KAPITEL 17

»Um Gottes willen, Bothari, wir können sie doch nicht dahinein mitnehmen«, zischte Koudelka.

Sie standen in einer Gasse tief im Labyrinth der Karawanserei. Ein Gebäude mit dicken Mauern ragte ungewöhnliche drei Stockwerke hoch in der kalten, feuchten Dunkelheit. Gelbes Licht schimmerte durch geschnitzte Fensterläden hoch oben in der stuckverzierten Fassade, die wegen der sich ablösenden Farbe schuppig aussah. Eine Öllampe brannte trüb über einer hölzernen Tür, dem einzigen Eingang, den Cordelia sehen konnte.

»Kann sie nicht hier draußen lassen. Sie braucht viel Wärme«, antwortete der Sergeant. Er trug Lady Vorpatril auf seinen Armen, sie klammerte sich an ihn, matt und zitternd.

»Es ist sowieso eine langweilige Nacht hier. Spät. Sie machen zu.«

»Was ist das für ein Ort?«, fragte Droushnakovi.

Koudelka räusperte sich. »Damals in der Zeit der Isolation, als dies das Zentrum von Vorbarr Sultana war, war dies die Residenz eines Lords. Eines der jüngeren Vorbarra-Prinzen, glaube ich. Deshalb ist es wie eine Festung gebaut. Jetzt ist es eine … Art Gasthaus.«

Aha, das ist also Ihr Freudenhaus, Kou. Cordelia gelang es, damit nicht herauszuplatzen. Statt dessen sprach sie Bothari an: »Ist es sicher? Oder ist es mit Denunzianten besetzt wie das letzte Gasthaus?«

»Sicher für ein paar Stunden«, urteilte Bothari. »Und wir haben sowieso nur ein paar Stunden.« Er setzte Lady Vorpatril ab, übergab sie an Droushnakovi und schlüpfte nach einem gedämpften Wortwechsel durch die Tür mit einem Wächter in das Gebäude hinein. Cordelia drückte den kleinen Ivan noch fester an sich und zog ihre Jacke über ihn, damit sie all ihre Wärme an ihn abgeben konnte. Glücklicherweise hatte er während ihres einige Minuten langen Fußmarsches von dem verlassenen Gebäude bis hierher ruhig geschlafen. Ein paar Augenblicke später kam Bothari zurück und machte ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen.

Sie gingen durch einen Eingangskorridor, der fast wie ein Steintunnel aussah, mit engen Schlitzen in den Wänden und Löchern jeden halben Meter darüber. »Zur Verteidigung, in den alten Tagen«, flüsterte Koudelka, und Droushnakovi nickte verstehend. Allerdings erwartete sie heute nacht kein Pfeilregen und kein siedendes Öl. Ein Marin so groß wie Bothari, aber etwas breiter, sperrte die Tür hinter ihnen wieder ab.

Sie kamen in einen großen, trüb beleuchteten Raum, der in eine Art Bar und Speisesaal umgewandelt worden war. Darin waren nur zwei deprimiert aussehende Frauen in Morgenmänteln und ein Mann, der mit dem Kopf auf dem Tisch schnarchte. Wie üblich glimmten Holzkohlen in einem überdimensionierten offenen Kamin.

Sie hatten eine Führerin oder Gastgeberin. Eine schlaksige Frau winkte sie schweigend zur Treppe. Vor fünfzehn oder vielleicht sogar zehn Jahren mochte sie noch mit langen, wohlgeformten Beinen ein Aussehen von adlerhafter Eleganz gehabt haben, jetzt war sie knochig und verwelkt, unpassend gekleidet in einen grell magentaroten Morgenmantel mit herabhängenden Rüschen, die die innewohnende Traurigkeit wiederzugeben schienen. Bothari nahm Lady Vorpatril hoch und trug sie die steile Treppe hinauf. Koudelka blickte sich unsicher um und schien etwas erleichtert zu sein darüber, daß er jemand Bestimmten nicht entdeckt hatte.

Die Frau führte sie zu einem Zimmer am Ende eines Korridors in einem Obergeschoß. »Wechseln Sie die Bettlaken«, murmelte Bothari, die Frau nickte und verschwand. Bothari setzte die erschöpfte Lady Vorpatril nicht ab. Nach ein paar Minuten kam die Frau zurück, zog die zerknitterten Bettücher ab und ersetzte sie mit frischem Leinen. Bothari legte Lady Vorpatril in das Bett und trat zurück. Cordelia legte ihr den schlafenden Säugling in den Arm, und Lady Vorpatril nickte ihr dankbar zu.

Die Hausdame — Cordelia entschied sich, die Frau dafür zu halten — blickte mit einem Funken Anteilnahme auf das Baby. »Das ist ja neugeboren. Ein großer Bub, nicht wahr?« Ihre Stimme ging in ein vorsichtiges Gurren über.

»Zwei Wochen alt«, stellte Bothari in einem abweisenden Ton fest.

Die Frau prustete, mit den Händen auf den Hüften. »Ich spiele manchmal auch Hebamme, Bothari. Eher zwei Stunden, würde ich sagen.«

Botahri warf Cordelia einen seltsamen Blick zu, in dem fast Angst aufblitzte. Die Hausdame wehrte mit erhobener Hand seinen kritischen Blick ab. »Was auch immer du sagst.«

»Wir sollten sie schlafen lassen«, sagte Bothari, »bis wir sicher sind, daß sie keine Blutungen hat.«

»Ja, aber nicht allein«, sagte Cordelia. »Für den Fall, daß sie verwirrt an einem fremden Ort aufwacht.« Im Bereich des Fremden mußte dieses Haus, so vermutete Cordelia, für eine Vorfrau als absolut fremdartig eingestuft werden.

»Ich werde eine Weile bei ihr sitzenbleiben«, bot Droushnakovi an. Sie blickte mißtrauisch auf die Hausdame, die anscheinend für Drous Geschmack sich dem Baby zu nah zuneigte. Cordelia glaubte nicht, daß Koudelka mit seinem Getue, als seien sie da in eine Art Museum gestolpert, Droushnakovi überhaupt hatte täuschen können. Und auch Lady Vorpatril würde man nicht zum Narren halten können, sobald sie sich genug ausgeruht hatte, um wieder ihren Verstand einsetzen zu können.

Droushnakovi ließ sich in einen schäbigen gepolsterten Sessel fallen und rümpfte die Nase über dessen muffigen Geruch. Die anderen zogen sich aus dem Zimmer zurück. Koudelka ging weg, um zu suchen, wo in diesem alten Gebäude so etwas wie eine Toilette war, und um zu versuchen, ihnen etwas zum Essen zu kaufen. Eine bestimmte Geruchsnuance in der Luft brachte Cordelia auf den Gedanken, daß nichts in der Karawanserei an die städtische Kanalisation angeschlossen war. Und es gab auch keine Zentralheizung. Auf Botharis finsteren Blick hin machte die Hausdame sich dünn.

Ein Sofa, ein paar Stühle und ein niedriger Tisch standen am Ende des Korridors beisammen, beleuchtet von einer batteriegetriebenen Lampe mit rotem Schirm. Bothari und Cordelia setzten sich müde dorthin. Jetzt, da der Druck für einen Moment nicht mehr da war und er nicht gegen die Spannung ankämpfte, sah Bothari heruntergekommen aus. Cordelia hatte keine Vorstellung, wie sie selbst aussah, aber sie war sicher, daß es mit ihrem Äußeren auch nicht zum besten stand.

»Gibt es Huren auf Kolonie Beta?«, fragte Bothari plötzlich.

Für Cordelia war dies wie ein geistiger Peitschenschlag. Seine Stimme war so müde, daß die Frage fast beiläufig klang, außer daß Bothari nie beiläufige Konversation pflegte, Wie sehr hatten die gewaltsamen Erlebnisse der heutigen Nacht sein prekäres Gleichgewicht durcheinandergebracht, seine eigentümlichen Bruchlinien belastet?

»Nun ja… wir haben die LPSTs«, antwortete sie vorsichtig. »Ich vermute, sie erfüllen einige der gleichen sozialen Funktionen.«

»Ellpee Estees?«

»Lizenzierte Praktische Sexual-Therapeuten. Man muß von den Regierungsbehörden geprüft werden und eine Lizenz bekommen. Man braucht dazu mindestens einen akademischen Grad in Psychotherapie. Abgesehen davon, daß alle drei Geschlechter diesen Beruf ausüben. Am meisten verdienen die Hermaphroditen, sie sind sehr beliebt bei den Touristen. Es ist kein … kein Beruf mit einem hohen sozialen Status, aber sie gehören auch nicht zum Abschaum. Ich glaube, wir haben überhaupt keinen Abschaum auf Kolonie Beta, wir hören sozusagen bei der unteren Mittelklasse auf. Es ist ein Beruf wie …« — sie machte eine Pause und suchte nach einer kulturellen Übersetzungsmöglichkeit — »wie ungefähr ein Friseur auf Barrayar. Eine persönliche Dienstleistung nach professionellen Standards mit ein bißchen Kunstgewerbe.«

Es war ihr tatsächlich gelungen, Bothari stutzen zu machen, sicherlich zum erstenmal. Er hob die Augenbrauen. »Nur die Betaner würden meinen, daß man einen verdammten Universitätsgrad dafür braucht … Tun auch Frauen sie engagieren?«

»Sicherlich. Auch Paare. Das … das belehrende Element wird dort mehr betont.«

Er schüttelte den Kopf und zögerte. Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. »Meine Mutter war eine Hure.« Sein Ton war seltsam distanziert. Er wartete.

»Ich hatte … mir schon so etwas gedacht.«

»Weiß nicht, warum sie mich nicht abgetrieben hat. Sie hätte es können, sie machte Abtreibungen ebenso wie Geburtshilfe. Vielleicht dachte sie an ihr Alter. Sie pflegte mich an ihre Kunden zu verkaufen.«

Cordelia würgte. »Nun … nun, das wäre auf Kolonie Beta nicht erlaubt.«

»Ich kann mich nicht mehr viel an diese Zeit erinnern. Ich lief weg, als ich zwölf war, als ich groß genug war, um ihre verdammten Kunden zu verprügeln. Ich trieb mich mit Banden rum, bis ich sechzehn war, wirkte damals wie achtzehn und log mich so in den Armeedienst. Dann war ich von hier weg.« Seine Handflächen glitten übereinander weg, um zu zeigen, wie glatt und schnell seine Flucht ging.

»Der Armeedienst muß Ihnen im Vergleich dazu wie der Himmel erschienen sein.«

»Bis ich Vorrutyer begegnete.« Er blickte unbestimmt herum. »Damals waren hier mehr Leute. Heute ist’s hier fast tot.« Seine Stimme wurde nachdenklich. »Es gibt einen großen Teil in meinem Leben, woran ich mich nicht mehr gut erinnern kann. Es ist, als … bestünde ich aus lauter verschiedenen Stücken. Aber da gibt es einige Dinge, die ich vergessen will, aber nicht vergessen kann.«

Sie hatte nicht vor, ihn zu fragen: ›Was?‹ Aber sie machte mit ihrer Kehle einen Laut, der anzeigte, daß sie zuhörte.

»Weiß nicht, wer mein Vater war. Ein Bastard zu sein ist hier fast so schlimm, wie ein Mutant zu sein.«

›»Bastard‹ wird verwendet als negative Beschreibung einer Persönlichkeit, aber es hat im betanischen Kontext wirklich keine objektive Bedeutung. Unlizenzierte Kinder sind nicht dasselbe, und sie sind so selten, daß man sich mit ihnen auf der Basis der Einzelfälle beschäftigt.« Warum erzählt er mit all dies? Was will er von mir? Als er begann schien er fast ängstlich, jetzt sieht er fast zufrieden aus. Was habe ich richtig gesagt? Sie seufzte.

Zu ihrer geheimen Erleichterung kam da Koudelka zurück, der echte frische Sandwiches aus Brot und Käse sowie Bier in Flaschen mitbrachte.

Cordelia war froh über das Bier, denn sie war dem Wasser in einem solchen Haus gegenüber mißtrauisch. Sie aß dankbar den ersten Bissen und sagte: »Kou, wir müssen unsere Strategie jetzt neu überdenken.«

Er ließ sich linkisch neben ihr nieder und hörte ernsthaft zu. »Ja?«

»Wir können offensichtlich Lady Vorpatril und das Baby nicht mit uns nehmen. Und wir können sie nicht hier zurücklassen. Wir haben für Vordarians Sicherheitsleute fünf Leichen und einen brennenden Bodenwagen zurückgelassen. Sie werden diese Gegend hier gründlich durchsuchen. Aber noch für eine kleine Weile werden sie nach einer sehr schwangeren Frau suchen. Wir müssen uns trennen.«

Er füllte einen Moment des Zögerns mit einem Bissen Sandwich. »Werden Sie dann mit ihr gehen, Mylady?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muß mit dem Residenzteam gehen. Und wenn nur deshalb, weil ich die einzige bin, die sagen kann: Das ist jetzt unmöglich, es ist Zeit aufzugeben. Drou ist absolut notwendig, und ich brauche Bothari.« Und auf eine seltsame Weise braucht Bothari mich. »Damit bleiben Sie übrig.«

Seine Lippen preßten sich bitter zusammen. »Wenigstens würde ich Sie dann nicht langsamer machen.«

»Sie sind nicht die letzte Wahl«, sagte sie scharf. »Ihre Findigkeit hat uns nach Vorbarr Sultana hineingebracht. Ich glaube, Ihre Findigkeit kann Lady Vorpatril herausbringen. Sie sind ihre beste Chance.«

»Aber das ist, als liefen Sie in die Gefahr hinein, und ich laufe weg.«

»Eine gefährliche Illusion. Kou, denken Sie nach. Wenn Vordarians Schläger sie wieder fangen, werden sie keine Gnade mit ihr haben, Auch nicht mit Ihnen, und besonders nicht mit dem Baby. Es gibt da kein ›sicherer‹. Nur tödliche Notwendigkeit, und Logik, und die absolute Notwendigkeit, Ihren Kopf zu behalten.«

Er seufzte. »Ich werde es versuchen, Mylady.«

»Versuchen ist nicht genug. Padma Vorpatril hat ›versucht‹. Verdammt noch mal, Sie müssen Erfolg haben, Kou!«

Er nickte langsam. »Jawohl, Mylady.«

Bothari ging weg, um Kleidung für Kous neue Rolle als armer junger Ehemann und Vater zu organisieren. »Kunden lassen immer Sachen zurück«, bemerkte er, Cordelia fragte sich, was für Straßenkleidung er hier für Lady Vorpatril finden könnte. Kou brachte Lady Vorpatril und Drou Essen. Er kehrte mit einem sehr düsteren Ausdruck auf seinem Gesicht zurück und ließ sich wieder neben Cordelia nieder.

Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum Drou so besorgt war darüber, ob sie schwanger war.«

»Wirklich?«, sagte Cordelia.

»Lady Vorpatrils Schwierigkeiten lassen meine … ziemlich klein aussehen. Gott, sah das schmerzhaft aus.«

»Mm. Aber der Schmerz dauert nur einen Tag.« Sie rieb ihre Narbe.

»Oder ein paar Wochen. Ich glaube nicht, daß es das ist.«

»Was ist es dann?«

»Es ist … ein transzendentaler Akt. Leben machen. Ich dachte darüber nach, als ich mit Miles ging. ›Durch diesen Akt bringe ich einen Tod in die Welt.‹ Eine Geburt, ein Tod, und all der Schmerz und all die Willensakte dazwischen. Ich verstand bestimmte orientalische mystische Symbole wie die Todesmutter, Kali, nicht, bis ich erkannte, es war überhaupt nicht mystisch, nur blanke Tatsache. Ein sexueller ›Unfall‹ im barrayaranischen Stil kann eine Kette von Kausalität beginnen, die bis zum Ende der Zeiten nicht aufhört. Unsere Kinder verändern uns … ob sie leben oder nicht. Obwohl euer Kind diesesmal sich als bloße Schimäre herausstellte, war Drou von dieser Veränderung berührt. Waren Sie es nicht auch?«

Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich dachte nicht über all dies nach. Ich wollte nur normal sein. Wie andere Männer.«

»Ich denke, Ihre Instinkte waren in Ordnung. Sie sind nur nicht alles. Glauben Sie nicht, Sie könnten Ihre Instinkte und Ihren Intellekt einmal dazu bringen, zusammenzuarbeiten, anstatt gegeneinander?«

Er schnaubte. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht … wie ich jetzt zu ihr durchkomme. Ich habe gesagt, daß es mir leid tut.«

»Es funktioniert nicht zwischen euch beiden, nicht wahr?«

»Nein.«

»Wissen Sie, was mich am meisten beschäftigt hat, auf der Reise hierher?«, sagte Cordelia.

»Nein …«

»Ich konnte nicht Adieu zu Aral sagen. Falls … irgend etwas mir — oder auch ihm — zustößt, dann wird etwas zwischen uns hängen bleiben, unentwirrt. Und es wird keine Möglichkeit mehr geben, das richtigzustellen.«

»Mm.« Er kroch noch ein bißchen mehr in sich hinein, wie er da in den Sessel gesunken dasaß.

Sie dachte ein bißchen nach. »Was haben Sie versucht außer ›Es tut mir leid‹? Was halten Sie von: ›Wie geht es dir?‹, ›Ist alles in Ordnung?‹, ›Kann ich helfen?‹, ›Ich liebe dich‹, das ist ein Klassiker. Wörter aus wenigen Silben. Meistens Fragen, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Zeigt, daß man Interesse hat, ein Gespräch zu beginnen, nicht wahr?«

Er lächelte traurig: »Ich glaube nicht, daß sie überhaupt noch mit mir sprechen will.«

»Nehmen wir mal an«, sie lehnte ihren Kopf zurück und starrte ohne zu sehen den Korridor hinab, »nehmen wir mal an, die Dinge hätten in jener Nacht nicht eine solche falsche Wendung genommen. Nehmen wir mal an, Sie wären nicht in Panik verfallen. Nehmen wir mal an, der Idiot Vorhalas hätte Sie nicht mit seiner kleinen Horrorshow unterbrochen.« Da war ein Gedanke. Zu schmerzlich, dieses Wäre-vielleicht-nicht-gewesen, »Kehren wir zum Start zurück. Da wart ihr, glücklich schmusend.« Aral hatte dieses Wort benutzt, ›schmusen‹. Es schmerzte auch zu sehr, gerade jetzt an Aral zu denken. »Ihr trennt euch als Freunde, Sie wachen am nächsten Morgen auf mit … hm … Schmerzen von unerwiderter Liebe … was geschieht dann als nächstes, auf Barrayar?«

»Ein Vermittler.«

»So?«

»Ihre Eltern, oder meine, würden einen Vermittler engagieren. Und dann würde man, na ja, die Dinge arrangieren.«

»Und was tun Sie?«

Er hob die Schultern. »Pünktlich zur Hochzeit erscheinen und die Rechnung zahlen, nehme ich an. Tatsächlich zahlen die Eltern die Rechnung.«

Kein Wunder, daß der Mann in Verlegenheit war. »Wollten Sie eine Hochzeit? Nicht nur einfach vögeln?«

»Ja! Aber … Mylady, ich bin nur ein halber Mann, an guten Tagen. Ihre Familie würde mich bloß anschauen und dann lachen.«

»Haben Sie je ihre Familie getroffen? Haben sie Sie getroffen?«

»Nein …«

»Kou, hören Sie auf sich selbst?«

Er blickte ziemlich beschämt drein. »Nun ja …«

»Ein Vermittler. So, so.« Sie stand auf.

»Wohin gehen Sie?«, fragte er nervös.

»Vermitteln«, sagte sie bestimmt. Sie ging den Korridor hinab bis zu Lady Vorpatrils Tür und steckte den Kopf hinein. Droushnakovi saß da und beobachtete die schlafende Frau. Zwei Biere und die Sandwiches befanden sich unberührt auf einem Tisch neben dem Bett.

Cordelia schlüpfte hinein und schloß sanft die Tür. »Wissen Sie«, murmelte sie, »gute Soldaten lassen sich nie eine Chance für Essen oder Schlaf entgehen. Sie wissen nie, zu wieviel Dienst sie gerufen werden, bevor sie wieder eine Chance haben.«

»Ich bin nicht hungrig.« Auch Drou hatte einen nach innen gerichteten Blick, als wäre sie in einer Falle in sich selbst gefangen.

»Wollen Sie darüber sprechen?«

Drou machte ein unsicheres Gesicht und bewegte sich vom Bett weg zur einem kleinen Sofa in der anderen Ecke des Zimmers.

Cordelia setzte sich neben sie. »Heute nacht«, sagte Drou langsam, »war ich zum erstenmal in einem echten Kampf.«

»Sie haben es gut gemacht. Sie haben Ihre Stellung gefunden, Sie haben reagiert …«

»Nein.« Droushnakovi machte eine bittere Geste in der Art eines Handschlags. »Das tat ich nicht.«

»So? Mir erschien es gut.«

»Ich bin um das Haus gerannt — habe die beiden Sicherheitsleute betäubt, die an der Hintertür warteten. Die haben mich gar nicht gesehen. Ich habe meine Stellung an der Hausecke eingenommen. Ich beobachtete diese Männer, wie sie Lady Vorpatril auf der Straße quälten. Sie haben sie beschimpft und begafft und herumgestoßen und an ihr herumgefummelt … es machte mich so zornig, ich nahm meinen Nervendisruptor. Ich wollte sie töten. Dann begann das Feuer. Und … ich zögerte! Und deshalb starb Lord Vorpatril. Mein Fehler …«

»O je, Mädchen! Der Kerl, der Padma Vorpatril erschoß, war nicht der einzige, der auf ihn zielte. Padma war so voll von Penta und so verwirrt, daß er nicht einmal Deckung suchte. Sie müssen ihm eine doppelte Dosis gegeben haben, um ihn zu zwingen, daß er sie zu Alys zurückführt. Er hätte genauso leicht durch einen anderen Schuß sterben oder in unser eigenes Kreuzfeuer hineintappen können.«

»Sergeant Bothari hat nicht gezögert«, sagte Droushnakovi ausdruckslos.

»Nein«, stimmte Cordelia zu.

»Sergeant Bothari verschwendet auch keine Energie mit … Mitleid für den Feind.«

»Nein. Tun Sie das?«

»Mir wird übel dabei.«

»Sie töten zwei völlig fremde Menschen und erwarten, sich dann fröhlich zu fühlen?«

»Bothari tut es.«

»Ja, Bothari genoß es. Aber Bothari ist kein normaler Mann, nicht einmal nach barrayaranisehen Maßstäben. Trachten Sie danach, ein Monster zu sein?«

»Sie nennen ihn ein Monster!«

»O ja, aber er ist mein Monster. Mein guter Hund.« Sie hatte immer Schwierigkeiten, Bothari zu erklären, manchmal sogar sich selber gegenüber. Cordelia fragte sich, ob Droushnakovi den in der Geschichte der Erde wurzelnden Ursprung des Ausdrucks Sündenbock kannte. Das Opfertier, das alljährlich in die Wildnis geschickt wurde, um die Sünden der Gemeinschaft davonzutragen … Bothari war sicherlich ihr Lasttier, sie sah klar, was er für sie tat. Sie war sich weniger sicher, was sie für ihn tat, außer daß er es verzweifelt wichtig zu finden schien. »Ich zum Beispiel bin froh, daß Sie betroffen sind. Zwei pathologische Killer in meinem Dienst — das wäre zu viel. Bewahren Sie sich diesen Ekel, Drou.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, daß ich vielleicht den falschen Beruf habe.«

»Vielleicht. Vielleicht nicht. Denken Sie daran, was für eine monströse Sache eine Armee aus lauter Botharis wäre. Jeder gewaltausübende Arm einer Gemeinschaft — Militär, Polizei, Sicherheitsdienst — braucht Leute für sich, die das notwendige Übel ausführen können, aber dadurch nicht übel werden. Nur das Notwendige tun, und nicht mehr. Die Voraussetzungen immer in Frage stellen, das Abrutschen in Grausamkeiten stoppen.«

»Die Art und Weise, wie dieser Oberst vom Sicherheitsdienst den zotigen Korporal zurechtwies.«

»Ja. Oder wie der Leutnant den Oberst zur Rede stellte … Ich wünschte mir, wir hätten ihn gerettet«, seufzte Cordelia.

Drou blickte finster in ihren Schoß.

»Kou dachte, Sie seien böse auf ihn«, sagte Cordelia.

»Kou?« Droushnakovi schaute verwirrt auf. »Ach ja, er war gerade hier. Wollte er etwas?«

Cordelia lächelte. »Das ist typisch Kou, sich vorzustellen, daß all Ihr Unglück ihn zum Mittelpunkt hat.« Ihr Lächeln verschwand. »Ich werde ihn mit Lady Vorpatril wegschicken, er soll versuchen, sie und das Baby hinauszuschmuggeln. Wir werden getrennte Wege gehen, sobald sie laufen kann.«

In Drous Gesicht erschien Sorge. »Er wird in schrecklicher Gefahr sein. Vordarians Leute werden wütend sein, daß sie sie und den jungen Lord heute nacht verloren haben.«

Ja, es gab noch einen Lord Vorpatril, der Vordarians genealogische Berechnungen stören könnte, nicht wahr. Ein verrücktes System, das ein neugeborenes Kind als tödliche Gefahr für einen erwachsenen Mann erscheinen ließ. »Es gibt für niemand Sicherheit, solange dieser üble Krieg nicht beendet ist. Sagen Sie mir: Lieben Sie Kou noch? Ich weiß, Sie sind über Ihre anfängliche romantische Verliebtheit schon hinweg. Sie sehen seine Fehler. Er ist egozentrisch, hat einen Spleen mit seinen Verletzungen und macht sich schreckliche Sorgen über seine Männlichkeit. Aber er ist nicht dumm. Es gibt Hoffnung für ihn. Er hat ein interessantes Leben vor sich im Dienste des Regenten.« Vorausgesetzt, sie alle überlebten die nächsten achtundvierzig Stunden. Es war gut, in ihren Leuten ein leidenschaftliches Verlangen nach Leben zu wecken, dachte Cordelia.

»Wollen Sie ihn?«

»Ich bin … nun an ihn gebunden. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll … ich gab ihm meine Jungfräulichkeit. Wer sonst würde mich wollen? Ich würde mich schämen …«

»Vergessen Sie das! Wenn wir dieses Unternehmen hinter uns bringen, dann werden Sie mit so viel Ruhm überhäuft, daß die Männer Schlange stehen werden, um Sie umwerben zu dürfen. Sie werden die Wahl haben. In Arals Haus werden Sie die Chancen haben, die Besten zu treffen. Was wollen Sie? Einen General? Einen kaiserlichen Minister? Einen jungen Vor-Lord? Einen Botschafter auf einem anderen Planeten? Ihr einziges Problem wird die Wahl sein, da die barrayaranische Sitte knausrigerweise Ihnen nur einen Ehemann auf einmal erlaubt. Ein schwerfälliger junger Leutnant hat nicht die geringste Chance, mit all diesen eleganten reifen Herren zu konkurrieren.«

Droushnakovi lächelte ein bißchen skeptisch über die Vision, die Cordelia da malte. »Wer sagt, daß Kou nicht eines Tages selber ein General sein wird?«, sagte sie sanft. Sie seufzte und zog die Stirn in Falten. »Ja, ich will ihn. Aber … ich nehme an, ich habe Angst, daß er mich wieder verletzen wird.«

Cordelia dachte darüber nach. »Vielleicht. Aral und ich verletzen einander fortwährend.«

»O nein, nicht Sie beide, Mylady! Sie erscheinen so, so vollkommen.«

»Denken Sie mal nach, Drou. Können Sie sich vorstellen, in welcher geistigen Verfassung Aral genau in dieser Minute ist, wegen meiner Taten? Ich kann es. Ich tue es.«

»Oh.«

»Aber Schmerz … erscheint mir ein unzureichender Grund zu sein, das Leben nicht zu umarmen. Totsein ist ganz schmerzlos. Schmerz kommt wie die Zeit einfach so, trotz allem. Die Frage ist, welche glorreichen Augenblicke Sie dem Leben abgewinnen können, zusätzlich zum Schmerz.«

»Ich weiß nicht sicher, ob ich dem folge, Mylady. Aber … ich habe ein Bild, in meinem Kopf. Von mir und Kou, an einem Strand, ganz allein. Es ist so warm. Und wenn er mich anschaut, dann sieht er mich, sieht wirklich mich, und liebt mich …«

Cordelia schürzte ihre Lippen. »Ja … das genügt. Kommen Sie mit mir.«

Das Mädchen stand folgsam auf. Cordelia führte sie zurück in den Korridor, plazierte mit sanfter Gewalt Kou am einen Ende des Sofas, setzte Drou ans andere und ließ sich zwischen beide plumpsen. »Drou, Kou hat Ihnen ein paar Dinge zu sagen. Da Sie beide anscheinend verschiedene Sprachen sprechen, hat er mich gebeten, seine Dolmetscherin zu sein.«

Kou machte eine verlegene, verneinende Geste über Cordelias Kopf hinweg.

»Dieses Handzeichen bedeutet: Ich würde lieber den Rest meines Lebens in die Luft jagen, als fünf Minuten wie ein Narr aussehen. Ignorieren Sie’s«, sagte Cordelia. »Nun, laßt mich mal sehen. Wer beginnt?«

Es herrschte ein kurzes Schweigen. »Habe ich erwähnt, daß ich auch die Rollen euer beider Eltern spiele? Ich denke, ich fange damit an, Kous Mama zu sein. Nun gut, Sohn, hast du schon irgendein nettes Mädchen getroffen? Du bist jetzt schon fast sechsundzwanzig, weißt du. Ich habe jenes Vid gesehen«, fügte sie in ihrer normalen Stimme hinzu, als Kou sich zusammenkrampfte.

»Ich habe ihren Stil, nicht wahr? Und ihr Wesen. Und Kou sagt: ›Ja, Mama, da gibt es dieses großartige Mädchen. Jung, groß, intelligent‹ — und Kous Mama sagt: ›Hihi!‹ Und engagiert mich, eure freundliche Vermittlerin aus der Nachbarschaft. Und ich gehe zu Ihrem Vater, Drou, und sage: ›Da gibt es diesen jungen Mann. Er ist kaiserlicher Leutnant, persönlicher Sekretär des Lordregenten, Kriegsheld, vorgesehen für eine Karriere im Kaiserlichen Hauptquartier‹ — und er sagt: ›Sie brauchen nichts weiter zu erzählen! Wir nehmen ihn. Hihi!‹ Und …«

»Ich denke, er wird mehr zu sagen haben als nur das!«, unterbrach Kou.

Cordelia wendete sich Droushnakovi zu. »Was Kou gerade sagte, heißt, er meint. Ihre Familie wird ihn nicht mögen, weil er ein Krüppel ist.«

»Nein!«, sagte Drou ungehalten. »Das ist nicht so …«

Cordelia hielt ihre Hand Einhalt gebietend hoch. »Als Ihre Vermittlerin, Kou, lassen Sie mich Ihnen sagen: Wenn die liebreizende einzige Tochter eines Mannes auf jemanden zeigt und mit Bestimmtheit sagt: Papa, den möchte ich haben, dann antwortet ein kluger Vater nur: Jawohl, meine Liebe. Ich gebe zu, die drei großen Brüder mögen schwerer zu überzeugen sein. Bringen Sie das Mädchen zum Weinen, dann könnten Sie mal ein ernstes Problem in einem finsteren Seitengäßchen bekommen. Womit ich annehme, daß Sie sich noch nicht bei ihnen beschwert haben, Drou?«

Das Mädchen unterdrückte ein unwillkürliches Kichern. »Nein!«

Kou blickte drein, als sei dies ein neuer und erschreckender Gedanke.

»Sehen Sie«, sagte Cordelia, »Sie können noch der brüderlichen Vergeltung entkommen, Kou, wenn Sie sich beeilen.« Sie wandte sich zu Drou: »Ich weiß, er war ein Flegel, aber ich verspreche Ihnen, er ist ein erziehbarer Flegel.«

»Ich habe gesagt, daß es mir leid tut«, sagte Kou, es klang pikiert.

Drou wurde starr, »Ja. Mehrfach«, sagte sie kühl.

»Und hier kommen wir zum Kern der Geschichte«, sagte Cordelia langsam und ernst. »Was Kou wirklich meint, Drou, ist, daß es ihm nicht im geringsten leid tut. Der Augenblick war wundervoll, Sie waren wundervoll, und er möchte es wieder tun. Und wieder und immer wieder, mit niemandem anderen als Ihnen, für immer, von der Gesellschaft gebilligt und ohne Unterlaß. Ist das richtig so, Kou?«

Kou schaut ganz verblüfft drein. »Nun gut — ja!«

Drou blinzelte. »Aber … das ist es doch! Ich hatte immer gehofft, daß du das irgendwann mal sagst!«

»Das war es?« Er lugte über Cordelias Kopf.

Dieses System der Vermittler hat vielleicht echte Vorteile.

Aber auch seine Grenzen. Cordelia stand zwischen ihnen beiden auf und blickte auf ihr Chrono. Ihr Humor verflüchtigte sich. »Sie haben noch ein bißchen Zeit. Sie können in dem bißchen Zeit viel sagen, wenn Sie sich an Wörter mit wenigen Silben halten.«

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