jota. Die Geschwister der zweiten Gruppe, die vor kurzer Zeit eigene Zimmer in den technischen Räumen des Schiffs bezogen hatten, liefen aufgestört umher. Allein Jota, die älteste von ihnen, blickte mich gelassen an.
„Was für einen Unsinn habt ihr wieder angestellt?“ fragte sie mich ironisch.
Ich überhörte diese Bemerkung, strafte ihr respektloses Verhalten durch Nichtachtung und schritt mit dem Gefühl des Hausherrn zum nächsten Intercom.
Guros vertraute Stimme erklärte kurz: „Das Schiff ist in die Bremsphase eingetreten. Noch neun Jahre bis zum Ziel.“
Da stand ich und sah das Schiff vor mir - wie ein außenstehender Beobachter.
Jahrhunderte, Jahrtausende war es starr und tot wie ein galaktischer Komet durch das Nichts geflogen. Gemächlich nach kosmischen Maßstäben, denn was sind schon ein paar hundert Kilometer je Sekunde? Höhere relativistische Geschwindigkeiten konnte es mit seinem Antriebssystem und den verfügbaren Wasserstoffmengen nicht erzielen.
Nun, nach langer, langer Pause, arbeiteten die Triebwerke wieder, schleuderten heißes Helium voraus. Wer will, kann diesen Vorgang „bremsen“ nennen, aber ich betrachtete ihn als Beschleunigung, und das war physikalisch korrekt. „Wir beschleunigen“ — was für ein wunderbarer, hoffnungsvoller Satz, mit dem ich die Geschwister informieren konnte.
Die zweite Gruppe nutzte dieses Ereignis, um einen Tag im Naturpark zu feiern. Wir Großen — Alfa war bereits elf Jahre alt - zuckten mit den Achseln und fühlten uns weit überlegen.
Später meinte Gamma, zum erstenmal spräche ein Fakt dafür, daß wir uns in einem Raumschiff befänden. Zwar war die Beschleunigung zu gering, als daß wir sie direkt wahrnehmen konnten, aber der Ton, allgegenwärtig im Hintergrund, hatte unsere Welt verändert. Wir wußten nun, daß das Schiff einen fernen Lichtpunkt anflog. Bis es ihn erreichte, wollten wir es steuern lernen.
Schwer Begreifliches geschah mit den Körpern der Mädchen. Alfa, die Älteste, war beunruhigt und erschrocken, als sie eingetrocknetes Blut an ihren Schenkeln fand, ohne daß sie sich verletzt hatte. Und Guro bezeichnete das als völlig normal! Wir waren entsetzt, und er mußte uns lange erklären, daß wir nicht nur wuchsen, sondern unsere Körper sich veränderten.
„Ich will mich nicht verändern, ich will ich bleiben!“ Was nützte Gammas impulsiver Protest, auch für sie kam die Zeit.
Unvorstellbar, daß wir uns nun bald in diese seltsame Sorte von Menschen verwandeln sollten, die nach Guros Erzählungen die Erde besiedelten und die er „Erwachsene“ nannte. Großen Wert legten wir nicht auf diese Verwandlung, denn was wir von den Erderwachsenen wußten, war ungereimt und befremdlich.
Alfa veränderte sich, man sah es ihr an. Sanft wölbten sich ihre Brüste unter dem enganliegenden Overall. Zuerst versuchte sie, „die Wucherungen“ noch wie einen körperlichen Fehler vor uns zu verstecken, dann, eines Tages, schlug ihr Verhalten um. Endlich einmal war sie uns unbestreitbar voraus, wenn auch nicht im Lösen komplizierter Rechenaufgaben oder im Zeichnen vertrackter Schaltpläne.
Ich sehe Alfa heute noch vor mir, wie sie an unserem Mittagstisch stand, während wir anderen schon saßen, wie sie sich stolz reckte und verkündete: „Guro sagt, ich bin bald reif!“ Wie ihr herausfordernder Blick mich traf, daß ich ihm nicht standhalten konnte, sondern unsicher begann, das Gemüse auf meinem Teller zu ordnen.
„Na, Hauptsache, du hast keine Maden.“ Eta brachte uns wie immer zum Lachen. Von den Nachbartischen hörten wir das alberne Kichern der jüngeren Geschwister.
Ja, Alfa wurde „komisch“ nach meinem damaligen Wortschatz. Und sie begann mir nachzustellen. Ilona wurde von ihr beschwatzt, den Versuchsplatz mit ihr zu tauschen, so daß sie mit mir Katalysereaktionen nachvollziehen konnte. Und sie traf mich immer öfter ganz zufällig auf dem Gang oder im Aufenthaltsraum. Wären ihre seltsam starren, saugenden Blicke nicht gewesen, hätte ich die Häufung von Zufällen womöglich nicht einmal bemerkt. Aber wie sie blickte! Hieß das: erwachsen werden?
Eines Abends, ich lag schon in meinem Bett und las vor dem Einschlafen ein paar Seiten aus dem spannenden, buntillustrierten Buch über die Entstehung des Weltalls, klopfte es zaghaft an meine Tür. Kaum hatte ich geantwortet, stand Alfa schon in meinem Zimmer, das dünne Nachthemd reichte ihr bis über das Knie. Sie setzte sich, mir zugewandt, auf mein Bett.
„Was ist denn?“ fragte ich müde.
„Ich weiß nicht“, sagte sie unschlüssig, „ich wollte einfach noch einmal vorbeischauen…“
„Du machst Witze.“ Mein Urteil stand fest, ich nahm das Buch wieder zur Hand.
Sacht berührte sie meinen Arm. „Vielleicht stimmt das mit der Katalyse gar nicht?“
Ich schaute sie fragend an. Diese Überlegung stand ihr nicht zu, es war Gammas Denkweise.
„Wie kann das Eisen die Reaktion lenken, wenn es sich überhaupt nicht verändert?“
„Du weißt doch, die Aktivierungsenergie“, sagte ich barsch.
Alfas Augen schimmerten feucht. „Schick mich nicht weg, Beth.“
„Du bist vielleicht komisch, Alfa, was hast du nur? Im Labor, am Computer, nirgendwo läßt du mich in Ruhe, immer läufst du mir nach. Glotzt mich an wie eine Schlange. Bist du vielleicht krank? Wenn du was von mir willst, dann sag es doch!“
Alfa sprang auf und rannte hinaus. Verstört stand ich auf, um die Tür zu schließen. Sie war komisch, eindeutig.
Am nächsten Morgen fehlte Alfa am Frühstückstisch; sie hatte — wie Gamma berichtete — geweint. Ich war beruhigt, denn damit war Alfas Krankheit erwiesen. Als ich mich während des Mittagessens danach erkundigte, würdigte sie mich keines Wortes. Auch mit den anderen sprach sie nicht. Ihre Augen waren gerötet.
Eine Weile ging mir Alfa aus dem Weg. Es war mir sogar recht, daß sie den Versuchsplatz zurücktauschte, denn Ilona verschüttete keinen einzigen Tropfen Säure. Nach den wenigen Bemerkungen Gammas zu urteilen, schien sich Alfas Krankheit nicht zu bessern.
Dann kam Alfa eines Tages zu mir an die Lehrmaschine. Nervös strich sie mit den Händen über ihren Overall, und sie blickte vor mir auf den Boden. „Ich muß dir etwas Wichtiges zeigen, Beth, komm mit auf die Insel!“
Verwundert folgte ich ihr. Was konnte es im Naturpark noch Unbekanntes zu sehen geben? Bevor wir die Welt unserer Kindheit betraten, legten wir die Kleidung ab. Sicherer geworden, ging Alfa mit federnden Schritten voraus. Ohne allen Zweifel: Sie hatte sich verändert, ohne daß ich genauer sagen konnte, auf welche Weise. Selbst ihre Bewegungen waren irgendwie geschmeidiger geworden.
Plötzlich begann sie zu rennen, warf sich, ohne zu zögern, in den See und schwamm hinüber zur kleinen Insel, so schnell, daß ich den Vorsprung nicht auf holen konnte. Dort auf dem Strand drehte sie sich um, sah mir entgegen und strich genüßlich langsam die Feuchtigkeit von ihrem Oberkörper. Noch ehe ich anlangte, lief sie zwischen die Bäume.
„He, halt!“ rief ich ihr außer Atem nach. Nach wenigen Minuten fand ich sie.
Sie lag im weichen Gras und hatte die Augen geschlossen.
„He!“ Ich holte tief Luft. „Wo ist das, was du mir zeigen wolltest?“
„Hier“, flüsterte sie, „das bin ich.“
Ich vergaß, die zum Verschnaufen nötigen Armbewegungen fortzusetzen. „Waas?“ fragte ich ungläubig.
„Mich sollst du ansehen. Gefalle ich dir wirklich so wenig?“
„Also, nein…“ Ich hockte mich neben sie, schaute ihren schwarzen, glänzenden Körper an und begriff nicht das mindeste. Sie mir gefallen oder nicht gefallen - ein Unsinn. Mußte sie mich deshalb von meinen Aufgaben weglocken?
„Beth, bitte, gefalle ich dir ein wenig?“ flehte sie leis.
„Na ja, freilich, warum nicht.“
„Setz dich doch neben mich, ganz nah.“ Ohne die Augen zu öffnen, fand sie meinen Arm, zog mich heran. Ihre Hand brannte wie Feuer. „Du bist der einzige, der mich verstehen kann, Beth, die anderen sind alle zu klein. Ich habe lange nachgedacht. Weißt du, ich bin jetzt erwachsen“ — sie richtete sich etwas auf und schaute mich an — „so schrecklich erwachsen wie die Erdmenschen, ganz bestimmt.
Hier…“ Sie legte meine Hand auf ihre kleine Brust, den greifbaren Beweis.
Vorsichtig zog ich die Hand wieder zurück.
„Bitte, Beth, faß mich an, spürst du nicht, wie schön das ist? Ich könnte mich immer nur an dich kuscheln.“
„Bin doch nicht deine Ramma.“ Alfa war mir unheimlich. Am liebsten wäre ich vor ihr geflohen, so unheimlich war sie mir. Aber irgend etwas hielt mich, auch wenn ich nicht wußte, was ich tun sollte und wie mir geschah. Und allmählich begann ihre Erregung auf mich auszustrahlen.
Alfa streichelte mich, küßte mich, wo ihre Lippen nur Platz fanden.
Wo bleibt denn deine Vernunft, dachte ein Beth in mir, wie kannst du solchen Unsinn machen, sie mit deinem Mund abtasten, du bist doch kein Tier. — Aber ich bin ja auch ein Tier, sagte ein anderer Beth in mir, und beide waren verwirrt.
Wir kannten weder Tabus noch Verbote. Wir spielten mit unseren Körpern. Nichts hinderte uns. — Oder doch? Lag es nur an unserem Ungeschick, unserem Zaudern? Der Zauber war mit einem Male verflogen. Ernüchtert blickte ich Alfa an. Sie schwitzte wie ich. Noch vor einem Moment war ich nahe daran gewesen, sie zu verletzen.
Wie konntest du nur solche unsinnigen Tierspiele treiben? fragte der eine Beth in mir. Und der andere wandte sich laut an Alfa: „Ich versteh das nicht!“
Um die Erfüllung betrogen, saßen wir da und benutzten die eben noch überflüssigen Worte. Vielleicht sollte es bei Menschen ganz, ganz anders sein? Oder mußten wir erst weiterwachsen? An wem lag es?
Alfa schluchzte: „Du magst mich nicht.“ Und ich fühlte, daß ich versagt hatte, erbärmlich versagt.
Niedergeschlagen trotteten wir zum Ufer. Dort wartete Guro, wie immer ausgezeichnet informiert, mit seinem Rat. Menschen müssen eben alles lernen.
Es war ein neues Spiel, reizvoller und lustvoller als alle, die wir kannten. Daß unsere Liebesspiele ohne Konsequenzen blieben, war weder Alfas Verdienst oder Verschulden noch das meinige. Vorausschauend versetzte der Schiffscomputer unsere Speisen mit Hormonen, die die normalen Funktionen des Körpers und seiner Organe nicht beeinträchtigten, wohl aber die Vereinigung der Zellen verhinderten.
Unsere Geschwister bemerkten sogleich, daß wir ein Geheimnis vor ihnen hatten. Sie fragten uns geradeheraus, und obwohl es keinen Grund gab, ihnen irgend etwas zu verbergen, wichen wir einer direkten Antwort aus. Ich weiß nicht, ob sie uns bei unseren wiederholten Besuchen auf der Insel beobachteten, jedenfalls behauptete Delth eines Tages, er könne es auch.
Besonders die Mädchen hatten es eilig, Alfa nachzueifern. Oder sogar zu übertrumpfen wie Ilona, die über Nacht die entwickeltsten Formen besaß. Delth und ich entlarvten sie unbarmherzig und packten Watte und Heftpflaster auf den Frühstückstisch. Ilona protestierte schreiend, hatte aber die gewünschte Aufmerksamkeit selbst bei den jüngeren Geschwistern erregt. Die zweite Gruppe hielt uns in dieser Zeit wahrscheinlich für rettungslos verrückt, denn sie sonderten sich von uns ab.
Es ist unwichtig, Reihenfolge oder einzelne Paare anzugeben. Fest steht eins: Im Verlauf des nächsten Jahres lernte in unserer Achtergemeinschaft jedes Mädchen jeden Jungen kennen. „Schwimmen wir zur Insel?“ wurde zu einer geläufigen Aufforderung.
Zwangsläufig ergaben sich Rivalitäten, die aber nach den nächsten glücklichen Stunden vergessen waren.
Kinder im Vollbesitz ihrer Körper! Es dauerte noch Jahre, bis wir auch geistig und emotional genügend gereift waren.
Lernen - was bedeuten schon eingepaukte Fakten und hergestellte Zusammenhänge. Uns fehlte etwas, das uns kein Guro erzählte, das wir nicht nachlesen oder am Terminal abfragen konnten. Noch verspürten wir diesen Mangel nicht, und selbst wenn — es hätte uns wenig genützt.
Die Welt des Schiffs, das Treiben im Naturpark, alle fleißig gelernte soziale Theorie, selbst das Leben in unserer kleinen Gruppe konnte diesen Mangel nicht beheben: den Mangel an Lebenserfahrung, gesellschaftlichem Verständnis, Geschichtsbewußtsein. Nur durch die genetische Nabelschnur mit der Menschheit verbunden, von Robotern erzogen, ohne das Medium einer großen Gesellschaft, ohne die in ihr bewußt oder unbewußt angesammelte Erfahrung wären wir unseren eigenen gesellschaftlichen Problemen hilflos ausgeliefert gewesen. Und wer weiß, was in diesem Fall mit Andymon geschehen wäre, ob unsere kleine Gemeinschaft den heutigen Tag erlebt hätte.
Doch die Konstrukteure des Schiffs hatten einen Ersatz erdacht für das uns fehlende kulturelle Milieu der Erde: das Totaloskop. Recht mühsam fiel mir seine erste Benutzung. Ich mußte mich entkleiden und auf das Formbett im Totaloskopgehäuse legen. Unzählige sensorische Effektoren für Druck, Wärme, Schmerz galt es auf meine Haut zu kleben. Manche meiner Nervenbahnen konnten leichter erreicht werden durch elektrische Kontakte, dünner als ein Haar, oder durch starke elektromagnetische Felder. So auch am Kopf, über den ich einen bizarren Helm stülpen mußte.
Eine Sekunde zögerte ich. Es war alles so unwirklich. Meine fünf oder mehr Sinne sollten betrogen werden — für eine neue Realität, eine Erweiterung meines Bewußtseins. Ungläubig, zweifelnd, aber entschlossen setzte ich den Helm auf. Die Abstimmung, die Anpassung des hochkomplizierten Geräts an meine individuellen psychischen Besonderheiten begann. Funken, bunt und kreischend, stoben durch mein Gesichtsfeld, seltsame Gerüche wallten auf, Schmerz prickelte auf der Haut, in den Ohren. Dann endlich war der Abgleich geschehen, der Computer hatte meine individuellen Parameter für die Benutzung des Totaloskops herausgefunden und gespeichert. Ich versank in einem weder warmen noch kalten, unauslotbar stillen Schwarz, das dunkler noch war als traumloser Schlaf.
Nach einer unbestimmten Weile des Nichts stand ich, als wäre ich plötzlich erwacht, im vertrauten Naturpark. Ein Lufthauch trug die Geräusche und den Geruch des Dschungels zu mir.
Guro sagte: „Beth, wo befindest du dich? Ist es der Park? Ja und doch nicht. Überprüfe, ob du das leiseste Anzeichen der Illusion entdeckst. Kneife dich in den Arm. Es schmerzt dich, die Illusion ist total.“
Obwohl ich wußte, daß ich mich im Totaloskop befand, antwortete ich Guro, und er sprach auf gewohnte Weise zu mir.
Mit allen Mitteln versuchte ich, die Illusion zu entlarven, rannte durch das hohe Gras, sprang in den See, spürte das Wasser, nahm die Anstrengung in meinen Muskeln wahr. Zwei Stunden irrte ich umher, traf dabei sogar auf Ilona, die sich ebenfalls über die Echtheit des Vorgespiegelten beschwerte, verließ den Park, um durch das Schiff zu eilen, fand nichts, nichts im Schiff oder in meinen Empfindungen, was sich verändert hätte, blieb gefangen in der Welt der Illusion.
Vor dem Speisesaal begegnete ich Gamma, die mir atemlos zuflüsterte: „Hast du auch die Lösung gefunden? Die Totaloskope!“
Ich folgte ihr in den Totaloskopraum, stand dort zögernd vor dem Gerät, in das ich vor so kurzer Zeit gestiegen war. Nur Mut! Ich öffnete es — und niemand lag auf dem Formbett, Helm über dem Kopf, niemand! Die Illusion widersprach meinem Gedächtnis. Durfte ich meiner Erinnerung trauen, so konnte ich jegliche Scheinwelt entlarven. Ohne neuerliche Probleme begab ich mich in das Totaloskop, identifizierte auf diese Weise Illusion und Realität.
Guro empfing mich im Naturpark. „So hast du gelernt, Beth, daß du zwischen Schein und Wirklichkeit nur durch dein Gehirn, deine Erinnerung unterscheiden kannst. Doch zur Unterstützung gebe ich dir den roten Punkt, der zu deiner Rechten flammen wird, wenn du dich im Totaloskop befindest. Für heute sei es genug.“
Dumpfes Dunkel umfing mich einen Augenblick, dann befreite ich mich aus den Eingeweiden des Totaloskops. Aufatmend verließ ich es. Guro stand am Eingang des Speisesaals, und wir umringten ihn.
Nur Gamma zweifelte Stunden später mir gegenüber an Guros Lehrsatz. Und es klang nach den Erlebnissen dieses Tages nicht einmal so verwegen und unwahrscheinlich, daß es keine Wirklichkeit gäbe, sondern nur Illusion und Schein, daß wir seit unserer Produktion oder seit dem Einsetzen unseres gegenwärtigen Gedächtnisses einem übergroßen Totaloskop unterworfen wären. Und daß ich, Beth, so behauptete sie, vielleicht nur ein Scheinmensch sei, geschaffen zu ihrer, Gammas, Unterhaltung.
Unsere von logischen Automaten trainierte Vernunft vermochte Hypothesen zu entwerfen und bis zur letzten Konsequenz zu treiben — ohne sie im Grunde zu verstehen.
„Wenn ich schon ein bloßer Schatten bin“, flüsterte ich Gamma zu, „ein Trugbild, das eigene Existenz sich nicht beweisen kann, so freue ich mich, immerhin in deiner Phantasie zu wohnen.“
„Quatsch“, sagte Gamma, „ich bin genausowenig real wie du.“
Die Totaloskope fuhren wie ein Wirbelsturm in unsere kleine Gemeinschaft, stellten die festesten Beziehungen auf den Kopf, rissen uns auseinander und warfen uns wieder zusammen. Eigene Erfahrungen, die wir ohne die Geschwister in unbekannten Situationen in den Totaloskopen gewonnen hatten, erschwerten unsere Verständigung. Früher, als wir vom Erwachen bis zum Zubettgehen stets gemeinsam aßen, spielten und lernten, hatte oft ein einziges Wort oder weniger, ein Blick, eine Geste, genügt, um unsere Gedanken mitzuteilen. Alles hatte sich verändert, wir schossen in ein Erwachsensein, das jenseits all unserer Vorstellungen lag. Unsere nüchterne, klare und überschaubare Welt zerbrach unter dem Ansturm irdischer Erlebnisse, dem Weltwandern. Die ferne Erde hatte uns in ihren Bann geschlagen.
Teth brüstete sich, Amerika entdeckt zu haben in einem primitiven Wikingerschiff. Wir fanden, seine Leistung sei es nicht gewesen, und ernteten bittere Anklagen, die schlecht zu einem kühnen Seefahrer paßten.
Delth driftete monatelang als Kriegsfürst, chinesischer Kaiser und Oberpriester durch die Menschheitsgeschichte, bis er sich, der ständigen Attentate und Ermordungen, des ständigen Befehlens und ständigen Hintergangenwerdens müde, als einsamer Tarzan in undurchdringliche Dschungel zurückzog.
Alfa bekam Dutzende von Kindern und versicherte uns, daß sie sich nie eins wünsche, die Logik ihrer Illusion sie aber dazu treibe.
Eta spielte methodisch Möglichkeiten durch: Prinzessin und Bettlerin, Ballerina und Hexe, Eskimofräulein und Amazonenkönigin, grande dame und Wäscherin. Sie meinte, Menschen hätten keinen Sinn dafür, glücklich zu werden. Aber weiß ich, ob dies nicht an ihrer Psyche, ihrer speziellen Auswahl lag?
Zeth verriet keinem von uns ein Wort von seinen Abenteuern, drohte aus unserer Gemeinschaft auszuscheren und sich vom Totaloskop verschlingen zu lassen. Irgendein Computer diagnostizierte Abhängigkeit und Zwangsverhalten, und nach drei weiteren Nachmittagen floh der ausgemergelte Zeth mit irrem Blick in den Park, mied selbst unseren alten Treffpunkt, den Speisesaal, tagelang.
Was entdeckten wir nicht alles beim Weltwandern in den Totaloskopen! Hatten wir bislang die Verschiedenheit unserer Hautfarben für selbstverständlich gehalten, Blumen blühen nun einmal rot und gelb und blau, so erfuhren wir plötzlich, welche ungeheure Bedeutung dieser oberflächliche Unterschied haben konnte.
„Ich will nicht weiß sein“, beschwerte sich nach einem Nachmittag im Totaloskop Ilona bei Guro. „die Weißen haben sich und andere immer nur grausam unterdrückt. Kannst du mich nicht umwandeln, Guro? Alfa und Eta sind ja auch so schön schwarz!“
„Du wirst noch erfahren“, erklärte ihr darauf Guro nüchtern wie immer, „daß die Rasse belanglos ist. Alle Farben sind schön. Ob du ein guter oder schlechter Mensch wirst, hängt davon nicht ab.“ Schöne und grimmige Erde, wie unendlich reich bist du! Wochenlang durchlebten wir einen winzigen Ausschnitt der Erdgeschichte, lernten ein paar Dutzend Menschen und ihre Lebensumstände kennen. Milliarden Menschen aber besiedeln die Erde — niemals würden wir auch nur den kleinsten Teil ihres Daseins verfolgen können.
Jeden Nachmittag ein neues Leben. Darin war das Totaloskop unerbittlich: Es duldete keine Wiederholungen. Nie erkannten wir völlig, worin das Lehrprogramm bestand — wir durften unsere Illusionen, unsere Erdaufenthalte nach eigenem Ermessen, das beschränkt genug war, selbst wählen.
Mit Gefühlen und unauslöschlichen Erinnerungen fesselten uns die Totaloskope an die Erde. Wir sahen die Welt des Schiffs nun mit neuen Augen, im Licht neuer Erfahrungen. Das Schiff, einst so unermeßlich groß, wurde uns zu eng.
Schon zu dieser Zeit war mir Gamma von den Geschwistern am vertrautesten. So hinreißend Alfa auf der Insel sein mochte, im Alltag des Lernens kam schnell der Punkt, an dem ich sie fade fand und aufdringlich. Sie konnte mich immer noch erregen, verlocken, aber wenn ich über ein Problem reden Wollte, dann suchte ich Gamma, die mir zugleich die größten Rätsel aufgab. Ich wußte stets, was Etas Lachen, was ihr Kichern bedeutete. In Alfas Gesicht spiegelte sich jede ihrer Regungen wieder, und Ilona, die sagte, was sie gerade dachte oder auch mehr.
Gamma blieb still. Und wenn sie sprach, dann nie, ohne daß ich Nebentöne und Andeutungen eines versteckten zweiten Sinnes mitzuhören glaubte. Und das schlimmste von allem, ich hatte das Gefühl, daß sie mir überlegen war, rascher als ich das auf uns einströmende Wissen erfaßte, schneller als ich im Totaloskop Erfahrungen sammelte, daß ich ihr nicht ebenbürtig sei. Es drängte mich, meine Fähigkeiten mit den ihren zu messen. Ich überlegte, wie ich sie auf die Probe stellen könne: mit einem mehrfach verschachtelten Rätsel vielleicht? Dann wieder scheute ich vor dem Wettbewerb zurück.
Es waren unruhige Tage des halbbewußten Suchens, denen die Erinnerung einen zusätzlichen, besonderen Zauber verleiht. Und wenn Gammas Kopf heutzutage vor dem Einschlafen auf meiner Schulter ruht, dann frage ich sie manchmal: „Weißt du noch?“ Dann liegen wir wach, vergessen die Mühen des Andymontages und schwelgen in unseren ersten gemeinsamen Abenteuern.
Sie begannen damit, daß ich die traditionelle Sitzordnung im Speisesaal durcheinanderbrachte.
„Auf meinem Platz schmeckt es wohl besser?“
Ich besänftigte Teth und verschloß meine Ohren vor den Witzeleien Etas. „Also, ich bin gespannt, wie Beth gleichzeitig Messer, Gabel und Händchen halten will.“
Endlich kam Gamma. Sie tat so, als bemerke sie die Veränderung nicht. Von Zeit zu Zeit einen Seitenblick auf sie werfend, wartete ich einen günstigen Moment ab. „Na, Gamma, was hast du heute im Totaloskop erlebt?“
„Ich war Alchimist.“ Sie zog ihre schmale linke Braue einen charakteristischen Millimeter hoch, ihre dunklen asiatischen Augen blinzelten mich an.
„Was denn — ein Mann?“ platzte ich heraus, mich hatte das Totaloskop noch nie umgewandelt. Ich sah sie an, den weich fallenden Overall.
Sie aß, unberührt von meiner Verwirrung, das mit Mandarinen garnierte Fleisch, fuhr sich dann mit dem Handrücken über den Mund, um die scharfe, süße Soße abzuwischen. „Ich habe den Stein der Weisen gesucht.“
„Das ist doch unwissenschaftlich! Dabei lernst du doch nichts, auch nicht sozialpsychologisch oder gesellschaftstheoretisch…“
Sie legte ihre feingliedrige Hand auf die meine. „Die Suche, Beth, das Streben. Auch aus Mißerfolg und Verzweiflung ist Kraft zu gewinnen.“
„Na ja, da gibt es vielleicht Besseres.“.
„Vielleicht.“ Sie stand auf und ging.
Ich blieb sitzen und löffelte wie ein Idiot mein Kompott. Alchimist, Gamma ein Alchimist! Ich versuchte, sie mir vorzustellen, eine dürre, gebeugte Gestalt mit schütterem Bart, nach Schwefel riechend, wohl auch nach Knoblauch. Ich lachte, daß ich mich fast verschluckte. Unmöglich!
„Darf man fragen, welchen Witz du dir gerade erzählst, Beth?“ Delth blickte mich mit dem Neid des Ausgeschlossenen an.
„Nein“, sagte ich. Vielleicht hatte mich Gamma nur angeführt, und ich hatte ihren Wortfallen unauslotbare Bedeutung beigemessen?
Mehr verwirrt als verärgert, zog ich mich zurück ins Totaloskop, dessen Steuercomputer eine meiner Stimmung entsprechende Situation, eine oberflächliche, nicht ganz ehrliche Pose wählte.
In den Anden, auf den steinernen Stufen einer in den ewigen Fels gehauenen Tempelfestung saß ich, stützte das Kinn mit der linken Hand und blickte hinab in die tiefen Schluchten, sah hinauf zu den wolkenverhangenen Gipfeln. Jahrhunderte währende Einsamkeit mein Schicksal, das stolze, unbesiegbare Heer längst von Barbaren vernichtet, mein Volk gegangen und das Land von seinem Blut überschwemmt. In meinem Herzen hallten die Worte des Gedichts, das ich formte, als meine Lippen noch nicht verstummt waren: Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich?
Du bemitleidest dich, dachte ich, als die Identifikation fadenscheinig wurde, wirfst dich in den Mantel tragischer Größe. Und das nur, weil Gamma sich insgeheim amüsiert.
Ein Kondor drehte weit unter mir seine ruhigen Kreise. Ich legte den Kopf von der Linken in die Rechte. Gab es denn nichts, was sie beeindrucken würde? Wenn ich das Rätsel der Erde löste? Vielleicht unseres — wenn eins existierte. Alchimie ohne Phiolen.
„Gamma!“ rief ich gegen die Felsen. Sie, in einer anderen Welt, konnte mich nicht hören. Verstümmelnd antwortete das Echo. Und wenn ich nun hierbleiben müßte, durch irgendeinen unausdenkbaren dummen Schaltfehler auf Lebenszeit hier gefangen bliebe? In der Einöde, die nur mein mageres Ich und ein Kondor bevölkerten? „Warte, Gamma“, sagte ich und stürzte mich vorbei an dem immer noch ruhig kreisenden Kondor in die Schlucht — der schnelle, bequeme, stets parate Ausweg, der Sprung ins Nichts. Als beim Aufschlag meine Knochen zersplitterten und mein Fleisch zerspritzte — ein Augenblick gleißenden Schmerzes —, fing das Totaloskop mich auf. Der Tod währte kurz.
Mit ächzenden Gliedern verließ ich das Gerät und warf einen raschen Blick auf die anderen. Gammas Totaloskop war in Betrieb.
„Ich weiß, wie ich dich verblüffen kann“, flüsterte ich. „Egal, ob du dich gerade wieder mit einem großen Philosophen oder Wissenschaftler unterhältst, ich werde dich überraschen.“
Doch erst als ich die Schaltkreise der beiden Totaloskope miteinander verband und, stets mit einem Blick zur Tür, ob sich nicht ein Geschwister näherte, die Programmierung änderte, hatte ich die entscheidende Idee. Sie würde nun nichts mehr vor mir verbergen können, ihre Geheimnisse würden auch die meinen sein, ihre innersten Gedanken würden offen vor mir liegen…
Ich zögerte. Und meine vor ihr? All meine Dummheiten, Unzulänglichkeiten verraten? Gerade an sie, die ich beeindrucken wollte? Selbst dieser feige Gedanke?
„Ich stelle mich dir, Gamma“, flüsterte ich.
Was ich tat, war nicht vorgesehen, ja gefährlich, ich mußte das Fehlererkennungssystem überbrücken, nur gut, daß uns, solange das Herz normal schlug, nicht mehr die Fernsehaugen des Schiffscomputers ständig nachspionierten.
Meine Manipulationen dauerten länger, als ich wollte. Und jeden Augenblick konnte Gamma das Totaloskop verlassen oder ein Geschwister verwundert feststellen, daß die Zugangstür verrammelt war. Endlich nahm ich die Lupenbrille ab. Zwei Phasen von dreißig beziehungsweise zehn Minuten. Während ich triumphierend in mein Totaloskop stieg, begann die Programmuhr zu laufen. Mit vor Erregung zitternden Händen stülpte ich den Helm auf meinen Kopf. Was würde mich erwarten? Gamma, fürchte ich mich vor dir?
Dunkel, langes Dunkel wie ein sich endlos dehnender Gedanke. Langsam erkannte ich die programmierte Welt, Gammas Welt, in die ich geraten war: den Leseraum des British Museum, den, durfte man den Aufzeichnungen des Schiffs folgen, einige der hellsten Köpfe der Menschheit benutzt hatten. Ich blickte mich um, dunkle Holztäfelung, Tische mit elektrischen Lampen, schweigende Leser. Auf meinem Tisch lag, in der Mitte geöffnet, der Tractatus; er reizte mich augenblicklich nicht. Da entdeckte ich Gamma, unscheinbar wie eine Studentin beugte sie sich über ihre Lektüre. Ich winkte einen der Bediensteten heran.
„O yes, Sir“, er dämpfte seine Stimme, „sie ist jeden Nachmittag hier. Etwas verrückt, hat erst lauter alte Philosophen gelesen, nun bestellt sie sich Raumfahrt und Science-fiction… Mein Tip: Nichts für Sie, die ist aus einer anderen Welt.“
Ich verkniff mir das Lachen, klappte das Buch zusammen. Die Zeit lief.
Als ich mich auf den Stuhl neben sie setzte, blickte Gamma mißbilligend auf, dann erkannte sie mich und lachte verhohlen. „Beth, du hast ja einen Schnurrbart, einen kastanienbraunen Schnurrbart, du siehst überhaupt so übertrieben britisch aus.“
Ich griff unter meine Nase, fand die unprogrammierte Zierde. Die hatte sie bemerkt, aber nicht, daß ich in ihre Scheinwelt eingedrungen war. „Na ja“, sagte ich schwach, „ich weiß gar nicht, wo ich den herhabe.“
„Jedenfalls finde ich es schön, Beth, daß du mich einmal besuchst.“
„Wirklich? Ich hab es einfach nicht ausgehalten, ich war so neugierig zu erfahren, was du machst, was du erlebst, auf deine Welt sozusagen“, gestand ich ihr freimütig. In wenigen Minuten würde sie sowieso alles über mich wissen.
„Das hätte ich mich nie getraut.“ — Bewunderung oder Tadel?
„Na ja, weißt du“, ich wollte reden, aber meine Gedanken ließen sich nicht formulieren.
Unsere Blicke begegneten sich. Eine Weile schwiegen wir, dann lösten sich unsere Augen voneinander.
„Ich glaube, ich bin ihm ganz nahe“, sagte sie schnell, „dem Geheimnis unserer Existenz. Oft denke ich: Es gibt doch so viele kluge Bücher, da muß es doch auch eins darunter geben, das für uns geschrieben ist, das alles enthüllt, das sie für uns hier aufbewahrt haben…“
Sie, das waren die Konstrukteure des Schiffs.
„Möglich, ihnen lag nichts daran, uns wissen zu lassen. Aber vielleicht geben die anderen Bücher dann Aufschluß. Irgendwer muß das Schiff ja gebaut haben irgendwann… Im zwanzigsten Jahrhundert habe ich ähnliche Pläne aufgespürt… Aber all die Millionen Bücher. Das ist schon Weisheit, ja, aber erstarrte, und…“
Ich beobachtete, wie sie redete, dachte, sie ist jeder Zoll Gamma.
„Gamma, ich…“ Ich stockte. Niedrig hingen die runden Milchglaslampen, und an den firnisschwarzen Regalen standen Menschen — wie vordem. Doch alles hatte sich verändert, war plastischer, greifbarer, von prickelnder Lebendigkeit. Seltsame Erinnerungen stiegen in mir auf und verwoben sich. Die verlassenen Anden. Die endlosen Lesetage in der Bibliothek.
Und da waren sie: zwei Wesen, realer als die bewegungslosen Leser, Gamma mir direkt gegenüber, Beth mir direkt gegenüber. Vier Augen… Vier Augen!
Phase zwei, die Identifikation, hatte begonnen. Ich = Gamma & Beth. Ihr und mein Bewußtsein waren ineinander verschmolzen. Ohne Kampf, ohne gegenseitiges Erkennen. Wir waren verflochten, und, konnten auch die Erinnerungslinien Beths oder Gammas separat verfolgt werden, nur ein einziges, untrennbares Ich blieb.
Dieses Ich kannte meine Absichten, es verabscheute weder meine Indiskretion, noch liebte es Gamma. Zwei rechte Hände hoben sich, blätterten mechanisch je eine Buchseite um, sie gehörten uns nicht, denn wir waren in diesen Minuten tot, führten das Leben ferngesteuerter Puppen. Ein neues Wesen hatte uns verschlungen — und dieses Wesen kämpfte um seine Existenz! Aussichtslos von vornherein, doch mit dem Mut einer Verzweiflung, die mich heute noch schaudern macht. Dieses Ich konnte nur in der Verschaltung der Gehirne von mir und Gamma existieren. Es wußte, daß ich vor dem Besteigen des Totaloskops eine Zeitautomatik in Gang gesetzt hatte.
Dieses Wesen hatte zehn Minuten, meine vorgegebenen Tricks zunichte zu machen. Eine Menge Zeit für ein Bewußtsein, dessen Leistung sich nicht nur als Summe der Teile ergibt. Meine Intelligenz, die ihm eine Falle gestellt hatte, ging in seiner auf.
Deutlich sehe ich die Bilder vor mir, wie unsere Arme — im Zeitlupentempo — die Bücher beiseite wischen, doch an die verzweifelt jagenden Gedanken des fremden Ich erinnere ich mich nur schemenhaft. Eine Chance, eine winzige Chance, uns und die erbarmungslos ablaufende Zeit zu besiegen. Immer tiefer drang das Doppelwesen in unsere Gehirne ein, versuchte mit aller Macht, seine Wünsche in diese zu programmieren, uns für alle Zukunft zu versklaven.
Neun Minuten und fünfzig Sekunden. Höchste Zeit, das Totaloskop zu verlassen. Unter den entsetzten Blicken der Bibliotheksbenutzer sprangen zwei durchschnittlich gekleidete Leser auf und rannten sich simultan an der holzgetäfelten Wand die Schädel ein.
Aber noch beherrschte uns der fremde Wille. Unter fest eingeprägtem Befehl stehend, verließen Gamma und ich die Totaloskope, eilten zum Steuercomputer, der inzwischen die Tandemschaltung aufgehoben hatte. Das Ziel des fremden Ich bestand darin, die Schaltung wiederherzustellen. Mit automatischen Bewegungen hantierte mein Körper am Steuercomputer, marionettenhaft fuhren Gammas Hände über die Konsole. Wie im Traum, wie ein ferner, unparteiischer Beobachter nahm ich uns, die Totaloskope, den Raum wahr.
Ein scharfer Pfeifton vom Intercom drang in mein Bewußtsein. Unendlich langsam begriff ich, was meine Hände da taten, was die inzwischen wiederhergestellte Schaltung bezweckte. Meine Füße trugen mich zum Totaloskop. Halt! schrie es in mir. Halt! Doch die gewohnten Handgriffe erledigten sich von selbst. Durch ein neuerliches, stärkeres Pfeifen wich endlich der Bann, mit enormer Überwindung schob ich den Helm zur Seite, auch meine Zunge gewann ihre Kraft zurück.
„Gamma, Gamma“, schrie ich, sprang auf, rannte aus dem Totaloskop. Sie taumelte mir entgegen, das Gesicht bleich wie Papier. Erschöpft, mit pulsierendem Schmerz im Kopf, doch überglücklich, preßte ich sie an mich.
„Wir wollen nie wieder eins sein!“ flüsterte ich in ihr Ohr.
Ihre Hände strichen über meinen Rücken.
Erst einige Tage nach diesem Erlebnis fragte ich mich, wer uns durch das Intercom den rettenden Ton gesandt hatte. Die Geschwister waren ahnungslos, also konnte es nur der Schiffscomputer getan haben. Guro hat nie ein Wort darüber verloren.
„Du hattest eine recht umständliche Art, dich zu erklären“, kommentiert Gamma heute unser erstes gemeinsames Abenteuer.
Eine Zeitlang glaubte ich tatsächlich, meinen Geschwistern himmelhoch überlegen zu sein: geistig. Mochte Delth noch so mit seiner Stärke prahlen, ich verachtete ihn; er konnte nicht die einfachste quantenmechanische Gleichung aufstellen, geschweige denn lösen. Nur Gamma hielt mit, aber das akzeptierte ich, schließlich war sie meine Freundin, vor ihr mußte ich nicht auftrumpfen.
Mit der Gewißheit, daß aus mir ein großartiger Wissenschaftler würde, setzte ich mich an eine der Lehrmaschinen, während meine Geschwister im Naturpark tollten. Wissen ist Macht, das hatte ich begriffen. Und ich wollte mehr wissen als alle anderen. Wozu ich die Macht benutzen würde, war mir unklar. Das Schiff „in die Hand zu bekommen“ war nur der Anfang meiner Tagträume.
Und dann erzählte Ilona uns eines Tages davon, wie sie vom Totaloskop in eine irdische Abiturientin verwandelt worden war.
„Stellt euch vor, die Lehrer haben sich jeden einzelnen vorgenommen, um herauszufinden, wieviel er gelernt hat. Schließlich gab es Punkte darauf. Prüfung nannten sie das. Wir haben wie verrückte Roboter um die Wette gelernt, jeder wollte der Beste sein. Und dabei hatten wir ganz furchtbare Angst, daß wir irgendeine wichtige Formel vergessen könnten. Das war vielleicht aufregend!“
„Hast du gewonnen?“ erkundigte sich der spielwütige Teth.
„Nein“, antwortete Ilona mit gekrauster Stirn. „Ich hatte ein ungenügendes Wissen. Darüber war ich sehr traurig und habe geweint — wie die anderen, die die Prüfung nicht bestanden haben.“
„Du bist wirklich dumm, Ilona, deshalb weint man doch nicht!“ entrüstete sich Teth verständnislos.
Ilona verteidigte sich. „Ich wette mit dir: Wenn du durchfällst, dann heulst du wie ein rückgekoppelter Guro.“
Ich wandte mich an Guro: „Wir wollen auch einmal eine Prüfung ablegen, Guro. Wir haben schon so viel gelernt, wir wissen ja gar nicht mehr, was alles. Und niemand kontrolliert uns.“
Mit seinem unbewegten maskenhaften Gesichtsausdruck stand Guro da und erklärte: „Das ist nicht nötig. Der Schiffscomputer ist ständig informiert, wieviel ihr wißt, was ihr leisten könnt.“
„Trotzdem“, beharrte Delth, der mir die Initiative nicht völlig überlassen wollte, „auf der Erde müssen alle immer wieder Prüfungen ablegen. Das kannst du uns nicht vorenthalten.“
„Wenn ihr unbedingt Prüfung spielen wollt — gut.“
Auch von Guros emotionsloser Stimme gesprochen, klang das Wort „spielen“ jetzt abwertend. Schließlich waren wir schon groß. Lernten, arbeiteten.
Wir einigten uns mit Guro auf das Gebiet der Automaten- und Algorithmentheorie. Ich war darüber nicht ganz glücklich, denn meine Geschwister hatten zufällig das ausgewählt, was ich noch nicht gründlich genug dürchgearbeitet hatte. Und endgültig zerstörten sie meine Freude an der bevorstehenden Prüfung, als sie strikte Regeln einführten.
„Also“, verkündete Delth, „keiner strebt für sich allein. Wir wollen doch möglichst gleiche Voraussetzungen haben.“
Ich protestierte, es half nichts, sie kannten mich.
So lernten wir gemeinsam im Naturpark, saßen auf einem umgestürzten Baum am Ufer und fragten uns gegenseitig ab. Für mich war es mehr als nur ein Spiel, ich strengte all meine grauen Zellen, auf die ich so stolz war, an. Selbst die herumtollenden jüngeren Geschwister konnten mich in meiner Konzentration nicht stören.
Kaum bemerkten meine Rivalen, wie ernst ich es nahm und daß ich sie überholen könnte, da führten sie eine neue Regel ein. Wer den anderen voraus war, durfte sich nicht mehr beteiligen und mußte zum Ausgleich einige Runden schwimmen. Gamma und ich landeten dabei immer wieder auf der Insel.
Kurz vor dem großen Tag behauptete Teth: „Meine Kapazitäten sind endgültig erschöpft“, und er begann kleine Zettel voller Definitionen und Beweise zu kritzeln - mit einer so feinen Schrift, daß er sie selbst nur mühsam entziffern konnte. Die von ihm eingeführten „externen Speicher“ fanden sofort begeisterte Nachahmung. Nur ich betrachtete sie als meiner unwürdig.
„Du bist schön dumm“, sagte sogar Gamma, „jeder Computer speichert nur, was er braucht.“
Beleidigt vertiefte ich mich in die Fachbücher.
Am Tag der Prüfung stellte sich doch noch das Prüfungsfieber ein. Nicht bei mir, ich fühlte mich darüber erhaben. Ilona aber rannte aufgelöst von einem zum anderen, blätterte dabei nervös in einem Artikel. „Seht doch mal, das habe ich bei dem Erfinder der selbstreproduzierenden Automaten entdeckt, das ist doch falsch, da muß doch ein Fehler drin sein!“
„Na sicher“, Delth versuchte sie zu beruhigen, „der Meister hat sich auch dann und wann verdacht.“ Dabei wurstelte er mit den Fingern in seinem drahtigen, krausen Haar.
„Aber wieso, wo denn…? Gamma, hilf du mir doch mal!“
„Mach lieber autogenes Training, jetzt, fünf Minuten vor der Angst wird sowieso nichts mehr“, riet ich ihr und versuchte mit einem Blick herauszubekommen, was sie in der Hand hielt.
Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Wenn hier ein Widerspruch ist, dann ist doch alles, alles falsch!“ Es fehlte nicht viel, und es hätte Tränen gegeben.
Gerade als Gamma sich erbarmen wollte, begann Eta auf einer Flöte zu spielen — um sich zu beruhigen. Uns regte es auf.
„Mußt du unbedingt hier!“ fauchte Zeth sie an.
Ich lächelte siegessicher über das ganze Durcheinander und unterdrückte mein Herzklopfen. Aus dem Spiel war entnervender Ernst geworden — wie auf der Erde.
„Kommt rein“, sagte Guro, „jeder in sein Prüfungszimmer. Wir fangen an.“
Da stand ich nun in dem kleinen Raum vor dem kybernetischen Instruktor, der Lehrmaschine. Auf dem Display leuchtete ein Bündel Fragen. Ein, zwei einfache, eine Menge, die es in sich hatten, und drei bekanntermaßen unlösbare Probleme.
Ich setzte mich an das Gerät, löste, was mir gerade einfiel, und verlor nach den fünf leichtesten Fragen völlig die Lust. Ich trommelte mit den Fingern auf der Konsole herum. Wozu war ich denn eigentlich Mensch und diesen Maschinen, wie sie selbst immer wieder behaupten, himmelweit überlegen? Ich vergaß, daß wir Guro selbst um diese Prüfung gebeten hatten. Mit mir nicht, meine Herren Maschinen, dachte ich.
Plötzlich überwältigte mich eine glänzende, großartige, mir allein zukommende Idee. So konnte ich richtig beweisen, was in mir steckte!
Ich legte mich auf den Boden, nahm meinen Hilfscomputer und ein Stück Papier, begann wie ein Besessener zu kalkulieren und ein Programm auszutüfteln. Es bereitete mir unheimliches Vergnügen, daran zu denken, wie die anderen über den Aufgaben schwitzten, wie sie annahmen, daß ich genau wie sie schön brav hinter dem Instruktor säße und auf Eingebungen wartete. Zeitweise konnte ich vor Freude keine gerade Linie ziehen. Ich wollte meine Geschwister, all die Computer und auch Guro schon immer mal übers Ohr hauen. Jetzt war die Gelegenheit dazu.
Meine Begeisterung hielt lange vor. Ich verspürte keinen Hunger, vergaß alles um mich. Dann und wann stieß ich auf Schwierigkeiten. Ich tüftelte und tüftelte. Endlich stand das Programm.
Nach ein paar Versuchen lief die Fehlersuchroutine leer. Jetzt konnte ich die Steuereinheit des Instruktors knacken. Ich löste die Sperren, öffnete das Gehäuse und fand die Programmeinheit. Beim Einspeisen meines Programms mußte ich zwar etwas improvisieren, schließlich trug ich nicht immer Spezialgeräte mit mir herum, aber mein Plan gelang. Ich verschloß das Gerät wieder, schob die Sperren vor und setzte mich an den Instruktor.
Ich drückte ein paar Tasten, und siehe da - auf dem Display erschienen die Lösungen. Rasch noch meine Spuren verwischt und fertig!
Selbstsicher trat ich auf den Gang. Draußen warteten meine Geschwister. Ihre höhnischen Blicke trafen mich. Doch Guro, der hinter ihnen stand, nickte mir freundlich zu. „Ausgezeichnet, Beth. Zweihundertfünfunddreißig Minuten. Bis auf Gamma sind alle schon fertig. Aber du hast bewiesen, daß ein echter Kybernetiker in dir steckt.
Dein Täuschungsprogramm ist zehnmal komplizierter als die Lösung der Fragen.“
Guro höhnte nie, mir aber kam es so vor. Ich riß mich zusammen, räusperte mich.
„Tja, ihr mit euren Spickzetteln“, prahlte ich, selbst nicht völlig überzeugt, „ich habe die Computer ganz elegant überlistet. Obwohl es zehnmal so schwer war, nur in der doppelten Zeit!“
„Fakt ist, wir waren schneller“, sagte Delth knapp, „ehrlich währt am längsten.“
Das war sonst nicht sein Leitspruch. Ich ärgerte mich, wußte aber nichts zu antworten. Es sah so aus, als ob außer mir niemand meinen Sieg anerkannte. Hieß das: durchgefallen? Wenn doch wenigstens Gamma mich geschlagen hätte! Ihr hätte ich es gegönnt. Zu klug gewesen und reingefallen, so dachten die Geschwister über mich.
Gamma mußten wir aus dem Prüfungszimmer holen. Sie war beim Lösen der Aufgaben auf ein Problem gestoßen, daß sie viel mehr interessierte. Noch Tage später war sie damit beschäftigt.
Wenn ich zurückdenke, befremdet mich der jugendliche Größenwahn, dem ich für mindestens ein Jahr verfallen war. Ich habe Schwierigkeiten, den Beth zu verstehen, der ich einst war, und mich wundert, daß mich Gamma nicht unausstehlich fand, wenn ich, am Terminal sitzend, jeden Ablenkungsversuch unwirsch ablehnte oder sie zu schulmeistern suchte. Aber wahrscheinlich war diese Entwicklungsphase und mit ihr der Anspruch, alles, aber auch alles zu wissen und zu können, notwendig und förderlich. Wann, wenn nicht in der Jugend, würde man nach den Sternen greifen?
„Ihr mit eurer Erdsucht! Was wollt ihr denn noch? Draufrumtrampeln, was? Die Totaloskope, die Bücher, die Kristallspeicher genügen euch wohl nicht?“
Großmütig verziehen Gamma und ich Delth, dem nun einmal unser Sinn für tiefgründige Spekulationen abging.
„Was wir wollen? Beweise natürlich.“
Durfte man den Versicherungen Guros Glauben schenken, dann deutete alles im Schiff auf die Erde und die Erdmenschen hin. Doch das gespeicherte Wissen über unsere angebliche Ursprungswelt war nicht nur viel zu umfangreich für unsere — um mit Teth zu sprechen — beschränkten Kapazitäten, es schien uns zudem lückenhaft und widersprüchlich.
Damals begannen wir — unsystematisch und sporadisch — die Informationen aus den Speichern abzufragen und aufzuarbeiten.
Gamma hat es sich jetzt, fast zwei Jahrzehnte später, zur Aufgabe gemacht, einen groben Überblick zu gewinnen, und ich glaube, daß auch unsere Nachfahren noch viel Zeit werden investieren müssen, ehe alles gesichtet ist. Wir jedenfalls hatten damals das Gefühl, unter dem Berg des menschlichen Wissens zu ersticken. Trotz aller abrufbereiten Daten und einprägsamen Totaloskoperlebnisse blieb uns die Erde ein Rätsel, eine unwirkliche, imaginäre Welt, absurd fremdartig aus der Perspektive des Schiffs.
Gamma fand so ein reiches Feld für immer kompliziertere Vermutungen. Daß uns die Computer auf manche Frage partout nicht antworten wollten, so wie ganze Sektionen des Schiffs uns noch verschlossen blieben, trug wesentlich dazu bei.
„Wer hat das Schiff erbaut?“ - KEINE INFORMATION VERFÜGBAR.
„Was geschah mit der Erde nach 2000?“ - LETZTE DATEN VOM 31. DEZEMBER 1999.
„Wieso gibt es keine späteren Daten?“ - KEINE INFORMATION VERFÜGBAR.
Gamma saß vor dem Display und tippte mit ihrem rechten Zeigefinger an die Nase. Ich stand hinter ihr.
„Vielleicht können wir ihn mit weniger direkten Fragen überlisten?“
Gamma nickte, überlegte eine Sekunde, richtete sich kerzengerade auf und brachte ihren Finger zurück auf die Tastatur.
„Welche weiteren interstellaren Raumschiffe wurden gestartet?“ — KEINE INFORMATION VERFÜGBAR.
Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. „Vielleicht sollten wir nach Sonnenfinsternissen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert fragen?“
Aber was wir auch versuchten, wie wir die Computer auch programmierten, auf welche Weise ich auch ihre innere Verschaltung manipulierte, welche neuen, scheinbar unbezüglichen Suchroutinen wir auch durch die Speicher laufen ließen, die Ausgabegeräte schwiegen oder fertigten uns mit Negativmeldungen ab. Kein Bit historischer Information erreichte uns aus der Zeit nach dem Jahr 2000. Wir konnten das Schicksal der Erde im Detail bis 1999 verfolgen, aber nicht darüber hinaus. Technologische Schätzungen ließen es wahrscheinlich erscheinen, daß unser Schiff im folgenden Jahrhundert, vielleicht um 2040, erbaut wurde - aber in den Speichern fanden sich nicht einmal Hinweise auf entsprechende Projekte.
Ja, in der phantastischen Literatur wurden natürlich Unternehmungen geschildert, die genau der unsrigen glichen, und Gamma und ich vermuteten lange in ihnen wichtige Hinweise. Wir ließen uns von jedem der betreffenden Werke eine Kopie, ein richtiges Buch anfertigen und studierten sie Wort um Wort. Aber wie sehr wir auch blätterten und analysierten, die Hypothesen und Spekulationen dieser Romane halfen uns keinen Schritt weiter, unsere Fragen wurden nicht beantwortet. Und selbst wenn - darf man den Zukunftsvisionen der ungezügelten Phantasten Glauben schenken, sie als Beweisstück nehmen? Gamma meinte, man dürfe dies genau dann, wenn unsere Welt, unser Schiff selbst, nur Illusion, Fiktion oder Nachvollzug des Erdichteten sei. Kein Trost. Nichts wußten wir…
Das Schicksal der Erde nach dem Jahre 2000 blieb uns verschlossen. Am wahrscheinlichsten klang die Annahme, daß die Informationsspeicher tatsächlich mit keinerlei Fakten aus dieser Zeit belegt waren. Aber ebensowenig konnten wir die Möglichkeit ausschließen, daß ein verstecktes und perfektes Sicherungsprogramm uns keinen Zugriff zu den entsprechenden Blöcken gestattete.
Doch dann steckte Zeth seinen Kopf durch die Tür des Terminalraumes. Als wir ihn hereinbaten und um seine Meinung fragten, bot er uns eine dritte Variante an.
„Also, man merkt gleich, ihr seid keine Hardwarespezialisten.“ Er lächelte selbstsicher. „Zerbrecht euch den Kopf, geratet in Panik, und vielleicht ist es nur ein ‚weicher‘ Fehler in einer Adressierung. Ihr wißt doch, die Speicherdichte ist so hoch, daß die natürliche Radioaktivität des Mantelmaterials ausreicht, um dann und wann mal ein Bit umzudrehen. Natürlich müßten schon zwei solcher Ereignisse simultan stattfinden, um die Sicherungen…“ Stolz darauf, daß seine Spezialkenntnisse gefragt waren, hielt uns Zeth einen halbstündigen Vortrag.
Gamma wurde immer zappliger dabei. Langsam krochen ihre Finger auf die Tastatur zu, zogen sich im letzten Moment höflichkeitshalber zurück.
Endlich schloß Zeth: „Selbstverständlich ist ein derartiges Versagen — selbst für die lange Flugzeit des Schiffs — höchst unwahrscheinlich.“
„Und was können wir tun, wie den Fehler finden?“ platzte Gamma heraus.
„Suchen!“ antwortete Zeth lakonisch und verließ uns wieder.
„Der unschätzbare Rat unseres besten Experten.“ Gamma errötete vor Ärger. Sie sah dabei so hinreißend aus, daß ich ihr sofort einen Kuß geben mußte.
Ohne letzte Gewißheit über Existenz und Schicksal der Erde wurden unsere Ansichten wesentlich vom Temperament bestimmt. Galten Gamma und ich den anderen als unbelehrbare Skeptiker, so hatten wir allen Grund, die Geschwister als bodenlos naive, totaloskop-manipulierte Optimisten abzuqualifizieren.
Einmal, nach einem Tag, an dem wir lange vor dem Bildschirm gesessen hatten, peinigten mich nachts, als Gamma schon längst schlief, Bilder. Es fing mit endlosen Programmen und Schaltschemata an, die ich wieder und wieder durchlief. Und dann, plötzlich, ohne daß ich sie abwehren konnte, kamen die Visionen wie ein Alp: Wir waren die letzten, die allerletzten Menschen. Irgendwann kurz nach 2000 war die Erde Opfer einer Katastrophe von globalem Ausmaß geworden. Hatte die Menschheit sich selbst ausgerottet. Wie in einem Totaloskoperlebnis sah ich Menschen daliegen, dahinsiechen zwischen verdorrten Bäumen, sterben, von Asche bedeckt unter brandrotem Himmel. Und im horizontfernen Hintergrund startete unser Schiff. Selbst in diesem Moment, im Halbtraum, wußte ich, daß das Schiff nicht direkt von der Oberfläche abheben konnte, sondern nur aus dem Orbit. Aber das änderte nichts. Wir waren das letzte Lebenszeichen einer untergegangenen Welt, der Versuch einer sterbenden Zivilisation, sich in Weltraumfernen zu erneuern, fortzusetzen.
Ich fühlte eine bleischwere Verantwortung, die mich fester und fester auf die Liege preßte. „Ich bin doch noch ein Kind!“ — Niemand hörte meinen Protest.
Endlich fand ich die Kraft, die Decke wegzuschieben, aufzustehen und, nur mit dem Pyjama bekleidet, in den nächtlichen Naturpark zu eilen. Die nie verstummenden Geräusche des Dschungels, die sanften Wellen des Sees, die meine bloßen Füße umspülten, übten auf mich eine ernsthaft-zärtliche, beruhigende Wirkung aus.
„Du hast zu lange vor dem Computer gesessen“, sagte ich laut zu mir und kehrte entspannt zurück, um endlich Schlaf zu finden.
„Ich begreife nicht, wo du die dreckigen Füße herhast.“
Die Antwort blieb ich Gamma am Morgen schuldig. Jetzt, bei Tage, schienen mir die Vorstellungen der Optimisten naheliegender. Sie glaubten an eine unbeschädigte Fortexistenz der Erde und hielten die Informationssperre für einen etwas unverständlichen Trick, der mit unserer Mission in Zusammenhang stehe, oder einen unbegreiflichen, beklagenswerten Fehler des Schiffscomputers. Alles werde sich noch klären.
Ich fand es unter meiner Würde, mich einer der Überzeugungen völlig anzuschließen. Wir wußten es nicht — und damit basta. Dafür setzte ich mich für Gammas Vorschlag ein, das Schiff nach Konstruktionsrelikten und -Zeugnissen zu durchsuchen, der auch bei den Geschwistern großen Anklang fand. Wir stöberten in allen uns nicht verschlossenen Schiffssektionen herum, entfernten Hunderte von Verkleidungen, um dahinter ein liegengebliebenes Werkzeug, eine Bierdose oder auch nur irdischen Dreck zu entdecken. Erfolglos. Wir untersuchten die Geräte und Bauteile, vor allem die Kleinigkeiten, um vielleicht Firmenzeichen oder ähnliches zu finden. Zwecklos. Lediglich auf nichtssagende Serien- und Bauteilnummern trafen wir. Unsere Suche hatte den einzigen Erfolg, daß wir uns gründlich mit allen Abteilungen des Schiffs vertraut machten.
Weiter trieben wir die Analyse mit neuen Ideen von Ilona und Zeth. Untersuchten die eigenen biologischen Merkmale: Hautpigmentation, Blutgruppe, Morphologie. Das Ergebnis überraschte uns nicht. Wir stellten einen ziemlich repräsentativen Querschnitt der Menschheit dar. Ähnlich war es mit dem Naturpark, in dem sich Tiere aus allen Kontinenten tummelten, Pflanzen aus fast allen Klima- und Vegetationszonen sprossen.
Ein neues Indiz: unsere Sprache. Sie hätte auf ein Herkunftsland, einen Kulturkreis hindeuten können. Wieder gefehlt. Unsere Mundart existierte auf der Erde vor dem Jahr 2000 nicht, sie trug eindeutig synthetische Züge. Man erkannte es an der regulären, ausnahmearmen Grammatik.
Teth versuchte sogar, informationslinguistisch zu beweisen, daß unsere Sprache den bekannten irdischen strukturell überlegen sei, knappere Mitteilungen und genauere Beschreibungen gestattete. Eta hingegen beschwerte sich, daß wir wie Computer redeten, für echte Poesie aber gerade die Unregelmäßigkeiten wichtig seien. Den Gegenbeweis hat sie später selbst angetreten.
„Vielleicht“, spekulierte ich, „benutzen wir die Verkehrssprache der Menschheit nach zweitausend, die Weltsprache, neben der die Muttersprachen bestehenbleiben als Träger kultureller Eigenarten?“
„Hypothesen haben wir genug“, entgegneten mir meine Geschwister. Und sie lachten sogar über Gamma, als diese fragte, ob wir nicht daran gedacht hätten, daß unser Bild von der Erde trügen könne, daß vielleicht auf unseren Globen ganze Kontinente wie das sagenhafte Atlantis fehlten — oder auch bestimmte Gesellschaftsstrukturen. Im Vergleich zu ihren Alles-nur-Illusion-Hypothesen und zu meinen nächtlichen Ängsten war das für mich eine schale und abgeschmackte Vorstellung.
Als die zweite Gruppe uns aus dem Naturpark in den technischen Teil des Schiffs nachrückte, beachteten wir sie sowenig wie vordem im Park. Waren wir unseren acht nächstjüngeren Geschwistern nicht stets unerreichbar voraus? Gaben uns nicht die im Durchschnitt achtzehn Monate Altersdifferenz eine Überlegenheit, die uns auf sie, auf die Kleinen, herabblicken ließ? Was hätten sie uns geben, wozu uns nützen können? Besonders Teth, unser Jüngster, bestritt energisch, daß sie es vermochten, an unseren Spielen, an unseren Forschungen und Bastelprojekten teilzunehmen; klein, unfähig und ungeschickt, wie sie waren.
Wenn ich sie traf, grüßte ich zwar freundlich: „Na, Lambda, wie geht’s, was habt ihr denn Neues gelernt?“ Doch blieben die Fragen rhetorisch, und wenn ich eine Antwort bekam, was nicht immer geschah, dann konnte ich nur nicken: „Aha, das also!“ und daran denken, was für alte Kamellen und simple Anfangsgründe das waren.
Langsam, aber unaufhaltsam wurde der Altersunterschied unwirksam, geistig und körperlich. Eines Tages, während des gemeinsamen Mittagessens, überraschte uns Ilona mit einer erstaunlichen Nachricht: „Die Kleinen, sie wollen über das Tageslicht klettern. Xith hat die Idee gehabt.“
„Ein Unsinn“, wandte Teth ein, „die Leuchtfläche ist spiegelglatt und senkrecht, da kommen die nie rauf.“ Er blickte von einem zum anderen.
„Doch, mit Saugnäpfen, sie haben sich extra welche hergestellt.“ Ilona warf triumphierend die blonden Zöpfe nach hinten. Sie vergaß ihre Suppe völlig und berichtete über Details.
Teth war kritisch, er wollte es nicht wahrhaben. „Aber an der Achse des Naturparkzylinders ist die Luft doch dünner, vielleicht kann man dort gar nicht mehr atmen?“
„Doch, doch, der Effekt ist nicht so groß.“
„Trotzdem werde ich es nachrechnen, auf die Kleinen kann man sich ja nicht verlassen.“ Teth stocherte mit seiner Gabel unwillig im Gemüse herum.
Auch Delth war sehr unzufrieden. Da die zweite Gruppe den Speisesaal bereits verlassen hatte, ließ er seinem Ärger freien Lauf. Er murrte über unsere Einfallslosigkeit, über das „tollkühne Abenteurertum“ der Kleinen, die alle abstürzen würden. Schließlich überschüttete er Ilona mit Vorwürfen, daß sie sich mit den Kleinen herumtreibe, ohne Rücksicht auf die Interessen der eigenen Gruppe zu nehmen.
„Du bist bloß neidisch, du Ekel, dir erzähl ich überhaupt nichts mehr!“ gab Ilona schnippisch zurück.
„Also, Kinder“, mischte sich Alfa ein, „laßt Ilona in Frieden.“
„Na schön“, erwiderte Delth böse und verschluckte sich dabei fast, „aber eins sag ich euch: Wir müssen da rauf. Wer ist dafür?“
Gamma wischte sich die Lippen ab. „Wir können ihnen nicht einfach ihre Idee stehlen“, wandte sie ein.
„Ich für mein Teil lege keinen Wert darauf, über die Leuchte zu krabbeln. Nicht wahr, Gamma, wir bleiben unten“, sagte ich.
Bei meinen Worten verdüsterte sich Delths Gesicht. „Es wird dir nicht gelingen, die anderen gegen mich aufzuhetzen“, rief er wütend, „außerdem — ihr beide könnt euch nicht dauernd absondern. Was die Gruppe beschließt, wird gemacht, basta!“ Zustimmung heischend, blickte er in die Runde.
Ich erinnerte ihn aufgebracht an das kürzlich beschlossene Prinzip der Einstimmigkeit. Delth ballte die Faust. Aber diese Art von Argumenten hatten wir uns abgewöhnt.
Alfa legte besänftigend ihre Hand auf seine Schulter. Wie meist saß sie neben ihm. „Was mischen wir uns überhaupt in Angelegenheiten der zweiten Gruppe! Das bringt nur Unfrieden.“
„Vielleicht können wir uns ihnen anschließen!“ schlug Eta vor.
Delth stand einfach auf. „Mir schmeckt der Fraß heute nicht mehr. Bis dann.“ Er ging und ließ sein Geschirr stehen, Alfa räumte es ab.
Bis zum Abend hörten wir nichts mehr von dem Vorfall. Dann klopfte es, und Alfa schreckte Gamma und mich aus unserer abendlichen Lektüre. „Morgen ganz früh geht es los. Ihr kommt doch mit?“ „Nein.“ Als ich ihren bittenden Blick sah, fügte ich hinzu: „Keine Lust. Wozu das Ganze?“
„Ist es denn so wichtig, daß Delth seinen Willen bekommt?“ fragte Gamma und legte ihr Buch beiseite.
„Also, Kinder.“ Alfa setzte sich auf den kleinen Tisch und warf dabei beinahe die Vase mit den Wiesenblumen um. „Ihr glaubt ja nicht, welche diplomatischen Schwierigkeiten ich heute hinter mir habe. Die zweite Gruppe überzeugen, daß wir gemeinsam klettern. Dann Jotas Bedingung, daß sie das Unternehmen leitet, Delth nahebringen. Ich mußte sogar Guro hinzuziehen. Und nun ihr — ihr habt einfach keine Lust.“
„Das ist glatte Erpressung, und…“
„…bei Erpressung müssen wir eben nachgeben“, sagte Gamma und stieß mich mit dem Fuß an.
Ich resignierte und nahm mir vor, die Wand hinauf kein einziges Wort zu sagen.
Am anderen Morgen marschierten wir, schwer bepackt mit Saugnäpfen, Seilen, Fallschirmen und etwas Marschverpflegung, aber ohne ein Gramm Kleidung auf dem Leib, durch den Naturpark. Für die wirklich noch Kleinen, die dort lebten, war unsere Expedition eine Sensation. Sie folgten uns ein Stück Weges, stellten Fragen und bettelten, daß wir sie mitnehmen sollten. Jota lehnte es kategorisch ab.
Zielstrebig durchquerten wir den Dschungelstreifen und gelangten an den sanften Anstieg des Zylinderbodens, der hoch vor uns aufragte.
Wir schnallten die Saugnäpfe an Hände und Füße, seilten uns an. Mühsam krochen wir auf allen vieren. Zuerst staksten wir durch die immer steiler ansteigende Rundung. Das Betätigen der Hebel, wodurch sich die Gummischalen festsaugten, das Lösen Sekunden später strengten an. Jeder Meter empor kostete viel Kraft. Wir kletterten in einer langen Reihe, allen voran Jota, deren Haut bronzefarben glänzte. Sie schlug ein hohes Tempo an. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt alles unbeteiligt über mich ergehen lassen, kein Wort gesprochen und gerade so viel Aktivität entfaltet, daß ich die anderen nicht behinderte.
Endlich erreichten wir den Rand der kilometergroßen, sanft gelblich leuchtenden, milchigen Plastscheibe, die den Naturpark erhellte.
Hier beschloß Jota, einen Stützpunkt zu errichten. Wir klebten ein paar Dutzend Saugnäpfe gegen die Wand, spannten Seile und hievten zurückgelassene Lasten nach oben. Ich gab meinen lächerlichen Vorsatz auf und stimmte in das allgemeine „Hauruck!“ mit ein.
Nachdem wir etwas gegessen hatten, setzten wir den beschwerlichen Weg fort, winzige dunkle Insekten, die über das goldene Tageslicht krochen.
Wir redeten kaum miteinander, zu sehr mußten wir uns auf Hände und Füße konzentrieren. Rechts von mir war Gamma, die mich mal überholte, mal zurückfiel. Immer wieder wanderte mein Blick zu ihr. Mehr als nur das Seil verband uns. Links kletterte Mikra, die zweitjüngste in unserer Expedition. Ihr schien bei ihrem groben Körperbau das Klettern kaum etwas auszumachen. Einmal hörten wir ein lautes Schimpfen, Nya beschwerte sich über einen „Mistsaugnapf“, der nicht mehr richtig hielt. Sie warf ihn in hohem Bogen hinab und schnallte sich einen neuen an.
Allmählich verglomm das Licht der großen Leuchtfläche vor uns. Bei seinem letzten Schimmer richteten wir uns ein, spannten Hängematten auf und zurrten uns sorgfältig fest, wobei wir zahlreiche zusätzliche Sauger setzten - auch wenn Xith versicherte, daß seine Saugnäpfe eine Halbwertzeit von fünfzig Stunden hätten. Der Statistik gehorchend, lösten sich während der Nacht einige, die Konstruktion wurde aber durch die anderen und das Seilgewirr gehalten, das das Netz einer tollwütigen Riesenspinne hätte sein können.
Gamma und ich hatten vor Mitternacht Wache, wir überprüften einige Saugnäpfe, dann schauten wir in den Zylinder des Naturparks. Schwarze Finsternis lag über den Wäldern und Grasflächen, nur das bewegte Wasser des einen Sees weit über uns phosphoreszierte schwach. Ich fröstelte auch dann noch, als Gamma sich vorsichtig eng an mich schmiegte.
„Was meinst du, wie lange werden wir miteinander sein, Beth? So ein Leben ist furchtbar lang — hoffe ich.“
Ich schwieg. Im Spinnennetz der Sicherungsleinen ruckte und zuckte es, ein Geschwister bewegte sich im Schlaf, träumte wohl.
„Jetzt, in diesem Augenblick bedeutest du mir so viel, daß es für ewig reichen müßte, Beth. Aber ist das nicht bloß ein Gefühl, gemacht aus Chemie, aus Hormonen wie alle Gefühle, vergänglich wie alles?“
Ich zog sie fester an mich, ihr warmer Atem strich über mein Gesicht. „Natürlich wissen wir nicht, was kommt, wie es zwischen uns in zehn, zwanzig Jahren oder auch in einem sein wird. Aber so wie du jetzt bist, da wünsche ich mir von ganzem Herzen, daß es immer so bleiben möge.“
Weit unter uns, einen flackernden roten Schein um sich verbreitend, brannte ein einsames Lagerfeuer. Als ob unsere Welt nur eine wunderschöne Totaloskopillusion wäre.
Nach einer Weile wurden wir abgelöst.
Kaum füllte sich der Hohlraum des Schiffs wieder mit Licht, brachen wir mit schmerzenden Gliedern auf. Wir stapften, uns ansaugend und abstoßend, über das makellose Antlitz der Naturparksonne. Höher und höher. Schon war das Abnehmen der Zentrifugalkraft zu spüren. Endlich kamen wir merklich schneller und dann spielend leicht voran. Eine eigentümliche Fröhlichkeit ergriff uns. Wir kicherten, scherzten, ließen uns zu akrobatischen Kunststückchen hinreißen. Mikra stieß sich plötzlich von der Wandung ab, trudelte weit hinaus in den freien Raum. Ich holte sie trotz aller Proteste ein.
Jota genehmigte eine Rast. Wir befestigten uns und vollführten alle einen wirren Tanz in der Luft, drifteten wild durcheinander. Mit Vergnügen fing ich Gamma, fast schwerelos fliegend, auf. Wir tollten, bis Xith, der verwegenste, sich übergab. Das ernüchterte uns. Ich verlor das Gefühl für unten und oben, alles drehte sich plötzlich um mich so, wie sich das gesamte Schiff drehte, ich hing schlapp an meinen Saugnäpfen, atmete tief durch. Gamma sah mir besorgt ins Gesicht. Der Schwindel verging.
Ich war nicht der einzige, der mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Zeths sonst so ehernes Gesicht verfärbte sich grünlich. Wir schnauften, saugten uns unentschlossen weiter. Gamma rief plötzlich: „Ich wette, wir sind über die Mitte schon hinaus!“
Allein mit den Augen war dies nicht zu erkennen, aber es kam mir vor, als ob mich eine schwache, ganz schwache Kraft in Kopfrichtung zog. Xith holte ein Lot hervor, tatsächlich, wir mußten zurückkriechen. Wir orientierten uns nur noch am feinen Ausschlag der Bleikugel am Faden. Schon fürchteten wir, die gesuchte Achse nicht zu erkennen, da entdeckte Eta eine feine Linie, die einen Kreis von etwa dreißig Meter Durchmesser bildete. In seiner Mitte fanden wir einen weiteren Kreis von nur zwei Metern, dessen Zentrum ein in den leuchtenden Plast eingelassenes Handrad bildete: Die Achse des Zylinders, der Nabel unserer Welt!
Das Rad ließ sich, wenn auch mit einiger Mühe, drehen. Gemeinsam schafften wir es, die Luke zu öffnen, die in eine Art Luftschleuse führte. An der gegenüberliegenden Tür brannte ein rotes Signal — der Zutritt zu diesem Teil des Schiffs war uns versperrt. Das lauteste Protestieren Delths konnte daran nichts ändern.
Jota rief uns zusammen. „Unsere Expedition ist zu Ende. Wer kein Feigling ist, springt mit dem Fallschirm hinab.“
Diesmal konnte sich Delth seine Priorität sichern, er warf die Saugnäpfe von seinen Händen achtlos ab, sie trudelten eine Weile nahe der Achse herum, dann fielen sie in verschiedene Richtungen auf den Naturparkboden zu. Delth selbst kauerte sich hin, löste die Fußsaugnäpfe und schnellte sich wie eine zusammengepreßte Feder ab. Der Schwung trug ihn weit hinaus, schließlich begann er zu fallen. Ich hatte ihn schon aus den Augen verloren vor dem scheckiggrünen Hintergrund des Naturparks, da öffnete sich der weiße Schirm.
Eins nach dem anderen entschlossen sich meine Geschwister zu springen. Sie landeten über das Rund verstreut.
Ich stand parallel der Achse, senkrecht zur Leuchtfläche da, hielt Gamma an meiner rechten Hand. Wir blickten auf bis zur gegenüberliegenden runden Gebirgskuppel. Mein Blick streifte über den Naturpark, die verträumten Wälder, Dschungel, Sümpfe, Seen, Felsen, die Insel.
„Springen wir“, sagte Gamma, und gemeinsam, uns immer noch an der Hand haltend, schnellten wir uns ab.
Dann im freien Fall zog ich sie an mich, wir umarmten uns, küßten uns, schärfer und schärfer strich der Wind an uns vorbei, langsam wurde Gamma unruhig. Wir trennten uns, damit sich die Schirme nicht verhedderten. Prasselnd entfalteten sie sich, es riß mich hart nach oben.
Als wir uns nach Stunden trafen, um unsere Erlebnisse und Empfindungen auszutauschen, wurden wir von Jota und Xith mit Schelte empfangen. Keiner von uns Großen hatte auch nur einen Finger krumm gemacht, um die Reste unserer Expedition wegzuräumen, die Saugnäpfe und Seile in Achsennähe.
Es war nicht das letztemal, daß die zweite Gruppe uns Vorwürfe machte.
Delth schraubte das Intercom auf und durchschnitt einige Drähte. Dann stülpte er eine schwarze Kappe über die TV-Kamera. Es würde eine Weile dauern, bis die Reparaturroboter die Beschädigungen beseitigt hatten.
Wir setzten uns um den Tisch, und Delth eröffnete unsere kleine Konferenz. „Hört zu! Zeth hat eine wichtige Idee.“
Zeth hüstelte, wie er es in der Totaloskopwelt jemandem abgeschaut hatte, und sagte: „Guro ist ein Roboter, nicht wahr, kein lebendes Wesen. Ich schlage vor, ihn zu analysieren. Wir haben noch keinen Roboter von innen gesehen.“
Benommen schwiegen wir. Das also war der Grund für das Versteckspiel vor dem Computer. Guro sollte nicht gewarnt werden.
Ich spürte, wie meine Wangen brannten und meine Kehle trocken wurde. Die Idee war ungeheuerlich, ich scheute mich, sie mir in meiner Phantasie auszumalen. Nacheinander musterte ich die Gesichter meiner Geschwister. Eta staunte mit offenem Mund. Und Delth griente, zufrieden, etwas Außergewöhnliches, womöglich nicht Erlaubtes unternehmen zu können.
Schließlich brach Alfa das Schweigen. „Irgendwo ist bestimmt Guros Konstruktionsschema gespeichert. Genügt uns das denn nicht?“
„Ich habe es“, sagte Zeth und zog mit gelenkigen Fingern einen dicken Packen Papier aus einer von Metallspritzern verunzierten Mappe. „Aber woher kann ich wissen, daß es auch stimmt, daß uns der Computer nicht übers Ohr haut?“
„Ja, ja“, rief Ilona und nickte.
„Guro kann sprechen wie ein Mensch, er hat Märchen erfunden -wer weiß, was in ihm noch alles eingebaut ist außer diesen Sprachsynthetisatoren, Assoziativspeichern, akustischen Analysatoren. Habt ihr nicht auch den Eindruck, daß er für sein Konstruktionsschema ein wenig zuviel kann?“
Eta kicherte, und Gamma flüsterte in mein Ohr so nahe, daß ich ihren warmen Atem spürte: „Wenn man sich mein Schema anschaut, traut man mir auch nicht viel zu.“
Ich warf ihr einen amüsierten Blick zu und fragte dann laut: „Was erwartet ihr denn? Eine Seele? Mikroprozessoren mit der Aufschrift ‚Schöpferische Funktionen‘? An Guro ist nichts Rätselhaftes, das Schema genügt.“
Delth schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an und ging dann einfach über meine Bemerkung hinweg. „Also, wer macht bei der Analyse mit?“
„Ich nicht“, sagte Teth stockend, „nein, wie könnt ihr nur…“ Er stand langsam auf und stützte sich mit geballten Fäusten auf den Tisch. „Guro hat immer nur das Beste für uns getan!“
Delth und ich lachten offen heraus, auch Eta fiel ein. Teth wandte sich um und verließ den Raum.
„Was hat er?“ fragte ich bestürzt, „wieso verträgt er es nicht, wenn wir lachen?“
Alfa antwortete nach einer kurzen Pause: „Ihm hat gestern das Totaloskop ein unschönes Erlebnis verpaßt, einen Mord wohl. Er wird’s schon überwinden.“
„Na, dann ohne ihn“, sagte Delth.
Voller Begeisterung waren nur er, Zeth und Ilona. Wir anderen schlossen uns jedoch nicht aus. Im Nu hatten wir einen Plan entworfen.
Wir lauerten Guro mit einem feinmaschigen Stahlnetz auf. Er kam wie gewöhnlich mit leisen, aber festen Schritten den Korridor entlang. Auf Delths Pfiff hin stürzten wir aus dem Quergang und warfen das Netz über ihn. In weniger als einer Sekunde war er gefesselt. Erwehrte sich nicht.
„Wo ist dein Ausschalter, Guro?“ fragte Delth fordernd. Er stellte sich breitbeinig vor den Roboter und stützte die Hände in die Seiten. Ein Bild der Entschlossenheit.
„Ich habe keinen“, erwiderte Guro, „ich kann nicht mechanisch extern gesteuert werden. Worum geht es denn?“
Wir schwiegen. Wie auf ein unhörbares Los! ergriffen wir das Bündel und schleppten den bewegungslosen Klotz aus Metall und Plast durch die Schleuse in das unter Überdruck stehende staubfreie Elektroniklabor.
„Schalte dich doch selbst aus, Guro“, bat Ilona, als wir ihn auf den Arbeitstisch legten.
„Ich werde mich nicht desaktivieren“, antwortete Guro, „denn ich muß auf euch aufpassen.“ Die freundlich-glatte Maske seines Gesichts verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln.
Zeth murmelte: „Ist doch bloß ein Roboter…“ dann setzte er die Instrumente an.
Guro empfand keinen Schmerz, Guro zuckte nicht mit der Wimper, Guro blieb ganz ruhig liegen, er sagte nicht einmal: Ihr müßt ja wissen, was ihr tut. In ihm summte es ganz leise, er hielt still.
„Wir hätten ihn gegen die Steuerimpulse vom Computer abschirmen sollen“, bemerkte Zeth, während er die dünne Plastschutzhaut um Guros Körper am Kopf und entlang des fast menschenförmigen Körpers aufschnitt. Dann zog er das Plastlächeln vom metallenen Schädel.
„Ob er um Hilfe ruft?“ flüsterte Ilona. Wir verriegelten vorsichtshalber die Tür. Eta legte die Fetzen der durchsichtigen, doch sanft schimmernden Plasthaut säuberlich zur Seite. Mit unseren kleinen, äußerst präzis zu handhabenden Werkzeugen lösten wir Schräubchen, sprengten Halterungen auf.
Guros Schädel war weder besonders gesichert noch besonders fest. Bald lag sein Inneres vor uns: Gleichgewichtsorgane, Wandler für die Sensoren — nicht aber sein Gehirn. Eine durchsichtige, schwach riechende Schutzflüssigkeit floß aus, zähes Roboterblut.
Leise pfiff die Diamantsäge, als Zeth den titanlegierten Brustschild zertrennte. Wir nahmen ihm die dünnen Platten ab und stapelten sie. Die Flüssigkeit, die auch Guros Leib füllte, verklebte unsere Handschuhe und tropfte zu Boden.
Nun lagen Guros Eingeweide bloß: ein undurchdringliches Gewirr von Plastverstrebungen, Glasfasern, Wellenleitern, nanoelektronischen Blöcken. Ilona identifizierte nach dem Konstruktionsschema die Baugruppen. Noch jagten elektrische Impulse durch die Organe, noch sah und hörte uns Guro.
„Vorsicht“, mahnte sein bereits halb freigelegter Mund mit zitternden Stimmembranen, „zum Teil hohe Spannungen.“
Zeth klemmte die Sprachsynthetisatoren ab. Gut aufeinander eingespielt, entfernten wir Einzelteil um Einzelteil. Laserstrahl und Diamantsäge unterbrachen Kabelstränge, isolierte Pinzetten mit winzigen Saugnäpfen griffen zu. Vor Konzentration keuchten wir unter den Halbmasken, die wir aufgesetzt hatten, um den Raum vorschriftsgemäß staubfrei zu halten. Bunte Kabelenden quollen aus den freigelegten Armen. Durch Guros Eingeweide zuckte ein kurzer Blitz, ein Vibrieren ergriff seine Beine, erstarb aber schnell wieder. Es begann brenzlich zu riechen.
„Das war die Akkumulatorsäule“, sagte Zeth und entfernte sie.
Guro war tot. Wir beugten uns über seinen Leib, schlachteten ihn mit tropfenden Handschuhen aus, holten auch die letzten Einzelteile heraus, untersuchten sie oberflächlich. Es war nichts Rätselhaftes darunter, nichts Überzähliges. Wir arbeiteten, bis von Guro nur eine leere Metallhülle, das Skelett der Verstrebungen und ein wirrer Haufen Baugruppen blieben. Wir schauten an unseren befleckten Overalls herab auf den schmierigen Boden. Das Wunder, die große Entdeckung waren ausgeblieben. Ein Gefühl der Leere hatte sich statt dessen eingestellt. Auch aus Delths Stimme war es herauszuhören, als er feststellte: „So, das hätten wir geschafft.“
Einzeln verließen wir das Labor. Obwohl wir alle Hunger verspürten, aßen wir nicht gemeinsam.
Später war ich in Gammas Kabine. Wir blickten auf die Wände, die abstrakte Diagramme schmückten. Uns war unbehaglich zumute.
„Ich sehe immer noch Guro vor mir“, sagte Gamma reuevoll, „wie seine Beine gezuckt haben. So lebendig, als ob es ihm weh getan hätte.“
Ich streichelte Gamma, und sie beschwerte sich über ihre „verdammte Sentimentalität“. „Es war doch nur ein Roboter, ein Werkzeug, weshalb geht mir nur der Anblick nicht aus dem Kopf?“
Um sie abzulenken, erklärte ich ihr, daß auch ich ein flaues Gefühl im Magen habe und daß Guro absolut kein Mensch sei und nicht das mindeste fühlen könne.
„Ich weiß nicht, warum wir ihn auseinandernehmen mußten“, überlegte Gamma laut, „war es wirklich nur eine Laune? Vielleicht bedeutet uns Guro irrationalerweise doch mehr als bloß eine Maschine. Und: Er hat alles gewußt, schon vorher, ihr habt nicht alle Mikrofone ausgeschaltet, der Schiffscomputer war über alles informiert.“
„Und weshalb hat er nichts unternommen?“ fragte ich.
„Hätte er versuchen sollen, unseren Handlungsspielraum einzuschränken? Wahrscheinlich hat er alles vorhergesehen.“
„Du meinst, nicht wir haben schuld, sondern der Computer?“
„Was heißt hier ‚schuld‘?“
Gamma erhob sich, ich folgte ihr. Wir gingen jetzt, da die anderen schliefen, zum Labor. Drinnen sahen wir die Überbleibsel von Guro liegen. Ein trauriger Anblick. Klebrige Lachen auf dem Boden, das Werkzeug wild verstreut. Kabel, kugelförmige Miniaturmotoren, Elektronik bunt durcheinander auf dem Tisch. Und inmitten des Chaos eine immer noch blitzende, vielfach durchbrochene Metallhülle, die das Behältnis eines Reinigungsautomaten oder ein Stück Kabelschachtverschalung hätte sein können. Guro.
„Ob wir den je wieder ganz bekommen?“ fragte ich und griff nach einer der Baugruppen. Die Kontakte waren zum Teil knapp am versiegelten Kästchen, das die Nanoelektronik enthielt, abgebrochen, dieses aber war noch intakt.
Wir schraken zusammen. Mit einem saugenden Geräusch öffnete sich die Tür der Laborschleuse. Alfa und Eta hatten wie wir keine Ruhe finden können.
„Eigentlich gibt es genügend Guros“, sagte ich, „und in den Lagern Reserveguros…“
„Wir müssen Delth rufen“, Alfa trat an das Intercom, „er ist sonst tagelang eingeschnappt.“
Es stellte sich heraus, daß noch kein Geschwister schlief, nicht einmal der an der Zerlegung unbeteiligte Teth.
Wir gingen wieder an die Arbeit, sie war schwerer als das Auseinandernehmen. Wir mußten zuerst alle Baugruppen durchtesten. Einige funktionierten nicht mehr. Ohne die Hilfe des Schiffscomputers und ohne Ersatzteile wäre die Reparatur unmöglich gewesen.
Erst am dritten Tag waren wir so weit, daß wir die Schutzflüssigkeit nachfüllen und die Akkumulatorsäule wieder anschließen konnten. Beim Verschweißen der Plasthaut blieben feine Narben zurück, nur bei genauem Hinsehen zu erkennen.
Als wäre nichts geschehen, stieg Guro vom Arbeitstisch und fragte: „Nun, habt ihr meine Seele gefunden?“
„Hätten wir gewußt, was wir suchten, hätten wir dich nicht analysiert“, konterte Ilona. Sie strahlte wie wir alle.
„Jetzt ist mir wohler“, sagte Teth.
Guro lebte wieder so, wie wir ihn von Kindheit an kannten.
Doch nur bei Robotern kann der Tod zurückgenommen werden.
Lange blieb uns eine Reihe von ausgedehnten Sektionen des Raumschiffs versperrt, und selbst Delths beste Werkzeuge vermochten nicht, die Schotte aufzubrechen, die uns den Zugang verwehrten. Dann begann Guro endlich, uns in die Konstruktionszeichnungen des Schiffs einzuweisen, und er erklärte, daß die Kommandosektoren und Antriebsdecks uns bald offenstehen würden.
Ohne weitere Ankündigung war es eines Tages soweit. Ich näherte mich auf dem Weg zum Totaloskopraum einer dieser verschlossenen Türen und stellte verwundert fest, daß das grüne Signal aufleuchtete. Mißtrauisch trat ich näher und bediente den Öffnungsmechanismus.
Sofort fuhren die Schotte beiseite und gaben mir den Weg frei.
Ich warf einen ersten Blick hinein, dann eilte ich mit der Neuigkeit von Raum zu Raum und rief meine Gruppe zusammen. Neidvoll beobachteten uns die Geschwister aus der zweiten und dritten Gruppe. Sie wurden durch die Türsensoren von uns unterschieden und standen weiterhin vor dem Einhalt gebietenden Rot — es sei denn, wir gestatteten, daß sie uns begleiteten.
Gemeinsam lernten wir acht den letzten, uns bisher unbekannten Teil des Schiffs kennen. Wir fuhren mit dem Lift in den Antriebssektor, in dem wir Schutzanzüge tragen mußten, weil weit hinter uns die Fusoren arbeiteten. In den technischen Sektionen herrschte nicht die uns vertraute Schwere. Je nach ihrer Lage mußten wir uns in ihnen unter den Bedingungen fast völliger Schwerelosigkeit oder nur schwacher Zentrifugalkraft bewegen. Zuerst stießen wir uns die Köpfe ein, dann lernten wir, die verschiedenen Halte Vorrichtungen sachgerecht zu nutzen. Im Schutzanzug war die Fortbewegung einfacher, denn dieser verfügte über Magnetschuhe, mit denen man auf den markierten, schwach magnetischen Flächen normal laufen konnte. Die radialen Korridore im luftleeren Deck hinter dem Fusor boten sogar eine besondere Bequemlichkeit — man brauchte sich nur auf den entsprechend markierten Streifen zu stellen, und schon glitt man, von einem im Boden befindlichen Linearmotor getrieben, über die Fläche.
Ein Raum aber übte auf mich eine unwiderstehliche Anziehung aus, die „Kommando-Zentrale I“, die wir bald kurz „Zentrale“ nannten. Ich hatte ihre Lage anhand der Schiffspläne identifiziert und schlich mich von den anderen davon, um sie, das Zentrum aller Vorgänge im Schiff, allein und vor den Geschwistern zu erreichen. Dort angekommen, erkannte ich den Navigationscomputer, die Steuerpulte, Monitore für die Schiffsfunktionen, den Hauptschirm. Genüßlich ließ ich mich in den Sessel des Kommandanten fallen, fühlte mich nun als Herr des Schiffs. Ich griff nach den Steuereinrichtungen und forderte: Positionskontrolle!
Nichts geschah. Kein Computer flüsterte mir Zahlenkolonnen zu, kein Sichtschirm oder Monitor flammte auf, kein Anzeigesymbol veränderte sich. Ich drückte die Fehlerkontrolle, wiederholte den Befehl, schaltete wie besessen - nichts geschah. Die Zentrale blieb tot. Das Schiff gehorchte mir nicht, reagierte auf keinen meiner harmlosen Befehle. Und dabei beging ich keinen. Fehler, hatte keinen Hauptschalter übersehen, kein Programm zu starten vergessen. Nichts.
Hinter mir lachte jemand. Delth lehnte am Astrosimulator und freute sich über meine Ratlosigkeit. „Du bist nicht der Kommandant, Beth.“
„Du etwa?“ fauchte ich verärgert.
„Nein, wir sind zu früh gekommen“, sagte er nüchtern. „Ich denke, daß Guro uns das Schiff ordnungsgemäß übergibt, wenn wir genügend geprobt haben und alles kennen. Bis dahin ist die Zentrale abgeschaltet.“
Delth irrte. Schon als wir am nächsten Tag gemeinsam die Zentrale besuchten, glommen die Bereitschaftsindikatoren. Alle Systeme waren einsatzbereit. Und doch konnten wir mit ihnen das Schiff nicht steuern — die Zentrale hatte sich in einen großen Flugsimulator verwandelt, in dem wir das Schiff beherrschen lernten. Das Training dauerte nur wenige Wochen.
Theoretisch längst eingeweiht, setzten wir uns hinter die Geräte und Steuerpulte und begannen mit einfachen Tests: Funktionsüberprüfung der Computer, Checken der Systeme, Feststellen des Schiffszustandes. Es klappte alles wie am Schnürchen, langweilte uns sogar bald, und wir kamen uns überflüssig vor. Aber dann erfand die Simulationsautomatik Fehlerquellen, vorzugsweise bei den kompliziertesten Manövern. Gerade lavierten wir durch das Mondsystem eines Riesenplaneten, da fiel der Navigationscomputer aus, und die Ersatzsysteme „vergaßen“, sich zuzuschalten. Wir hatten nicht einmal Zeit, die Automatik zu verfluchen, die uns prinzipiell ausgeschlossene Havarien bescherte.
Ohne ein Wort der Absprache wußte jeder von uns, was zu tun war. Alfa steuerte, nur unterstützt von Hilfsgeräten, Gamma kalkulierte auf dem kleinen Rechner den Kurs, und wir anderen versuchten, den Fehler, sei es nun ein falsches Programm oder eine defekte Baugruppe — oder beides —, aufzuspüren.
Wir blieben tagelang rund um die Uhr in der Zentrale, die trotz der Klimaanlage allmählich den Geruch unseres Schweißes annahm. Nachts schliefen wir entkräftet auf ihrem flachen Boden, träumten von gefährlichen Orbits in Mehrfachsystemen, von verkohlter Nanoelektronik, von endlosen Computerprogrammen voller Fehler.
Anfangs murrten wir noch über die Simulationen, die uns als eine unsinnige Anstrengung vorkamen. Unser Schiff war Jahrtausende hindurch perfekt geflogen, hatte nie menschliche Unterstützung benötigt und sich selbst repariert, falls etwas ausgefallen war. Es konnte die kompliziertesten Navigationsmanöver allein ausführen, sogar viel besser, als wenn wir uns einmischten. Keinen realistischen Notfall konnten wir uns vorstellen, der unseren Eingriff erzwang - weshalb also mußten wir uns mit der Steuerung so abplagen?
Wenn der Alarmton durch die Zentrale schrillte, vergaßen wir die Fragen, vergaßen die Simulation, wirbelten durch den Raum, als ginge es jede Sekunde um die Existenz des Schiffs. Wir lernten in dieser Zeit jedes Instrument, jedes Gerät der Zentrale bis ins letzte kennen und wuchsen zu einer gut aufeinander abgestimmten Mannschaft zusammen, in der jeder die Reaktionen der anderen im voraus wußte.
Jeder von uns übernahm im Laufe der Tests sämtliche Funktionen: Kommandant, Navigator, Operator, Reparateur, Antriebsspezialist. Wir waren für die einzelnen Funktionen nicht gleich gut geeignet. Teth gab einen ausgezeichneten Navigator ab, versagte aber beim Reparieren. Gamma übernahm am besten die Computer. Ich schien besonders zum Reservemann befähigt zu sein, der einsprang, wo es kritisch wurde.
Als der Hauptschirm und die unzähligen Anzeigen der Zentrale erloschen, glaubte ich zuerst an eine totale Havarie, ehe ich aufatmend begriff, daß die Zeit der Flugsimulation abgelaufen war.
Müde, schlapp und ausgebrannt suchte ich meine Kabine auf. Das bunte Leben außerhalb der Zentrale erschien mir die nächsten Tage fade und abgeschmackt, nur langsam kehrte ich zu unserem Alltag zurück.
Einen Haupteffekt jedoch hatte unsere Mühsal: Wir wußten, daß wir das Schiff steuern konnten. Wir waren seine Meister. Der Zeitpunkt konnte nicht mehr fern sein, von dem an es unserer geringsten Weisung gehorchte.
Wir standen in der äußeren Schleuse, nur wenige Meter von der Außenhaut des Raumschiffs entfernt, und überprüften unsere leichten Skaphander. Seilten uns an und kontrollierten die Magnetschuhe und Lavierpistolen. Dann saugten Pumpen die Luft mit einem leisen Pfeifen ab. Langsam öffnete sich das Schleusentor.
Delth flog uns voran. Obwohl wir das Schiff nahe der Achse verlassen hatten, katapultierte ihn die Zentrifugalkraft ins All, bis sich die Leine straffte. Alfa folgte ihm, und in einem Schwarm kamen dann wir anderen. Ganz sacht drifteten wir nun auf das abgebremste Schiff zu.
Zuerst sah ich nur die riesige Kreisscheibe des Schiffs und meine Geschwister. Dann wendete ich mich von ihnen ab und vergaß, wo ich mich befand und daß ich an einem gespannten Seil hing. Ein gigantisches Karussell drehte sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit um mich. Lichtpunktbesäte Schwärze, hier und da hellere Flecken. Ich sah in den Kosmos, der in all seiner Pracht um mich rotierte. Konstellationen, die kein irdisches Auge je erblickt hatte, stürzten in mein Blickfeld, funkelnde Diagramme ohne Namen.
Das Kreisen verlangsamte sich, stoppte. Wohin ich auch schaute, dicht an dicht standen Sterne, helle und weniger helle, schwache, kaum mehr erkennbare. Das breite Band der Milchstraße. Meine Blicke bohrten sich in die Schwärze, loteten sie aus, tiefer und tiefer, drangen zu immer ferneren Sternen vor, die sich zu neuen Konstellationen fügten, mir Himmel um Himmel öffneten, die abgrundtiefe Finsternis der Dunkelnebel, milchige Flecken von fliehenden Galaxien …
Ich schwamm unter Sternen, in ihrem weißen und blauen und gelben und rötlichen Licht, driftete als einer der Ihren. Kein Halten, keine Wände, nur Nichts und Leere und Weite. Ich fürchtete die Unendlichkeit nicht mehr, sog sie in mich auf, wurde ein Teil von ihr, dehnte mich in ihre entlegensten Fernen. Sterne trieben in mir, der ich keinen Körper mehr besaß, und Galaxien.
Mein Helmfunk piepte, und gleich darauf sprach Gamma: „Der Sauerstoff geht zur Neige, wir müssen rein, Beth.“
Ich gestattete mir noch, aus meiner Trance gerissen, einen Abschiedsblick auf meine Heimatwelt, das Schiff, das sich in etwa zwei Minuten einmal unter den Sternen drehte.
Von meiner Position aus konnte ich nur einen kleinen Teil des Schiffszylinders überschauen. Obwohl er fast die Hälfte des Himmels bedeckte, hatte ich alles Gefühl für seine Größe verloren. Hätte ich nicht gewußt, daß er so viele Kilometer maß, hätte ich glauben können, daß bis zu seinem abrupten Ende ein paar Schritte genügten. Durch die vom kosmischen Gas und von Mikrometeoriten erodierte Außenhaut des Schiffs liefen hier und dort die Nute des Außentransportsystems, Markierungslinien trennten die Sektoren.
Der Zielstern, zu dem wir flogen, wurde vom Schiff verdeckt, ebenso der gleißende Antriebsstrahl, in dem Wasserstoff zu Helium verbrannte und der das Schiff bremste, indem er ihm mit enormer Geschwindigkeit vorausflog.
Delth zog mich an der Sicherungsleine in die Schleuse. Es war höchste Zeit. Das Tor schloß sich, ich war wieder abgeschnitten von den Sternen.
In den nächsten Tagen verließen wir erneut das schützende Innere des Schiffs, lernten, uns trotz der Zentrifugalkraft auf der Oberfläche zu bewegen, die Außensysteme zu benutzen, Außenreparaturen auszuführen.
Das Schiff war unsere Welt, wir konnten sie nicht verlassen. Mochte Delth mit einem der Exkursionsvehikel auch so weit fliegen, wie es die Sicherheitsautomatik zuließ, er mußte doch zum Schiff zurückkehren und hatte sich eigentlich nie richtig von ihm gelöst.
Suchte Delth Ungebundenheit in den bodenlosen kosmischen Leeren? Er verschwieg uns seine Motive. Wir hatten Delth als unseren Anführer akzeptiert, und doch wurde jeder seiner Schritte ebenso wie die unsrigen vom Schiffscomputer im voraus abgeschätzt, mit Wahrscheinlichkeiten bewertet, kontrolliert und für weitere Pläne berücksichtigt. Auch dieser eine scheinbar entscheidende Schritt.
Delth suchte mich und Gamma im Waschraum auf, er legte den Finger an die Lippen, bedeutete uns mitzukommen. Neugierig folgten wir ihm. In seinem Zimmer hatten sich bereits die übrigen Geschwister versammelt, sie tuschelten leise miteinander. Delth schloß geräuschvoll die Tür. „Ihr könnt euch ruhig laut unterhalten, ich habe alle Mikrofone in meinem Raum unschädlich gemacht.“
Ich unterließ die Frage: Welcher Guro soll’s denn heute sein? Wir saßen zu fünft auf seinem Bett, Zeth und Eta benutzten die beiden Stühle, für Delth blieb nur ein Stehplatz.
„Es wird Zeit, daß wir die Herrschaft über das Schiff übernehmen“, sagte Delth. „Guro hält uns schon viel zu lange hin. Wir haben längst alles Nötige gelernt.“
„Du willst ja nur den Kommandanten •spielen“, unterbrach ich ihn.
„Mensch, Beth, und du willst dich wohl weiter durch Automaten manipulieren und befehligen lassen?“
Ich winkte ab.
„Wir hätten schon damals nicht Guro analysieren sollen, sondern den Schiffscomputer, der steuert alles, auch ihn“, sagte Zeth und legte seine Stirn in gewichtige Falten.
„Nieder mit dem Computer!“ rief Eta und schüttelte lachend ihre geballte Faust. Auf Delths strafenden Blick hin wurde sie wieder ernst.
„Wenn uns der Schiffscomputer die Befehlsgewalt nicht freiwillig übergibt, müssen wir sie uns erkämpfen. Wir haben lange genug gewartet.“ Delth sprach für uns alle.
Entschlossen machten wir uns an die Arbeit. Teth, Eta und Ilona übernahmen die Software. Aus der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hatten, um die Programme auszutüfteln, die andere in unserem Sinne verändern oder löschen sollten, drangen Gelächter und Wortfetzen wie „Gib doch mal die Subroutine rüber…!“ an mein Ohr. Gamma berechnete mit Alfas Unterstützung immer bessere Varianten für unser Eindringen in den Dschungel logischer und materieller Sperren, die den Schiffscomputer schützten.
Delth und Zeth arbeiteten an den mechanischen Blockiereinrichtungen. Ihren knappen Erfolgsmeldungen entnahm ich, daß es ihnen gelang, versiegelte und verbarrikadierte Zugänge zu weiteren Datenbanken und Recheneinheiten aufzubrechen. Vor mich hinpfeifend, tauschte ich Speichereinheiten der Computer aus, verlegte Informations- und Befehlsströme. System auf System entblößte seine Programmstrukturen. Nur der Hauptcomputer, der bislang unser Leben gesteuert hatte, der auch aus der Entfernung Guros und Rammas lenkte, der all unsere psychologischen Eigenheiten und Verhaltensmuster kannte, entzog sich weiterhin unserem Zugriff.
„Es hilft nichts“, sagte Delth, „wir müssen es mit Gewalt versuchen.“
Wir stiegen in schwere Schutzanzüge und brachten einen Hochleistungslaser in Stellung. Die Zentraleinheit des Schiffscomputers befand sich in einem durch meterstarke Keramikplatten gesicherten Raum. Nur langsam brachte der Laserstrahl das Material zum Glühen, erst nach Stunden wurde es zähflüssig und tropfte zu Boden.
Ich hockte mich, müde geworden, auf den Boden und nahm die Zerstörung wahr, die wir inzwischen angerichtet hatten. Um uns herrschte eine Temperatur von mehreren hundert Grad. Normale Plastwände zu unseren Seiten schlugen Blasen, wurden porös und fielen zuletzt in sich zusammen. Verbissen laserten wir weiter.
Mit der Zeit überwältigten mich immer mehr Bedenken. Was hatte Delth vor? Wollte er den Schiffscomputer zerstören? Es hätte Chaos bedeutet, wahrscheinlich unseren Tod. Selbst bei dem Gedanken an einen programmtechnischen Eingriff in das Kernstück des Computers wurde mir unheimlich, wer wußte, welche Veränderungen wir hervorriefen, welche Systeme plötzlich ausfielen…
Millimeter um Millimeter gruben wir einen rotglühenden Tunnel in das Material.
„Du bist verrückt!“ rief ich Delth über den vom Prasseln gestörten Helmfunk zu, „wenn du den Computer zerstörst, bringst du uns alle um.
Ich sah den Naturpark deutlich vor Augen, wie er sich veränderte, wenn die Temperaturregulation ausfiel, wie sich die Dschungeltiere wärmesuchend zusammendrängten, wie zuerst der See, die Bäche gefroren, dann die Luft als ein feiner weißer Schnee herabsank. Und ich sah uns, wie wir in wahnsinniger Hast zu reparieren versuchten, was wir zerstört hatten. Ein Guro ließ sich wieder zusammensetzen — aber der Hauptcomputer?
Delth schob Ilona an den Laser, dann packte er mich an den Schultern. Durch die beiden trüben Helmscheiben sah ich sein verschwitztes Gesicht. Er griente mich an. Ich kannte ihn gut genug, um die unausgesprochenen Worte zu ahnen: Keine Bange, Beth, so verrückt bin ich nicht… Trotzdem spielte er mit einem zu hohen Einsatz — mit unserem Leben.
Durch die sich automatisch verdunkelnde Scheibe blickte ich auf den Punkt, wo der Laserstrahl die Keramik traf. Winzige Fünkchen flogen nach allen Seiten. Nur noch Zentimeter… Plötzlich erlosch der Laser. Der Computer hatte trotz all unserer Vorsichtsmaßnahmen die Energiezufuhr unterbrochen.
Im Helmfunk ertönte überlaut Guros Stimme: „Gruppe eins sofort zur Zentrale.“
Zugleich erleichtert und bedrückt, legte ich den Schutzanzug ab und machte mich auf den Weg durch die langen Korridore. Schlug der Schiffscomputer jetzt zurück? Rächte sich für unseren hemmungslosen, brutalen Angriff? Delth war ja nahe daran gewesen, das Nervenzentrum des Schiffs zu zerstören.
Wir ließen uns in die Sessel hinter den Steuerpulten fallen und warteten auf Guro, achteten nicht auf die toten Anzeigegeräte und Displays. Auf einmal kam Leben in die Zentrale. Das summende Geräusch der Automaten erfüllte den großen Raum, die Monitore leuchteten auf, und helle Symbole bedeckten die Pulte vor uns.
Die Stimme des unsichtbaren Guro erklang. „Hier spricht der Hauptcomputer. Die Tests haben bewiesen, daß ihr die nötigen Fähigkeiten zum Führen des Schiffs besitzt. Hiermit übergibt der Hauptcomputer die Kommandogewalt an die menschliche Besatzung, Gruppe eins. Sämtliche Roboter und Systeme des Raumschiffs unterstehen ab sofort eurem Befehl.“
Die Stimme verstummte, erleichtert atmeten wir auf. Delth hatte den Computer zur Kapitulation gezwungen. Und er übernahm sofort die antrainierte Rolle: „Hauptcomputer! Sofortige Angabe der Position des Raumschiffs und Überprüfung der Flugsicherheit! Danach ein Bericht über den bisherigen Verlauf des Fluges, Programmerfüllung, Probleme.“
Keiner bezweifelte, daß Delth am besten für den Posten des Kommandanten geeignet war. Auch ich nicht. Aber ich würde ihn kontrollieren.
Wir hatten erwartet, daß nun die Stunde der großen Enthüllungen gekommen sei, und waren dementsprechend enttäuscht über den eintönigen Rapport des Schiffscomputers. Seine Probleme bestanden in einigen harmlosen Milligrammeteoriten, Alterserscheinungen an Systemen und dem Ausfall eines Inkubators. Nachdem er uns genau dreißig Minuten mit einer Aufzählung gelangweilt hatte, fragte Gamma ungeduldig: „Ich möchte endlich erfahren, erstens, wer das Schiff erbaut hat, und zweitens, welchem Zweck die Reise dient, welche Aufgabe wir haben.“
Delth nickte ihr bestätigend zu.
Die uns immer wieder irritierende Stimme Guros antwortete aus dem Lautsprecher: „Darüber sind keinerlei Informationen gespeichert.“
Eta sprang aus ihrem Formsessel auf, als ob sie sich so besser verständlich machen könnte. Sie lief zum Hauptsteuerpult. „Du hast uns ausgetrickst, du Bitpfeife, du; als du gemerkt hast, daß wir dir einheizen, hast du alles gelöscht.“
„Über einen Löschvorgang liegen keinerlei Informationen vor.“
Von unserem Stolz, Beherrscher des Schiffs und seiner Computer zu sein, blieb nicht viel übrig.
Später enthüllte ich Gamma meinen Verdacht. „Der Computer hat uns noch immer in der Hand. Er kennt unsere Forderungen, bevor wir sie aussprechen. Er kann durch gezielte Information unser Handeln lenken.“
Ich sah es, ich spürte es: Das gesamte Schiff war eine titanische Maschinerie mit seit dem Start festgelegten Bewegungen. Selbst unser Freiheitsdrang, selbst meine Gedanken in diesem Moment standen im Kalkül.
Gamma versuchte, mit mathematischen und philosophischen Argumenten meine Ohnmachtsgefühle zu zerstreuen. Das Schiff sei zu groß, als daß jedes Detail vorherberechnet werden könne, mehr noch, dem Schiffscomputer sei es unmöglich, seine zukünftigen Zustände zu ermitteln, dies führe zu Selbstanwendungsproblemen. Real sei nur eine auf Wahrscheinlichkeiten beruhende Fallabschätzung.
Argumente verpuffen, wenn das Gefühl ihnen nicht folgt. Gamma brauchte mir nichts zu beweisen, ich wußte, daß es stimmte, aber… Uns konnte der Computer auf jeden Fall übertölpeln, uns, deren psychische Struktur er erzeugt und kontrolliert hatte. Was wir auch taten, wie wir uns auch entschieden, er hielt seine Variante bereit.
Obwohl der Computer all unseren Befehlen gehorchte, schien mir, daß wir die Herrschaft über das Schiff nur formal übernommen hatten. Erst wenn wir das Schiff, womöglich für immer, verließen, würde ich mich unbeeinflußt fühlen können.
„Ich werde euch etwas bieten“, hatte Delth versprochen, „ein Kommandant, der nicht einmal die Systeme kontrollieren muß, will ich nicht sein. Was soll ich in der Zentrale, wenn es nichts zu steuern gibt? Ich hätte Baby im Naturpark bleiben können!“
„Hast ja recht, Delth“, hatte ich erwidert, „aber was kannst du schon unternehmen?“
„Wart’s nur ab, uns fällt schon was ein.“
Nun saßen neben unserer Gruppe drei weitere in der Zentrale, der Platz reichte kaum. War es nur Delths Eitelkeit, ihnen allen einen energischen Kommandanten zu zeigen, oder wollte er tatsächlich keinen, der über dreizehn war, ausschließen?
Die jüngeren Geschwister beugten sich interessiert über die Geräte. Auch ich mußte einiges erklären. „Nein, damit kontrollieren wir die Triebwerke. Hier: Wasserstoffzufuhr, Kerntemperatur, Schub, Strahlungsintensität …“
Sie fragten mit ehrfurchtsvoller Stimme, schauten immer wieder nervös zu Delth hinüber, der sich noch mit Alfa unterhielt. Die lächelte über ihr breites schwarzes Gesicht, sie war glücklich, von ihr stammte die entscheidende Idee.
Delth schaltete den Hauptschirm ein. Schlagartig wurde es still. „Seht ihr den hellen Stern da genau im Zentrum? Ihm fliegen wir entgegen. In etwa einem Jahr werden wir dort sein.“
Eta sprang auf und untermauerte Delths Angaben durch technische Daten wie Abstand, Relativgeschwindigkeit, Beschleunigungswerte. Monitore unterstützten sie durch Dutzende von Kurven. Astrophysikalische Parameter: Masse, Leuchtkraft, Spektraltyp… Sie projizierte ein Schema des Planetensystems auf den Schirm, sechs T-Planeten, fünf J-Planeten, Monde…
Ich langweilte mich und beobachtete, wie es die Kleinen aufnahmen. Mit vor Aufregung glänzenden Augen und belegter Stimme fragten die Jüngsten Eta nach Einzelheiten. Doch so genau hatten wir trotz aller Spektrometer und Interferometer, trotz aller gammaastronomischen und optischen Messungen das System nicht untersuchen können. Von den Planeten wußten wir kaum mehr als ihre Masse.
Jota spielte unter Delths strafenden Blicken mit der Fernbedienung eines Teleskops, ohne jedoch Bilder der Planeten auf den Schirm projizieren zu können. Wie sie gaben auch die anderen Geschwister aus der zweiten Gruppe vor, alles bereits zu wissen.
Delth drehte sich mitsamt seinem Kommandantensessel einmal um die Achse, dann bedankte er sich bei Eta und sagte: „Noch sind wir nicht dort, noch können wir den Kurs korrigieren, das Bremsmanöver beenden oder am Zielstern vorbei weiter durch das All fliegen wie bisher.“
„Richtig, richtig“, unterbrach ihn die vierzehnjährige Psila, „was sollen wir denn dort? Gibt ja kein intelligentes Leben auf dem Planeten, wie Eta gesagt hat.“
„Wer weiß, ob es im Schiff welches gibt!“ warf Myth ein und fügte, als das Gelächter verklungen war, hinzu: „Zumindest existiert keines, das sich mit euren Methoden feststellen läßt.“
Eta erwiderte treuherzig: „Auf keinem der Planeten ließ sich Funkverkehr beobachten, natürlich bedeutet das nicht…“ Sie beendete den Satz nicht.
Alfa war aufgestanden. „Begreift ihr denn nicht? Die Konstrukteure des Schiffs haben uns keinen Auftrag übertragen. Sie haben uns nichts befohlen. Das heißt, wir sollen selbst entscheiden…
Ich fand, sie hatte die harte Diktion von Delth übernommen, die nicht so recht zu ihr paßte.
„Wir sind auf uns selbst gestellt, keinem Rechenschaft schuldig“, fuhr sie fort. „Wir müssen unsere Zukunft selbst gestalten. Begreift ihr immer noch nicht? Eine Sonne liegt vor uns, Spektraltyp G wie Sol. Sie hat erdähnliche Planeten.“
Alfas Gedanken kannte ich bereits einige Tage. Spätestens in diesem Moment hätte sie mich überzeugt.
„Sagt dies nicht genug: Eine neue, unsere Heimat erwartet uns…“
„Ja, mit offenen Armen, Blasmusik und bezugsfertigen Einfamilienhäusern…“ Diesmal blieb Myth der gewohnte Erfolg versagt.
Alfa setzte sich, beugte sich dann ungeschickt aus dem Formsessel zu Delth und umhalste ihn. Dem war es sichtlich unangenehm.
„Wir können den vierten Planeten, er ist der Erde am ähnlichsten, schon von hier aus direkt ansteuern. Ich habe eine Kurskorrektur vorbereitet, soll ich sie auslösen?“ fragte er pathetisch.
Die Geschwister, vor allem die jüngeren, waren begeistert. Wir mußten nicht abstimmen.
Entschlossen betätigte Delth die Taste. Eine winzige, kaum wahrnehmbare Vibration. Aber Bewegung auf Dutzenden von Monitoren. Anzeigen flammten auf, Computerausdrücke quollen aus Schlitzen. Jedes System der Zentrale arbeitete auf Höchstleistung. So wie Delth es programmiert hatte. Sehr, sehr effektiv. Auch ich konnte ein Gefühl des Triumphes nicht unterdrücken. Der Koloß Schiff hatte unserem eigenen Willen gehorcht!
Von diesem Moment an lief eine inverse Zeitrechnung: dreihundertachtzig Tage bis zur Ankunft bei unserem Heimatplaneten.
Ich stand mit Teth vor dem metergroßen ovalen schwarzen Brunnen der Projektionswand, in dem die Lichtfünkchen der Sterne starr und beständig ruhten wie seit Jahrmillionen. Und mitten unter ihnen, fast genau im Zentrum, eine winzige Scheibe, vor kurzem selbst noch ein unscheinbarer Punkt, unser Zielstern, unsere Sonne! Ein Blick auf das vertraute Gesicht Teths. Seine Augen tränten, so starrte er auf diesen kleinen hellen Fleck, als habe er ihn eben erst entdeckt, als habe er erst in diesem Augenblick begriffen, daß da eine Sonne auf uns wartete.
„Wie ruhig sie strahlt“, sagte ich, um ihn aus der Faszination zu reißen.
Es dauerte lange, bis er antwortete, mühsam sammelte er die Wörter zu Sätzen. „Was weißt du von der Sonne. Etwas Licht, etwas Wärme, Spektraltyp G wie Sol, nicht wahr?“ Er achtete nicht auf das Luftholen, mit dem ich den Protest einleiten wollte, fuhr fort, schneller, nachdrücklicher. „Wenn sie euch nur das bedeutet, könnt ihr ruhig unter dem künstlichen sonnen- und sternlosen Himmel unserer fliegenden Konservendose bleiben. Für mich ist die Sonne viel mehr! Sie hat das Leben auf der Erde erzeugt, und auch wir werden erst dann richtig leben, wenn eine echte Sonne über uns strahlt. Nicht, umsonst haben die Urvölker sie sogar angebetet.“
Er besann sich einen Moment, dann sagte er: „Erinnerst du dich noch, als Guro uns die ersten Erdbilder zeigte? Irre, unverständliche Dinge, nicht wahr? Häuser, Straßen und so weiter. Ich glaube, Gamma fragte als erste nach dem seltsamen gelben Ball, der da durch den dreckigen Himmel kollerte. Na ja, in dem Alter genügte uns meist noch ein Wort als Erklärung: Das ist die Sonne. Basta. Wie sollte sie uns Guro auch richtig erklären, da wir noch keine Ahnung von Kernphysik, Kohlenstoff-Stickstoff-Zyklus und so weiter hatten — eine kugelförmige Lampe eben. Und genau das ist die Sonne nicht.“
Ich ließ ihn reden. Auch ich kannte das Gefühl, das er beschrieb. Sicher tat es ihm wohl, sich auszusprechen, die Sonne zu loben — und die eigene Kindheit ohne Sonnenschein zu beklagen. Aber wer kann schon alles haben? Und der Tausch, Plastspielgärten des 21. Jahrhunderts gegen den Naturpark, lohnte sich auf jeden Fall - nur daß wir nicht getauscht hatten, sondern einfach in die Schiffswelt hineinproduziert worden waren.
Teth lehnte sich nach vorn, nun fünfzig Zentimeter näher einer Lichttage entfernten Sonne. „Im Totaloskop habe ich dann begriffen, was Sonne heißt. Gleich bei meinem ersten Besuch auf der Erde. Da stand ich in einer sich weit erstreckenden Savanne, aber die interessierte mich kaum. Auf meinen bloßen Schultern, auf dem Rücken brannte es eigenartig. Ich habe mich umgedreht, und da schlug mir ein heißglühender, gleißender Stachel ins Gesicht. Instinktiv schloß ich die Augen, schwarz und rot war es hinter den Lidern, blickte dann vorsichtig wieder auf und begriff — das war die Sonne! Zuerst glaubte ich, daß unter diesem blendenden und sengenden Gestirn kein Mensch leben könnte, daß Guro gelogen hätte - man muß ja ständig die Augen schließen unter einem Himmel mit Sonne! Und wehe dem Unachtsamen, der ihr ins Antlitz schaut, das Augenlicht verliert er. Ha, Vorstellungen hat man manchmal. Später besuchte ich einmal die Antarktis, und hier, wo der Sonne die Kraft fehlte, verstand ich ihre Bedeutung, verstand sie als Lebensspenderin.“
„Ich glaube, wir alle haben die Sonne im Totaloskop entdeckt“, wandte ich ein. Es war nicht gut, wenn sich Teth für den einzigen Sonnensucher hielt, zum Schluß fühlte er sich noch unverstanden und scherte aus unserer Gruppe aus, als unser Jüngster hatte er es sowieso nicht leicht mit uns.
„Aber ach, was ist das schon für eine Sonne im Totaloskop, eine perfekte Illusion, nicht mehr, ein Trugbild, ein Scheingestirn. Vielleicht sogar zu schön, um real zu sein, selbst wenn alle Physik für ihre Existenz spricht. Vielleicht werde ich erst dann von der Wahrhaftigkeit dieses Wunders überzeugt sein, wenn ich die Sonne mit eigenen Augen gesehen habe, ohne sensorische Adapter auf der Kopfhaut und ohne einen Computer, der sie ihre Bahn entlangschickt. Ja“, Teth zeigte auf die winzige Sonne vor uns, „auch ohne Himmelskamera, Analogimpulsverarbeitung, Entzerrer, Rekontrastierer, Makroprojektor und was alles noch hinter dieser Scheibe steckt.“ Er pochte mit der Faust gegen den ritzfesten Glasplast, als wolle er die Scheibe zertrümmern und das unverfälschte Licht unserer noch so weit entfernten Sonne hereinlassen.
„Du meinst, wenn du erst einmal auf einem Planeten stehst, ganz ohne Brille… Die Kilometer Atmosphäre zählen wohl nicht?“
„Das ist doch etwas ganz anderes…“
„Nichts Technisches, Künstliches sozusagen, nicht wahr?“
„Ja. Aber ich habe Angst, daß ich dies nie erlebe, verstehst du, wer weiß, ob der Planet geeignet ist? Was besagt das schon: terrestrischen Typs, das bezieht sich fast ausschließlich auf seine Masse. Und wennschon, vielleicht dauert es Jahrtausende, bis er so umgeformt ist, daß sich Menschen auf ihm ins Freie wagen können… Wer weiß, ob ich je eine richtige Sonne sehen werde — es ist, als sei ich blind geboren…“
„Ich bin fest davon überzeugt, daß wir es schaffen.“ Alfa war hinter uns getreten, ich hatte ihre Schritte nicht gehört. „Es hängt doch nur von uns ab. Das Wissen einer Tausende Jahre alten Zivilisation und die selbstreproduktionsfähige Technik des Schiffs gegen einen vielleicht etwas zu kühlen oder zu heißen oder giftigen Planeten. Du wirst selbst die Wolken aus dem Himmel des uns noch unbekannten Planeten wischen können, um deine, unsere Sonne zu sehen, Teth. Das Schiff ist Dutzende, vielleicht Tausende Parsec durch den interstellaren Raum geflogen, und nun soll ein Planet von ein paar tausend Kilometer Durchmesser Schwierigkeiten machen? Ich bin sicher, Teth, du wirst die Sonne noch sehen!“
Alfa hatte gut reden, ich widersprach ihr nicht. Teth brauchte bestimmt etwas mehr Mut, und es hatte geklungen, als wolle Alfa auch ihre eigene Zuversicht festigen.
Als wir der dritten Gruppe die mickrige Scheibe unserer eigenen Sonne zeigten, machten sie höflich interessierte Gesichter, zuckten mit den Schultern und fragten uns, weshalb wir so ein Gewese darum machen würden. Unsere Sonne, natürlich, was denn sonst.
Schon für sie würde die Sonne zur Selbstverständlichkeit werden.