Der Verzweifelte.

I.


Wir saßen unserer acht im Zimmer; das Gespräch drehte sich um die jüngsten Tagesereignisse und um die Menschen, die mit ihnen verbunden waren.

»Ich verstehe diese Leute und ihren Charakter gar nicht mehr,« sagte Einer der Anwesenden; »sie handeln so wild, so unberechenbar – sie benehmen sich gerade wie Verzweifelte. Ich glaube, so lange die Welt steht, ist etwas Aehnliches nicht erhört gewesen.«

»O, es ist doch schon dagewesen,« warf P. ein, ein alter Mann, dessen Haare schon silbergrau glänzten – er war in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts geboren. »Es gab auch in früheren Zeiten verzweiflungsvolle Menschen, nur glichen sie denjenigen nicht, welche wir heute als Verzweifelte ansehen. Gelegentlich eines Gespräches über den Dichter Jasykow bemerkte einmal Jemand, daß seine Begeisterung eine ganz eigenthümliche war – sie hatte nämlich nichts Bestimmtes zum Objekt; gerade so könnte man auch von den Leuten, welche ich bei meiner Bemerkung im Sinne habe, sagen, daß ihre Verzweiflung eine gegenstandslose gewesen sei. Wenn es Ihnen recht ist, will ich Ihnen die Geschichte meines Großneffen Mischa Poltew erzählen. Sie mag Ihnen als Probe dafür dienen, welcher Art die damaligen Verzweifelten waren.

Er kam, wenn ich mich recht erinnere, im Jahre 1828 zur Welt, und zwar wurde er auf dem Erbgute seines Vaters geboren im fernsten Winkel eines von jedem Verkehr abgelegenen Steppen-Gouvemements. An Mischa's Vater, Andrej Nikolajewitsch Poltew, kann ich mich noch recht gut erinnern – er war ein richtiger Steppenjunker, ein Gutsbesitzer vom alten Schlage, brav und fromm, ziemlich unterrichtet – wenigstens im Verhältniß für die damalige Zeit – im Großen und Ganzen aber, um es gerade heraus zu sagen, waren seine Geistesgaben nicht eben die bedeutendsten. Nebenbei bemerkt, er litt etwas an Epilepsie. Es ist ja eine alte Geschichte, daß in vielen unserer Adelsgeschlechter diese Krankheit erblich ist – man kann auch von ihr sagen, daß sie von altem Schlage sei. Die Anfälle, denen Andrej Nikolajewitsch unterworfen war, waren übrigens nicht heftiger Art; sie endeten gewöhnlich mit furchtbarer Abspannung, der ein tiefer Schlaf folgte. Andrej's Wesen war liebenswürdig und freundlich; man konnte ihm auch eine gewisse Würde nicht absprechen. So, wie ich ihn kannte, habe ich mir immer den Czar Michael Feodorowitsch [Michael Feodorowitsch Romanow begründete im Jahre 1613 die jetzt in Rußland herrschende Dynastie.] vorgestellt.

Andrej Nikolajewitsch's ganzes Dasein wurde ausgefüllt durch die strenge Beobachtung und Innehaltung aller von Alters her bestehenden Sitten und Gebräuche, den Sitten und Gebräuchen des strenggläubigen »alten heiligen Rußlands«. Wenn er aufstand und sich niederlegte, wenn er speiste und trank, ins Bad ging, sich belustigte oder sich ärgerte (das Eine geschah übrigens so selten wie das Andere), wenn er die Pfeife rauchte und Karten spielte (zwei große Neuerungen!), so handelte er nicht etwa nach persönlicher Laune oder nach eigenem Gutdünken, sondern nur mit geziemender Strenge so, wie seine Vorfahren zu handeln vorgeschrieben hatten.

Er war von hoher Figur und ziemlich wohlbeleibt, hatte eine sanft und etwas heiser klingende Stimme, wie man sie bei fast allen frommen Russen hört. In Wäsche und Kleidung war er peinlichst auf Sauberkeit bedacht; er trug gewöhnlich eine weiße Halsbinde, einen tabacksfarbigen Ueberrock mit langen Schößen. Aber seine adlige Abstammung kam doch, trotz dieser unscheinbaren Hülle, bei ihm immer zum Vorschein; Niemand würde ihn für einen Priestersohn oder für einen Kaufmann gehalten haben. Immer, aber wirklich in allen Lebenslagen und unter allen nur erdenklichen Umständen wußte Andrej Nikolajewitsch aufs Genaueste, was er zu thun hatte, wie er sprechen mußte und in welcher Weise er sich am besten ausdrücken sollte; bei Unfällen konnte er Medizinen und sonstige Heilmittel verschreiben und ihre Anwendung näher bestimmen; er verstand sich auf die Deutung von äußeren Anzeichen, er wußte, welche Glück oder Unglück im Gefolge haben und welchen keine Aufmerksamkeit weiter zu schenken ist – mit einem Worte: er wußte, was in jedem einzelnen Fall zu thun war. ›Unsere Altvordern‹, pflegte er zu sagen, »haben schon Alles vorausgesehen und bestimmt und wir haben nur nöthig, uns an sie als an unsere Führer zu halten. Die Hauptsache allerdings ist, daß wir stets auf Gott vertrauen und daß wir nichts ohne festen Glauben an seine Hülfe unternehmen.«

Dir Wahrheit zu sagen: in seinem Hause herrschte eine gradezu tödtliche Langeweile; in diesen niedrigen Zimmern, in denen es so schwül und dunkel war, herrschte immer ein Geruch nach Weihrauch und Fastenspeisen und aus allen Winkeln schienen die Litaneien und die Gesänge der Abendandachten widerzuhallen.

Er verheirathete sich, als er schon ziemlich bei Jahren war, mit einem armen, aus der Nachbarschaft stammenden Fräulein, das in einem Institute erzogen war; es war eine kränkliche und nervöse Person. Sie spielte ziemlich gut Klavier unk sprach französisch mit jenem Accent, der in den Instituten den Schülerinnen gewöhnlich anerzogen wird. Im Uebrigen war sie ein Wenig exaltirt und gab sich gern einem unbegründeten Trübsinn hin, in welcher Stimmung sie leicht bittere Thränen vergoß. Kurz, ihr Charakter hatte etwas Unstätes, Ruheloses. Da sie ihr Leben für verfehlt hielt, konnte sie auch ihren Gatten nicht lieben, der ihr natürlicher Weise »kein Verständniß entgegenbrachte«; aber sie achtete ihn und ertrug ihn, wie er nun einmal war. Da sie sehr ehrenhaft war und ein überaus kühles Temperament hatte, richteten sich ihre Gedanken auch nicht etwa auf einen andern »Gegenstand«. Dazu kam auch noch, daß sie den Kopf beständig voll von Sorgen hatte, zunächst über ihre eigene, wirklich sehr schwache Gesundheit; zweitens über die ihres Gatten, dessen Anfälle ihr immer etwas wie abergläubische Furcht einflößten. Schließlich war sie auch um ihren einzigen Sohn Mischa sehr besorgt, den sie mit großem Eifer selbst erzog. Andrej Nikolajewitsch legte seiner Gattin kein Hinderniß in den Weg, sich mit Mischa nach Gutdünken zu beschäftigen – nur eine Bedingung hatte er gestellt: Unter keinen Umständen sollten jene Grenzen überschritten werden, die nun einmal von Alters her bestimmt waren, und innerhalb welcher sich Alles in seinem Hause zu bewegen hatte.

Um ein Beispiel anzuführen: In der Weihnachtswoche und am Neujahrstage war es Mischa erlaubt, mit den andern Kindern im Orte sich zu verkleiden und allerhand Scherz zu treiben; ja es war ihm dies nicht nur erlaubt, sondern es wurde ihm geradezu zur Pflicht gemacht. Wenn er sich dasselbe aber auch zu einer andern Zeit hätte einfallen lassen, so wäre es ihm sicherlich schlimm ergangen.

II.


Ich kann mich Mischa's noch erinnern, als er dreizehn Jahre alt war. Damals war er ein hübscher Junge mit rosigen Wangen und weichen Lippen – wie er denn überhaupt weich und voll in seiner körperlichen Anlage war – und feucht schimmernden Augen, sorgfältig gekämmt und gekleidet, bescheiden und freundlich, fast wie ein Mädchen. Nur eines mißfiel mir an ihm: Er lachte selten, und wenn er einmal lachte, so standen seine großen, weißen, wie bei einem Raubthier spitzigen Zähne unangenehm vor; sein Lachen klang gellend, roh, beinahe thierisch, und dabei funkelte es so böse und unheimlich in seinen Augen.

Die Mutter lobte ihn fortwährend, weil er so ungemein folgsam und bescheiden sei, niemals an der Gesellschaft loser Knaben Gefallen fände und sich weit lieber in derjenigen von Frauen aufhalte.

»Der Junge ist verweichlicht, ein richtiges Muttersöhnchen,« sagte der Vater von ihm. »Aber er geht gern in die Kirche und das macht mir Freude.«

Ein Nachbar, ein alter, sehr vernünftiger Mann, der früher Friedensrichter im Distrikt gewesen war, sagte mir einmal, als wir von Mischa sprachen, mit Bezug auf diesen: »Passen Sie auf, das wird noch einmal ein Revolutionär!«

Diese Prophezeiung setzte mich, wie ich mich erinnere, damals sehr in Erstaunen. Allerdings muß ich hinzufügen, daß der Friedensrichter a. D. sehr leicht geneigt war, in einem etwas ungewöhnlich angelegten Menschen gleich einen Revolutionär zu erblicken.

Ein solcher Musterknabe blieb Mischa bis zu seinem achtzehnten Jahre, bis zu dem Zeitpunkte, als seine Eltern starben, die übrigens Beide an einem und demselben Tage aus dem Leben schieden. Da ich beständig in Moskau meinen Aufenthalt hatte, erhielt ich über das Leben und Treiben meines jungen Verwandten keine zuverlässigen Mittheilungen. Ein Herr, der aus jenem Gouvernement stammte und mit dem ich zufällig in Moskau zusammentraf, erzählte mir zwar, daß Mischa sein Stammgut für einen Spottpreis verkauft habe, das erschien mir aber so unwahrscheinlich, daß ich an der Richtigkeit der Nachricht zweifelte. Da jagt eines schönen Morgens, es war im Herbst, eine mit zwei herrlichen Trabern bespannte Kalesche, auf deren Bock ein ungeheuerlich aussehender Kutscher sich breit machte, auf den Hof meines Hauses, hält vor der Eingangsthüre still, und in dieser Kalesche sitzt, gehüllt in einen Offiziersmantel mit riesengroßem Pelzkragen und die Militärmütze so recht verwegen auf einem Ohre tragend – Mischa! Wirklich, mein lieber Verwandter Mischa war angekommen!

Als er mich erblickte (ich stand an einem Fenster des Salons und blickte erstaunt auf die Equipage, die so plötzlich bei mir vorfuhr), wollte er sich ausschütten vor Lachen; sein Lachen war noch immer so gellend und unangenehm scharf, wie früher. Dann warf er mit einer schnellen Bewegung den Mantel ab, sprang aus dem Wagen und trat in mein Haus.

»Mischa! Michael Andrejewitsch!« begrüßte ich ihn. »Sind Sie es denn wirklich?«

»Sagen Sie doch 'Du' zu mir und nennen Sie mich einfach Mischa,« unterbrach er mich. »Ich bin's übrigens, bin's in eigener Person und ganz leibhaftig. Ich bin hierher nach Moskau gekommen, um mir die Leute ein Bischen anzusehen und mich selbst ansehen zu lassen. Natürlich wollte ich doch auch Sie begrüßen! Wie finden Sie meine Traber? He?«

Wieder lachte er laut.

Obgleich fast sieben Jahre verflossen waren, seitdem ich Mischa zum letzten Male gesehen, hatte ich ihn doch sofort wiedererkannt. Sein Gesicht hatte das jugendliche Aussehen bewahrt und es war auch noch ebenso rosig wie früher; von einem Schnurrbart war noch nicht die leiseste Spur wahrzunehmen. Die Wangen sahen jedoch etwas aufgedunsen aus und sein Athem duftete entsetzlich nach Branntwein.

»Bist Du denn schon lange in Moskau?« fragte ich. »Ich glaubte Dich ruhig bei der Bewirthschaftung Deines Gutes.«

»Meines Gutes? Ach, wie lange habe ich das schon verkauft? Kaum waren meine Eltern – Gott schenke ihnen die ewige Seligkeit – gestorben« (Mischa bekreuzte sich bei diesen Worten aufrichtig und ohne das geringste Zeichen von Spott), »da ging's wie der Blitz! Eins zwei drei – ich war es los! Ich habe es sicherlich zu billig fortgegeben! Es war ein Schurkenstreich, ich bin beim Verkauf einer richtigen Canaille in die Hände gefallen. Aber gleichviel! Was thut's? Ich lebe nun doch wenigstens zu meinem Vergnügen und ich unterhalte auch Andere. Aber weshalb sehen Sie mich so sonderbar, so erstaunt an? Glauben Sie, ich hätte mich darin finden können, Zeit meines Lebens auf der Ackerscholle zu sitzen? Wie ist es denn übrigens, theuerstes Onkelchen, bietest Du mir nicht ein Gläschen an?«

Mischa sprach äußerst schnell, eintönig und gewissermaßen wie ein schlaftrunkener Mensch.

»Mischa!« schrie ich laut auf. »Besinne Dich doch! Fürchtest Du denn Gott gar nicht mehr? Sieh Dich doch nur einmal an? In welchem Zustande bist Du? Und Du willst jetzt noch ein Gläschen von mir haben? Ein so schönes Gut, wie es das Deinige gewesen, für ein Nichts, für ein Butterbrod fortgeben!«

»Den lieben Gott,« erwiderte Jener, »fürchte ich wohl, und ich' denke auch immer an ihn; Gott ist sehr gut und deshalb wird er mir auch verzeihen. Ich aber bin ein guter Mensch; ich habe noch niemals in meinem Leben Jemanden etwas zu Leide gethan. Das Gläschen – nun, solch ein Gläschen ist auch sehr gut und kränkt Niemandem. In welchem Zustande ich bin, fragen Sie? Ich sollte doch meinen, in einem ganz achtbaren Zustand. Wenn Sie wollen, Onkelchen, gehe ich hier auf der Dielenspalte entlang oder tanze Ihnen so steif wie eine Latte etwas vor, blos um Ihnen zu zeigen, daß ich vollkommen nüchtern bin.«

»Lasse mich zufrieden. Das könnte ein netter Tanz werden. Setze Dich lieber ganz ruhig hierher!«

»Setzen? Nun meinetwegen! Aber weshalb sagen Sie mir kein Wort über meine Gäule? Sehen Sie die Thiere nur einmal genau an, sie sehen wie Löwen aus. Vorläufig habe ich sie nur gemiethet, ich ruhe aber nicht eher, als bis ich sie gekauft habe, und den Kutscher auch, der gehört dazu. Es ist doch ungleich vortheilhafter, mit eigenem Gespann zu fahren. Ich hatte mir das Geld zum Ankauf auch schon zurechtgelegt, bin es aber gestern im Pharaospiele losgeworden. Na, thut nichts! Morgen werden wir es uns schon wieder zurückholen. Aber nun, Onkelchen, wie ist es denn wirklich mit einem Gläschen?«

Ich konnte mich von meinem Staunen und Schrecken noch immer nicht erholen.

»Mischa, ich bitte Dich, bedenke doch, wie alt Du bist! Du solltest Dich weder um Pferde, noch um das Kartenspiel kümmern, sondern Du solltest zur Universität gehen und studiren oder in den Staatsdienst eintreten.«

Mischa fing erst wieder zu lachen an; dann pfiff er in langsamem Tempo eine Melodie.

»Ich sehe schon, Onkelchen, daß Sie in diesem Augenblicke in etwas mißmüthiger Stimmung sind. Ich werde also ein anderes Mal wiederkommen. Aber halt! wissen Sie, kommen Sie doch heute Abend zum ›Sokolniki‹. Ein öffentlicher Park bei Moskau. Dort habe ich nämlich mein Hauptquartier aufgeschlagen. Dort singen die Zigeuner; ich sage Ihnen, es ist eine Lust! Schön, zum Verrücktwerden schön! Ueber meiner Bude hängt eine Fahne und auf die Fahne habe ich mit großen Buchstaben malen lassen: Poltews Zigeunerchor. Die Fahne dreht und wendet sich wie eine Schlange, und die Buchstaben sind von Gold. Wer das ansieht, muß seine helle Freude daran haben. Jedermann ist geladen, Jeder willkommen, Niemand wird zurückgewiesen. Ich sage Dir: das macht ein Aufsehen in Moskau; so etwas ist noch nicht dagewesen. Alle Welt spricht davon. Nun, wie ist's? Werden Sie kommen? Besonders eine von den Zigeunerinnen, die reine Natter! Schwarz ist sie wie ein Paar Stiefel und böse wie ein Kettenhund, aber Augen hat sie! Augen! Wie glühende Kohlen! Man weiß nicht genau, will sie Einen im nächsten Augenblick beißen oder küssen? Nun, Sie werden doch kommen, Onkelchen, nicht wahr? Also auf Wiedersehen!«

Er umarmte mich stürmisch, gab mir einen schallenden Kuß auf die Schulter, sprang in den Hof hinunter, stieg in die Kalesche, schwenkte mit einem lauten Schrei die Mütze über dem Kopfe; der ungeheuerlich aussehende Kutscher blickte seitwärts über den Bart zu ihm hinüber, zog dann die Zügel an – Alles war verschwunden!

Am andern Tage – ich weiß kaum selbst zu sagen, aus welchem Grunde es geschah, genug, ich that es – am andern Tage ging ich zum »Sokolniki«. Ich sah dort in der That die Bude, die Fahne und die Aufschrift. Die Dielen der Bude waren etwas erhöht angebracht und von dorther ertönte wildes Schreien, Kreischen und Johlen. Eine große Volksmenge drängte sich um das Zelt und in seinem Innern. Auf den Dielen war ein Teppich ausgebreitet; hier saßen männliche und weibliche Zigeuner. Sie sangen und schlugen das Tambourin, und mitten unter ihnen, eine Guitarre in den Händen haltend, mit rothseidenem Hemd und sammetnen, faltigen Hosen bekleidet, drehte sich Mischa wie ein Kreisel herum und schrie dazu mit heiserer Stimme: »Immer herein! meine Herrschaften! Immer herein! Treten Sie näher. Die Vorstellung wird sofort beginnen! Heda, Champagner her! Lasset die Pfropfen springen! Bis an die Decke müssen sie springen! Vorwärts doch – Hurrah!«

Glücklicherweise bemerkte er mich nicht und so gelang es mir, mich schnell wieder zu entfernen.

Ich will Ihnen, meine Herren, nun nicht des Langen und des Breiten mein Erstaunen über die Veränderung schildern, die mit dem jungen Manne vorgegangen. Aber unwillkürlich drängt sich doch die Frage auf: Wie hatte sich der stille und bescheidene Knabe so furchtbar schnell in solchen Trunkenbold und leichtsinnigen Strick verwandeln können? Hatte diese tolle Wildheit seit seiner frühesten Jugend in ihm geschlummert und war sie erst dadurch zu Tage getreten, daß der Druck der väterlichen Aufsicht nicht mehr auf ihm lastete? Welcher Art das Aufsehen war, das er, wie er selbst sagte, in Moskau machte, darüber konnte nicht der leiseste Zweifel bestehen. Ich habe in meinem Leben leichtsinnige Menschen in großer Zahl gesehen, aber dieser Leichtsinn erinnerte schon mehr an das Gebahren eines Tollhäuslers, an tatsächliches Bestreben, sich selbst zu vernichten, es war eine Art Verzweiflung.

III.


Zwei Monate lang etwa mochte dieses Amüsement, dieses tolle Leben gedauert haben. Da stehe ich wieder einmal am Fenster meines Salons und schaue in den Hof hinab, was muß ich da für einen neuen seltsamen Mummenschanz gewahren? Langsamen Schrittes, demüthig und bescheiden tritt ein Klosterbruder auf den Hof; die Kapuze hat er über die Stirne tief ins Gesicht gezogen, die Haare sind, soviel man davon sehen kann, sorgfältig gescheitelt und nach rechts und links zur Seite gekämmt. Die lang wallende Mönchskutte wird von einem ledernen Gürtel zusammengehalten. Aber dieses Gesicht, diese Gestalt, sollte es möglich sein? Mischa? Ja wahrhaftig, er ist's!

Ich ging die Treppe hinunter, um ihn im Hofe zu begrüßen.

»Was soll denn nun wieder diese neue Maskerade?« fragte ich.

»Von einer Maskerade ist hier keine Rede, Onkelchen,« erwiderte Mischa mit tiefem Seufzer. »Ich habe mein gesammtes Geld bis auf den letzten Kopeken ausgegeben und verthan; nun hat mich die Reue ergriffen und ich that das Gelübde, ins Sergej-Kloster zu Troitzko zu gehen und dort meine Sünden zu bereuen. Welch ein anderer Zufluchtsort stände mir denn jetzt wohl noch offen? Und so komme ich denn zu Ihnen, lieber Onkel, um Ihnen Lebewohl zu sagen und Sie, wie es die Pflicht des verlorenen Sohnes ist, um Verzeihung zu bitten.«

Ich blickte Mischa ganz überrascht an. Sein Gesicht war so rosig und frisch, wie nur je zuvor – es hat übrigens bis zuletzt dieses Aussehen nicht verloren – die Augen schimmerten noch immer so feucht, blickten noch immer so freundlich und schmachtend darein, die Händchen waren noch immer so weiß; leider aber verbreitete er auch noch immer einen starken Branntweingeruch um sich.

»Was soll ich dazu sagen?« bemerkte ich schließlich. »Ich kann Deinen Entschluß nur billigen und ich wüßte auch keinen andern Ausweg für Dich. Aber weshalb riechst Du so entsetzlich nach Branntwein?«

»Das ist noch ein Rest vom alten Adam,« entgegnete er und platzte in sein altes, lautes, gellendes Lachen aus. Plötzlich aber schien er sich auf seinen neuen Stand zu besinnen, verbeugte sich steif und tief, wie es die Mönche zu thun pflegen, und fügte hinzu:

»Wollen Sie mir nicht ein kleines Zehrgeld mit auf den Weg geben? Ich mache die Reise bis nach dem Kloster zu Fuß.«

»Wann gehst Du auf die Wanderung?«

»Heute noch, sofort.«

»Weshalb hast Du es denn so eilig?«

»Onkelchen, mein Wahlspruch war von jeher: Schnell, immer nur schnell!«

»Und welchen Wahlspruch hast Du jetzt?«

»Denselben. Nur sage ich jetzt: Schnell zum Guten.«

So verließ mich denn Mischa und ich blieb allein, um über die Wandelbarkeit aller menschlichen Schicksale meine Betrachtungen anzustellen.

Aber bald wurde ich wieder an die Existenz meines Neffen erinnert.

Kaum zwei Monate waren nach seinem Abschiedsbesuche verflossen, als ich einen Brief von ihm erhielt, und zwar war dies der erste von allen jenen, die ich in der Folgezeit in großer Zahl empfing. Und beachten Sie den eigenthümlichen Umstand: Ich habe selten eine so saubere und klare Handschrift gesehen wie diejenige dieses halbverdrehten Menschen. Der Stil war auch durchaus korrekt, wenn auch einige gesuchte Ausdrücke mitunterliefen.

In diesen Briefen wechselten die Bitten um Unterstützung beständig mit den Versprechungen der Besserung ab, ferner mit Betheuerungen, flehentlichen Anrufungen und Segenswünschen. Alles schien aufrichtig gemeint zu sein und war es vielleicht auch wirklich. Die Unterschrift Mischa's war stets mit vielen Punkten, Strichen Und Schnörkeln verziert; auch hatte er die Gewohnheit, möglichst viele Ausrufungszeichen im Texte jedes Briefes anzuwenden.

Im ersten seiner Briefe theilte mir Mischa mit, daß sein Geschick eine neue »Wendung« genommen hatte. (Später sprach er nicht mehr von einer neuen »Wendung«, sondern vom »Auftauchen einer neuen Idee«, und es »tauchte« sehr viel »auf«.) Er schrieb mir also, daß er nach dem Kaukasus gehe, um »seine Brust dem Vaterlande und dem Czaren darzubringen«, indem er als Fähnrich in ein Regiment einträte. Irgend eine wohlthätige alte Tante, die sich für ihn interesstrte, hatte ihm bereits eine kleine Summe zur Beihilfe bei der Equipirung gesandt, und mich bat er nun ebenfalls um eine Unterstützung für denselben Zweck. Ich erfüllte seine Bitte und zwei Jahre lang hörte ich nicht das Mindeste von ihm.

Unter uns gesagt: Ich zweifelte sehr stark daran, ob er wirklich nach dem Kaukasus gegangen fei. Aber dies war nun doch der Fall. Wie ich später hörte, war er durch Protektion, die er sich zu verschaffen gewußt hatte, als Fähnrich im T.'schen Regimente einrangirt worden, und zwei Jahre lang blieb er bei demselben im Dienste. Eine ganze Menge Geschichten waren über ihn und seine Streiche im Umlauf und ein Offizier seines Regimentes, mit dem ich durch Zufall zusammentraf, theilte mir dieselben später auch mit.

IV.


Ich erfuhr über ihn so Manches, wie ich es selbst von ihm, dem ich doch ziemlich viel zutraute, nicht erwartet hatte. Daß er sich mit Bezug auf den Dienst als mittelmäßiger oder, um es gerade heraus zu sagen, als absolut schlechter Soldat gezeigt hatte, wunderte mich nicht im Geringsten; was mich aber wirklich in Erstaunen versetzte, war die Thatsache, daß man ihm nicht einmal nachsagen konnte, er besäße persönliche Tapferkeit; während der Schlachten machte er den Eindruck eines matten, zu Thaten unlustigen Mannes, der von Sorgen gequält ist, Die ganze militärische Disziplin verstimmte ihn und war ihm lästig. Wenn es sich um ihn persönlich handelte, konnte er bis zum Wahnwitz kühn sein; er wies keine Wette zurück, sie mochte so unsinnig sein, wie sie wollte, aber Andern ein Leid zufügen, sich zu schlagen, Jemanden zu tödten, dazu war er nun einmal nicht im Stande, sei es, weil sein Herz von Natur zu sanft und gut war, sei es, daß die »baumwollene« Erziehung, die er, wie er sich ausdrückte, in seiner Jugend empfangen hatte, ihn daran verhinderte. Zu jeder Zeit und auf jede nur denkbare Art und Weise war er bereit sich selbst zu zerstören; aber Andern einen Schaden zufügen – nein!

»Der Teufel selbst kann aus diesem Menschen nicht klug werden,« sagten die Kameraden, wenn sie von ihm sprachen. »Er ist eigentlich schlaff, wie ein Waschlappen, aber zu andern Zeiten geberdet er sich wie ein Mensch ohne Sinn und Verstand, oder wie ein Verzweifelter.«

Später nahm ich einmal die Gelegenheit wahr Mischa zu fragen, welcher böse Geist ihn treibe, so maßlos zu trinken, sein Leben ohne rechte Ursache aufs Spiel zu setzen und tausend ähnliche tolle Streiche zu begehen. Und er hatte immer nur eine und dieselbe Antwort: »Es ist der Gram.«

»Gram? Worüber grämst Du Dich denn?«

»Worüber? Nun das liegt doch auf der Hand. Man hält Einkehr bei sich, man besinnt sich auf sich selbst, man denkt an all das Elend, an all die Ungerechtigkeit, die in Rußland herrscht, da kommt der Gram schon von selbst. Man grämt sich, daß man sich am liebsten eine Kugel durch den Kopf schießen möchte. Man fängt an, teufelmäßig liederlich zu leben, und kann doch eigentlich selbst nicht dafür.«

»Was kann Dich denn aber der Zustand in ganz Rußland kümmern?«

»Weshalb soll ich mir darüber denn keine Sorge machen? Aber das muß ich allerdings sagen: Ich fürchte mich fast schon, daran auch nur zu denken.«

»Ich will es Dir besser sagen, was an Deinem Gram schuld ist: Deine eigene Unthätigkeit.«

»Aber was soll ich denn eigentlich thun, bestes Onkelchen? Ich verstehe ja nichts. Sein ganzes Leben auf eine einzige Karte setzen, daß es im Handumdrehen heißt, man hat Alles gewonnen oder Alles verloren, das verstehe ich. Und trinken, trinken, immer noch mehr trinken, das verstehe ich ebenfalls. Zeigen Sie mir doch einmal etwas, was ich thun soll und wofür ich mein Leben einsetzen soll. Sofort thue ich es! Nicht einen Augenblick zögere ich!«

»Weshalb denn immer gleich das Leben einsetzen? Begnüge Dich doch damit, einfach und schlicht zu leben, wie andere Menschenkinder.«

»Das kann ich nun einmal nicht. Sie machen mir den Vorwurf, daß ich ohne Ueberlegung handele. Aber wie soll ich denn anders thun! Beginne ich erst, überhaupt einmal nachzudenken, Herrgott, was geht mir dann Alles durch den Kopf! Das Ueberlegen eignet sich auch gar nicht für uns Russen. Das ist etwas für die Deutschen!«

Was sollte man solchen Einwendungen entgegenhalten? Was konnte man mit Aussicht auf Wirkung bei ihm vorbringen? Er war eben ein Verzweifelter, und damit ist Alles gesagt.

Ich habe vorhin erwähnt, daß über sein Leben im Kaukasus eine große Zahl Geschichten im Umlauf waren; ich will Ihnen einige davon zum Besten geben.

Eines Tages prahlte Mischa in der Gesellschaft von Offizieren mit einem echten tscherkessischen Säbel, den er gegen irgend etwas Anderes eingetauscht hatte.

»Es ist eine echte persische Klinge,« behauptete er.

Einige Offiziere bezweifelten die Echtheit und Mischa gerieth bei der Verteidigung seiner Ansicht immer mehr in Eifer.

»Wissen Sie,« rief er endlich, »was Säbelklingen anbetrifft, erklärt man im allgemeinen den einäugigen Abdul für den größten Kenner und Sachverständigen. Ich werde ihn einfach aufsuchen und ihn um seine Anficht befragen.«

»Welchen Abdul?« riefen die Offiziere, aufs Höchste überrascht. »Etwa Abdul-Khan, der in den Bergen haust? der mit uns auf Kriegsfuß steht?«

»Denselben.«

»Nun, er wird Dich für einen Spion halten, wird Dich festnehmen und wenn er Dich nicht in strengem Gewahrsam hält, so schlägt er Dir mit Deinem eigenen Säbel den Kopf ab. Wie willst Du denn überhaupt zu ihm gelangen? Bevor Du noch zu ihm vordringst, bist Du schon gefangen und weggeführt.«

»Ihr könnt reden, was Ihr wollt, ich gehe dennoch zu ihm.«

»Ich wette, daß Du nicht gehst.«

»Ich halte jede Wette.«

Ohne sich im Geringsten stören oder aufhalten zn lassen, sattelte Mischa sein Pferd und machte sich auf den Weg.

Drei Tage vergingen. Alle glaubten mit Bestimmtheit, daß der tollkühne Mensch sein Ende gefunden habe. Da aber kehrte er zurück und zwar in furchtbar betrunkenem Zustande und mit einem andern Säbel als demjenigen, wegen dessen er ausgeritten war. Man bestürmte ihn mit Fragen.

»Es ist Alles sehr hübsch und einfach gegangen,« berichtete Mischa; »dieser Abdul-Khan ist wirklich ein sehr netter Kerl. Zuerst ließ er mir allerdings Fesseln an die Füße legen und alle Anstalten treffen, um mich auf einen Pfahl zu spießen. Ich erklärte ihm nun aber in aller Ruhe, weshalb ich gekommen sei und zeigte ihm dabei meinen Säbel. ›Es lohnt wirklich nicht der Mühe, mich gefangen zu nehmen, denn Lösegeld wird für mich doch von keiner Seite gezahlt. Verwandte habe ich nicht und ein Fremder wendet auch nicht einen einzigen Kopeken daran, mein Leben von Dir zu erkaufen.‹

»Abdul-Khan schien sehr verwundert zu sein; er betrachtete mich aufmerksam mit dem einen Auge, das er noch sein eigen nennt. Dann fagte er: ›Russe, Du scheinst mir ein durchtriebener Schelm zu sein; darf man Dir trauen?‹ – ›Du kannst mir trauen,‹ antwortete ich; ›ich lüge niemals.‹ (Das war der Fall; Mischa hat wirklich nie in seinem Leben gelogen). »Abdul sah mich von Neuem aufmerksam an. Dann fragte er: ›Kannst Du Wein trinken?‹ – ›Gewiß‹ antwortete ich; ›ich trinke, soviel Du nur irgend willst, Wein, Branntwein mir ist es gleich.‹ Abdul-Khan schien aus seinem Staunen gar nicht mehr herauszukommen und rief den Namen Allahs an. Darauf befahl er seiner Tochter – mir wenigstens kam es so vor, als sei das Mädchen seine Tochter; es war übrigens ein sehr niedliches Geschöpfchen, aber Augen hatte es gerade wie ein Schakal – er befahl also seiner Tochter, mir einen Schlauch voll Wein zu bringen, und nun machte ich mich darüber her und zeigte, was ich in dieser Beziehung zu leisten im Stande sei.

» ›Dein Säbel.‹ sagte Abdul dann zu mir, ›ist nicht echt; nimm hier diese Klinge, sie ist eine wahrhaft echte. Und nun wollen wir leben als Gastfreunde und Brüder.‹ So blieb ich einen Tag bei Abdul-Khan. Sie sehen, meine Herren, daß Sie Ihre Wette verloren haben; nun zahlen Sie also.«

Eine zweite Geschichte. Mischa huldigte dem Kartenspiel mit großer Leidenschaft. Aber da er niemals im Besitze von baarem Geld und im Bezahlen seiner Spielschulden auch nichts weniger als pünktlich war, so mochte Niemand mehr mit ihm spielen. Eines Tages nun bestürmte er einen seiner Kameraden mit den dringendsten Bitten.

»Spiele doch mit mir! Thue mir doch den Gefallen, mach' mit mir ein Spielchen.«

»Aber wenn Du verlierst, bezahlst Du ja doch nicht.«

»Geld habe ich allerdings nicht, aber wenn ich verliere, will ich mir eine Kugel durch die linke Hand schießen, mit dieser Pistole hier.«

»Welchen Vortheil hätte ich davon?«

»Einen Vortheil allerdings nicht, aber die Sache ist doch immerhin interessant.«

Dieses Gespräch fand nach einer kleinen Kneiperei statt und hatte einige Zeugen. Der verrückte Vorschlag Mischa's mochte dem Offizier vielleicht wirklich besonders interessant erscheinen, genug, er willigte darein. Es wurden Karten herbeigebracht und das Spiel begann. Mischa hatte Glück und gewann hundert Rubel.

Plötzlich schlug sich sein Gegner mit der Hand vor die Stirne.

»Welch ein Dummkopf bin ich doch!« rief er dabei. »Es war sicherlich nur eine plumpe Falle, und doch bin ich hineingegangen. Wenn Du verloren hättest, so hättest Du Dir ja doch nicht durch die Hand geschossen. Du hättest Dich jedenfalls gehütet.«

»Meinst Du?« erwiderte Mischa. »Nun, ich habe zwar gewonnen, aber Du sollst es nun doch mit Deinen eigenen Augen sehen.«

Er ergriff die Pistole und – paff! – schoß er sich durch die linke Hand. Die Kugel durchbohrte die Hand auf beiden Seiten. Nach Verlauf von acht Tagen war die Wunde übrigens wieder geheilt, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Wieder ein anderes Mal ritt Mischa zur Nachtzeit mit seinen Kameraden auf einem schmalen Pfade dahin; neben diesem Wege gähnte der Schlund eines finsteren Abgrundes, von dem man den Boden nicht sehen konnte.

»Nun,« meinte einer der Offiziere, »so tollkühn unser Mischa auch sein möge, in diesen Abgrund hinabzuspringen, wird er doch hübsch bleiben lassen.«

»So? Ich werde dennoch hineinspringen!«

»Das wirst Du nicht thun. Dieser Abgrund hat eine Tiefe von mindestens sechzig Fuß, und bei einem Sprunge dort hinunter kann man nicht nur Arme und Beine, sondern auch den Hals brechen.«

Der Freund wußte ganz genau, an welcher schwachen Stelle man Jenen packen mußte: bei seiner Eitelkeit. Diese war bei Mischa in unglaublich hohem Grade entwickelt:

»Ich sage, ich springe hinab, also werde ich springen. Wollen wir wetten? Zehn Rubel?«

»Gut, es gilt.«

Kaum hatte der Offizier dies gesprochen, als Mischa sich auch schon aus dem Sattel geschwungen hat und nun in die Schlucht hinunter. Man hörte ihn über das Gestein dahinkollern. Alle Anwesenden waren vor jähem Schreck wie erstarrt; eine Minute verrann – da hörte man Mischa's Stimme und sie klang so dumpf, als dringe sie aus dem Schooße der Erde hervor:

»Ich bin unverletzt! Ich fiel in den Sand! Es hat aber eine ganze Zeit lang gedauert, bis ich hier unten ankam. Jetzt schuldet Ihr mir zehn Rubel!«

»Komm wieder herauf!« riefen die Kameraden.

»Ja, komm herauf,« erwiderte Mischa. »Das ist leicht gesagt. Hol mich der Teufel, wenn ich weiß, wie ich hier herauskommen soll. Jetzt holt vor allen Dingen Laternen und Stricke. Damit mir aber in der Zwischenzeit das Warten nicht zu langweilig wird, kann mir Einer von Euch seine Feldflasche hinunterwerfen.«

Fast fünf Stunden mußte Mischa auf dem Grunde der Schlucht zubringen, und als man ihn endlich heraufzog, stellte es sich heraus, daß der eine Arm vollständig ausgerenkt war. Das machte ihm aber nicht die geringste Sorge. Am nächsten Tage renkte ihm ein Kurschmied, der sich auch ein Bischen auf das Menschenkuriren verstand, die Schulter wieder ein, und Jener konnte seinen Arm wieder gebrauchen, als ob gar nichts passirt wäre.

Seine Gesundheit war überhaupt von einer unglaublichen, man man möchte fast sagen: unerhörten Widerstandskraft. Ich habe schon erwähnt, daß sein Gesicht bis zum Tode eine rosige, beinahe kindliche Frische bewahrte. Trotz seiner Unmäßigkeit und seines unregelmäßigen Lebenswandels wurde er doch niemals von einer Krankheit heimgesucht. In Fällen, bei welchen ein Anderer gestorben, zum Mindesten aber gefährlich erkrankt wäre, schüttelte er sich einfach, wie eine Ente, die aus dem Wasser steigt; dann war alles Ungemach vergessen und er blühte herrlicher auf, als je zuvor.

Einmal, es war auch während seines Aufenthaltes im Kaukasus – ich schicke gleich voran, daß ich selbst diese Geschichte für unglaublich halte, aber man erzählte sie doch allgemein und sie kann zugleich als Beweis dafür gelten, wessen man Mischa für fähig hielt – einmal stürzte er also, als er sich wieder toll und voll getrunken hatte, mit dem Leib und den Beinen in einm Fluß, so daß nur der Kopf und die Arme über der Oberfläche des Wassers blieben. Es geschah das im strengen Winter; in der Nacht fror es und als man ihn am nächsten Morgen gewahrte, konnte man seine Beine und seinen Leib nicht mehr sehen, es hatte sich nämlich eine ziemlich dichte Eisschicht um seinen Körper gebildet. Man denke nur – nicht einmal einen Schnupfen hat er sich bei diesem Abenteuer zugezogen.

Ein anderes Mal – dieses trug sich aber nicht mehr im Kaukasus zu, sondern in Rußland, in der Nähe von Orel und ebenfalls im strengen Winter – mein Mischa befand sich also ein anderes Mal in einer außerhalb der Stadt gelegenen Schenke und zwar in Gesellschaft von sieben Gymnasiasten. Diese jungen Leute feierten ihr Abiturientenexamen und luden meinen Neffen als liebenswürdigen Menschen – oder, wie man damals zu sagen pflegte: einen »Seufzer-Menschen« – ein, an ihrer Feier theilzunehmen. Es wurde unmäßig viel getrunken und als sich die lustige Gesellschaft zum Aufbruch rüstete, war Mischa wieder total betrunken und befand sich in vollkommen bewußtlosem Zustande. Die Gymnasiasten hatten nur einen einzigen dreispännigen Schlitten mit ziemlich hohem Hintertheile. Nun war guter Rath theuer, wo man den Körper des Bezechten lassen sollte. Einer der jungen Leute schlug nun, wahrscheinlich inspirirt von Erinnerungen an seine klassischen Studien, vor, Mischa mit den Füßen an den Hintertheil des Schlittens zu binden, etwa wie Hektor an den Wagen des sieghaften Achilles gebunden war. Mit großem Beifall wurde der Vorschlag angenommen, und die Füße nach oben gerichtet, den Kopf im Schnee schleifend, an manchen Stellen tüchtig auf den Erdboden aufschlagend, bald nach links, bald nach rechts geworfen, während der ganzen Fahrt auf dem Rücken liegend; so legte Mischa die ganze etwa zwei Werst betragende Strecke zurück, und er bekam nicht einmal einen Husten nach dieser Affaire. Es war, als wäre absolut nichts passirt. Danach mag man beurtheilen, mit welcher schier unverwüstlichen Konstitution ihn die Natur ausgestattet hatte.

V.


Nach seiner Rückkehr aus dem Kaukasus erschien er wieder in Moskau und zwar in Tscherkessenuniform, mit aufgenähten Patronenhülsen auf der Brust, mit dem Dolch im Gürtel und der hohen Pelzmütze auf dem Kopfe. Obgleich er vollständig aus dem Militärdienste geschieden war, trug er dieses Kostüm doch bis an sein Lebensende. Wegen fortgesetzter Unpünktlichkeit im Dienste hatte er seinen Abschied erhalten. Von Zeit zu Zeit suchte er mich auf, und zwar mit dem ausgesprochenen Zwecke, sich etwas Geld von mir zu leihen. Zu dieser Zeit begannen für ihn die wirklichen Lasten und Mühseligkeiten auf dem Wege durchs Leben oder, wie er selbst es nannte, »die sieben Simeonstage«. Jetzt begann auch sein zeitweiliges Auftauchen und Verschwinden, jetzt nahm die Fluth schön geschriebener Briefe ihren Anfang, die an alle möglichen Personen adressirt waren, vom Metropoliten bis herunter zu Bereitern, Stallmeistern und Hebammen. Wo er nur irgend konnte, machte er einen Besuch, gleichviel ob er die Leute kannte oder ob sie ihm vollständig fremd waren. Als lobenswerth muß dabei allerdings erwähnt werden, daß er bei solchen Besuchen niemals ein knechtisches, kriechendes Wesen zur Schau trug; just das Gegentheil war der Fall; er trat mit großer Sicherheit auf, blickte Jeden heiter und freundlich an und nur der nun schon unvermeidlich gewordene Branntweingeruch, der ihn überall hin begleitete, sprach gegen ihn, und ebenso die orientalische Uniform, die sich nach und nach in Lumpen verwandelte.

»Geben Sie mir eine Kleinigkeit, wenn ich es auch nicht verdiene. Gott wird es Ihnen schon lohnen,« sagte er mit freimüthigem Lächeln und ehrlichem Erröthen. »Wenn Sie mir nichts geben, so sind Sie ja auch vollständig in Ihrem Recht und ich werde mich auch nicht weiter darum grämen. Ich werde mir auch ohne Ihre Gabe zu helfen wissen. Gott wird mich unterstützen. Es giebt wirklich viele Menschen, die noch weit ärmer sind als ich und dabei auch viel mehr werth, daß ihnen geholfen werde.«

Besonders bei den Frauen hatte Mischa mit seinem Bittgesuch vielen Erfolg, denn er verstand sich darauf, ihr Mitleid wachzurufen. Nur darf man nicht etwa glauben, daß er ein Lovalace war oder sich einbildete, einer zu sein. O nein, in dieser Hinsicht war er wirklich sehr bescheiden. Ob dieses Temperament ein Erbtheil von seinen Eltern war oder ob darin nur aufs Neue sein Bestreben zum Ausdruck kam, Niemandem etwas Unangenehmes zuzufügen, das muß ich unentschieden lassen; nach seiner Ansicht war es nämlich die größte Beleidigung, die man einer Frau zufügen kann, wenn man mit ihr in zu intimen Verkehr sich einließ. Sein Benehmen gegenüber dem weiblichen Geschlecht war höchst zartsinnig und rücksichtsvoll. Die Frauen erkannten dies dankbar an und suchten es ihm durch Mitleid und Unterstützung in jeder Weise zu vergelten, bis er sie endlich durch seine Unthätigkeit, seine Trunksucht, durch sein ganzes verzweifeltes Auftreten, ich kann kein anderes Wort finden, abstieß.

In anderer Beziehung dagegen legte er wieder einen fast unglaublichen Mangel an Anstandsgefühl an den Tag, und so kam er endlich auf der allertiefsten Stufe der Erniedrigung an. Einmal vergaß er sich soweit, daß er im Adelskasino zu T. eine Büchse auf den Tisch stellte und daneben eine Tafel mit folgender Inschrift anbrachte:

»Jeder, den die Lust anwandelt, dem altadligen Poltew – die Dokumente über die Herkunft, die Familie u.s.w. liegen zur Ansicht aus – einen Nasenstüber zu geben, kann diesen feinen Wunsch befriedigen, sobald er vorher einen Rubel in die Büchse geworfen hat.«

Es fanden sich, wie man mich versicherte, eine ganze Anzahl Liebhaber, denen es Spaß machte, dem Edelmann einen Nasenstüber zu versetzen. Allerdings darf ich hierbei nicht verschweigen, daß Mischa einen dieser Liebhaber, der nur einen Rubel in die Büchse legte, sich dann aber erlaubte, Jenem zwei Nasenstüber zu geben, zuerst fast erwürgte und ihn dann zwang, nachdem er endlich losgelassen hatte, ihn um Vergebung zu bitten. Ferner darf man nicht unerwähnt lassen, daß er einen ganzen Theil des auf diese Weise zusammengeschlagenen Geldes an andere arme Teufel vertheilte. Aber deshalb ist die Taktlosigkeit doch nicht geringer zu beurtheilen.

Im Laufe dieser seiner Fahrt »durch die sieben Simeonstage« suchte er auch einmal sein heimatliches Nest auf, welches er für einen Spottpreis an einen damals sehr bekannten Geschäftsmann, einen Wucherer und Güterschlächter verkauft hatte.

Der neue Besitzer war im Hause anwesend nnd als er die Mittheilung erhielt, daß der ehemalige Gutsherr, der allmälig zum Vagabunden herabgesunken sei, angekommen wäre, gab er strengen Befehl, ihn nicht ins Haus zu lassen und ihn nöthigenfalls sogar mit Gewalt am Eintritt zu hindern.

Mischa erkälte, daß er überhaupt nicht daran denke, über die Schwelle eines Hauses zu schreiten, das schon dadurch entweiht sei, daß ein so ehrloser Schuft es besitze; wenn er aber einen Besuch beabsichtigt hätte, so würde er sich durch kein Verbot und keine Drohung davon abbringen lassen. Er hatte nur die Absicht, den Kirchhof zu betreten und die daselbst befindlichen Gräber seiner Eltern zu besuchen.

Auf den Kirchhof traf er einen alten Leibeigenen, der ihn, als er noch ein Kind war, gewartet hatte.

Der Wucherer, der jetzige Gutsbesitzer, hatte den alten Mann von seinem kleinen Gehöfte gejagt, ihm auch jede Unterstützung an Korn, Fischen u.s.w., die er bisher erhalten, entzogen und ihn darauf angewiesen, im Stall eines benachbarten Bauern zu nächtigen. Mischa hatte die Rolle als Gutsherr nur kurze Zeit gespielt; es war ihm deshalb auch nicht gelungen, bei den Dorf- und Hofleuten ein tieferes Gefühl der Dankbarkeit für ihn zu begründen. Dennoch aber konnte der alte Diener es nicht über sich gewinnen, fernzubleiben; kaum hatte er von der Ankunft seines ehemaligen Herrn gehört, als er auch schon auf den Kirchhof lief. Hier fand er Mischa auf der bloßen Erde zwischen den Grabsteinen sitzen; sofort bat er um die Erlaubniß, ihm die Hand küssen zu dürfen, und dem alten Mann traten die Thänen in die Augen, als er sehen mußte, daß der einst so sorgfältig gepflegte Körper seines Wartekindes kaum noch von den nothdürftigsten Lumpen umhüllt wurde. Mischa sah den alten Diener lange an, ohne ein Wort zu sprechen.

»Timothej!« sagte er endlich. Timothej erzitterte am ganzen Körper. »Was befehlen Sie, gnädiger Herr?« »Hast Du eine Schaufel, einen Spaten?« »Ich kann ihn herbeiholen. Aber was wünschen Sie mit einem Spaten zu beginnen, Herr Michael Andrejewitsch?«

»Ich will mir hier ein Grab graben, Timothej, und mich für alle Ewigkeit hier zwischen den Gräbern meiner Eltern zur Ruhe legen; auf der ganzen großen Welt ist ja nichts als dies einzige Plätzchen mein Eigenthum geblieben. Bringe mir also den Spaten.«

»Sofort!« sagte Timothej und entfernte sich.

Bald kehrte er mit dem verlangten Gegenstande zurück und Mischa begann nun zu graben. Timothej stand daneben, hielt sich das Kinn mit der einen Hand und wiederholte immer aufs Neue:

»So ist's, gnädiger Herr, so ist's! Dir und mir, uns Beiden ist wirklich nichts geblieben, als dieses Fleckchen Erde hier.«

Mischa grub unverdrossen und warf nur von Zeit zu Zeit die Bemerkung ein:

»Es lohnt sich ja überhaupt nicht zu leben. Meinst Du nicht auch, Timothej?«

»Nein, es lohnt sich wirklich nicht. Väterchen,« lautete jedesmal die Antwort.

Die Grube war mittlerweile schon ziemlich tief geworden. Einige Bauern sahen der Arbeit zu, liefen dann zu dem jetzigen Gutsherrn, dem Geschäftsmann und Wucherer, und theilten ihm mit, was Mischa beginne. Zuerst wurde der Gutsbesitzer wüthend und wollte zur Polizei schicken. »Das ist ja die reine Profanation!« schrie er einmal über das Andere. Dann aber überlegte er es sich und kam dabei wohl zum Bewußtsein, daß es nicht gerathen sei, mit dem launenhaften Menschen anzubinden und daß er Alles vermeiden müsse, was etwa einen Skandal hervorrufen könne. So beschloß er denn, in eigener Person auf den Kirchhof zu gehen; das that er denn auch und als er dort Mischa traf, der sich noch immer im Schweiße seines Angesichts abmühte das Grab zu vollenden, verneigte er sich sehr tief vor ihm. Mischa aber fuhr fort zu graben, als habe er das Erscheinen seines Nachfolgers im Gutshofe gar nicht bemerkt.

»Michael Andrejewitsch, würden Sie mir erlauben zu fragen, was Sie da eigentlich machen?«

»Wie Sie sehen, grabe ich mein Grab.«

»Weshalb?«

»Weil ich nicht Lust habe, noch länger zu leben.«

Ganz erstaunt ob dieser Antwort hob der Fragesteller beide Hände empor.

»Sie wünschen nicht länger zu leben?«

Mischa warf ihm einen drohenden Blick zu.

»Darüber können Sie noch in Erstaunen gerathen? Sie wissen doch sehr gut, daß Sie die Ursache meines Kummers sind. Jawohl, Sie! Jawohl, Du! Du Judas, Du hast es Dir zu Nutze gemacht, daß ich noch jung und unerfahren war! Du hast es benutzt, um mich auszuplündern, um mich zu berauben! Und jetzt schindest Du Deine Bauern, daß es einen Stein erbarmen könnte! Hast Du diesem hinfälligen, siechen Greise nicht sein tägliches Brod geraubt? Jawohl, Du hast es gethan! O Gott im großen Himmel! Ueberall Ungerechtigkeit! Nirgends etwas Anderes als Unterdrückung und Frevelthat! Da mag denn Alles zu Grunde gehen, Alles und ich dazu! Ich will nicht länger leben, ich mag nicht länger in diesem Rußland leben!«

Und noch kräftiger und schneller als zuvor arbeitete Mischa mit dem Grabscheit.

»Zum Teufel auch,« dachte der Gutsherr; »was soll denn das bedeuten? Es scheint wirklich, als wolle er sich ein Grab machen und sich dann gleich hineinlegen. Michael Andrejewitsch,« fuhr er dann laut fort, »ich muß Sie doch um Entschuldigung bitten. Hören Sie mich nur an, es waltet hier ein Mißverständniß vor.« Mischa grub. »Aber wozu diese Verzweiflung?« Mischa grub ruhig weiter und warf die ausgehobene Erde dem Gutsherrn auf die Füße. »Da, Du Landverschlinger!« schrie er dabei; »nimm es und friß es auf!«

»Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Sie im Unrecht sind. Sie sollten lieber in meine Wohnung kommen, sollten dort etwas genießen und ein Wenig ausruhen.«

Mischa erhob den Kopf.

»Sieh einmal, jetzt singst Du in einer ganz anderen Tonart. Wie ist's darum? Giebt's bei Dir auch etwas zu trinken?«

»Ganz gewiß! Weshalb nicht?« erwiderte der Gutsherr, sehr erfreut, daß die Sache eine für ihn so günstige Wendung nahm.

»Ladest Du auch den alten Timothej ein?«

»Freilich, auch ihn.«

Mischa dachte einen Augenblick nach.

»Das sage ich Dir von vornherein: Du weißt, daß Du mich ausgeplündert hast und daß Du Schuld an meiner jetzigen Lage bist, bilde Dir also nicht etwa ein, daß Du die Sache mit einer einzigen Flasche todt machen könntest.«

»Seien Sie unbesorgt! Es ist von Allem so viel da, als Ihr Herz begehrt.«

Mischa richtete sich ganz empor und warf den Spaten zur Seite. »Nun, mein lieber Timothej,« wandte er sich an seinen alten Wärter, »so wollen wir denn dem Hausherrn die Ehre erweisen. Gehen wir!«

»Sehr gern,« antwortete der Alte.

So begaben sich die Drei ins Herrenhaus.

Der durchtriebene Gutsbesitzer wußte ganz genau, wie er sich zu verhalten habe. Mischa begann allerdings damit, daß er sich von Jenem das Ehrenwort geben ließ, er wolle seinen Bauern in Zukunft alle möglichen Erleichterungen zu Theil werden lassen, aber schon eine Stunde später tanzte Mischa mit Timothej, Beide vollständig betrunken, Galopp in demselben Zimmer, in welchem, wie man meinen konnte, noch der Geist von Andrej Nikolajewitsch Poltew, Mischa's Vater, umging; wieder eine Stunde später lag Mischa, der trotz seines vielen Trinkens doch nicht viel Branntwein vertragen konnte und deshalb schon eingeschlafen war, auf einem Wagen. Seine Mütze hatte man ihm auf den Kopf gesetzt, seinen Dolch neben ihm gelegt, und so wurde er nach der etwa fünfundzwanzig Werst entfernten Nachbarstadt gefahren. Dort legte man ihn an einem Zaun nieder, wo er sich bei feinem Erwachen zum größten Erstaunen wiederfand. Timothej, der noch nicht eingeschlummert war, sondern immer noch versuchte für sich allein Galopp zu tanzen, wurde einfach aus dem Hause geworfen. Was man mit dem Herrn zu thun beabsichtigt hatte, konnte somit wenigstens beim Diener ausgeführt werden.

VI.


Wiederum verging einige Zeit, ohne daß ich das Geringste von Mischa oder über ihn gehört hätte. Gott mochte wissen wohin, er gerathen war. Da sitze ich nun eines schönen Tages in einer Posthalterei an der T.'schen Landstraße; auf dem Tische vor mir stand der Samowar und ich wartete auf den Vorspann, da höre ich plötzlich unter dem offenen Fenster des Passagierzimmers eine heisere Stimme auf französisch sagen: »Monsieur, monsieur! preuez pitié d'un pauvre gentilhomme ruiné!«

Ich erhob den Kopf, großer Gott! Wen mußte ich vor mir sehen! Die von allen Haaren entblößte Fellmütze auf dem Kopfe, bekleidet mit der zerlumpten Tscherkessen-Uniform, an welcher die aufgenähten Patronenhülsen fast in Fetzen herunterhingen, den Dolch in der zerplatzten und zerbrochenen Scheide tragend, mit aufgedunsenem, dabei aber noch immer rosig schimmerndem Gesicht, mit zerzaustem, aber immer noch reichem Kopfhaar, so stand Mischa vor mir! Er war es wirklich, und er war schon soweit gesunken, daß er die Reisenden auf der Landstraße um einen Almosen ansprach!

Ich schrie unwillkürlich laut auf. Er erkannte mich, zitterte, wandte sich ab und machte Miene sich von dem Fenster zu entfernen. Ich hielt ihn zurück. Aber was sollte ich sagen? Sollte ich ihm etwa in diesem Moment eine moralische Vorlesung halten?

Ohne ein Wort zu äußern hielt ich ihm einen Fünfrubelschein hin; ebenfalls schweigend ergriff er die Banknote mit seiner immer noch weißen und rundlichen, aber doch schon zitternden und auch ziemlich unsaubern Hand, und dann verschwand er hinter dem Hause.

Der Vorspann mit frischen Pferden ließ noch immer auf sich warten, und so hatte ich Zeit genug, meinen trüben Gedanken über dieses unerwartete Zusammentreffen mit Mischa nachzuhängen. Ich machte mir jetzt Vorwürfe darüber, daß ich ihn so kalt und gleichgültig hatte weiterziehen lassen. Endlich konnte ich meine Reise fortsetzen; kaum hatte ich noch eine halbe Werst zurückgelegt, als ich vor mir auf der Landstraße einen Trupp Menschen gewahrte, die in seltsamer, offenbar taktmäßiger Weise vorwärts schritten. Bald hatte ich mit meinem Wagen die Leute eingeholt, und was mußte ich nun sehen! Zwölf Bettler waren es, die, mit den Quersäcken auf dem Rücken, zu je zwei und zwei schritten, hüpften und sprangen; sie sangen im Chor ein Liedchen und vor ihnen her tanzte Mischa und brüllte den Refrain noch lauter als die Andern. Kaum war mein Wagen in ihrer Nähe angelangt, als er mich auch schon erblickte und nun laut rief:

»Hurrah! Halt! Das ganze Bataillon, Front!«

Gehorsam blieben die Bettler auf dieses Kommando hin in doppelter Reihe stehen; er selbst sprang mit seinem gewöhnlichen gellenden Lachen auf den Wagentritt und brüllte nun ein »Hurrah« über das andere.

»Was hat das denn zu bedeuten?« fragte ich ganz erstaunt.

»Das ist meine Armee! Es ist die Bettlergarde, übrigens alles Gottesmänner und gute Freunde von mir. Jeder von ihnen, Dank Ihrer Großmuth, hat sich mit einem Gläschen das Herz erfreuen können, und da sind wir denn natürlich heiter und seelensvergnügt. Ach, Onkelchen, glauben Sie mir, nur in der Gesellschaft von Bettlern, von solchen braven Männern, läßt es sich noch einigermaßen auf dieser Welt leben! Sonst ist es wirklich nicht auszuhalten!«

Ich antwortete nicht darauf; in diesem Augenblicke aber erschien er mir so herzensgut, in seinem Gesicht sprach sich eine solche liebenswürdige beinahe kindliche Einfalt aus, daß ich mich im tiefsten Innern ergriffen fühlte. Wie ein Blitz fuhr mir der Gedanke, hier zu helfen, durch den Kopf.

»Setze Dich zu mir in den Wagen!« sagte ich.

Er machte eine Bewegung, die sein großes Erstaunen ausdrückte.

»Wie? Ich – in diesen Wagen?«

»Jawohl,« wiederholte ich. »Setze Dich zu mir, ich will Dir einen Vorschlag machen. Setze Dich doch, wir wollen zusammen weiterfahren.«

»Wie Sie wollen.«

Er nahm neben mir Platz.

»Und Ihr, meine lieben Freunde und ehrenwerthen Genossen,« fuhr er fort, sich an die Bettler wendend, »lebt wohl! Auf Wiedersehen!«

Er nahm seine Fellmütze ab und grüßte sehr höflich. Die Bettler standen starr vor Überraschung. Ich befahl dem Kutscher, die Pferde tüchtig laufen zu lassen, und so rollte denn unser Wagen bald wieder auf der Chaussee dahin.

Ich wollte Mischa folgenden Vorschlag machen: Mir war der Gedanke gekommen, ihn mit mir auf meinen Landsitz zu nehmen, der etwa dreißig Werst von jener Station entfernt war, auf der ich ihn wiedergesehen hatte. Hier wollte ich ihn bessern oder doch wenigstens den Versuch zu seiner Besserung unternehmen.

»Höre einmal, Mischa,« begann ich, »willst Du in meinem Hause leben? Du sollst ganz nach Deiner Bequemlichkeit leben; auch mit Kleidung und Wäsche wird man Dich versehen und Dich überhaupt ordentlich ausstatten. Geld zu Taback und anderen kleinen Genüssen und Vergnügungen sollst Du ebenfalls erhalten, aber alles das nur unter einer Bedingung: Du darfst keinen Branntwein mehr trinken. Gehst Du darauf ein?«

Mischa schien vor plötzlicher Freude ganz erschrocken zu sein; seine Augen blickten mich starr an, sein ganzes Gesicht erglühte; dann sank er plötzlich an meine Schulter, überhäufte mich mit Küssen und wiederholte einmal über das andere mit halberstickter Stimme:

»Onkel! Onkelchen, mein Wohlthäter, Gott vergelt's Ihnen!«

Schließlich brach er in lautes Weinen aus, nahm seine Fellmütze vom Kopf und wischte sich damit die Augen, die Nase und den Mund.

»Vergiß aber nicht,« sagte ich eindringlichst, »daß ich eine Bedingung gestellt habe, von deren Innehaltung alles Andere abhängig ist: Du darfst keinen Brantwein trinken.«

»Der Teufel hole den Branntwein!« rief er, beide Hände wie abwehrend von sich streckend. In Folge dieser Bewegung strömte förmlich eine Wolke von dem Spiritusgeruch, der ihn ganz zu durchdringen schien, auf mich zu.

»Ach, mein liebes gutes Onkelchen, wenn Sie nur wüßten, welch ein Leben ich geführt habe! Aber mein ständiger Gram war schuld an Allem und das Schicksal hat mir auch gar zu arg mitgespielt! Aber nun schwöre ich, Onkelchen, ja, ich schwöre Ihnen, daß ich mich bessern werde! Sie werden es ja sehen, Onkelchen; ich habe noch niemals gelogen, Sie können danach fragen, wen Sie wollen. Ich bin ein ehrlicher Mensch, Onkelchen, aber ich habe nun einmal kein Glück im Leben gehabt. Niemand hat mir bisher Liebes und Gutes erwiesen –«

Nun konnte er vor Schluchzen schon gar nicht mehr sprechen. Ich gab mir alle denkbare Mühe, ihn zu trösten und zu beruhigen, und das gelang mir endlich auch; als wir vor meinem Landhause anlangten, war Mischa schon längst in bleiernen Schlaf gesunken, wobei sein Haupt sich so tief herabbeugte, daß es schließlich auf meinen Knieen lag.

VII.


Sogleich nach unserer Ankunft wurde ein Zimmer für ihn in Ordnung gebracht, vor allen Dingen aber wurde für ihn ein Bad bereitet, das war es, worauf es dem Augenschein nach ganz besonders ankam. Seine gesammte Kleidung einschließlich des Dolches, der Fellmütze und der zerrissenen Stiefel wurde zusammengepackt und in eine Kammer gelegt und dafür erhielt er Wäsche, Pantoffeln und Kleidungsstücke von mir; wie dies merkwürdigerweise bei armen Teufeln, die man mit solchen Gegenständen ausstattet, immer der Fall ist, paßten auch ihm die Sachen wie angemessen. Als er dann zu Tisch kam, gewaschen, sauber, frisch, da sah er so frohbewegt, so glücklich und dankbar aus, daß auch ich vor Rührung und Freude mich gehoben fühlte. Der Ausdruck seines Gesichtes hatte sich vollkommen verändert. So sehen wohl zwölfjährige Knaben am Ostersonntag aus, wenn sie das Abendmahl bekommen haben und nun mit ihren überaus stark pomadisirten Haaren, in neuen Anzügen und mit steifgestärkten Kragen in Begleitung ihrer Eltern ausgehen, um allen lieben Verwandten und Bekannten die »Osterküsse« zu verabreichen.

Mischa tastete fortwährend vorsichtig und mit der Miene eines Zweifelnden an sich selbst herum und wiederholte beständig: »Wie hängt denn das Alles zusammen? Sollte ich vielleicht doch schon im Himmel sein?«

Am andern Morgen erklärte er mir zum Ueberfluß auch noch, daß er vor Entzücken und Freude während der ganzen Nacht kein Auge habe schließen können.

Eine alte Tante mit ihrer Nichte lebte damals bei mir in jenem Landhause. Beide waren außerordentlich bestürzt, als sie hörten, daß ich Mischa mitgebracht hätte; sie konnten gar nicht begreifen, wie ich einen solchen verkommenen Menschen zu mir ins Haus nehmen könnte; der Ruf, der ihm voranging, war nämlich in Wirklichkeit so ziemlich der schlechteste, den ein Mensch überhaupt haben kann. Nun war ich aber erstens fest davon überzeugt, daß er sich den Damen gegenüber keine Freiheit herausnehmen würde, und zweitens hatte er mir ja fest versprochen, daß er sich bessern wolle. Und während der ersten beiden Tage rechtfertigte Mischa nicht nur die Hoffnungen, die ich auf ihn baute, sondern er übertraf noch in jeder Beziehung meine Erwartungen. Meine Damen waren von ihm geradezu entzückt. Mit der alten Tante spielte er Piquet, war ihr beim Garnwickeln behilflich und lehrte sie einige neue Arten des Patiencespieles; die Nichte, die eine allerdings nicht sehr umfangreiche Stimme hatte, begleitete er auf dem Klavier, auch las er ihr russische und französische Gedichte vor. Außerdem erzählte er den Damen lustige, dabei aber durchaus schickliche Anekdoten, mit einem Wort: er unterhielt sie so gut und erwies sich in kleinen Handgriffen und Dienstleistungen so geschickt und anstellig, daß sie ihr Erstaunen offen ausdrückten. Die Tante fügte noch hinzu:

»Da kann man wieder einmal sehen, wie ungerecht doch die Menschen urtheilen! Was haben sie nicht Alles über ihn zu erzählen gewußt und wie höflich, wie nett und artig ist er doch in Wirklichkeit. Armer Mischa!«

Nun muß ich allerdings erwähnen, daß der »arme Mischa« immer in besonders ausdrucksvoller Art die Lippen leckte, sobald er bei Tische eine Flasche auch nur von Weitem zu sehen bekam. Ich brauchte ihm jedoch nur mit dem Finger zu drohen, so schlug er die Augen zur Decke empor, legte die Hand aufs Herz und sagte: »Aber ich habe ja geschworen!«

»Ich bin jetzt wie vollständig umgewandelt,« versicherte er mich einmal über das Andere.

»Gott gebe, daß es wahr ist,« dachte ich bei mir selbst.

Leider hatte diese Umwandlung keinen langen Bestand.

Während der beiden ersten Tage war er sehr gesprächig, aufgeweckt und heiter. Aber schon am dritten Tage erschien er mir etwas verstimmt, obwohl er es noch nicht merken lassen wollte und nach wie vor bemüht war, in Gesellschaft der Damen zu bleiben und sie zu unterhalten. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, wie aus Traurigkeit und Nachdenklichkeit gepaart, und dieses Gesicht erschien mir auch etwas bleicher und eingefallener zu sein, als an den vorhergehenden Tagen.

»Solltest Du unwohl sein?« fragte ich ihn.

»Ja,« antwortete er; »ich habe etwas Kopfschmerzen.«

Am vierten Tage war er schon vollständig schweigsam. Er saß fast immer in eine Ecke gedrückt, ließ wie eine kummervolle Waise den Kopf hängen und sein betrübtes Aussehen erweckte das innige Mitleid der beiden Damen, die nun ihrerseits Alles aufboten, um ihn zu unterhalten und zu zerstreuen. Bei Tisch aß er nichts, starrte unverwandten Blickes auf seinen Teller und drehte mechanisch Brodkügelchen zwischen den Fingern.

Am fünften Tage hegten die Damen nicht mehr das Gefühl des Mitleids für ihn; an seine Stelle trat das des Mißtrauens und sogar der Furcht. Mischa blickte finster vor sich her; er mied jede Gesellschaft, schlich an den Wänden entlang wie Einer, der ein böses Gewissen hat, und drehte sich dann plötzlich mit schneller Wendung um, als glaubte er, daß ihn Jemand gerufen habe. Und wohin war die rosige Farbe seiner Wangen gekommen? Er sah aus, als sei er dem Grabe entstiegen.

»Bist Du noch immer unwohl?« fragte ich ihn.

»Nein, ich bin ganz wohl,« entgegnete er kurz und unwirsch.

»Langweilst Du Dich?«

»Weshalb sollte ich mich langweilen?«

Dabei wandte er sich zur Seite, als könnte er meinen Blick nicht ertragen.

»Ist vielleicht Dein alter Gram wieder erwacht?«

Er antwortete nichts auf diese Frage. In dieser Stimmung und Situation ging noch ein Tag vorbei. Am darauf folgenden Tage kam die Tante eiligst in mein Arbeitszimmer gelaufen; sie befand sich sichtlich in großer Erregung und erklärte kurz und bündig, daß sie mit ihrer Tochter das Haus verlassen werde, wenn Mischa noch länger in demselben bleibe.

»Aber weshalb denn?«

»Weshalb? Weil wir nicht wissen, wie wir uns vor ihm in Acht nehmen sollen, das ist ja gar kein Mensch mehr! Er läuft herum wie ein Wolf, ja, wie ein tollgewordener Wolf! Er geht umher, immer auf und ab, spricht kein Wort dabei, und sieht Einen nur so fürchterlich wild an! Es fehlte nur noch, daß er mit den Zähnen fletscht. Du weißt ja nun doch, daß meine Katia so sehr nervös ist. Vom Tage seiner Ankunft an hat sie sich für ihn interessirt. Jetzt habe ich natürlich Furcht, ihretwegen, und auch meinetwegen.«

Ich wußte nicht, was ich meiner Tante antworten sollte. Unmöglich konnte ich Mischa so ohne Weiteres wieder aus dem Hause weisen, nachdem ich selbst ihn zu mir eingeladen hatte.

Er selbst befreite mich aus der sehr peinlichen Situation.

An demselben Morgen, ich hatte mein Arbeitszimmer noch nicht verlassen, hörte ich plötzlich hinter mir eine dumpfe, mißlautende Stimme.

»Nikolai Nikolajewitsch! Heda, Nikolai Nikolajewitsch!«

Ich wandte mich um; in der Thür stand Mischa. Sein Gesicht war schrecklich anzusehen; ganz entstellt und finster blickte er drein.

»Nikolai Nikolajewitsch!« wiederholte er. (Er nannte mich nicht mehr »Onkelchen.«)

»Was willst Du?«

»Lassen Sie mich meines Weges gehen, sofort!«

»Wie meinst Du?«

»Sie sollen mich weiterziehen lassen. Sonst richte ich ein Unglück an; ich stecke das Haus in Brand oder ich schlage irgend Jemanden zu Boden.«

Er erbebte und zitterte, wie vom Fieber geschüttelt.

»Lassen Sie mir sofort meine Sachen wiedergeben,« fuhr er fort. »Geben Sie mir einen Wagen, der mich wenigstens bis zur Landstraße bringt, und wenn Sie dann noch wollen, geben Sie mir ein Stück Geld auf die Wanderschaft.«

»Aber bist Du denn über irgend etwas unzufrieden?« fragte ich.

»Ich kann so nicht länger leben!« schrie er mit aller Kraft seiner Lungen. »Ich kann nicht in Ihrem verdammt anständigen, in Ihrem Herrschaftshause leben! Es ekelt mich an! Ich schäme mich, so ruhig dahinzuleben! Wie können Sie selbst das nur ertragen?«

»Mit andern Worten,« unterbrach ich ihn meinerseits, »Du willst sagen, daß Du ohne Branntwein nicht bestehen kannst.«

»Nun ja! Nun ja!« brüllte er. »Lassen Sie mich doch nur wieder zurück zu meinen Brüdern, zu meinen lieben Freunden, den Bettlern. Zum Teufel mit Ihrer widerwärtig anständigen, Ihrer vornehmen und gebildeten Gesellschaft!«

Ich wollte ihn anfänglich an das mir gegebene Versprechen erinnern, das er noch dazu mit einem Eide beschworen hatte; aber sein furchtbar erregter Gesichtsausdruck, das abgerissene, stoßweise Sprechen, das konvulsivische Zittern aller seiner Gliedmaßen, das Alles war so schrecklich, daß ich mich beeilte, mit ihm auseinanderzukommen. So erklärte ich ihm denn, daß er sofort seinen früheren Anzug wiedererhalten solle und daß man eine Telega anspannen werde; dann nahm ich eine Fünfundzwanzigrubelnote aus dem Schranke und legte sie auf den Tisch. Mischa kam drohend auf mich zu, plötzlich aber blieb er stehen, er stutzte und sein Gesicht war wie von Blut übergössen. Dann schlug er sich vor die Brust, Thränen liefen ihm aus den Augen, er stammelte: »Onkelchen, Du mein Engel! Ich bin ein verlorener Mensch! Dank! Dank!«

Damit ergriff er die Banknote und lief davon.

Eine Stunde später saß er bereits auf der für ihn angespannten Telega; wieder war er als Tscherkesse gekleidet, wieder sah er rosig und heiter aus, wie nur je zuvor. AIs die Pferde anzogen, schrie er vor Freude laut auf, riß die Fellmütze vom Kopf, schwenkte sie über seinem Haupte und machte dann eine Verbeugung nach der andern. Einen Moment vor seiner Abreise hatte er mich noch lange umarmt, mich fest an seine Brust gedrückt und dabei gestammelt: »Mein Wohlthäter! Du mein Wohlthäter! Ich bin ja doch nicht mehr zu retten!« Er war auch zu den Damen gelaufen, hatte ihre Hände mit Küssen bedeckt, war vor ihnen auf die Knie gesunken, hatte Gott angerufen und ihn um Verzeihung für sein Thun gebeten. Als der Wagen sich entfernt hatte, fand ich Katia in Thränen.

Der Kutscher, mit welchem Mischa abgefahren war, erzählte mir nach seiner Heimkehr, daß er Jenen bis zur ersten an der Landstraße belegenen Schenke gefahren habe. Ihn von dort wieder fortzubringen habe er kein Mittel gefunden. Mischa hatte alle Anwesenden eingeladen, auf seine Kosten zu trinken, und bald war er wieder so bezecht gewesen, daß er besinnungslos auf der Bank lag.

Seit jener Zeit bin ich mit meinem Neffen nicht mehr zusammengetroffen. Was ich aber über seinen Ausgang von anderer Seite vernommen, will ich hier noch kurz erzählen.

VIII.


Es mochten seit den eben geschilderten Ereignissen etwa drei Jahre verflossen sein, als ich mich wieder einmal auf meinem Landgute befand. Ein Diener trat zu mir ins Zimmer und sagte, daß eine Frau Poltew mich zu sprechen wünsche. Ich kannte nun keine Frau Poltew und der Diener hatte auch, als er mir die Meldung machte, auf etwas sarkastische Art gelächelt. Auf meinen fragenden Blick theilte er mir mit, daß die Dame, welche mich zu sprechen wünsche, jung sei, ärmliche Kleidung trage und in einem Bauernwagen angekommen sei, dessen einziges Pferd sie selbst gelenkt habe.

Ich ließ der Frau Poltew sagen, daß ich sie in meinem Arbeitszimmer sprechen werde.

Bald stand ich einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau gegenüber, die den Anzug des kleinen Bürgerstandes trug und ein Tuch um den Kopf geschlungen hatte. Das Gesicht bot nichts ungewöhnliches; es war ein bischen rund, deshalb aber nicht ohne Anmuth. Sie hielt die Augen gesenkt – später konnte ich bemerken, wie kummervoll und traurig ihr Blick war. Alle ihre Bewegungen zeugten von Scheu und Verlegenheit.

»Sie find Frau Poltew?« fragte ich, sie mit einer Handbewegung einladend, Platz zu nehmen.

»Jawohl, mein Herr!« antwortete sie mit leiser Stimme und ohne sich zu setzen. »Ich bin die Wittwe Ihres Neffen Michael Andrejewitsch Poltew.«

»Michael Andrejewitsch ist todt? Seit wann? Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl nieder.

»Vor fast zwei Monaten ist er gestorben.«

»Sind Sie lange mit ihm verheirathet gewesen?«

»Ich habe im Ganzen ein Jahr mit ihm zusammen gelebt.«

»Woher kommen Sie jetzt?«

»Aus der Gegend von Tula. Dort liegt ein Dorf, das Snamonskoje-Gluschkowo heißt; vielleicht kennen Sie es. Ich bin die Tochter des dortigen Küsters und dort haben auch mein Mann und ich gelebt. Er ließ sich bei meinem Vater nieder. Ja, ein Jahr lang haben wir zusammen gelebt.«

Die junge Frau hielt ihre Hand vor die Augen; die Lippen zitterten leicht. Man sah, daß es sie drängte zu weinen, aber sie bezwang sich und unterdrückte die Bewegung mit einem Husten.

»Mein armer Mischa Andrejewitsch hat mich, bevor er aus dem Leben schied, beauftragt, Sie aufzusuchen. Du mußt auf jeden Fall zu ihm reisen, hat er gesagt. Und dann befahl er mir noch, daß ich Ihnen für alle Ihre Güte danken – und daß ich – Ihnen dies hier –« (sie zog ein kleines Päckchen aus der Tasche) – »dies hier übergeben soll – eine Kleinigkeit, die er stets mit sich herumtrug. Und Michael Andrejewitsch hat noch gesagt, Sie möchten es, wenn es Ihnen gefällig ist, zum Andenken an ihn annehmen. Sie möchten, sagte er, das kleine Geschenk nicht zurückweisen, denn ein anderes kann er Ihnen nicht machen.«

Das Päckchen enthielt eine kleine silberne Tasse mit dem Namenszuge von Mischa's Mutter. Ich hatte die Tasse oft in Mischa's Hand gesehen und erinnerte mich, daß er einst, als wir von irgend einem armen Teufel sprachen, sagte: »Ja, der ist wirklich arm, denn er besitzt weder Tasse noch Schüssel, während ich doch immer noch dieses Täßchen hier habe.«

Ich dankte der jungen Frau, nahm die Tasse und fragte dann: »An welcher Krankheit starb Mischa? Vermuthlich doch –«

Ich biß mich auf die Zunge, aber die Frau verstand nur zu gut, was ich hatte sagen wollen. Sie warf einen schnellen Blick auf mich, senkte dann wieder die Augen und sagte mit traurigem Lächeln: »O nein! Seit dem Tage, da er mich kennen gelernt, hat er darauf vollständig verzichtet. Aber wie stand es mit seiner Gesundheit? Sie war vollständig zerstört. Sobald er das Trinken aufgab, packte ihn die Krankheit mit grimmigster Gewalt. Und er war doch so vernünftig, so ordentlich geworden! Immer wollte er meinem Vater helfen – in der Hauswirthschaft, oder im Garten, oder wo es sonst nur irgend etwas zu thun gab. Er schämte sich der Arbeit garnicht, obwohl er doch von adliger Geburt ist. Aber woher sollte er die Kräfte nehmen? Dann wollte er sich als Schreiber beschäftigen; Sie wissen vielleicht noch, daß er mit diesem Fach sehr vertraut war. Aber seine Hand zitterte, und er konnte die Feder nicht so halten, wie es beim Schreiben nöthig ist. Er machte sich die heftigsten Selbstvorwürfe. »Weiße Händchen habe ich, sagte er, die Hände eines richtigen Nichtsthuers, eines Müßiggängers. Ich habe Niemandem etwas Gutes erwiesen, Niemandem geholfen, habe niemals gearbeitet! Das war's, worüber er sich am meisten grämte. Er sagte: Unser Volk quält und schindet sich ab und wir – was thun wir inzwischen? Ach, Nikolai Nikolajewitsch, er war wirklich herzensgut – und er liebte mich so sehr – auch ich – ach verzeihen Sie –«

Die junge Frau brach in Thränen aus. Ich hätte sie so gern getröstet – aber wie sollte ich das anfangen?

»Haben Sie ein Kind?« fragte ich endlich.

Sie seufzte.

»Ein Kind? Nein?« – Und ihre Thränen flössen noch stärker.

IX.


Das war das Ende, das mein Neffe Mischa genommen, schloß der alte P. seine Erzählung. Sie werden mir wohl zugeben, meine Herren, daß ich Recht hatte, wenn ich ihn einen »Verzweifelten« nannte. Aber ohne Zweifel geben Sie auch das zu, daß er den Verzweifelten von heut zu Tage durchaus nicht gleicht, obwohl ja nicht ausgeschlossen ist, daß ein Philosoph zwischen beiden Arten verwandte oder sogar gleiche Züge herauszufinden vermag. Auf beiden Seiten macht sich derselbe Drang zur Selbstzerstörung bemerkbar, derselbe Trübsinn, dasselbe Unbefriedigtsein mit sich und der Welt.

Aber woher dieses Gefühl stammt, das ist eine Frage, deren Beantwortung ich auch lieber den Philosophen überlassen möchte.

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