POKERRUNDEN

KAPITEL 1

Die Bastarde arbeiteten mal wieder schlampig, und Azzie hatte es sich doch gerade bequem gemacht. Er hatte eine Position genau in der richtigen Entfernung zu dem feurigen Loch in der Mitte der Grube und den mit Rauhreif überzogenen Eisenwänden gefunden, die sie ringförmig umschlossen.

Die Wände wurden von der teufelseigenen Klimaanlage nahe dem absoluten Nullpunkt gehalten, während es in der Mitte der Grube heiß genug war, um Atome ihrer Elektronen zu berauben, und ab und zu kam es zu einem Hitzeschwall, der Protonen hätte schmelzen können.

Nicht, daß eine derartige Hitze oder Kälte überhaupt erforderlich gewesen wäre. Es war Overkill oder – zutreffender ausgedrückt – Überfolter. Nach kosmischen Maßstäben besitzen Menschen – selbst wenn sie tot sind und in die Grube geworfen werden – nur eine äußerst geringe Toleranzbreite, was Temperaturen betrifft. Sobald sie die Erträglichkeitszone in der einen oder anderen Richtung überschreiten, sind sie nicht mehr in der Lage, zwischen schrecklich und grauenhaft zu unterscheiden. Welchen Sinn macht es schon, so einen jämmerlichen Wurm einer Million Grad Celsius auszusetzen, wenn ihm lächerliche fünfhundert Grad die gleichen Schmerzen verursachen? Unter diesen Extremtemperaturen hatten nur die Dämonen und die anderen übernatürlichen Kreaturen zu leiden, die sich um die Verdammten kümmerten. Übernatürliche Wesen besitzen eine weitaus umfangreichere Gefühlsskala als Menschen, was für sie meistens zu großem Unbehagen führt. Manchmal auch zu exquisiter Lust, aber es ist unziemlich, in der Grube von Lust zu sprechen.

Natürlich gibt es in der Hölle mehr als nur eine Grube. Millionen und Abermillionen Menschen sind tot, und täglich kommen mehr dazu. Die meisten von ihnen müssen zumindest eine Weile in den Gruben verbringen. Es liegt auf der Hand, daß gewisse organisatorische Maßnahmen erforderlich sind, um sie alle unterbringen zu können.

Die Grube, in der Azzie Dienst tat, trug den Namen Nordpein 405. Sie gehörte zu den ältesten ihrer Art und war schon in babylonischen Zeiten in Dienst gestellt worden, als die Menschen noch gewußt hatten, wie man so richtig sündigt. Auf ihren Wänden waren noch immer die angerosteten Basreliefe geflügelter Löwen zu erkennen, und sie war im Höllenregister für Historisch Wertvolle Bauwerke verzeichnet. Aber es erfüllte Azzie nicht mit Stolz, in einer berühmten Grube Dienst zu tun. Er wollte nur herauskommen.

Wie alle Gruben bestand auch Nordpein 405 aus ringförmigen Eisenmauern, die eine gewaltige Müllkippe umschlossen. Ihr Zentrum bildete ein Loch, in dem ein außerordentlich heißes Feuer loderte, das glühende Schlacke und brennende Lava ausspie. Das Gleißen war erbarmungslos grell. Nur Volldämonen wie Azzie war es gestattet, eine Sonnenbrille zu tragen.

Die Qualen der Verdammten wurden von einer Geräuschkulisse begleitet und verstärkt, die man mit etwas Wohlwollen als Musik bezeichnen konnte. Hilfsteufel hatten inmitten eines verfilzten Gewirrs aus verfaulendem und verrottendem Unrat einen Halbkreis freigeräumt. Auf dieser freien Fläche saß auf Apfelsinenkisten ein Orchester, das aus völlig untalentierten Musikern bestand, die während des Musizierens ums Leben gekommen waren. Hier in der Hölle wurden sie gezwungen, die Werke der schlechtesten Komponisten zu spielen, die die Welt jemals gekannt hat. Auf der Erde sind ihre Namen längst in Vergessenheit geraten, in der Hölle jedoch, wo ihre Kompositionen ohne Unterbrechung gespielt und sogar auf Radio Kazum übertragen werden, sind sie berühmt.

Nicht weit davon waren die Hilfsteufel damit beschäftigt, die Verdammten auf ihren Grillrosten zu wenden und zurechtzulegen. Wie die Guhls mochten sie ihre Menschen am liebsten gut verwest und in einer Marinade angerichtet, deren Zutaten aus Essig, Knoblauch, Anchovis und Madensoße bestand.

Was Azzie aus seiner verdienten Ruhepause gerissen hatte, war die Tatsache, daß die Toten im Sektor direkt ihm gegenüber nur in Achter- oder Zehnerreihen aufgeschichtet worden waren. Er verließ seine (relativ) gemütliche Ruhestätte und kraxelte einen Berg aus verrottenden Eierschalen, matschigen Eingeweiden und Hühnerköpfen hinab zum ebenen Boden, wo er bequem über die Leichen hinwegtrampeln konnte.

»Als ich euch gesagt habe, ›stapelt sie hoch auf‹«, wandte er sich an die Hilfsteufel, »habe ich wirklich hoch gemeint.«

»Aber jedes Mal, wenn wir versuchen, sie noch höher zu stapeln, kippen sie um!« protestierte der Vorarbeiter der Hilfsteufel.

»Dann besorgt irgend etwas, um sie abzustützen! Ich möchte, daß diese Stapel mindestens zwanzig Reihen hoch sind!«

»Das dürfte schwer werden, Herr.«

Azzie starrte ihn an. Ein Hilfsteufel wagte es, ihm zu widersprechen? »Tu es, oder du kannst ihnen Gesellschaft leisten«, knurrte er.

»Jawohl, Herr! Stützmaterial kommt sofort, Herr!« Der Hilfsteufel rannte davon und rief seiner Arbeitsgruppe entsprechende Anweisungen zu.

Azzies Schicht hatte wie ein weiterer ganz normaler Tag in den Höllengruben begonnen. Aber das sollte sich schon kurz darauf radikal und unerwartet ändern. So ist das nun mal mit Veränderungen. Wir gehen gebeugten Hauptes und trübsinnigen Blickes unserer gewohnten Wege, des bekannten Trottes überdrüssig und überzeugt, daß es ewig so weitergehen wird. Warum sollte sich etwas ändern, wenn keine Veränderung in Sicht ist, wenn uns kein Brief erreicht, keine Eilzustellung, nicht einmal ein Telefonanruf, der ein bedeutendes Ereignis ankündigt? Also resignieren wir, ohne auch nur zu ahnen, daß der Bote bereits unterwegs ist und sich Hoffnungen manchmal erfüllen, selbst in der Hölle. Man könnte sogar behaupten, daß sich Hoffnungen besonders in der Hölle erfüllen, da die Hoffnung an sich von einigen Theoretikern zu den grundlegenden diabolischen Qualen gerechnet wird. Dabei könnte es sich allerdings auch um eine Übertreibung der Geistlichen handeln, die sich über solche Dinge auslassen.

Azzie sah, daß die Hilfsteufel begannen, eine zufriedenstellende Arbeit zu leisten. Seine Tagesschicht würde nur noch zweihundert Stunden dauern (die Tage in den Gruben sind lang). Dann würde er seine drei Stunden Schlaf bekommen, bevor er zur nächsten Schicht antreten mußte. Er wollte gerade zu seinem (relativ) gemütlichen Platz zurückkehren, als sich ihm ein Bote im Laufschritt näherte.

»Sind Sie der für diese Grube zuständige Dämon?«

Bei dem Neuankömmling handelte es sich um einen violettflügligen Efreet, einen aus der alten Bagdadclique, die jetzt hauptsächlich im Kurierdienst arbeiteten, da ihre lebhaften bunten Turbane es den Bösen Mächten des Gehobenen Rates angetan hatten.

»Ich bin Azzie Elbub«, erwiderte der Dämon. »Ja, ich leite diese spezielle Untergrube.«

»Dann sind Sie derjenige, den ich gesucht habe.« Der Efreet überreichte Azzie ein in Feuerschrift verfaßtes Asbestdokument. Azzie streifte seine Handschuhe über, bevor er es entgegennahm. Derartige Dokumente wurden nur vom Hohen Rat der Infernalischen Justiz benutzt.

Er las:

Hiermit sei allen Dämonen kundgetan, daß ein Unrecht begangen wurde, dergestalt, daß ein Mensch vor seiner Zeit in die Grube gebracht wurde. Die Kräfte des Lichtes haben bereits zu seinen Gunsten interveniert und daraufhingewiesen, daß ihm noch immer genug Zeit zum Bereuen bleiben wird, auch wenn er die ihm zustehende Zeit auf Erden durchlebt. Die Wettquoten, daß es dazu kommt, stehen zwar zweitausend zu eins, aber die Möglichkeit besteht, wenn auch nur mathematisch. Sie erhalten deshalb den Auftrag und den Befehl, diesen Mann aus der Grube zu holen, ihn zu säubern und zu seiner Frau und Familie zurückzubringen, wo Sie bei ihm bleiben sollen, bis er sich ausreichend erholt hat, um seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, da sonst wir für die anfallenden Kosten aufkommen müßten. Danach werden Sie von dieser Aufgabe entbunden und wieder normale dämonische Pflichten auf der Erde übernehmen.

Hochachtungsvoll, Asmodeus, Leiter der Nordgrubensektion der Hölle.

P.S. Der Name des Mannes lautet Thomas Scrivener.

Azzie war so begeistert, daß er den Efreet spontan umarmte. Der Bote wich hastig zurück, rückte seinen Turban zurecht und sagte: »Ganz ruhig, Kumpel.«

»Das war nur die Aufregung«, entschuldigte sich Azzie. »Endlich komme ich hier raus! Ich kehre auf die Erde zurück!«

»Ein enttäuschender Ort«, sagte der Efreet, »aber jedem das seine.«

Azzie eilte davon, um Thomas Scrivener zu suchen.

Schließlich machte er den Mann in Reihe 1002WW ausfindig. Die Höllengruben sind in Form eines Amphitheaters konstruiert. Theoretisch kann der Aufenthaltsort eines jeden Büßers anhand eines Generalstabsplanes zurückverfolgt werden. In der Praxis jedoch sieht es etwas anders aus. Da die Hilfsteufel die Leute achtlos auf Stapel werfen, die dann umkippen und dabei wiederum andere Stapel umreißen, kann die Stelle, an der sich ein bestimmter Mensch in der jeweiligen Grube befindet, oft nur grob eingekreist werden.

»Ist hier ein Thomas Scrivener?« erkundigte sich Azzie.

Die Sünder im Stapel von Abschnitt 1002WW unterbrachen ihre Gespräche und sahen zu ihm hinüber, zumindest diejenigen, die so gestapelt lagen, daß ihre Köpfe in die richtige Richtung zeigten. Anstatt ihre Sünden zu bereuen, betrachteten sie ihre Zeit in der Grube als ein gesellschaftliches Ereignis, eine Gelegenheit, ihre Nachbarn kennenzulernen, Ansichten zu bestimmten Problemen auszutauschen und sich ein wenig zu amüsieren. So fahren die Toten wie im Leben damit fort, sich selbst zu täuschen.

»Scrivener, Scrivener«, sagte ein Mann in der Mitte des Haufens. Unter Schwierigkeiten drehte er das Gesicht in Richtung seiner Achselhöhle. »Richtig, er ist hier. Weiß irgend jemand, wo Scrivener steckt?«

Die Frage wurde durch den Haufen aufwärts und abwärts weitergeleitet. Die Männer vergaßen vorübergehend ihre Fachsimpeleien über Sport (es finden eine Menge Sportveranstaltungen in der Hölle statt, aber die Heimmannschaft verliert immer – es sei denn, man wettet gegen sie). »Scrivener, Scrivener, so ein verrückter Bursche, groß und mager, mit einer Narbe an einem Auge?« fragte einer.

»Ich weiß nicht, wie er aussieht«, gestand Azzie. »Ich hatte angenommen, er würde sich melden, wenn er seinen Namen hört.«

Der Menschenhaufen murmelte, hüstelte und tuschelte miteinander, so wie es für Menschen, ob tot oder lebendig, typisch ist. Und hätte Azzie nicht das übernatürlich gute Gehör eines Dämons besessen, wäre ihm das leise Piepsen irgendwo aus den Tiefen des Stapels entgangen.

»Hallo, da draußen! Hier ist Scrivener! Hat sich da irgend jemand nach mir erkundigt?«

Azzie wies seine Hilfsteufel an, Scrivener aus dem Stapel herauszuziehen, aber vorsichtig, ohne ihm irgendwelche Gliedmaßen abzureißen. Man hätte sie natürlich wieder ersetzen können, aber das war eine schmerzhafte Prozedur, bei der psychische Narben zurückbleiben konnten, und Azzie wußte, daß er den Mann unversehrt auf die Erde zurückbringen mußte, damit Scrivener den Dunklen Mächten keine Scherereien dafür machen konnte, ihn vorzeitig geerntet zu haben.

Kurz darauf krabbelte Scrivener auch schon unter dem Stapel hervor und wischte sich den Schmutz ab. Er war ein agiler kleiner Mann mit einer beginnenden Glatze.

»Ich bin Scrivener!« rief er. »Ihr habt festgestellt, daß das Ganze nur ein Irrtum war, was? Ich habe den anderen ja gleich gesagt, daß ich nicht tot bin, als sie mich hierher gebracht haben. Euer Sensenmann hört nicht richtig zu, wenn man mit ihm spricht, nicht wahr? Zeigt immer nur dieses breite idiotische Grinsen. Hat mich einfach so aus dem Leben gerissen. Ich hätte nicht übel Lust, mich bei den Verantwortlichen zu beschweren.«

»Hören Sie mir zu«, sagte Azzie. »Sie hatten Glück, daß der Fehler überhaupt entdeckt worden ist. Wenn Sie einen Rechtsstreit anstrengen, wird man Sie in Sicherheitsverwahrung nehmen, bis Ihr Fall angehört werden kann. Das könnte ein oder zwei Jahrhunderte dauern. Kennen Sie unsere Verwahrungsmethoden?«

Scriveners Augen wurden groß. Er schüttelte den Kopf.

»Sie sind so schlimm«, sagte Azzie, »daß sie sogar gegen infernalisches Recht verstoßen.«

Das schien Scrivener zu beeindrucken. »Ich schätze, ich habe Glück, überhaupt hier herauszukommen«, meinte er. »Danke für den Tip. Sind Sie Rechtsanwalt?«

»Kein gelernter«, erwiderte Azzie. »Aber hier unten haben wir alle ein bißchen von einem Anwalt in uns. Kommen Sie, bringen wir Sie zurück nach Hause.«

»Ich fürchte, ich werde zu Hause ein paar Probleme bekommen«, warf Scrivener zögernd ein.

»So ist das Leben nun einmal«, sagte Azzie. »Ein einziges Problem. Seien Sie froh, daß Sie Probleme haben, über die Sie sich Gedanken machen können. Wenn Sie für immer hier herunterkommen, gibt es nichts mehr, worüber Sie sich Gedanken machen könnten. Was auch immer dann mit Ihnen geschieht, wird niemals aufhören.«

»Ich werde nicht wiederkommen«, versicherte Scrivener.

Azzie erwog kurz, ihn zu fragen, ob er darauf wetten wollte, entschied aber, daß das unter den gegebenen Umständen unangemessen gewesen wäre.

»Wir werden diese Erinnerungen aus Ihrem Gedächtnis löschen müssen«, erklärte er Scrivener. »Sie verstehen schon, wir können nicht zulassen, daß Leute wie Sie auf die Erde zurückkehren und jede Menge Geschichten erzählen.«

»Ist mir recht«, entgegnete Scrivener. »Es gibt hier sowieso nichts, woran ich mich gerne erinnern würde. Obwohl davor, im Fegefeuer, da habe ich so einen blonden Sukkubus kennengelernt…«

»Behalten Sie’s für sich«, knurrte Azzie, ergriff Scrivener am Arm und schob ihn zum Tor in der Wand, das in die anderen Bereiche der Hölle und letztendlich zu jedem anderen Ort und umgekehrt führt.

KAPITEL 2

Azzie und Scrivener durchschritten das Eisentor in den Eisenwänden und folgten der sich in Spiralen emporwindenden Straße, die durch die äußeren Vororte des Fegefeuers führt, eine aus bodenlosen kreuzförmigen Abgründen und verblüffend hohen Gipfeln bestehende Landschaft, genau wie Fuseli sie gemalt hat. Dämon und Mensch wanderten endlos dahin. Der Weg war einfach zu begehen, so wie es für die Straßen in der Hölle typisch ist, aber der Marsch war auch langweilig, denn die Hölle ist das Reich der Freudlosigkeit.

»Ist es noch sehr weit?« fragte Scrivener nach einer Weile.

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Azzie. »Diese Gegend hier ist neu für mich. Eigentlich sollte ich überhaupt nicht hier sein.«

»Genau wie ich«, erwiderte Scrivener. »Daß ich ab und zu in ein todesähnliches Koma falle, ist noch lange kein Grund für Ihren Sensenmann, mich wegzuschleppen, ohne vorher die entsprechenden Untersuchungen durchzuführen. Ich sage Ihnen, das war Schlamperei. Und warum sollten Sie nicht hier sein?«

»Ich war für bessere Aufgaben vorgesehen«, sagte Azzie. »Ich hatte gute Noten im Thaumaturgie-College. War beim Abschluß unter den drei Besten in meiner Klasse.«

Er verzichtete darauf, Scrivener zu erzählen, daß seine gesamte Klasse bis auf drei Schüler von einem plötzlichen Einbruch des Guten aus südlicher Richtung ausgelöscht worden war. Ein verrücktes metaphysisches Unwetter, das bis auf Azzie und zwei weitere Kommilitonen, die offensichtlich eine natürliche Immunität gegen gute Ausstrahlungen besaßen, alle anderen getötet hatte. Und dann war da diese Pokerrunde gewesen…

»Also, warum sind Sie hier?« hakte Scrivener nach.

»Ich arbeite meine Spielschulden ab«, erklärte Azzie. »Ich konnte nicht zahlen, also mußte ich meine Zeit ableisten.« Er zögerte einen Moment lang und fügte dann hinzu: »Ich spiele nun mal für mein Leben gern.«

»Ich auch«, sagte Scrivener in einem Tonfall, in dem ein Anflug von Bedauern mitklang.

Eine Weile wanderten sie schweigend dahin. Irgendwann fragte Scrivener: »Was wird jetzt mit mir geschehen?«

»Wir werden Sie in Ihren Körper zurückversetzen.«

»Wird mit mir danach auch alles in Ordnung sein? Einige Leute, die von den Toten wiederauferstehen, sind hinterher ganz komisch. Zumindest habe ich das gehört.«

»Ich werde da sein und auf Sie aufpassen. Ich werde solange bei Ihnen bleiben, bis ich sicher bin, daß Sie in Ordnung sind.«

»Gut zu hören«, erwiderte Scrivener. Er schwieg erneut, bevor er sich wieder zu Wort meldete. »Aber wenn ich aufwache, werde ich natürlich nicht wissen, daß Sie da sind, nicht wahr?«

»Natürlich nicht.«

»Dann kann mich das auch nicht beruhigen.«

»Wenn Sie leben, kann Sie überhaupt nichts beruhigen«, sagte Azzie gereizt. »Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen. Nur wenn Sie tot sind, können Sie das würdigen.«

Sie gingen weiter. Wieder verging längere Zeit. »Wissen Sie, ich kann mich überhaupt nicht an mein Leben auf der Erde erinnern«, klagte Scrivener schließlich.

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Es wird Ihnen alles wieder einfallen.«

»Ich glaube allerdings, daß ich verheiratet war.«

»Schön.«

»Aber ich bin mir nicht sicher.«

»Sie werden sich an alles erinnern, sobald Sie wieder in Ihrem Körper sind.«

»Und wenn nicht, was dann? Was, wenn ich unter Gedächtnisverlust leide?«

»Sie werden in Ordnung sein«, versicherte Azzie.

»Schwören Sie das bei Ihrer Dämonenehre?«

»Aber sicher«, log Azzie mit Leichtigkeit. Er hatte einen Sonderkurs im Ablegen von Meineiden absolviert und sich als äußerst begabt erwiesen.

»Sie würden mich doch nicht belügen, oder?«

»Hey, vertrauen Sie mir«, gab Azzie zurück und benutzte damit das Hauptmantra, mit dem man selbst die mißtrauischsten und störrischsten Zeitgenossen besänftigen kann.

»Sie verstehen bestimmt, warum ich ein bißchen nervös bin«, sagte Scrivener. »Ich meine, wiedergeboren zu werden.«

»Nichts, weswegen Sie sich schämen müßten«, beruhigte ihn Azzie. »So, da sind wir.«

Satan sei Dank, fügte er unhörbar hinzu. Es machte ihn nervös, sich über einen längeren Zeitraum mit Menschen zu unterhalten. Sie konnten endlos um die Dinge herumreden! Die Dämonenoberen hatten einen Orientierungskurs in Menschlicher Wankelmütigkeit an der Dämonenuni angeboten, aber es war ein Wahlfach gewesen, und Azzie hatte sich nicht die Mühe gemacht, es zu belegen. Damals war ihm Betrügerische Dialektik sehr viel interessanter erschienen.

Nicht weit entfernt erblickte er die vertrauten scharlachroten und hellgrünen Streifen der Nordgrubenambulanz. Der Wagen hielt ein paar Meter vor ihnen an, und ein Sanitätsdämon stieg aus, ein Bursche mit obeliskförmigen Augen und einer Schweineschnauze. Er unterschied sich grundlegend von Azzie, der ein Fuchsgesicht hatte, rotes Haar, spitze Ohren und bemerkenswert blaue Augen. Leute mit einem Faible für Dämonen hätten ihn als recht attraktiv bezeichnet.

»Ist das der Kerl?«

»Das ist er«, bestätigte Azzie.

»Bevor Sie irgend etwas tun«, sagte Scrivener, »würde ich gerne wissen…«

Der Sanitätsdämon mit der Schweineschnauze streckte einen Arm aus und berührte eine Stelle an Scriveners Stirn. Scrivener verstummte mitten im Satz. Seine Augen wurden glasig.

»Was haben Sie mit ihm gemacht?« fragte Azzie.

»Ihn in den Ruhemodus versetzt«, sagte der Sanitätsdämon. »Jetzt wird es Zeit, ihn loszuschicken.«

Azzie hoffte, daß mit Scrivener alles in Ordnung sein würde. Es ist immer beunruhigend, wenn ein Dämon einem im Kopf herumpfuscht.

»Woher wissen Sie, wohin Sie ihn schicken müssen?« erkundigte er sich.

Der Sanitätsdämon öffnete Scriveners Hemd und zeigte Azzie den Namen und die Adresse, die purpurrot in die Haut eintätowiert waren. »Es ist die Kennmarke des Teufels«, erklärte er.

»Entfernen Sie die Tätowierung, bevor Sie ihn zurückschicken?«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Er kann sie nicht sehen. Sie ist nur für uns gedacht. Begleiten Sie ihn?«

»Ich werde allein reisen«, erwiderte Azzie. »Lassen Sie mich nur noch einmal einen Blick auf die Adresse werfen. Gut, ich habe sie mir gemerkt.«

Und an den Mann mit dem leeren Augen gewandt, fügte er hinzu: »Dann bis später, Tom.«

KAPITEL 3

So wurde Thomas Scrivener nach Hause zurückgebracht. Zum Glück war es dem Sanitätsdämon gelungen, den Transfer zu erledigen, bevor sein Körper irreparable Schäden erleiden konnte. Der Arzt, der die Leiche erworben hatte, schickte sich gerade an, ihr den Hals aufzuschneiden, um die Arterien für seine Studenten zu entnehmen. Doch bevor er damit beginnen konnte, öffnete Scrivener die Augen und sagte: »Guten Morgen, Doktor Moreau.« Dann verlor er das Bewußtsein.

Moreau erklärte ihn für lebendig und verlangte eine Rückzahlung von Scriveners Witwe.

Die Frau zahlte zähneknirschend. Ihre Ehe mit Scrivener war nicht sonderlich erfreulich gewesen.

Azzie war auf anderem Weg zur Erde gereist, um nicht im Untotenwagen mitfahren zu müssen, in dem der Verwesungsgestank selbst für ein übernatürliches Wesen eine Tortur darstellt. Er traf unmittelbar nach Scriveners Wiedererweckung ein. Niemand konnte ihn sehen, da er das Unsichtbarkeitsamulett trug.

Unsichtbar für alle Menschen, die nicht das Zweite Gesicht besaßen, folgte er der Prozession, die Scrivener nach Hause zurückbrachte. Die Dorfbewohner, ohne Ausnahme Bauern, sprachen von einem Wunder. Nur Scriveners Frau Mildau murrte ständig vor sich hin: »Ich habe doch gleich gewußt, daß er alles nur vorgetäuscht hat, der gemeine Hund!«

Durch seine Unsichtbarkeit geschützt, durchstöberte Azzie das Haus, in dem er bis zum Ablauf von Scriveners Reklamationsfrist wohnen würde. Wahrscheinlich nur eine Sache von ein paar Tagen. Es war ein ziemlich großes Haus mit mehreren Zimmern auf jeder Etage und einem schönen feuchten Keller.

Azzie richtete sich im Keller ein. Es war genau der richtige Ort für einen Dämon. Er hatte sich ein paar Schriftrollen als Lektüre und einen Sack voller verfaulter Katzenköpfe als Proviant mitgebracht und stellte sich auf eine geruhsame Zeit ein. Aber er hatte es sich kaum bequem gemacht, als auch schon die Störungen begannen.

Zuerst kam Scriveners Frau in den Keller, um Lebensmittel zu holen. Sie war eine große Matrone mit struppigem Haar, breiten Schultern und einem gewaltigen Busen. Der nächste Störenfried war Hans, der älteste Sohn der Familie, ein lang aufgeschossener Lümmel, der seinem Vater sehr ähnlich sah und sich am Honigtopf zu schaffen machte. Dann folgte Lotte, das Dienstmädchen. Sie sammelte ein paar Kartoffeln von der Vorjahresernte ein.

Diese Störungen beeinträchtigten Azzies Ruhe erheblich. Am Morgen des nächsten Tages sah er nach Scrivener. Der wiedererweckte Mann schien sich auf dem Weg der Genesung zu befinden. Er hatte sich im Bett aufgesetzt, trank Kräutertee, zankte sich mit seiner Frau und schimpfte mit den Kindern. Noch ein Tag, und er würde sich vollständig erholt haben, entschied Azzie. Dann würde es Zeit werden, weiterzuziehen und sich interessanteren Dingen zuzuwenden.

Die beiden Hunde der Familie wußten, daß ein Dämon im Haus war, und stahlen sich jedes Mal davon, wenn Azzie auftauchte. Das war zu erwarten gewesen. Doch was als nächstes geschehen sollte, hatte er nicht eingeplant.

An diesem Abend bereitete er sich in einer schimmligen Ecke des Kellers, wo ein paar Rüben vergammelt waren, ein muffiges Nachtlager und erwachte abrupt, als er spürte, daß Licht auf ihn fiel. Es war der Schein einer Kerzenflamme. Irgend jemand stand im Keller und beobachtete ihn. Ein Kind. Wie unerträglich! Azzie versuchte aufzustehen und kippte gleich wieder um. Irgend jemand hatte einen Strick um eins seiner Fußgelenke geschlungen!

Er wich instinktiv zurück. Ein Kind. Ein kleines pausbäckiges, flachsblondes Mädchen von vielleicht sechs Jahren. Aus irgendeinem Grund mußte sie ihn sehen können. Und nicht nur das: Sie hatte ihn gefangen.

Azzie sagte sich, daß es das beste war, das Kind von Anfang an einzuschüchtern, und blähte sich zu seiner vollen Größe auf. Er versuchte, sich drohend vor ihm aufzubauen, aber der merkwürdig leuchtende Strick, dessen anderes Ende das Mädchen an einem Balken festgebunden hatte, straffte sich und ließ ihn erneut umkippen. Das kleine Mädchen lachte, und Azzie erschauderte. Nichts kann einen Dämon wütender machen, als junges unschuldiges Gelächter.

»Hallo, kleines Mädchen«, sagte er. »Kannst du mich sehen?«

»Ja«, erwiderte sie. »Du siehst wie ein garstiger alter Fuchs aus!«

Azzie warf einen Blick auf die winzige Anzeige in seinem Unsichtbarkeitsamulett. Wie er befürchtet hatte, war die Energie fast erschöpft. Diese Idioten in der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör! Aber natürlich hätte er das Amulett gleich nach Erhalt selbst überprüfen sollen.

Wie es schien, steckte er in der Klemme. Aber nicht so tief, daß er sich nicht würde herausreden können.

»Aber wie ein netter Fuchs, nicht wahr, Schnäuzelchen?« gab er zurück und benutzte dabei ein unter Dämoneneltern geläufiges Kosewort. »Wie schön, dich zu sehen! Mach doch bitte diesen Strick los, und ich gebe dir einen ganzen Sack voller Süßigkeiten.«

»Ich mag dich nicht«, sagte das Kind. »Du bist böse. Ich werde dich gefesselt lassen und den Priester holen.«

Sie starrte ihn anklagend an. Azzie begriff, daß es einiges an List und Klugheit erfordern würde, um sich aus dieser Lage herauszuwinden.

»Sag mir, kleines Mädchen, woher hast du diesen Strick?« fragte er.

»Den hab’ ich in den Lagerräumen der Kirche gefunden«, erwiderte sie. »Er hat zwischen ein paar Knochen auf einem Tisch gelegen.«

Die Relikte von Heiligen! Das bedeutete, daß dieser Strick ein Geistfänger war! Die besten Geistfänger wurden aus den Stricken gemacht, mit denen die Heiligen ihre Gewänder gürteten. Es würde nicht leicht sein, diesen Strick wieder loszuwerden.

»Kleines Mädchen, ich bin hier, um auf deinen Vater aufzupassen. Es geht ihm nicht so gut, wegen dem Sterben und Wiederauferstehen und all diesen Dingen. Und jetzt sei lieb und nimm den Strick weg, wie es sich für ein nettes braves Mädchen gehört.«

»Nein«, sagte das kleine Mädchen auf jene unerbittliche Art, die kleinen – und einigen großen – Mädchen zu eigen ist.

»Also, bei der ewigen Verdammnis!« stieß Azzie hervor. Er mühte sich nach Kräften, konnte seinen Fuß aber nicht aus dem Geistfänger befreien, der sich zu seinem Ärger jedes Mal noch fester zuzog, wenn er versuchte, ihn abzustreifen. »Komm schon, kleines Mädchen, Spaß ist Spaß, aber jetzt solltest du mich gehen lassen.«

»Nenn mich nicht kleines Mädchen«, sagte das kleine Mädchen. »Ich heiße Brigitte, und ich weiß alles über dich und deinesgleichen. Der Priester hat uns alles erzählt. Du bist ein böser Geist, stimmt’s?«

»Aber ganz und gar nicht«, widersprach Azzie. »Ich bin sogar ein guter Geist. Oder zumindest ein neutraler Geist. Ich bin geschickt worden, um aufzupassen, daß es deinem Vater gutgeht. Ich muß mich jetzt um ihn kümmern und dann weiterziehen, um anderen Menschen zu helfen.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Brigitte. Sie dachte eine Weile nach. »Du siehst aber ganz furchtbar wie ein Dämon aus.«

»Das Aussehen kann täuschen«, erklärte Azzie. »Laß mich gehen! Ich muß nach deinem Vater sehen.«

»Was gibst du mir dafür?« fragte Brigitte.

»Spielzeug«, sagte Azzie. »Mehr Spielzeug, als du jemals gesehen hast.«

»Gut«, erwiderte das kleine Mädchen. »Ich brauche aber auch noch neue Kleider.«

»Du bekommst eine völlig neue Garderobe. Aber laß mich jetzt frei!«

Brigitte kam näher und berührte den Knoten mit einem schmutzigen Zeigefinger. Dann hielt sie plötzlich inne. »Wenn ich dich freilasse, kommst du dann zu mir zurück, wenn ich dich rufe, und spielst mit mir?«

»Nein, das geht zu weit. Ich habe besseres zu tun. Ich kann nicht ständig für ein kleines rotznäsiges Dorfmädchen auf Abruf bereitstehen.«

»Na schön. Dann versprich mir, daß du mir drei Wünsche erfüllst, wann immer ich darum bitte.«

Azzie zögerte. Wünsche zu gewähren, kann einen in arge Schwierigkeiten bringen. Ein Dämon muß ein solches Versprechen einhalten. Und die Menschen und ihre Wünsche waren oft so extravagant!

»Ich gewähre dir einen Wunsch«, sagte er. »Solange er vernünftig ist.«

»Gut, einverstanden«, gab Brigitte nach. »Aber nicht zu vernünftig, ja?«

»Einverstanden! Und jetzt binde mich los!«

Brigitte löste den Knoten. Azzie rieb sich das Fußgelenk und kramte in seiner Tasche herum. Er fand eine Ersatzbatterie für sein Unsichtbarkeitsamulett, wechselte sie gegen die leere aus und verschwand.

»Und nicht vergessen, du hast es versprochen!« rief das kleine Mädchen.

Azzie wußte, daß er sein Versprechen nicht vergessen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Versprechen, die übernatürliche Wesen gegenüber einem Menschen machen, werden im Amt für Ausgleichende Gerechtigkeit, das von Ananke geleitet wird, genau registriert. Vergißt ein Dämon ein gegebenes Versprechen, wird er von den Kräften der Notwendigkeit sehr schnell und schmerzhaft wieder daran erinnert.

Scrivener war in guter Verfassung. Er aß eine Schüssel Haferbrei und erteilte seinen Gehilfen und seiner Frau Anweisungen. Azzie verzog sich. Es wurde Zeit, daß er wieder sein gewohntes Leben aufnahm.

KAPITEL 4

Azzie genoß es, frei zu sein und wieder die grüne Erde durchstreifen zu können. Er hatte seine Zeit in der Grube wahrhaftig gehaßt, und das nicht nur wegen der geistlosen Eintönigkeit – die trostlosen täglichen Runden durch schmorende Sünder können sehr ermüdend sein. Azzie war ein energiegeladener Dämon, ehrgeizig und unternehmungslustig. Er war ein Agent des Bösen, und trotz einer gewissen Frivolität nahm er seine höllischen Pflichten sehr ernst.

Nachdem er Scriveners Dorf verlassen hatte, wollte er sich erst einmal orientieren. Diese Gegend war ihm unbekannt. Er hatte die Erde zum letzten Mal zur Zeit des Römischen Imperiums besucht und sogar an einer von Caligulas denkwürdigen Orgien teilgenommen. Während er jetzt im Tiefflug über das Land dahinsauste, das einst Gallien genannt worden war, schützte ihn sein Unsichtbarkeitsamulett vor unangenehmen Zwischenfällen. Darüber hinaus verlieh es seinem Träger eine gewisse zusätzliche Abschirmung, die sich wieder einmal auszahlte, als er die Flugbahn eines großen Schwarms Trompeterschwäne kreuzte. Wie er feststellte, erstreckte sich der Wald in alle Himmelsrichtungen, so weit sein Auge reichte. Scriveners Dorf war nicht mehr als ein kleiner gerodeter Fleck inmitten des Urwalds gewesen, der fast ganz Europa bedeckte und von Skythien im Osten bis nach Spanien im Westen reichte. Azzie entdeckte einen schlammigen Weg und folgte ihm in einer Höhe von knapp zweihundert Metern. Der Weg zog sich endlos dahin und mündete irgendwann auf eine ordentlich gepflasterte römische Straße. Dort stieß Azzie auf einen Reitertrupp, den er bis in eine größere Stadt begleitete. Später erfuhr er, daß es sich um Troyes handelte, das zum Königreich der Franken gehörte, großen Barbaren mit eisernen Schwertern, die nach dem Niedergang Roms ganz Gallien und etliche Länder mehr erobert hatten.

Azzie flog tief und langsam über die Stadt. Außer den vielen kleinen Häusern der einfachen Bürger entdeckte er auch die Paläste der Adligen und geistlichen Würdenträger. Am Rande der Stadt fand ein Jahrmarkt statt. Von dem fröhlichen Trubel angezogen, schwebte Azzie über die Zelte mit ihren Fahnen und Wimpeln und beschloß, dem Jahrmarkt einen Besuch abzustatten.

Er landete und nahm eine seiner Standarderscheinungen an: Die eines freundlich aussehenden stattlichen Mannes mit beginnender Glatze und einem zuckenden Auge. Seine Toga, die zu dieser Erscheinung gehörte, wirkte unpassend für die Umgebung, weshalb er in einer Bude einen grob gewobenen Mantel erstand. Danach sah er mehr oder weniger wie alle anderen aus.

Immer noch ein wenig orientierungslos, schlenderte er umher und sah sich um. Der Jahrmarkt bestand aus mehreren festen Gebäuden und über ein Feld verstreuten Zelten. Es wurden alle möglichen Dinge und Waren feilgeboten: Waffen, Kleidungsstücke, Nahrungsmittel, Vieh, Werkzeuge und Gewürze.

»Hallo, Ihr dort drüben! Ihr, Herr!«

Azzie drehte sich um. Ja, die alte Vettel vor dem kleinen schwarzen Zelt, das mit goldenen kabbalistischen Zeichen bemalt war, meinte ihn. Sie war dunkelhäutig und schien Araberin oder Zigeunerin zu sein.

»Habt Ihr mich gerufen?«

»In der Tat, Herr«, erwiderte sie mit einem ländlichen, nordafrikanischen Akzent. »Tretet ein.«

Ein Mensch wäre vielleicht vorsichtiger gewesen, denn man weiß nie, was einen in einem schwarzen Zelt mit kabbalistischen Zeichen erwartet, aber für Azzie war es der erste vertraute Anblick seit längerer Zeit. Es gibt ganze Dämonenstämme, die in schwarzen Zelten wohnen und als Nomaden durch die öden Weiten der Vorhölle ziehen. Obwohl Azzie von väterlicher Seite her Kanaaniter war, hatte er einige Verwandte unter den Beduinendämonen.

Das Innere des Zeltes war mit bunt gemusterten Teppichen ausgelegt. Öllampen aus filigran gearbeitetem Zinn hingen von der Decke herab, und überall lagen bestickte Kissen herum. Im hinteren Teil des Zeltes stand ein niedriger Altar mit einem Tisch für Opfergaben, der von einer heroischen Statue im griechischen Stil überragt wurde. Sie stellte einen attraktiven jungen Mann mit einem Lorbeerkranz im Haar dar. Azzie erkannte das Gesicht wieder.

»Also ist Hermes hier«, stellte er fest.

»Ich bin seine Priesterin«, erklärte die alte Frau.

»Ich dachte, wir wären hier in einem christlichen Land«, sagte Azzie, »in dem die Verehrung der alten Götter strikt verboten ist.«

»Ihr habt recht«, bestätigte die Vettel. »Die alten Götter sind zwar einerseits tot, andererseits aber auch wieder nicht, weil sie in neuer Gestalt ins Leben zurückgekehrt sind. So hat sich beispielsweise Hermes in Hermes Trismegistus verwandelt, den Schutzheiligen der Alchemisten. Seine Verehrung wird zwar nicht gern gesehen, ist aber auch nicht direkt verboten.«

»Das freut mich«, sagte Azzie. »Aber warum habt Ihr mich zu Euch gerufen?«

»Ihr seid ein Dämon, Herr?« erkundigte sich das alte Weib.

»Ja. Woher wißt Ihr das?«

»Es liegt etwas Hoheitsvolles und Finsteres in Euren Zügen«, entgegnete die Vettel, »eine tief verborgene unheilvolle Ausstrahlung des Bösen, die Euch auch aus einer beliebig großen Menge hervorheben würde.«

Azzie wußte, daß Zigeunerinnen die Begabung besaßen, äußerst genau zu beobachten und ihre Erkenntnisse dann so zu formulieren, daß sie ihren Kunden schmeichelten. Trotzdem griff er in seine Tasche, zog einen Golddenar daraus hervor und gab ihn der Frau.

»Nehmt das als Lohn für Eure geschickte Zunge. Und was wollt Ihr von mir?«

»Mein Gebieter möchte mit Euch sprechen.«

»Gut«, sagte Azzie. Es war schon lange her, seit er das letzte Mal mit einem der alten Götter geplaudert hatte. »Wo ist er?«

Die Vettel kniete vor dem Altar nieder und begann, vor sich hinzumurmeln. Kurz darauf überzog ein rosiger Schimmer den Marmor. Die Statue erwachte zum Leben, streckte sich, stieg von ihrem Sockel herab und nahm neben Azzie Platz.

»Geh und besorg uns etwas zu trinken«, trug Hermes der alten Frau auf. Nachdem sie verschwunden war, sagte er: »Also, Azzie, es ist lange her.«

»Ziemlich lange«, stimmte ihm Azzie zu. »Es ist schön, dich wiederzusehen, Hermes. Ich war leider nicht auf der Erde, als das Christentum den Paganismus besiegt hat – du weißt schon, andere Verpflichtungen –, aber ich möchte dir mein Beileid aussprechen.«

»Danke«, erwiderte Hermes, »aber eigentlich haben wir gar nichts verloren. Wir Götter sind alle noch im Geschäft. Wir gehen mit der Zeit, und manchmal bekleiden wir ehrwürdige Positionen in beiden Lagern – als Heilige oder Dämonen. Das erweitert den geistigen Horizont ganz ungemein. Es spricht eine ganze Menge für so eine Art von Zwischenstadium.«

»Freut mich, das zu hören«, versicherte Azzie. »Die Vorstellung eines ausgemusterten Gottes hat irgendwie etwas Trauriges an sich.«

»Mach dir nur keine Sorgen über uns. Ich habe meiner Dienerin Assia befohlen, dich zu rufen, Azzie, weil sie meinte, du würdest einen verlorenen Eindruck machen. Ich habe mir gedacht, ich könnte dir vielleicht helfen.«

»Das ist nett von dir«, sagte Azzie. »Vielleicht könntest du mir erzählen, was sich seit Caligula so getan hat.«

»Also, kurz gesagt, die römische Geschichte ist durch die Invasionen von Barbaren und durch schleichende Bleivergiftung zusammengebrochen. Jetzt sind die Barbaren überall am Ruder. Sie nennen sich selbst Franken, Sachsen und Westgoten und haben ein Reich errichtet, das sie Heiliges Römisches Kaiserreich nennen.«

»Heilig?« hakte Azzie nach.

»So nennen sie es wenigstens. Warum, weiß ich auch nicht.«

»Aber wie ist das richtige Römische Reich gefallen?«

»Das kannst du in jedem Geschichtswerk nachschlagen«, sagte Hermes. »Glaub mir einfach. Es ist zusammengebrochen, und das war das Ende des klassischen Altertums. Der Zeitabschnitt, in dem wir uns jetzt befinden, wird das Mittelalter genannt – zumindest wird man es kurz nach seinem Ende so nennen. Du hast die Dunklen Jahrhunderte nur knapp verpaßt. Wir hatten eine Menge Spaß, das kann ich dir sagen! Aber diese Zeit ist auch nicht so übel.«

»Welches Jahr schreiben wir jetzt?« wollte Azzie wissen.

»Das Jahr 1000«, antwortete Hermes.

»Die Jahrtausendwende!«

»Genau.«

»Dann steht der Wettstreit kurz bevor!«

»Das stimmt, Azzie. Die Zeit ist gekommen, da die Mächte des Lichtes und der Finsternis ihren großen Wettstreit austragen, um festzulegen, wer die Essenz des menschlichen Schicksals in den nächsten tausend Jahren bestimmt und ob es sich zum Guten oder zum Bösen entwickelt. Was gedenkst du in dieser Angelegenheit zu unternehmen?«

»Ich?« fragte Azzie. »Was könnte ich tun?«

»Du kannst an dem Wettstreit teilnehmen.«

Azzie schüttelte den Kopf. »Der Vertreter des Bösen wird auf der Großen Ratsversammlung von den Hohen Mächten des Bösen bestimmt. Da kommen immer nur die Favoriten der Hohen Mächte zum Zug; sie wählen einen ihrer Freunde aus. Ich hätte nicht die geringste Chance.«

»So ist es früher gewesen«, sagte Hermes. »Aber wie ich gehört habe, findet eine Reformation der Hölle statt. Die Mächte des Lichtes üben einen ziemlich starken Druck auf sie aus. So hervorragend der Nepotismus auch sein mag, er reicht nicht mehr aus, als daß die Hölle damit ihren Standpunkt durchsetzen könnte. Soweit ich gehört habe, muß sich der Kandidat für den Wettstreit durch persönlichen Verdienst auszeichnen.«

»Verdienst! Was für eine neuartige Vorstellung! Aber trotzdem gibt es nichts, was ich tun könnte.«

»Sei kein Defätist wie so viele andere junge Dämonen«, sagte Hermes streng. »So viele von ihnen sind faul und zufrieden damit, einfach nur rumzuhängen, Drogen zu nehmen, Blödsinn zu quatschen und den bequemen Weg durch die Ewigkeit zu beschreiten. Das ist nicht deine Art, Azzie. Du bist schlau, du hast Prinzipien und Initiative. Unternimm etwas. Du könntest wirklich eine Chance bekommen.«

»Aber ich weiß nicht, was ich tun soll«, klagte Azzie. »Und selbst wenn ich es wüßte, ich habe nicht das Geld, um es durchzuführen.«

»Du hast die alte Frau bezahlt«, wandte Hermes ein.

»Das war Zaubergold. Es verschwindet nach einem oder zwei Tagen wieder. Wenn ich mich für den Wettkampf bewerben will, brauche ich richtiges Geld.«

»Ich weiß, wo es welches gibt«, sagte Hermes.

»Wo? Wie viele Drachen muß ich erschlagen, um an das Geld heranzukommen?«

»Überhaupt keine Drachen. Du mußt nur alle Teilnehmer an der Gründertagspokerrunde besiegen.«

»Poker!« keuchte Azzie. »Meine große Leidenschaft! Wo und wann findet das Spiel statt?«

»In drei Tagen auf einem Friedhof in Rom. Aber du mußt besser als beim letzten Mal spielen, sonst wirst du für ein paar hundert Jahre in die Grube zurückkehren. Um es präziser auszudrücken, du brauchst etwas, das die Spieler später einmal eine Masche nennen werden.«

»Eine Masche? Was ist das?«

»Irgendein Mittel, das dir hilft zu gewinnen.«

»Bei diesen Spielen gibt es Beobachter, um Betrügereien zu verhindern«, gab Azzie zu bedenken.

»Vollkommen richtig. Allerdings gibt es kein Gesetz gegen einen Glücksbringer, weder ein himmlisches noch ein höllisches.«

»Aber Glücksbringer sind äußerst selten. Wenn ich doch nur einen hätte!«

»Ich kann dir sagen, wo du einen finden kannst. Aber du wirst einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssen, um ihn zu bekommen.«

»Rück schon raus damit, Hermes!«

»Während meiner nächtlichen Streifzüge durch Troyes und die Umgebung«, erklärte Hermes, »habe ich eine Stelle am Rande des Waldes westlich von hier entdeckt, wo eine kleine orangefarbene Blume wächst. Die Leute hier kennen sie nicht. Sie heißt Speculum und gedeiht nur in der Nähe von Felixit.«

»Es gibt Felixit hier in der Gegend?« fragte Azzie voller Verwunderung.

»Das mußt du schon selbst herausfinden«, sagte Hermes. »Aber alle Anzeichen sprechen dafür.«

KAPITEL 5

Azzie bedankte sich bei Hermes und machte sich auf den Weg. Er wanderte durch ein Feld zu dem Wald, der die Stadt umgab, und fand die seltene Blume, eine kleine und unscheinbare Pflanze. Nachdem er an ihr gerochen hatte (der Duft der Speculum ist betörend), bückte er sich und legte ein Ohr auf den Boden. Sein übernatürlich gutes Gehör verriet ihm, daß sich irgend etwas unter der Erde unablässig bewegte und rhythmisch klopfte. Wie nicht anders zu erwarten, war es das charakteristische Geräusch, das ein Zwerg verursacht, der mit Picke und Schaufel einen Tunnel gräbt. Die Zwerge wissen nur zu gut, daß sie sich durch die Geräusche ihrer Grabungen verraten, aber was sollen sie tun? Ein Zwerg muß nun einmal buddeln, um sich lebendig zu fühlen.

Azzie stampfte mit dem Fuß auf und sank in den Boden. Die meisten europäischen und arabischen Dämonen beherrschen diese Fähigkeit. Unter der Erde zu leben ist genauso natürlich für sie, wie es für die Menschen natürlich ist, auf der Erde zu leben. Dämonen empfinden die Erde ähnlich wie Wasser. Sie können durch sie hindurchschwimmen, auch wenn sie es eindeutig vorziehen, durch Tunnel zu laufen.

Es war kühl unter der Erde. Das Fehlen von Licht hinderte Azzie nicht daran, seine Umgebung durch eine Art dämmriger Infrarotsicht recht gut zu erkennen. Und es ist ziemlich angenehm im Untergrund. Knapp unter der Oberfläche gibt es Maulwürfe und Spitzmäuse, und durch die unterschiedlich dichten Erdschichten kriechen noch eine Menge anderer Geschöpfe.

Schließlich kam Azzie in einer großen Höhle heraus. Phosphorisierendes Felsgestein verströmte ein schwaches Glimmen, und am anderen Ende der Höhle entdeckte er einen einzelnen Zwerg nordeuropäischer Herkunft, der einen maßgeschneiderten Anzug aus grünem und rotem Maulwurfsieder trug, dazu winzige kniehohe Stiefel aus Geckohaut und eine kleine Kappe aus Mäusefell auf dem Kopf.

»Ich grüße dich, Zwerg«, sagte Azzie und richtete sich so weit auf, wie es die felsige Decke zuließ, um den Zwerg einschüchternd zu überragen.

»Sei gegrüßt, Dämon«, erwiderte der Zwerg. Er klang nicht gerade sonderlich erfreut darüber, einem solchen Exemplar zu begegnen. »Unterwegs auf einem kleinen Spaziergang, was?«

»Könnte man so sagen. Und du?«

»Ich komme nur zufällig auf der Durchreise hier vorbei«, sagte der Zwerg. »Unterwegs zu einer Wiedersehensfeier in Antibes.«

»Tatsächlich?« fragte Azzie.

»Aber ja.«

»Warum hast du dich dann hier aufgehalten und gegraben?«

»Ich? Gegraben? Nicht daß ich wüßte.«

»Und was hast du dann mit dieser Picke in deiner Hand getan?«

Der Zwerg senkte den Blick und schien erstaunt zu sein, die Picke in seiner Hand zu entdecken. »Ich habe nur aufgeräumt.« Er versuchte, ein paar Felsbrocken mit der Hacke zusammenzuharken, aber da das Werkzeug nicht für diese Aufgabe gedacht war, machte er dabei keine sonderlich gute Figur.

»Unter der Erde aufräumen?« fragte Azzie. »Wofür hältst du mich, für einen Volltrottel? Wer bist du überhaupt?«

»Ich bin Rognir, ein Mitglied der Roifing Zwergensippe aus Uppsala. Unter der Erde sauberzumachen, mag dir absurd erscheinen, aber für uns Zwerge, denen es gefällt, wenn alles so bleibt, wie es ist, ist das ein ganz natürliches Verhalten.«

»Offengestanden, was du mir da erzählst, kommt mir äußerst konfus vor«, sagte Azzie.

»Das liegt daran, daß ich nervös bin«, behauptete Rognir. »Normalerweise rede ich ganz vernünftig.«

»Dann tu das auch jetzt«, schlug Azzie vor. »Entspann dich, ich will dir nichts Böses.«

Der Zwerg nickte, wirkte aber nicht überzeugt. Er traute keinem Dämon, und das konnte man ihm auch nicht verdenken. Es herrscht viel Rivalität im Reich der Geister, von der die Menschen nichts wissen, da kein Homer oder Vigil zugegen war, wenn sich dort bedeutsame Dinge ereigneten. Zwischen Zwergen und Dämonen hatte es in letzter Zeit erhebliche Spannungen wegen territorialer Streitfragen gegeben. Die Dämonen haben schon immer Anspruch auf die Unterwelt angemeldet, trotz ihrer entfernten Verwandtschaft zu den gefallenen Geschöpfen des Lichts. Sie lieben die unterirdischen Bereiche der Erde, die tiefen Höhlen, Sumpflöcher, Senkgruben, Grotten und Abgründe, die unterirdischen Gänge, die in ihrer poetischen wenn auch düsteren Art, die Dinge zu betrachten, von einer merkwürdigen Schönheit sind. Die Zwerge ihrerseits erheben ebenfalls Anspruch auf die Unterwelt, da sie sich als deren Kinder begreifen, die spontan aus den sich chaotisch windenden Feuerströmen der Urflamme in den Tiefen der Erde geboren wurden. Das ist natürlich nur eine romantisch verklärte Vorstellung: Die wahre Herkunft der Zwerge ist sehr interessant, aber es fehlt die Zeit, sich an dieser Stelle damit zu befassen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es jedoch, auf die Vorstellungskraft hinzuweisen, die Fähigkeit, eine Idee aufzugreifen und sich stur daran festzuklammern. Wie zum Beispiel im Fall der Zwerge ihr Beharren darauf, frei und ungebunden nach Belieben unter der Erde umherziehen zu dürfen, ohne Einschränkungen oder Rücksichtsnahme. Das entspricht allerdings nicht der Einstellung der Dämonen. Dämonen bevorzugen feste Territorien. Sie stampfen für sich allein dahin, und andere Geschöpfe neigen dazu, ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Zwerge dagegen tun sich zu Gruppen zusammen und buddeln und singen unablässig (sie sind wirklich leidenschaftliche Sänger) mit fliegenden weißen Bärten, die Picke und die Schaufel immer griffbereit. Oft durchqueren sie auf ihren Zügen dämonische Versammlungen, denn Dämonen halten ständig Versammlungen zu doktrinären Streitfragen ab, auch wenn ihre Diskussionen von den wahren Machtinhabern kaum jemals zur Kenntnis genommen werden. Aber wie auch immer, sie hassen es, dabei belästigt zu werden, und die Zwerge besitzen das unheimliche Talent, bei ihren Grabungen immer wieder die falsche Zeit und den falschen Ort zu wählen und Dämonen zu stören, die gerade tief in Gedanken versunken reglos auf Basaltblöcken hocken, die Hände auf die Ohren gelegt, wie es in einigen in Stein gemeißelten Familienportraits der Türme von Notre Dame zu sehen ist. Die Dämonen fühlen sich von den Zwergen bedrängt und behelligt. Es ist schon aus geringeren Anlässen zu Kriegen gekommen.

»Ich glaube, unsere Stämme befinden sich zur Zeit im Frieden«, sagte Azzie. »Jedenfalls bin ich nur aus einem Grund hier, der dich nicht einmal interessieren wird, weil es sich dabei nicht um kostbare Edelsteine handelt.«

»Was genau suchst du?« wollte Rognir wissen.

»Felixit«, antwortete Azzie.

Damals besaßen Schutzzauber und Talismane noch große Kraft. Und es gab eine ganze Menge davon, auch wenn die Zwerge sie an geheimen Orten verbargen, um sie vor den Drachen zu verstecken. Damit hatten sie allerdings keinen großen Erfolg, denn die Drachen wußten, daß sie da, wo sie Zwerge fanden, automatisch auch auf Gold stießen. Zwerge und Drachen gehören zusammen wie Pech und Schwefel, Hering und Sauerrahm, Gut und Böse, Erinnerung und Bedauern. Die Zwerge schufteten schwer, um Felixitglückssteine aus den Tiefen der Erde zu fördern. Felixit tritt nur in kleinen Mengen in neptunischen Basaltadern auf, der ältesten und härtesten Basaltart.

Vor langer Zeit, als alles noch viel besser, glücklicher, schöner und ehrlicher war, im Goldenen Zeitalter, das kurz vor dem Auftreten der Menschheit auf der Weltenbühne endete, wurde der Glücksbringer Felixit häufig benutzt. Von einigen Seiten wird behauptet, daß die Vorräte von den alten Göttern angelegt wurden, die über die Erde herrschten, als die Dinge noch keine Namen hatten. Schon damals war Felixit das seltenste Mineral der Welt. Eine winzige Menge reichte aus, um das ihr innewohnende Karma des Glücks und der Heiterkeit auf ihren Besitzer zu übertragen und so für ein erfolgreiches Gelingen all seiner Unternehmungen zu sorgen. Deshalb waren die Menschen bereit, dafür zu töten.

Eines ist sicher. Wer einen magischen Glückstalisman haben will, muß ihn entweder stehlen (was schwierig ist, da es das Bestreben eines richtigen Glückstalismans ist, bei seinem Besitzer zu bleiben, und er folglich dazu neigt, mehr als nur ein bißchen diebstahlresistent zu sein), oder ein Felixitvorkommen in den Tiefen der Erde entdecken und sich selbst einen anfertigen. Man könnte daraus leicht schließen, daß mittlerweile alle natürlichen Felixitvorkommen verschwunden sind, weil die Zwerge unter der Erde danach (und nach anderen Dingen) suchen, seit die ersten Menschen auf ihr erschienen sind, aber das ist ein Irrtum. Felixit ist ein solch mächtiger Glücksbringer, daß sich selbst die Erde dadurch gesegnet fühlt und von Zeit zu Zeit in ihrer Verzückung mehr davon hervorbringt, wenn auch stets nur in kleinen Mengen.

»Felixit!« Rognir stieß ein wenig überzeugendes Lachen aus. »Was bringt dich auf die Idee, daß es hier Felixit geben könnte?«

»Eine kleine Maus hat es mir geflüstert«, erwiderte Azzie in einer schlagfertigen Anspielung darauf, daß Hermes früher unter anderem als Gott der Mäuse fungiert hatte, bevor er zusammen mit den anderen olympischen Göttern abgeschafft worden war beziehungsweise eine andere Rolle angenommen hatte. Die Ironie blieb Rognir jedoch verborgen.

»Es gibt hier kein Felixit«, behauptete der Zwerg. »Diese Gegend ist schon vor langer Zeit ausgebeutet worden.«

»Das erklärt wohl kaum, was du hier gemacht hast.«

»Ich? Ich habe nur eine Abkürzung genommen«, erklärte Rognir. »Dieser Punkt liegt zufällig auf der großen unterirdischen Umgehungsroute von Bagdad nach London.«

»Wenn dem so ist«, sagte Azzie, »dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich mich mal ein bißchen umschaue.«

»Warum sollte ich? Die Erde ist für alle da.«

»Gut gesagt«, gab Azzie zurück und begann, in der Gegend herumzuschnüffeln. Seine feine Fuchsnase fing schon bald einen schwachen Dufthauch auf, der vor noch nicht allzu langer Zeit mit etwas anderem in Verbindung gebracht worden wäre, das wiederum vielleicht nur flüchtig an Felixit erinnerte. (Dämonen besitzen einen ausgeprägten Geruchssinn, was ihre Dienstzeit in den Gruben der Hölle um so unerträglicher macht.)

Wie ein Fuchs der Spur seiner Beute folgt, folgte Azzie dem kaum wahrnehmbaren Geruch durch die Höhle direkt zu dem aus Lemurleder gefertigten Sack, der vor Rognirs Füßen stand.

»Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich mal einen Blick da hineinwerfe, oder?« fragte Azzie.

Rognir hatte eine ganze Menge dagegen, aber da ein Zwerg kein ernstzunehmender Gegner für einen Dämon ist, entschied er sich für zuvorkommendes Verhalten statt unangebrachter Tapferkeit.

»Tu dir keinen Zwang an.«

Azzie leerte den Sack aus. Er stieß die Rubine beiseite, die Rognir in Burma gesammelt hatte, ignorierte die kolumbianischen Smaragde sowie die südafrikanischen Diamanten mitsamt ihren zukünftigen finsteren Auswirkungen und hob einen kleinen zylinderförmigen rosafarbenen Stein auf.

»Für mich sieht das wie Felixit aus«, stellte er fest. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich es mir für eine Weile ausleihe?«

Da ihm kaum etwas anderes übrig blieb, zuckte Rognir die Achseln. »Solange du nicht vergißt, es mir später wieder zurückzugeben.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Azzie, drehte sich um und wollte verschwinden. Dann betrachtete er noch einmal die auf dem Boden verstreuten kostbaren Steine. »Hör mal, Rognir«, meinte er, »für einen Zwerg scheinst du ganz in Ordnung zu sein. Was hältst du davon, wenn du und ich einen kleinen Handel eingehen?«

»Woran hast du gedacht?«

»Ich habe da eine bestimmte Sache vor. Im Augenblick kann ich nicht viel darüber verraten, aber es hat etwas mit der bevorstehenden Jahrtausendfeier zu tun. Ich brauche das Felixit und deine Edelsteine, denn ohne Geld kann ein Dämon nichts machen. Wenn ich die erwartete Unterstützung von den Hohen Mächten des Bösen bekomme, werde ich dir das Darlehen zehnfach zurückzahlen können.«

»Aber ich wollte diese Edelsteine nach Hause bringen und meinem Haufen hinzufügen«, sagte Rognir. Er bückte sich und begann, die Steine aufzusammeln.

»Du besitzt doch bestimmt schon einen ziemlich großen Haufen, nicht wahr?«

»Oh, nichts wofür man sich schämen müßte«, erwiderte Rognir mit der Selbstgefälligkeit eines Zwergs, dessen aufgehäufte Reichtümer es mit den besten aufnehmen konnten.

»Warum überläßt du mir dann nicht diese Steine? Der Haufen, den du zu Hause hast, ist doch jetzt schon ganz schön groß.«

»Das hält mich nicht davon ab, mir zu wünschen, daß er noch größer wird!«

»Natürlich nicht. Aber wenn du diese Steine deinem Haufen hinzufügst, wird dein Geld nicht für dich arbeiten. Wenn du es dagegen bei mir investierst, dann wird es arbeiten.«

»Geld, das für mich arbeitet? Was für eine seltsame Vorstellung! Ich wußte gar nicht, daß Geld arbeiten sollte.«

»Es ist ein Konzept der Zukunft, und es ist sehr vernünftig. Warum sollte Geld nicht arbeiten? Alles und jeder andere muß arbeiten.«

»Das ist ein gutes Argument«, räumte Rognir ein. »Aber welche Sicherheit habe ich, daß du dein Wort halten wirst? Alles, was ich habe, ist dein Versprechen, daß ich mich auf dein Wort verlassen kann, wenn ich dein Angebot annehme. Nehme ich es dagegen nicht an, habe ich immer noch alle meine Edelsteine.«

»Ich kann das Angebot unwiderstehlich attraktiv für dich machen«, sagte Azzie. »Anstatt mich an die im Bankgeschäft üblichen Konditionen zu halten, werde ich dir deinen Gewinn im voraus auszahlen.«

»Meinen Gewinn? Aber ich habe doch noch gar nicht bei dir investiert.«

»Das ist mir klar. Deshalb werde ich dir als Anreiz schon jetzt die Jahreszinsen zahlen, die du erhältst, wenn du bei mir investier st.«

»Und was muß ich dafür tun?«

»Öffne einfach die Hände.«

»Also, na gut«, gab Rognir nach, der – wie die meisten Zwerge – der Aussicht auf einen Gewinn nicht widerstehen konnte.

»Hier, für dich«, sagte Azzie. Er gab Rognir zwei der kleineren Diamanten, einen Rubin mit winzigen Verunreinigungen und drei vollkommene Smaragde.

Rognir nahm sie entgegen und betrachtete sie unschlüssig. »Aber sind das denn nicht meine?«

»Natürlich! Das ist dein Gewinn!«

»Aber die haben mir doch schon vorher gehört!«

»Ich weiß. Aber du hast sie mir geliehen.«

»Habe ich das? Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Du erinnerst dich doch daran, daß du den Gewinn akzeptiert hast, den ich dir angeboten habe, nicht wahr?«

»Natürlich. Wer würde schon einen Gewinn ablehnen?«

»Du hast dich ganz richtig entschieden. Aber dein Profit beruht darauf, mir die Steine zu leihen, um daraus Profit zu schlagen. Jetzt hast du ein paar davon zurückbekommen. Und trotzdem schulde ich dir immer noch diejenigen, die ich dir gerade zurückgegeben habe, wie den ganzen Rest. Sie sind die erste Rate. In einem Jahr wirst du alle zurückbekommen. Und du hast bereits den Gewinn eingestrichen.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, murmelte Rognir nachdenklich.

»Vertrau mir«, sagte Azzie. »Du hast eine kluge Investition getätigt. Es war mir ein Vergnügen, Geschäfte mit dir zu machen.«

»Warte einen Moment!«

Azzie nahm die restlichen Steine und das Stückchen Felixit an sich, verschwand und tauchte auf der Erdoberfläche wieder auf. Dämonen verfügen unter anderem natürlich auch über die Fähigkeit, ganz plötzlich zu verschwinden, was ihnen allgemein ein Talent für theatralisches Auftreten verleiht.

KAPITEL 6

Es war schon lange her, seit Azzie Rom besucht hatte. Die Stadt erfreute sich besonderer Beliebtheit unter Dämonen und war seit jeher ein bevorzugtes Ausflugsziel sowohl für Einzelreisende als auch für Gruppen von hundert und mehr Personen mit Frauen und Kindern unter der Führung von dämonischen Reiseleitern, die Wissenswertes über dieses und jenes zu berichten wußten. An interessanten Dingen herrschte kein Mangel. Ganz oben auf der Liste der Sehenswürdigkeiten standen die Friedhöfe. Die Lektüre der Grabinschriften bereitete jede Menge Spaß, und die hohen dunklen Zypressen und antiken moosüberwucherten Monumente verliehen den Friedhöfen ein angenehm melancholisches Flair, das zur inneren Besinnung einlud. Und auch in diesen Tagen war Rom ein aufregender Ort, was nicht nur an den ständigen Ernennungen und Exkommunizierungen diverser Päpste lag, sondern auch an den sich bietenden Gelegenheiten, dazu beizutragen, daß alles noch ein wenig schlimmer wurde.

Und besonders aufregend war, daß dies die Zeit der Jahrtausendwende war, das Jahr 1000 A.D. Otto III war Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, und es gab eine große Rivalität zwischen seinen deutschen Gefolgsleuten und den Italienern, die die einheimischen Kandidaten unterstützten. Die römischen Adligen erhoben sich regelmäßig gegen Otto, und immer wieder kam es zu Überfällen und Tumulten. Nach Einbruch der Dunkelheit war es auf den Straßen für die Menschen nicht mehr sicher, und selbst bei Tag drohten allerlei Gefahren. Horden gesetzloser Söldner machten die Gegend unsicher, und wehe dem Mann oder der Frau, die ihnen in die Hände fielen.

Azzie schwebte mit der Abenddämmerung ein, als sich die Sonne gerade anschickte, in der Adria zu versinken, und die Kuppeln und Türme Roms leuchten ließ, während sich über die Terrakottadächer bereits die Nacht herabsenkte. Er flog im Tiefflug über die verwinkelten Straßen hinweg und sank noch tiefer, um eine Runde über das Forum und das Colloseum zu drehen und den Anblick in angemessener Form zu genießen. Dann stieg er wieder in die Höhe und segelte zum Palatin. Hier lag ein ganz besonderer Friedhof, der Narbozzi, und das war auch der Ort, an dem die Dämonen seit unerdenklichen Zeiten ihre jährlichen Pokerrunden veranstalteten. Mit etwas Glück würde das Spiel auch dieses Jahr wieder hier stattfinden.

Der Narbozzi-Friedhof, der sich über viele Hektar der hügligen Nordseite des Palatin ausbreitete, war mit Marmorsarkophagen, steinernen Kreuzen und Familiengruften bedeckt. Azzie schlenderte die grasbewachsenen Pfade des Narbozzi entlang, die sich immer deutlicher vor seinen Augen abzeichneten, je tiefer die Sonne sank. Dämonen sehen in der Nacht besser als am Tag, weil die Nacht ihr natürliches Medium ist. Der Friedhof war groß, und Azzie hatte ein wenig Angst, daß er die Stelle, an der das Spiel stattfand, übersehen könnte. Hoffentlich nicht. Er hatte sein Glücksamulett in Form von Rognirs Felixit zur Sicherheit in ein Pergament eingewickelt, das ein Zeichen König Salomons trug. Und in seinem Beutel steckten Rognirs Edelsteine, sein Einsatz für das bevorstehende Spiel.

Er eilte dahin, und schon bald wich die Dämmerung endgültig der Nacht. Am Himmel erschien ein abnehmender Sichelmond, und Sirius, der Hundestern, glühte rot, ein günstiges Omen für das Böse. Aus den nahe gelegenen Sümpfen klang das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche herüber. Azzie fragte sich schon, ob er den falschen Friedhof aufgesucht hatte – zu dieser Zeit hielt Rom den Weltrekord an Friedhöfen von hohem antiquarischem Interesse. Es würde ihn zu viel Zeit kosten, jeden einzelnen zu überprüfen, und er besaß nicht einmal eine vollständige Liste aller Friedhöfe.

Gerade wollte er sich für seine mangelnde Vorbereitung verfluchen – er hätte sich mit dem Komitee für Übernatürliche Veranstaltungen in Verbindung setzen sollen, um den genauen Austragungsort des Spiels zu erfahren –, als er ein Geräusch hörte, das beruhigend unmenschlich klang. Er folgte dem Geräusch, und es löste sich in Gelächter auf, das aus dem Ostteil des Narbozzi kam, jenem Abschnitt, der in der Antike unter dem Namen ›der Verfluchte‹ bekannt war. Als er sich ihm näherte, konnte er hören, wie Flüche ausgestoßen wurden, und dann vernahm er das gewaltige kesselpaukenartige Gelächter Newzejoths, eines der größten Dämonenfürsten, dessen Stimme unverkennbar war. Azzie flog eilig in die entsprechende Richtung.

Die Dämonen hatten ihr Lager in einer flachen Senke zwischen dem großen Marmorsarkophag von Romulus und dem jüngeren Grab von Pompejus aufgeschlagen, in einem kleinen Hain, der von einem Ring Stechpalmen umgeben war. Obwohl sie erst vor wenigen Stunden angekommen waren, wies die Umgebung bereits deutliche Spuren von Chaos und Unrat auf, den charakteristischen Anzeichen für dämonische Zusammenkünfte. Riesige Fässer mit Jauche waren als Erfrischung bereitgestellt worden. Hier und dort brannten Feuer, und Küchengehilfen brieten Körperteile von Menschen der unterschiedlichsten Nationen über glühender Holzkohle.

Azzie wurde von den anderen Dämonen willkommen geheißen. »Helles oder dunkles Fleisch?« fragte ihn ein Sukkubus. Aber Azzie hatte keine Zeit, um zu essen, auch wenn die jungen Menschen, die goldbraun geröstet an den Spießen steckten, köstlich zu sein schienen.

»Wo findet das Spiel statt?« erkundigte er sich.

»Gleich da drüben«, erwiderte der Sukkubus. Soweit Azzie es anhand ihres Nasenrings und der nach hinten gedrehten Füße beurteilen konnte, handelte es sich um eine indische Dämonin. Sie lächelte ihn verführerisch an. Sie war wirklich schön, doch Azzie war im Augenblick weder nach einem erotischen Abenteuer zumute noch verspürte er Appetit, denn die Spielleidenschaft hatte ihn gepackt, und er hastete zu den Spielern.

Die kartenspielenden Dämonen hatten einen Kreis gebildet, der von Fackeln und Talgkerzen erhellt wurde, die aus widerlichen wachsartigen Substanzen bestanden. Der innere Kreis war von einem weiteren Ring Dämonen umgeben, die das Spiel verfolgten und die einzelnen Züge kommentierten. Als Azzie eintraf, wurde gerade um einen hohen Einsatz gespielt. Im Pot waren etliche Goldmünzen, ein paar Silberdenare und ein menschlicher Torso von beträchtlichem Wert, da noch Blut aus den Arm- und Beinstümpfen tropfte. Die letzten Einsätze wurden getätigt, und ein kleiner Dämon mit einem Kugelbauch, dürren Armen und Beinen und einer langen Nase (dem Rentierpullover nach zu schließen ein Lappe) gewann das Spiel und den gesamten Pot.

»Neuer Spieler!« rief irgend jemand, worauf die anderen zur Seite rückten und Azzie Platz machten.

Azzie setzte sich, legte die Edelsteine vor sich und erhielt seine Karten. Am Anfang verhielt er sich vorsichtig. Es war schon ziemlich lange her, seit er das letzte Mal an einer Pokerrunde teilgenommen hatte. Diesmal war er trotz seines Glücksamuletts aus Felixit entschlossen, kein unnötiges Risiko einzugehen, nur bei guten Blättern zu reizen, im Zweifelsfall zu passen und all die anderen Dinge zu tun, die sich Pokerspieler – ob Menschen oder Dämonen – seit jeher vornehmen. Er wechselte ein paar seiner Steine in Körperteile und begann zu spielen. Und so nahm das Spiel in der vom unheimlich grünen Licht der Fackeln aufgehellten Dunkelheit seinen Verlauf, untermalt vom Gelächter und den Flüchen der Dämonen, je nachdem, wem das Glück gerade lachte.

Dämonische Pokerspieler sind lustige Gesellen, solange ihnen das Glück hold ist. Sie beginnen ihre Spiele in bester Laune, setzen ganze Menschenköpfe und erhöhen die Einsätze in fröhlicher Unbekümmertheit um Gliedmaßen. Das alles wird von der Art von Spaßen begleitet, die Dämonen ungemein witzig, andere Geschöpfe jedoch reichlich geschmacklos finden. »Möchte irgend jemand ein Heldensandwich?« fragte einer der Dämonenbediensteten, als ein Tablett mit menschlichen Körperteilen herumgereicht wurde.

Schon bald hatte Azzie alle guten Vorsätze vergessen. Er wurde unvorsichtig und reizte immer wilder und riskanter. Ständig mußte er daran denken, wie gern er an dem Böse-Taten- Jahrtausendwendebankett teilnehmen wollte. Wenn er doch nur gewinnen könnte! Er sehnte sich von ganzem Herzen danach, das Böse im Jahrtausendwettkampf zwischen Licht und Finsternis zu repräsentieren.

Unglücklicherweise aber schrumpfte sein Stapel an Körperteilen unaufhaltsam. Er wußte nur zu gut, daß er die Einsätze wild, dumm und dämonisch erhöhte, aber er konnte nichts dagegen tun. Völlig im Bann des Spiels gefangen, registrierte er kaum, daß es immer die größeren Dämonen zu sein schienen, die die lohnenden Gewinne einstrichen. Was war nur mit seinem Felixit nicht in Ordnung? Wieso gewann er nie einen der großen Einsätze?

Dann kam ihm schließlich die Erkenntnis, daß alle Dämonen Glückstalismane trugen, und je bedeutender ein Dämon war, desto besser war natürlich auch der Glücksbringer, den er sich leisten konnte. Die Vermutung lag auf der Hand, daß die Talismane der anderen den seinen neutralisierten. Wieder einmal wurde er gnadenlos über den Tisch gezogen! Das war undenkbar und äußerst ungerecht.

Die Nacht verging wie im Flug, und irgendwann bemerkte Azzie ein schwaches Glühen am östlichen Horizont. Schon bald würde die Morgendämmerung hereinbrechen, und das Spiel würde beendet werden, es sei denn, irgend jemand hatte einen Schlüssel zu einer Privatgruft. Zu diesem Zeitpunkt hatte Azzie bereits den größten Teil seines anfänglichen Vermögens verloren.

Wut und Kummer stiegen in seinem Fuchskopf auf. Das Blatt, das er in der Hand hielt, war wieder eine Niete, ein Zweierpärchen und drei mittlere Karten. Er wollte gerade passen und sich endgültig geschlagen geben, als ihn eine merkwürdige Ahnung überkam. Nein, eigentlich keine Ahnung, mehr ein Gefühl. Es war eine warme Ausstrahlung, deren Quelle in seinem Beutel zu stecken schien. Versuchte sein Glücksamulett vielleicht, ihm irgend etwas mitzuteilen? Ja, das mußte es sein! Und dann wurde ihm klar, daß das Felixit auf ein ganz bestimmtes Blatt warten würde, wenn es ihm wirklich helfen wollte, um erst dann seine ganze Kraft einzusetzen, damit er diese eine Runde gewann.

Plötzlich war er sich dessen so sicher, daß er rücksichtslos alles auf sein schlechtes Blatt setzte und immer weiter erhöhte.

Er erhielt seine letzten Karten, sah sie aber gar nicht mehr an und trieb den Einsatz statt dessen noch mehr in die Höhe.

Und dann war der entscheidende Augenblick gekommen. Als Azzie sein Blatt auf den Tisch legte, stellte er fest, daß er ein weiteres Zweierpärchen zu dem ersten Pärchen dazubekommen hatte. Zwei Pärchen, wollte er zuerst sagen, bevor er begriff, daß es ein Vierling war. Kein anderer Spieler hatte ein auch nur annähernd gleichwertiges Blatt. Die anderen grollten und warfen ihre Karten weg. Der Pot, der größte der ganzen Nacht, ging an Azzie.

Neben einem Haufen Goldmünzen, Edelsteinen und den unterschiedlichsten Körperteilen bestand der Gewinn aus einem Schwert mit abgebrochener Klinge, um dessen Griff ein Damentüchlein aus roter Seide geschlungen war, und einem Paar Menschenbeinen in sehr gutem Zustand, kaum angenagt. Dazu kam noch eine beträchtliche Menge an Kleinzeug, Fingerknöchel, Gewebescheidewände und ein Satz Kniescheiben, die Azzie in Gold eintauschte.

Als echter Dämon, der er nun einmal war, hätte Azzie normalerweise bis zum letzten Penny oder Körperteil weitergezockt, aber die Sonne lugte bereits vorsichtig über den östlichen Horizont, und es wurde Zeit, den Friedhof zu verlassen. Also verstaute Azzie seinen Gewinn in einer Tasche aus derbem Segeltuch, die er genau zu diesem Zweck mitgebracht hatte. In seinem Kopf begann langsam eine Idee, Gestalt anzunehmen. Noch war sie ziemlich verschwommen, aber irgend etwas regte sich.

LOBGESÄNGE

KAPITEL 1

Nachdem er die Pokerrunde verlassen hatte, flog Azzie nordwärts. Er hatte beschlossen, der großen Dämonenversammlung einen Besuch abzustatten, die als Teil der Eröffnungszeremonien zum Jahrtausendwettkampf bei Aachen stattfand, der alten Hauptstadt Karls des Großen. Allerdings wurde er von einem starken Gegenwind aufgehalten. Auch wenn man unsichtbar und eher schlank ist, kann das den Luftwiderstand nicht aufheben. Gegen Abend war er erst bis Ravenna gekommen. Er entschied, auf die Teilnahme an der Versammlung zu verzichten, und fand einen hübschen Friedhof vor den Stadtmauern, wo er Rast machte.

Es war ein angenehmer Ort mit einer Menge großer alter Bäume, Eichen und Weiden, eine hübsche Kombination – und natürlich Zypressen, den erhabenen Totenbäumen des Mittelmeers. Es gab schöne zerfallene Gräber und Mausoleen. In der Ferne konnte Azzie die zusammengesackten Umrisse der aus Graustein errichteten Stadtmauern erkennen.

Er machte es sich vor einer verwitterten Grabtafel bequem. Was er jetzt noch benötigte, war ein behagliches Feuer. Also plünderte er ein in der Nähe gelegenes Mausoleum, wo er ein paar außerordentlich trockene Kadaver fand. Mit ihnen und einigen toten Katzen, die von einem umtriebigen Katzenhasser aus der Stadt vergiftet worden waren, entfachte er das Feuer.

Während die Nacht verstrich, stellte Azzie fest, daß er hungrig wurde. Zwar hatte er im Verlauf des Pokerspiels recht gut gegessen, und Dämonen können lange Zeiträume zwischen den Mahlzeiten überstehen, aber den ganzen Tag lang gegen den Wind anzufliegen, hatte seinen Appetit angeregt. Also leerte er seinen Beutel aus und vergewisserte sich, was er noch an Proviant hatte.

Ah, da waren ein paar kandierte Schakalköpfe, die er auf dem Fest eingesteckt hatte, in einen Fetzen modriges Leichentuch eingewickelt. Es waren köstliche Snacks, aber sie reichten nicht aus, um seinen Hunger zu stillen. Er durchwühlte den Sack weiter und entdeckte das Beinpaar, das er gewonnen hatte.

Die Beine sahen appetitlich aus, aber eigentlich wollte er sie nicht essen. Er erinnerte sich, bei ihrem Anblick eine undeutliche Idee in sich aufkeimen gespürt zu haben, auch wenn er sie schon wieder vergessen hatte. Trotzdem glaubte er, etwas Sinnvolleres mit ihnen anfangen zu können, als sie einfach zu verspeisen, und so lehnte er sie gegen einen Grabstein. Ihr Anblick erweckte in ihm das fast unwiderstehliche Bedürfnis, einen Monolog über sie zu halten. Den Dämonen dieser Zeitepoche erschien es überhaupt nicht seltsam, ein paar hundert Meilen zurückzulegen, nur um ein wirklich geeignetes Objekt zu finden, das zu Selbstgesprächen Anlaß gab. In diesem einsamen hochgelegenen Landstrich Italiens, wo ein heftiger Wind wehte und das ferne Bellen von Schakalen erklang, war das eine besonders angenehme Übung.

»O ihr Beine«, begann Azzie, »ich würde wetten, daß ihr der Dame eures Herzens zum Gefallen voll Anmut wandeltet und euch auch galant verbeugtet, denn ihr seid ein Paar muskulöser und doch gewandter Beine von der Art, auf die die Damen voller Wohlgefallen schauen. O ihr Beine, ich stelle euch mir jetzt vor, gespreizt im uralten Taumel der Wonne und dann verschlungen beim letzten Aufbäumen der Liebe. Als ihr jung wart, o ihr Beine, habt ihr viele stattliche Eichen erklommen, seid geschwind den Ufern vieler strömender Bäche gefolgt und hurtig über die freundlichen grünen Felder eures Heimatlandes gelaufen. So darf ich wohl sagen, daß ihr in kühnem Schwung über manch Gestrüpp und Hecken hinwegsetzt, während ihr euch euren Weg bahntet. Kein Pfad war euch zu lang, und niemals seid ihr ermüdet.«

»Glaubst du?« fragte eine Stimme irgendwo über und hinter Azzie. Der Dämon drehte sich um und erblickte die düster gekleidete Gestalt von Hermes Trismegistus. Es überraschte ihn nicht, daß der Magier ihm hierher gefolgt war. Hermes und die anderen alten Götter schienen einen anderen Weg als Dämonen und Menschen zu beschreiten, einen Weg, für den solche Dinge wie Gut und Böse von keinerlei Bedeutung sind.

»Schön, dich wiederzusehen, Hermes«, sagte Azzie. »Ich habe gerade über dieses Beinpaar philosophiert.«

»Ich habe nicht vor, dich davon abzuhalten«, versicherte Hermes. Er hatte knapp zwei Meter über Azzies Kopf in der Luft geschwebt. Jetzt sank er elegant zu Boden, beugte sich vor und begutachtete die Beine.

»Welcher Art von Mann, glaubst du, haben die gehört?« erkundigte er sich.

Azzie drehte sich um und betrachtete die Beine nachdenklich. »Offensichtlich einem fröhlichen Mann, denn sieh her, sie sind noch immer mit farbenfrohen Wollbändern der Art umwickelt, die es Gecken und selbstgefälligen Burschen angetan hat.«

»Ein Geck, meinst du?«

»Mit ziemlicher Sicherheit, denn schau, wie prächtig die Waden geformt sind, wie perfekt und fein die Muskeln der Oberschenkel. Auch dürften dir die kleinen Füße und ihre hohe aristokratische Wölbung auffallen, die wohlgepflegten Zehen und die gleichmäßig geschnittenen Zehennägel. Darüber hinaus gibt es keine nennenswerten Schwielen an den Fersen oder an den Seiten. Dieser Bursche mußte nicht viel arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, jedenfalls nicht mit den Füßen. Wie, glaubst du, ist er gestorben?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Hermes. »Aber wir können es schnell herausfinden.«

»Beherrschst du irgendeinen Trick?« fragte Azzie. »Irgendeine Form der Beschwörung, die der Masse der gewöhnlichen Dämonen unbekannt ist?«

»Nicht umsonst bin ich der Schutzheilige der Alchemisten«, erklärte Hermes, »die mich anrufen, wenn sie ihre Mixturen zusammenmischen. Sie versuchen, einfaches Metall in Gold zu verwandeln, ich aber kann aus totem Fleisch lebendige Erinnerung machen.«

»Das scheint mir ein nützlicher Trick zu sein«, sagte Azzie. »Kannst du ihn mir demonstrieren?«

»Mit Vergnügen«, erklärte sich Hermes sofort einverstanden. »Laß uns sehen, wie diese Beine ihren letzten Tag verbracht haben.«

Wie bei dererlei Beschwörungen üblich, entstand eine Rauchwolke aus dem Nichts, und das Dröhnen eines Messinggongs erklang. Während Azzie zusah, teilte sich der Rauch, und er sah…

… einen jungen Prinzen, der in die Schlacht zog, um das Schloß seines Vaters zu verteidigen. Er war ein hübscher junger Mann und gut ausgestattet für das Kriegerhandwerk. Er ritt an der Spitze seiner Truppen, die einen beeindruckenden Anblick boten. Ihre scharlachroten und gelben Banner flatterten prächtig im Sommer wind. Dann entdeckte Azzie eine andere Armee voraus. Der Prinz zügelte sein Roß und rief seinen Majordomus zu sich.

»Dort sind sie«, verkündete der Prinz. »Jetzt haben wir sie genau zwischen einem Felsen und einem harten Eisklumpen, wie man in Lappland zu sagen pflegt.«

Bis dahin konnte Azzie das Geschehen verfolgen, dann verblaßte das Bild vor seinen Augen.

»Kannst du erkennen, welches Schicksal ihn ereilt hat?« fragte er.

Hermes seufzte, schloß die Augen und legte den Kopf in den Nacken.

»Ah«, sagte er, »ich habe mich in die Schlacht eingeschaltet, und welch eine herrliche Auseinandersetzung bewaffneter Männer das ist! Sieh, wie wild sie sich aufeinanderstürzen, hör, wie die kunstvoll geschmiedeten Schwerter singen! Ja, jetzt prallen sie zusammen, und alle kämpfen sie tapfer und gewandt. Aber was ist das…? Einer der Männer hat den Kreis der Kämpfenden verlassen. Er ist nicht einmal verwundet, aber schon flieht er! Ist es der ehemalige Besitzer dieser Beine?«

»So ein Feigling!« schrie Azzie, denn ihm war, als könnte er die Schlacht selbst mitverfolgen.

»Aber er kommt nicht ungeschoren davon. Er wird von einem Mann verfolgt, dessen Augen vor Blutdurst gerötet sind, ein riesiger Mann, ein Berserker, einer von denen, gegen die die Franken seit Jahrhunderten kämpfen und die sie die Verrückten aus dem Norden nennen!«

»Ich mag die nördlichen Dämonen auch nicht sonderlich«, bekannte Azzie.

»Der Berserker holt den feigen Prinzen ein. Sein Schwert blitzt auf – ein waagrechter Schlag, mit einer unheimlichen Kombination aus Geschicklichkeit und Wildheit geführt.«

»Das ist einer der schwierigsten Schläge«, kommentierte Azzie.

»Der Schlag wird gut ausgeführt – der hasenfüßige Prinz wird zerteilt. Die obere Körperhälfte rollt durch den Staub, aber seine feigen Beine rennen noch immer, rennen jetzt vor dem Tod davon. Vom Gewicht der oberen Körperhälfte befreit, rennen sie leichtfüßig, auch wenn ihnen allmählich die Energie ausgeht. Aber wieviel Energie benötigt ein Beinpaar, um zu laufen, wenn sich niemand mehr an seinem oberen Ende befindet? Die rennenden Beine werden mittlerweile von Dämonen verfolgt, da sie bereits die Grenzen des Normalen überschritten und das grenzenlose Reich des Möglichen betreten haben, das die Welt des Übernatürlichen ist. Und jetzt, endlich, machen sie ihre letzten stolpernden Schritte, drehen sich, schwanken und stürzen leblos zu Boden.«

»Kurz gesagt, wir haben hier die Beine eines Feiglings vor uns«, stellte Azzie fest.

»Ohne Zweifel ein Feigling, aber eine Art göttlicher Feigling, der selbst noch im Tod vor dem Tod davonläuft, so sehr fürchtete er sich davor, daß das eintreten könnte, was tatsächlich eingetreten ist.«

KAPITEL 2

Nachdem Hermes ihn verlassen hatte, um an einem Ort, der einst Zürich heißen sollte, den Vorsitz einer Versammlung von Zauberpriestern zu leiten, saß Azzie da und brütete vor sich hin. Verdrossen stocherte er an den Beinen herum. Sie waren viel zu wertvoll, um sie als Imbiß zu verzehren. Das war es, was Hermes ihm in seiner typisch umständlichen Art klargemacht hatte.

Was sollte er mit ihnen anfangen? Wieder dachte er über das große Ereignis nach, den Jahrtausendwettkampf. Was er brauchte, war eine Idee, ein Konzept… Er starrte die Beine an und schob sie hin und her. Es mußte irgend etwas geben…

Plötzlich setzte er sich kerzengerade auf. Ja, die Beine! Er hatte es! Eine wunderbare Idee, mit der er sich im Kreis des Bösen bestimmt einen Namen machen konnte. Er hatte eine Idee für den Wettkampf! Sie war unvermittelt aus dämonischer Inspiration geboren worden. Jetzt durfte er keine Zeit mehr verlieren, mußte sich beeilen, um sie anzumelden und sich der Unterstützung durch die Mächte des Bösen zu versichern. Welcher Tag war heute? Er rechnete schnell nach und stöhnte. Es war der letzte Tag, an dem Bewerbungen eingereicht werden konnten. Er mußte vor den Hohen Dämonenrat treten, und zwar unverzüglich.

Nach einem tiefen Atemzug katapulierte er sich von der Erde in die Region des Limbus, wo der Hohe Rat tagte. Zwar ist es nicht allgemein bekannt, aber Dämonen haben die gleichen Probleme wie Menschen, bis zu den Entscheidungsträgern in den Führungsetagen vorzustoßen. Wenn man nicht selbst eine hohe Stellung in der Hierarchie bekleidet, nicht mit einer wichtigen Person verwandt und auch kein talentierter Sportler ist, kann man sich den Gedanken, direkt zur Spitze vorgelassen zu werden, gleich abschminken. Dann muß man die verschiedenen Kanäle durchlaufen, und das kann seine Zeit dauern.

Azzie hatte jedoch keine Zeit mehr. Schon am nächsten Morgen würde das Hohe Komitee seinen Kandidaten bestimmen, und das Spiel würde beginnen.

»Ich muß zum Spielekomitee«, sagte Azzie zu der Dämonenwache vor dem Tor des Ministeriums, das aus einer großen Ansammlung verschiedener Gebäude bestand, teils im barocken Stil und mit verzierten zwiebelförmigen Kuppeln, teils hochmodern und rechtwinklig erbaut, in dem die Belange von Dämonen, Hilfsteufeln und anderen bösen übernatürlichen Kreaturen geregelt wurden. Viele Dämonen arbeiteten hier in der Verwaltung; die unablässigen Bemühungen, die Verhaltensregeln übernatürlicher Geschöpfe festzulegen, verschlangen eine Unmenge an Papier. Die Verwaltung der Übernatürlichen Kreaturen des Bösen war sehr viel umfangreicher als alle vergleichbaren Institutionen der Erde und beschäftigte den größten Teil der höllischen Dämonen in der einen oder anderen Abteilung. Und das geschah trotz der Tatsache, daß die Leitung der Dämonen nie von einer höheren Macht sanktioniert worden war. Die einzige über Gut und Böse stehende anerkannte Macht war das seltsame und nebulöse Gebilde namens Ananke, Notwendigkeit. Es gab keinen sicheren Anhaltspunkt, ob die Befehlskette mit Ananke endete oder sich in noch höhere Regionen erstreckte. Ananke war das letzte Glied, das die dämonischen Theoretiker hatten erfassen können. Die Theoretiker hatten große Schwierigkeiten, mit Ananke zu kommunizieren, weil er oder es so geheimnisvoll war, so ungreifbar, so körperlos und so unkommunikativ, daß es unmöglich war, über irgend etwas Gewißheit zu haben, außer daß er oder es zu existieren schien. Ananke fällte das Urteil über den Wettkampf zwischen Gut und Böse, der alle tausend Jahre ausgetragen wurde. Seine Entscheidung erfolgte auf mysteriöse Weise. Ananke selbst war Gesetz, aber ein Gesetz, das sich nur bruchstückhaft zeigte und sich nie näher erfassen ließ.

Warum sollten Dämonen überhaupt regiert werden? Der Theorie nach waren Dämonen autonome Geschöpfe, die ihren Trieben folgten, das heißt ihrem Drang, Böses zu tun. Doch alle intelligenten Geschöpfe – ob menschlicher oder dämonischer Natur – schienen mit einer angeborenen Perversion behaftet zu sein, die sie dazu zwang, gegen den Strom zu schwimmen, gegen das zu verstoßen, was für sie am besten war, gegen alle Prinzipien aufzubegehren, denen sie eigentlich folgen sollten. Deshalb bedurften Dämonen unbedingt der wichtigsten Institution einer jeden Regierung, eines Amtes für Konformität – was ihnen einen höllischen Spaß bereitete, waren ihre führenden Theoretiker doch der Meinung, daß die Festsetzung und Durchführung standardisierter Formen des Bösen noch schlimmer – bösartiger – war, als das Begehen böser Taten selbst. Es war nicht leicht, sich in diesem Punkt sicher zu sein, aber es klang durchaus stichhaltig.

Azzie legte ein ziemlich nonkonformistisches Verhalten an den Tag, als er an den Wachen vorbeistürmte, die ihn mit hängenden Unterkiefern anstarrten, denn sein Benehmen war eindeutig undämonisch. Im Umgang mit Vorgesetzten neigen Dämonen gewöhnlich zu Speichelleckerei. Dennoch zögerten sie, ihm hinterherzujagen und ihn aufzuhalten. Der fuchsköpfige junge Dämon hatte mehr als nur ein bißchen verrückt gewirkt, und sollte der Eindruck nicht täuschen, könnte er vielleicht von höheren Mächten, das heißt von Satan selbst inspiriert sein, in dessen Diensten sich abzurackern für alle dämonischen Kräfte ein Glaubensbekenntnis war.

Azzie rannte durch die Flure des Ministeriums, und ihm war nur zu gut bewußt, warum die Wächterdämonen nicht versucht hatten, ihn aufzuhalten. Das konnte ihm nur recht sein, auch wenn er selbst wußte, daß er keineswegs inspiriert war und der Hohe Rat alles andere als erfreut über sein Verhalten sein würde. Ihm dämmerte die Erkenntnis, daß er einen sehr großen Fehler begangen und sich mehr vorgenommen hatte, als er zu leisten in der Lage war. Aber er verdrängte diesen Gedanken sofort wieder, und seine Entschlossenheit wuchs. Nachdem er einmal diesen Weg eingeschlagen hatte, würde er ihm auch weiter folgen müssen.

Er hastete auf einer Seite einer beeindruckenden Doppeltreppe empor, bog links ab, warf beinahe eine Urne mit frisch gepflücktem Frühlingsunkraut um, rannte den Flur entlang, bog bei jeder sich bietenden Gelegenheit links ab und eilte an untergeordneten Dämonen vorbei, die mit Akten und Formularen beladen waren, bis er eine hohe Bronzetür erreicht hatte. Azzie wußte, daß sein Ziel dahinter liegen mußte. Er stieß die Tür auf und trat ein.

Die Konferenz der Mächte des Bösen war in vollem Gang, als Azzie hineinplatzte. Es war keine fröhliche Runde. Unzufriedenheit beherrschte die bestialischen Gesichter der führenden Dämonen, Mundwinkel waren herabgezogen, Augen gerötet und verquollen.

»Was soll das?« fragte Belial und erhob sich auf seinen Ziegenfüßen, um Azzie, der sich tief verbeugte, besser in Augenschein nehmen zu können.

Azzie, dessen Stimmbänder plötzlich wie gelähmt waren, brachte lediglich ein Stammeln zustande und starrte ihn an.

»Das ist doch wohl offensichtlich, oder?« ließ sich Azazel vernehmen, zog die mächtigen Schultern hoch und legte seine dunklen Schwingen in Falten. »Es ist ein Dämon aus dem gewöhnlichen Fußvolk, der sich erdreistet, uns ohne Grund zu belästigen. Ich begreife nicht, was sich die jungen Leute heutzutage alles herausnehmen. Zu meiner Zeit war das noch ganz anders. Damals hatten junge Dämonen noch Respekt vor den Älteren und haben versucht, ihr Wohlwollen zu erringen. Heute rotten sie sich in Banden zusammen, Abschaumbanden nennen sie sich, wie ich gehört habe, und es ist ihnen völlig egal, wen sie mit ihrem Radau belästigen. Und nicht genug damit, jetzt haben sie sogar einen aus ihren Reihen ausgeschickt, um in unser inneres Sanctorum einzudringen und uns zu verhöhnen.«

Belial, ein alter Rivale Azazels, schlug mit dem Huf auf den Tisch und sagte genüßlich: »Der überaus ehrenwerte Kollege hat die bemerkenswerte Begabung, eine Störung durch einen einzelnen Dämon zu einem Anschlag einer Abschaumbande auf dem Kriegspfad aufzubauschen. Ich sehe hier aber keine Bande, nur einen einzelnen, eher dümmlich dreinschauenden Dämon. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, daß die Bezeichnung Sanctum in diesem Fall zutreffender als Sanctorum ist, was der ehrenwerte Kollege wissen würde, hätte er irgendwann einmal die gute alte Muttersprache, nämlich Latein, gelernt.«

Azazels Augen loderten auf, kleine blaue Rauchwölkchen drangen aus seiner Schnauze, ätzende Säure tropfte aus seiner Nase und fraß Löcher in die Tischplatte aus Eisenholz. »Ich verbitte es mir, mich von einem Naturgeist und Emporkömmling beleidigen zu lassen, der zu einem Dämon gemacht worden ist, anstatt als solcher geboren zu sein, und von dem man auf Grund seiner zweifelhaften Herkunft nicht erwarten kann, die wahre Natur des Bösen zu verstehen.«

Andere Konferenzteilnehmer forderten lautstark Gehör, denn Dämonen lieben es, darüber zu diskutieren, wer das Böse wirklich versteht, wer am bösesten ist und wem es dagegen an Schlechtigkeit mangelt. Mittlerweile hatte Azzie jedoch seine Fassung wiedergewonnen. Ihm war klar, daß sich die Aufmerksamkeit der Dämonenfürsten schon bald auf ihn richten würde. Also beeilte er sich, sein unverfrorenes Eindringen zu verteidigen.

»Meine Herren«, sagte er, »es tut mir leid, der Anlaß für Ihren Streit zu sein. Ich wäre nicht unangemeldet bei Ihnen hereingeplatzt, wenn ich Ihnen nicht etwas Dringendes mitzuteilen hätte.«

»Ja, warum bist du gekommen?« fragte Belial. »Und wie ich feststelle, hast du auch keine Geschenke mitgebracht, wie es die Sitten erfordern. Was hast du zu deiner Rechtfertigung zu sagen?«

»Ich komme ohne Geschenke, das ist richtig«, räumte Azzie ein. »Das lag an meiner Eile, und ich bitte dafür um Verzeihung. Aber ich habe etwas mitgebracht, das noch wichtiger ist.«

Er legte eine Pause ein. Es war dieses dämonische Gespür für Dramatik, das ihn einen Moment lang verstummen ließ, anstatt die Worte nur so hervorzusprudeln.

Auch die Dämonenfürsten verstanden das eine oder andere über dramatische Präsentation. Sie starrten Azzie in anklagendem Schweigen an. Nach einer Weile, die Ewigkeiten zu währen schien, meldete sich schließlich Belphegor zu Wort, der den sehnlichen Wunsch verspürte, daß Komitee zu verlassen, um ein kleines Nickerchen zu machen: »Also gut, verfluchter Kerl, was bringst du mit, das wichtiger als Geschenke ist?«

»Was ich Ihnen bringe, meine Herren«, sagte Azzie mit leiser und heiserer Stimme, »ist das kostbarste Gut, das es gibt. Eine Idee.«

KAPITEL 3

Azzies Worte trafen genau den wunden Punkt der Dämonenfürsten, nämlich ihr Bedürfnis nach einer Idee für die bevorstehenden Lichtgegen-Finsternis-Feierlichkeiten, nach einem Drama, das ihre Eintrittskarte für den Kampf zwischen Gut und Böse war und dessen Ergebnis – gemäß der dämonischen Lehre – die Überlegenheit des Bösen beweisen und ihm damit das Recht einräumen würde, die Geschicke der Menschheit während der nächsten tausend Jahre zu dominieren.

»Was für eine Idee ist das?« wollte Belial wissen.

Azzie verbeugte sich tief und begann, ihnen die Geschichte vom Märchenprinzen zu erzählen.

Märchen haben für Dämonen eine ebenso große Bedeutung wie für die Menschen und erfreuen sich der gleichen Beliebtheit. Alle Dämonenfürsten kannten die Geschichte vom Märchenprinzen – wie sich ein Jüngling auf den Weg machte, um eine Prinzessin zu retten, die durch einen Zauberspruch in ewigem Schlaf gefangen war. Der Märchenprinz kämpfte sich mit Hilfe seines reinen Herzens und aufrechten Geistes durch die mannigfaltigen Gefahren, die die Prinzessin umgaben, bestand sie alle, schlug sich einen Weg durch die Dornenhecken zu ihrem Schloß, erklomm den Glasberg, auf dem der Palast thronte, und küßte sie, worauf sie erwachte. Dann heirateten sie, und wenn sie nicht gestorben sind…

Azzie schlug vor, diese hübsche Geschichte zu inszenieren, aber mit Charakteren, die er selbst entwarf.

»Meine Herren, geben Sie mir eine Vollmacht, frei auf die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör zurückgreifen zu können, und ich werde einen Prinzen und eine Prinzessin kreieren, die anders als die Personen des bekannten Märchens agieren und diese öde Geschichte völlig auf den Kopf stellen werden. Mein Pärchen wird zu einem anderen Ende gelangen. Seine Entscheidungen, die es aus freiem Willen treffen wird – mit einem Minimum an Einmischung meinerseits –, werden zum Vergnügen unserer Freunde und zum Ärger unserer Feinde eindeutig belegen, daß das Böse unweigerlich den Sieg über den menschlichen Geist davontragen muß, wenn man ihm freie Hand läßt.«

»Keine schlechte Idee«, meinte Azazel. »Aber was läßt dich glauben, daß deine Protagonisten so handeln werden, wie du es dir vorstellst, wenn man ihnen den freien Willen läßt?«

»Dafür kann durch eine sorgfältige Auswahl der Körperteile Vorkehr getroffen werden«, erklärte Azzie, »sowie durch eine angemessene Schulung, nachdem die Teile zusammengefügt und als Menschen zum Leben erweckt worden sind.«

»Sorgfältige Auswahl?« fragte Phlegethon. »Was meinst du damit?«

»Hier ist schon der erste Teil«, erwiderte Azzie, »auf dessen Grundlage ich meinen Märchenprinzen erschaffen will.«

Er zog das Beinpaar, das er beim Pokerspiel gewonnen hatte, aus der Segeltuchtasche. Die Dämonenfürsten beugten sich vor, um es zu inspizieren. Unter dem gemeinsamen Einfluß ihrer Blicke löste sich eine Wolke fleischlicher Erinnerung aus den Gliedmaßen, so daß jeder Dämon die Geschichte des Beinpaars verfolgen und miterleben konnte, wie sein Besitzer es verloren hatte.

»In der Tat ein teuflisch feiges Beinpaar«, stellte Belial fest.

»Richtig, Herr«, sagte Azzie. »Ein Prinz mit solchen Beinen würde nie einen gefahrvollen Weg beschreiten können. Die Beine selbst würden ihn fast von allein schmachvoll in Sicherheit springen lassen!«

»Ist das das beabsichtigte Ziel der von dir geplanten Scharade?« fragte Belial.

»Nein, Herr, das ist es nicht«, widersprach Azzie. »Ich bitte Sie darum, nicht von mir zu verlangen, den gewünschten Ausgang meines Plans schon so früh zu offenbaren, denn ein Großteil des Vergnügens besteht darin, die kreativen Einfalle zu verfolgen, ohne das Endergebnis zu genau im voraus zu kennen.«

Azzie hätte Schwierigkeiten mit der Umsetzung seines Planes haben können, aber der Termin, einen Kandidaten ins Rennen zu schicken, stand unmittelbar bevor, und bisher hatte niemand einen besseren Vorschlag unterbreitet. Also nickten die versammelten Dämonenfürsten einmütig.

»Ich denke, wir haben hier eine brauchbare Idee«, sagte Belial. »Was meinen Sie dazu, werte Kollegen?«

Die anderen knurrten und scharrten mit Füßen und Klauen, erklärten sich aber schließlich einverstanden.

»Dann führ deinen Plan aus und tu, was du versprochen hast«, wandte sich Belial wieder an Azzie. »Du bist unser gewählter Vertreter. Geh und verbreite in unseren Namen Böses und Entsetzen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Azzie, aufrichtig bewegt. »Aber ich werde Geld für mein Vorhaben benötigen. Körperteile, wie sie mir vorschweben, sind nicht billig. Und da sind dann noch die anderen Dinge, die ich brauchen werde – zwei Schlösser, eins für jeden Protagonisten, und ein Haus für mich selbst als Operationsbasis. Außerdem den Lohn für einen Diener und einiges mehr.«

Die Fürsten händigten ihm eine Schwarze Kreditkarte mit einem geprägten Pentagramm unter seinem in feurigen Lettern eingebrannten Namen aus, die an jedem dunklen und finsteren Ort einzulösen war. »Damit erhältst du sofort unbegrenzten Kredit bei der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör. Du kannst dich jederzeit und überall an sie wenden, wenn du einen verruchten Ort findest, an dem du die Karte einreichen kannst. So wie die Welt beschaffen ist, sollte dir das allerdings keine Schwierigkeiten bereiten. Außerdem hilft die Karte bei der Kontrolle meteorologischer Phänomene.«

»Aber du mußt deinen Held und deine Heldin selbst einbringen«, gab Azazel Azzie zu bedenken. »Und natürlich unterliegt die Leitung der Handlung einzig und allein deiner Verantwortung.«

»Einverstanden«, sagte Azzie. »Anders wollte ich es auch gar nicht haben.«

KAPITEL 4

Hätte irgend jemand aus einem der hohen Fenster des steilen schmalen Hauses geschaut, das sich eng an den Marktplatz des Dorfes Hagenbeck schmiegte, hätte er einen Mann beobachten können, der mit der öffentlichen Kutsche aus Troyes eintraf. Dieser Mann war groß und attraktiv. Er war weder alt noch jung und hatte ein nicht unansehnliches Gesicht, das eine gewisse Strenge ausstrahlte und seinen Besitzer als einen Mann von beachtlichem Durchsetzungsvermögen auswies. Der Mann trug Kleidung aus gutem englischen Stoff und Schuhe, die mit schönen Messingschnallen verziert waren. Er stieg in Hagenbeck aus der Kutsche, begab sich auf direktem Weg zum Gasthaus und erkundigte sich nach einem Quartier. Als Herr Glück, der Besitzer des Hauses, die Frage nach der Zahlungsfähigkeit des Neuankömmlings anschnitt, förderte Azzie (denn niemand anders war der Fremde) einen Geldbeutel zutage, der mit unzähligen spanischen Goldmünzen in Form von Dublonen gefüllt war.

»Sehr wohl, Herr«, sagte der Gastwirt und buckelte ausgiebig, um seiner Wertschätzung Ausdruck zu verleihen. »Unser bestes Gästezimmer ist zur Zeit frei. Normalerweise ist es belegt, aber alle sind zum großen Jahrmarkt in Augsburg gegangen.«

»Dann nehme ich es«, entschied Azzie.

Das Zimmer war sehr schön und hatte ein großes Fenster. Es gab sogar einen kleinen Waschraum, in dem man sich frisch machen konnte, auch wenn Dämonen solche Dinge kaum in Anspruch nehmen.

Zuerst legte sich Azzie auf das große Bett mit den Daunendecken und den herrlichen gut gefüllten Kopfkissen. Er hatte den Eindruck, als hätte seine eigentliche Karriere endlich begonnen. Es erstaunte ihn, wie schnell er von einem unbedeutenden Arbeiter in Nordpein 405 zum Impressario eines prächtigen neuen Spiels für die Feier zur Jahrtausendwende aufgestiegen war. Eine Zeitlang blieb er auf dem Bett liegen und dachte über sein Glück nach, aber dann stand er voller Tatendrang wieder auf, um mit der Umsetzung seines Plans zu beginnen.

Als erstes brauchte er einen Diener. Er beschloß, sich beim Wirt zu erkundigen.

»Natürlich braucht Ihr einen Diener«, bestätigte der dicke Gastwirt. »Es hat mich gleich erstaunt, daß ein feiner Herr wie Ihr ohne Dienerschaft und eine große Reisetruhe gekommen ist. Da Ihr Geld habt, sollte das leicht zu erledigen sein.«

»Ich brauche allerdings eine besondere Art von Diener«, erklärte Azzie. »Jemanden, den man mit Aufgaben höchst ungewöhnlicher Natur beauftragen kann.«

»Dürfte ich erfahren, von welcher Natur Eure Exzellenz sprechen?« fragte der Wirt.

Azzie musterte den Mann genau. Er war dick und sah gemütlich aus, aber es lag auch ein finsterer Ausdruck in seinen Zügen. Diesem Mann waren böse Taten nicht fremd. Er gehörte zu den Menschen, die vor nichts halt machten, die ein gewisses Vergnügen bei Gedanken an böse Taten empfanden, weil sie dabei die Aufregung erlebten, die ihnen ihr normales Leben nicht bieten konnte.

»Herr Wirt«, sagte Azzie, »was ich verlange, sind Dinge, die sich vielleicht nicht immer völlig im Rahmen der königlichen Gesetze bewegen.«

»Ja, Herr«, erwiderte der Wirt.

»Ich habe hier eine kleine Liste mit den Eigenschaften zusammengestellt, die ich von einem Diener erwarte«, sagte Azzie. »Ich möchte, daß Ihr sie irgendwo anheftet.«

Er reichte dem Gastwirt ein Pergament. Der Mann nahm es entgegen und schob es vor seiner Nase hin und her, bis er es in die richtige Leseentfernung gebracht hatte.

Der Text lautete: Diener gesucht, ein Mann, der nicht zimperlich ist, mit Blut und Schmerzen vertraut, ehrlich, zuverlässig und zu allem bereit.

Der Wirt las den Text ein paar Mal und sagte schließlich: »Ein solcher Mann könnte gefunden werden, wenn nicht hier in Hagenbeck, dann im nahe gelegenen Augsburg. Aber es wäre mir ein Vergnügen, dieses Pergament an meine Vorderwand neben die Preislisten für Heu und Hafer zu nageln. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.«

»Tut das«, forderte Azzie ihn auf. »Und schickt mir eine Flasche Eures besten Weins auf mein Zimmer, für den Fall, daß das Warten langweilig werden sollte.«

Der Gastwirt verbeugte sich tief und verzog sich. Nach wenigen Minuten schickte er das Dienstmädchen zu Azzie hinauf, ein bedauernswertes Ding mit einem entstellten Gesicht und einem schleppenden Gang, das nicht nur die Weinflasche, sondern auch einen Teller mit kleinen Kuchen brachte, die der Koch gerade erst gebacken hatte. Azzie gab ihr einen Silberpenny, für den sie sich rührend dankbar zeigte. Dann machte er es sich bequem und aß und trank. Natürlich benötigen Dämonen eigentlich keine Nahrung, aber wenn sie menschliche Gestalt annehmen, übernehmen sie damit auch menschliche Bedürfnisse. Die Lust am Essen und Trinken gehört dazu. Azzie aß ausgiebig und ließ sich danach die Amselpastete bringen, deren Duft er aus dem Backofen der gut ausgestatteten Küche der Herberge auf steigen roch.

Es dauerte nicht lange, bis der erste Bewerber an seine Tür klopfte. Es war ein hochgewachsener junger Mann, strohdünn und mit einem wilden hellblonden Haarschopf, der seinen Kopf wie eine Art Heiligenschein umwallte. Seine Kleidung war ordentlich, wenn auch ziemlich stark geflickt. Er machte einen gepflegten Eindruck und verneigte sich tief, als Azzie die Tür öffnete.

»Sire«, sagte der Fremde, »ich habe Eure Notiz gelesen und bin unverzüglich gekommen, um mich Euch vorzustellen. Mein Name ist Augustus Hye, und ich bin Poet von Beruf.«

»Tatsächlich?« fragte Azzie. »Was ich zu bieten habe, ist eine etwas ungewöhnliche Stellung für einen Poeten.«

»Ganz und gar nicht, Sire«, entgegnete Hye. »Poeten müssen sich zwangsläufig mit den extremsten menschlichen Gefühlen beschäftigen. Blut und Schmerzen wären mir sehr recht, da sie gute Themen für meine Gedichte liefern, in denen ich die Vergeblichkeit des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes behandeln möchte.«

Was Azzie hörte, stellte ihn nicht völlig zufrieden. Der Poet schien nicht richtig für diese Aufgabe geeignet zu sein. Trotzdem beschloß Azzie, ihm eine Chance zu geben.

»Kennst du die örtlichen Friedhöfe?« fragte er.

»Natürlich, Herr. Friedhöfe sind bevorzugte Orte für Poeten, die nach innerer Einkehr suchen, um sich große und leidvolle Taten zu vergegenwärtigen.«

»Dann eile heute abend nach Monduntergang zu einem solchen Ort und bring mir einen alten menschlichen Schädel, ob mit oder ohne Haar spielt keine Rolle. Und wenn du mir noch ein paar Frauenfinger mitbringen könntest, um so besser.«

»Frauenfinger, Sire?« Der Poet schielte auf die Weinflasche, die Liebfrauenmilch enthielt. »Sprecht Ihr von einer Weinsorte dieses Namens?«

»Nein«, widersprach Azzie, »ich meine genau das, was das Wort beschreibt.«

Hye blickte unbehaglich drein. »Solche Dinge sind schwer zu erhalten.«

»Das weiß ich«, sagte Azzie. »Wäre es einfach, würde ich mich selbst auf den Weg machen, um welche zu besorgen. Und jetzt geh und sieh zu, was du tun kannst.«

Augustus Hye verschwand nicht gerade glücklich. Seine Hoffnung sank bereits. Wie alle Poeten war er eher darin geübt, über Blut und Schmerzen zu sprechen, als sich tatsächlich die Hände damit schmutzig zu machen. Trotzdem hatte er beschlossen, einen Versuch zu wagen, weil Lord Azzie, wie sich der Fremde nannte, offensichtlich ein wohlhabender Mann war und vermutlich sehr großzügig sein konnte.

Azzies nächster Besucher war eine alte Frau. Sie war groß und schlank, ganz in Schwarz gekleidet, und sie hatte kleine Augen und eine lange Nase. Ihr Lippen waren dünn und blutleer.

»Ich weiß, daß Ihr eigentlich einen Mann sucht«, sagte sie, nachdem sie einen tiefen Knicks gemacht hatte, »aber ich hoffe, Ihr besteht nicht darauf. Ich würde eine wunderbare Dienerin für Euch sein, Lord Azzie, und Ihr könntet Euch gleichzeitig an meinen Vorzügen erfreuen.«

Azzie erschauderte. Diese alte Vettel mußte wirklich eine blühende Phantasie haben, wenn sie glaubte, irgendein Edelmann – oder ein als Edelmann getarnter Dämon – könnte sie zu irgend etwas anderem gebrauchen, als sich nach einem langen Tagesritt von ihr die Stiefel ausziehen zu lassen. Trotzdem beschloß er, ihr gegenüber nicht ungerecht zu sein.

Er wiederholte die Anweisungen, die er bereits dem Poeten gegeben hatte. Wie Hye schien auch die alte Frau, die Agatha hieß, überrascht zu sein. Sie gehörte zu den Menschen, die Äußerlichkeiten für den wesentlichen Teil des Bösen halten. Jahrelang hatte sie nur auf Grund ihrer Erscheinung und des daraus resultierenden Rufs, was böse Taten betraf, ihren Lebensunterhalt in Hagenbeck bestreiten können. Sie hatte geglaubt, daß dieser Posten genau die richtige Aufgabe für sie sein würde, da sie bereits wie jemand aussah, der vor keiner Schandtat zurückschreckte und sich an Blut und Schmerzen erfreute. Doch trotz ihrer äußeren Erscheinung war sie eine Frau, der es bereits schwerfiel, einem Huhn den Kopf abzuhacken. Trotzdem versprach sie, ihr Bestes zu tun und gegen Mitternacht mit ihrer Beute zurückzukehren.

Das waren alle Bewerber, die an diesem Tag erschienen. Azzie war nicht sonderlich zufrieden. Die Menschen in diesem Teil der Welt schienen wenig Lust zu verspüren, seine Art von Arbeit zu leisten. Aber er würde nicht aufgeben. Es war absolut unverzichtbar, einen Diener zu haben.

KAPITEL 5

An diesem Nachmittag besuchte Azzie die nahe gelegene Stadt Augsburg und verbrachte den Rest des Tages damit, umherzuschlendern und sich die uralten Kirchen anzusehen. Dämonen sind äußerst interessiert an Kirchen, die trotz der Kräfte des Guten, die sie beherbergen, oft so umgedreht werden können, daß sie dem Bösen dienen. Am frühen Abend kehrte er in das Gasthaus Zum Gehängten zurück, wo er von dem Wirt erfuhr, daß sich niemand mehr für die ausgeschriebene Stellung beworben hatte.

Er zog seine schwarze Kreditkarte hervor und betrachtete sie genauer. Es war eine schöne Karte, und er verspürte den Drang, etwas damit zu bestellen, das ihm Spaß bereiten würde, zum Beispiel ein paar Tänzerinnen. Aber er entschied sich dagegen. Immer eins nach dem anderen. Zuerst brauchte er einen menschlichen Diener. Danach würden sowohl die Arbeit als auch das Vergnügen beginnen.

Am Abend beschloß er, seine Mahlzeit mit den Händlern unten im Schankraum einzunehmen. Er hatte sich einen besonderen Tisch reservieren lassen, der durch einen Vorhang verdeckt war, aber er zog ihn einen kleinen Spalt zur Seite, um das Treiben der anderen Gäste beobachten zu können.

Sie aßen, tranken und zechten, und Azzie fragte sich, wie sie nur so unbekümmert sein konnten. Spürten sie denn nicht, daß die Jahrtausendwende näher rückte? Überall sonst in Europa wußten die Menschen Bescheid und ergriffen alle denkbaren Vorkehrungen. Es gab Totentänze auf verfluchten Heideflecken und alle Arten von Zeichen und Omen. Viele Leute waren überzeugt, daß das Ende der Welt bevorstand. Einige suchten Zuflucht in Gebeten. Andere, die glaubten, verdammt zu sein, vertrieben sich die Zeit mit Schlemmen und sexuellen Aktivitäten. An dutzenden Orten in Europa war der Todesengel gesichtet worden, der die Gegend auskundschaftete und vorläufige Listen derjenigen erstellte, die aus dem Leben gerissen werden würden. In Kirchen und Kathedralen wurden Schutzgebete gegen Promiskuität und Vergnügungssucht intoniert. Aber all das war ziemlich sinnlos. Die Menschen waren durch das Nahen des schrecklichen Jahres aufgewühlt und verängstigt, in dem angeblich die Toten durch die Straßen wandeln, der Antichrist auf dem Land gesehen und sich alle Dinge zur Apokalypse zusammenfinden würden, der letzten großen Schlacht zwischen Gut und Böse.

Azzie konnte mit diesem vulgären Aberglauben nichts anfangen. Er wußte, daß das Spiel der Menschheit noch lange nicht ausgespielt war. Es würden noch viele tausend Jahre lang Wettkämpfe wie der kurz bevorstehende stattfinden, so wie es sie schon seit Jahrtausenden in der Vergangenheit gegeben hatte, auch wenn im Gedächtnis der Menschen nur äußerst verworrene Erinnerungen daran zurückgeblieben waren.

Schließlich wurde Azzie müde und zog sich auf sein Zimmer zurück. Es blieb noch etwa eine halbe Stunde bis Mitternacht. Er rechnete nicht damit, daß Hye oder Agatha wiederkommen würden. Sie schienen nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt zu sein. Trotzdem beschloß er, aus Gründen der Höflichkeit wach zu bleiben.

Die Minuten schleppten sich dahin, und Stille legte sich über das Dorf. Dies war die Zeit, die Azzie am meisten liebte, wenn die Mitternacht unmittelbar bevorstand, sich das Erscheinungsbild der Welt veränderte, die freundliche Abenddämmerung vergessen und die erlösende Morgendämmerung noch fern war. In diesen Stunden zwischen Mitternacht und Morgendämmerung fühlt sich das Böse am wohlsten, ist am unternehmungslustigsten und verspürt das größte Bedürfnis nach unerhörten Taten und Sünden, den größten Drang, die alles durchdringenden Perversionen zu erschaffen, die ständig erneuert werden müssen und die Seele des Bösen entzücken.

Die Mitternacht kam und verstrich, und niemand klopfte an seine Tür. Azzie begann sich zu langweilen, und das große Bett mit seinen flauschigen Eiderdaunendecken sah ungeheuer einladend aus. Es stellte eine Versuchung dar, und da von Dämonen nicht erwartet wird, Versuchungen zu widerstehen, gab er ihr nach, legte sich ins Bett und schloß die Augen. Er fiel in einen tiefen Schlaf und träumte.

In seinem Traum erschienen drei ganz in Weiß gekleidete junge Mädchen, die geheiligte Gegenstände in den Händen hielten. Sie winkten ihm zu und sagten: »Komm, Azzie, nimm teil an unserem frohen Treiben.« Und als Azzie sie betrachtete, verspürte er eine große Lust, sich zu ihnen zu gesellen, denn sie winkten und zwinkerten ihm sehr verführerisch zu. Aber sie hatten irgend etwas an sich, das ihm nicht gefiel, das seinem kundigen Auge verriet, daß sie das Böse nicht wirklich mochten und ihm nur etwas vorspielten, um ihn in ihre Fänge zu locken. Trotzdem fühlte er sich beinahe gegen seinen Willen zu ihnen hingezogen, obwohl er sich einige Zeilen des Glaubensbekenntnisses des Bösen ins Gedächtnis rief, die besagten, daß das Gute in der Lage war, eine angenehme Gestalt anzunehmen, und sich ein Dämon vorsehen mußte, um sich nicht von etwas verführen zu lassen, das nur scheinbar böse war. Aber das Credo half ihm nicht. Die Mädchen streckten die Hände nach ihm aus…

Er sollte nie erfahren, wie der Traum weitergegangen wäre, denn in diesem Augenblick wurde er von einem Klopfen an der Tür geweckt. Er setzte sich auf und riß sich zusammen. Wie lächerlich es doch war, sich davor zu fürchten, vom Guten verführt zu werden! Das war eine unter Dämonen weitverbreitete Angst, und es erschreckte ihn, davon zu träumen.

Das Pochen wiederholte sich.

Azzie überprüfte sein Aussehen in dem gesprungenen Spiegel. Er strich seine Augenbrauen glatt und das rote Haar zurück und setzte versuchsweise einen finsteren Blick auf. Ja, er sah heute nacht eindeutig furchteinflößend aus, bereit für jeden Bewerber, der durch die Tür treten mochte.

»Herein«, sagte er.

Er war mehr als nur ein bißchen überrascht, als die Tür geöffnet wurde und er seinen Besucher erblickte.

Der Mann, der sein Zimmer betrat, war ihm unbekannt. Er war sehr klein, hatte einen großen Buckel und trug eine weite schwarze Kutte, deren Kapuze zurückgeschlagen war. Sein langes knochiges Gesicht war leichenblaß. Als er näher kam, bemerkte Azzie, daß er sich auf einen Stock stützte.

»Wer bist du, daß du mich zu einer solch späten Stunde aufzusuchen wagst?« fragte Azzie.

»Mein Name ist Frike«, antwortete der lahme Bucklige. »Ich komme wegen Eurer Anzeige. Wie es scheint, wünscht Ihr einen Diener, der zu allem bereit ist. Ich empfehle mich Euch als genau die richtige Person.«

»Du hast keine Scheu, dich anzupreisen«, sagte Azzie, »aber es waren zwei Bewerber vor dir da. Ich habe ihnen eine einfache Aufgabe gestellt und warte seither auf ihre Rückkehr.«

»Ah, ja«, entgegnete Frike. »Ich bin ihnen zufällig begegnet, dem Poeten und der alten Vettel. Sie standen vor dem Eingang zum Friedhof und haben versucht, den Mut aufzubringen, das zu tun, was Ihr ihnen aufgetragen habt.«

»Sie hätten sich nicht so sehr verspäten dürfen«, sagte Azzie. »Der Termin für ihre Rückkehr ist schon überschritten.«

»Nun, Meister, beide haben einen gewissen unglücklichen Unfall erlitten«, erklärte Frike. »Deshalb bin ich an ihrer Stelle gekommen.«

»Was für einen Unfall?« wollte Azzie wissen.

»Mein Herr«, sagte Frike, »ich habe die Dinge mitgebracht, die zu besorgen Ihr ihnen aufgetragen habt.«

Er griff unter seine Kutte, holte eine Tasche aus dunkelbraunem Rindsleder hervor, entnahm ihr zwei in Sackleinen eingewickelte Gegenstände und faltete den Stoff des ersten Päckchens auseinander. Es enthielt acht Finger und einen Daumen, die säuberlich von der Hand abgetrennt worden waren, vermutlich mit einem Rasiermesser.

»Seht her«, verkündete Frike. »Die Frauenfinger.«

»Sie sind etwas gummiartig«, sagte Azzie. Er untersuchte die Finger und knabberte an einem.

»Es waren die besten, die ich auf die Schnelle beschaffen konnte«, erwiderte Frike.

»Und warum sind sie nicht vollständig? Da fehlt ein Daumen!«

»Euer Hochwohlgeboren haben es wahrscheinlich nicht bemerkt«, erklärte Frike, »da es unter Eurer Würde liegt, auf solche Kleinigkeiten zu achten, aber ich möchte Euch darauf hinweisen, Sire, daß Agatha, die sich um die Stellung als Eure Dienerin beworben hat, ein Daumen fehlte. Ich weiß nicht, auf welche Weise sie ihn verloren hat, und ich fürchte, daß ich es jetzt nicht mehr für Euch herausfinden kann.«

»Das ist nicht besonders wichtig«, winkte Azzie ab. »Aber ich habe auch nach einem Kopf verlangt.«

»Ach, ja«, sagte Frike. »Die Prüfung, die Ihr dem Poeten auferlegt habt. Man sollte annehmen, Herr, daß das eine einfache Aufgabe sein müßte, da unser Friedhof voll von diesen Exemplaren ist. Aber der Bursche ist lange vor dem Friedhof auf und ab gelaufen, bevor er ihn endlich betreten hat. Er hat seinen Spaten einmal hier und dann wieder dort in die Erde gestoßen, bis ich es leid war, darauf zu warten, daß er seine Arbeit endlich beendet. Also habe ich mir die Freiheit genommen, Herr, das von Euch gewünschte Objekt selbst zu besorgen und mich dabei gleichzeitig meines Konkurrenten zu entledigen.«

Mit diesen Worten öffnete er das zweite Päckchen und förderte den Kopf des Poeten zutage.

»Nicht sauber abgetrennt, wie ich sehe«, tadelte Azzie, wenn auch nur der Form halber, denn er war sehr angetan von der Arbeit dieses Bewerbers um die Stellung als sein Gehilfe.

»Ich bedauere, daß ich nicht die Zeit hatte, um auf die Gelegenheit für den richtigen Schnitt zu warten«, entschuldigte sich Frike. »Aber da er hier allgemein als schlechter Poet bekannt war, darf ich wohl behaupten, daß er selbst auch keinen guten Schnitt gemacht hat.«

»Frike, das hast du sehr gut gemacht. Du wirst sofort in meine Dienste treten. Ich denke, du bist ein Prachtexemplar unter den Sterblichen. Und weil du dich so gut angestellt hast, bin ich überzeugt, daß es dir keine Schwierigkeiten bereiten wird, mir auch die anderen gewünschten Dinge zu besorgen, sobald ich das Gelände ausgekundschaftet und dir alles erklärt habe.«

»Ich hoffe, Euch gut dienen zu können, Gebieter«, sagte Frike.

Azzie ging zu seiner Truhe, zog einen kleinen Beutel aus Hirschleder hervor und entnahm ihm vier Goldtaler. Er reichte sie Frike, der sich dankbar tief verbeugte.

»Und jetzt müssen wir uns an die Arbeit machen«, verkündete Azzie. »Mitternacht ist angebrochen, die Zeit des Bösen. Bist du zu allem bereit, Frike?«

»Das bin ich.«

»Und was erwartest du als Lohn?«

»Nur das Privileg, Euch weiter dienen zu dürfen, Herr«, erwiderte Frike. »Sowohl jetzt als auch nach dem Tod.«

Die Antwort machte Azzie klar, daß Frike wußte, wer – oder vielmehr was – sein neuer Herr war. Es freute ihn, einen so intelligenten Diener gefunden zu haben. Er trug Frike auf, die Sachen zu packen. Sie würden sofort mit der Arbeit beginnen.

KAPITEL 6

Bevor er die nächsten Schritte unternehmen konnte, benötigte Azzie eine Operationsbasis. Die Herberge Zum Gehängten hatte viele Vorzüge, war aber zu klein, und die anderen Gäste würden zwangsläufig neugierig werden. Außerdem war da das Problem des unvermeidlichen Gestanks, der sich einstellen würde, wenn Azzie und Frike die benötigten Körperteile sammelten. Azzie kannte einige universelle Zaubersprüche, um Menschenfleisch relativ frisch zu halten, aber nicht einmal ein magischer Zauberspruch vermochte den Geruch nach Tod und Verwesung fernhalten, der über seiner Arbeit schwebte. Auch Männer anzustellen, die Eis aus den Alpen holten, wäre keine befriedigende Lösung gewesen, denn einen ständigen Nachschub sicherzustellen, hätte einen immensen Aufwand erfordert. Und die Machte der Finsternis hatten diesem Anliegen sowieso nicht stattgegeben. Sie wiesen darauf hin, daß die Kosten in keinem Verhältnis zum Nutzen stünden und ein solches Projekt zuviel Aufmerksamkeit erregen würde.

Also stellte sich die Frage, wo Azzie sein Domizil mit dem erforderlichen Laboratorium aufschlagen sollte. Er mußte im Herzen Europas bleiben, weil die Handlung dort stattfinden würde. Schließlich ließ er sich in Augsburg nieder, nicht allzu weit von den Alpen und Zürich entfernt. Es war eine hübsche kleine Stadt, die an einer Handelsroute lag, was bedeutete, daß er die für seine Arbeit benötigten Gewürze und Kräuter von reisenden Kaufleuten erwerben konnte. Außerdem war Augsburg ein günstiger Ort, weil es ein bekanntes Zentrum der Hexerei war. Da jeder dort jeden der Zauberei verdächtigte, würde Azzie kein unnötiges Mißtrauen erregen.

Er suchte den Bürgermeister auf und schloß einen langfristigen Mietvertrag für das Chateau des Artes ab, ein Schloß mit hohen Türmen am nördlichen Stadtrand. Dieses noble alte Anwesen, das auf den Ruinen einer römischen Villa errichtet worden war, in der zur Zeit des Römischen Imperiums ein Praetor residiert hatte, eignete sich wunderbar für Azzies Zwecke. Der Keller war groß genug, um ihm ausreichend Platz für seine wachsende Sammlung an Körperteilen zu bieten. Außerdem befand sich Azzie hier in der relativen Nähe von Zürich und Basel, so daß ein befriedigender Nachschub an zusätzlichen Materialien aus den medizinischen Zentren dieser Gegend gewährleistet war.

Aber es war Sommer, und selbst seine Konservierungszauber stießen an ihre Grenzen. Schließlich mußte er auf andere Hilfsmittel zurückgreifen.

Seit Urzeiten war bekannt, daß man organische Substanzen haltbar machen konnte, indem man sie in einen Bottich voller Jauche legte. Jauche war in der Tat ein Universalmittel, ein köstliches Getränk und ansonsten zum Wirken von Wundern zu verwenden.

Allerdings stellte es sich als schwierig heraus, ausreichende Mengen an Jauche zu beschaffen. Die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör versuchte, jeden Tropfen für sich zu behalten. Erst als Azzie Hermes Trismegistus bat, für ihn zu intervenieren, gestand man ihm eine für seine Zwecke ausreichende Menge zu. Und danach mußte er Frike dann noch unter Androhung von großen Qualen und einem möglichen Tod ermahnen, sich nicht an den kostbaren Vorräten zu vergreifen.

Brustkörbe, Hüften, Kniescheiben und Ellbogen waren problemlos zu besorgen. An Rippen und Schultern herrschte kein Mangel. Aber Azzie wollte die Vorgeschichte jedes einzelnen Körperteils erfahren, das er erwarb, und die entzog sich oft der Kenntnis seiner Geschäftspartner.

Während die warme Jahreszeit das Laub dunkler werden und Sommerblumen blühen ließ, wuchs seine Sammlung beständig Stück für Stück. Doch es waren die unwichtigeren Körperteile. Entscheidend waren die Köpfe, Gesichter und Hände, und die waren nur schwer erhältlich.

So verging die Zeit, Sommergewitter tobten und grollten, und es schien, als würde Azzie seinem Ziel nicht näher kommen. Er stellte ein menschliches Versuchsexemplar zusammen, das lallend umhertorkelte, bis er es schließlich wieder in den Aufbewahrungsbottich zurückverfrachtete, ein erbärmlicher schwachsinniger Idiot. Offensichtlich war das Gehirn des Geschöpfs zerfallen, bevor es hatte konserviert werden können. Azzie begann sich zu fragen, ob er sich nicht mit seinem Vorhaben übernommen hatte.

Die hellen Sommertage aber ließen den Stichtag am Jahresende eine Ewigkeit entfernt erscheinen, und Azzie beauftragte Handwerker mit Renovierungsarbeiten an seinem Schloß. Er stellte Bauern aus den umliegenden Dörfern ein, die schnellwachsendes Getreide auf seinen Feldern anpflanzten. Diese alltäglichen Arbeiten bereiteten ihm eine merkwürdige Befriedigung, während die Kopfjagd weiterging.

Das Chateau des Artes war ein günstiger Ausgangspunkt für Reisen nach Italien im Süden, Frankreich im Westen und Böhmen und Ungarn im Osten. Während Azzie seine Tage damit zubrachte, die Aufgaben eines Hausherrn zu erledigen, schickte er Frike mit einem großen Schimmel und zwei Packpferden auf weite Reisen. Aber obwohl sein Gehilfe viele seltene und nützliche Dinge auftrieb, schien eine Flaute an Köpfen zu herrschen. Köpfe…

Azzie erzählte Estel Castelbracht, dem Bürgermeister der Stadt, daß er mit verschiedenen Forschungsarbeiten beschäftigt wäre, um Heilmittel gegen die Grippe, die Pest und das Dreitagesfieber zu finden, Krankheiten, die die Gegend seit den Zeiten des Römischen Reiches heimsuchten. Er erklärte, daß er seine Nachforschungen an menschlichem Fleisch mit Methoden durchführen müßte, die er von den großen Alchemisten dieser Periode gelernt hätte. Der Bürgermeister und das Volk glaubten ihm, denn Azzie machte den Eindruck eines freundlichen Zeitgenossen, der immer bereit war, die Kranken aus dem Umland zu behandeln, und das oft mit beachtlichem Erfolg.

Während er das tat, machte er sich Gedanken über die Requisiten, die er für seine Aufführung des »Märchenprinzen« brauchen würde. Er übermittelte der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör eine Liste der erforderlichen Dinge, aber die Antworten waren immer ziemlich vage formuliert und strotzten vor schwammigen Floskeln wie »falls noch vorhanden« oder »zur Zeit nicht vorrätig, Nachlieferung demnächst erwartet«. Besonders ärgerlich war die Auskunft bezüglich seiner Anforderung zweier Schlösser, eins für den Märchenprinzen, das andere für Prinzessin Rosenrot. Die Verantwortlichen der Versorgungsabteilung, die sich über eine Orakeleule mit ihm in Verbindung setzten, teilten ihm mit, daß sie im Augenblick nicht ein einziges Schloß zur Verfügung hätten. Azzie stritt sich mit ihnen herum und erklärte ihnen, daß dieser Auftrag absoluten Vorrang hätte und vom Hohen Dämonenrat persönlich abgesegnet worden sei. »Ja«, lautete die Antwort, »alle Aufträge haben Vorrang, und wir tun alles, was in unseren Kräften steht…«

Azzie beschloß, der Abteilung einen Besuch abzustatten, sich das Lager mit eigenen Augen anzusehen und vorsorglich alles beiseite zu schaffen, was er brauchen würde, sobald er bereit war, seinen Prinzen und seine Prinzessin zusammenzusetzen. Ja, es wurde Zeit, den Limbus aufzusuchen, diese nur schwer zu erklärende Region, in der all die übernatürlichen Ereignisse geboren wurden, die das Schicksal der Menschheit in die eine oder andere Richtung steuerten.

Und er würde die Augen auf seiner Suche nach einem geeigneten Kopf offen halten…

KAPITEL 7

Azzie brach mit einem Gefühl des Bedauerns auf. Er wußte, daß er sich nicht derartige sentimentale Gefühle wegen eines Stücks Land gestatten sollte, das ihm nur kurze Zeit gehören würde und auf dem er sich nur aufhielt, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Trotzdem, die ganze Arbeit am Anwesen und den Feldern… Er hatte noch nie so viel von sich selbst in irgendeinen Ort eingebracht und zugesehen, wie er sich gemäß seinen Vorstellungen verwandelte. Das Chateau des Artes begann, sich irgendwie… wie ein Zuhause anzufühlen.

Und die Reise in den Limbus war nicht gerade gefahrlos. Es gab immer Schwierigkeiten beim Übertritt von einem Reich in ein anderes. Schon die Gesetze eines Reichs, zum Beispiel die der Erde, können nicht vollständig verstanden werden. Um wieviel schwerer waren da erst die seltsamen Gesetze zu verstehen, denen die Reisen zwischen den verschiedenen Existenzebenen unterworfen waren.

Glücklicherweise lief diesmal alles glatt. Azzie hatte die erforderlichen Vorbereitungen getroffen, die griechischen Worte gesprochen und die hebräischen Beschwörungen intoniert. Flammen loderten auf, und plötzlich befand er sich auf einer langgestreckten Ebene, die auf beiden Seiten von öden schwarzen Bergen gesäumt wurde. Der Himmel war weiß und heiß und gelegentlich von grünen Wirbeln durchzogen, als ob dort Dschinns im schnellen Formationsflug unterwegs wären.

Es ist äußerst mühsam, im Limbus von einem Ort zum anderen zu gelangen, da seine Ausdehnungen grenzenlos sind. Vernünftigerweise aber liegen einige der wichtigeren Einrichtungen nahe beieinander und erzeugen eine Art Sog, der Besucher anzieht. Außerdem gibt es die Rok-Fluglinie, derer sich Azzie bedienen konnte. Die riesigen Vögel sind auf der Erde schon seit langem ausgestorben. Nach dem Pleistozän hatten sie Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Durch ihre breiten Rücken aber eigneten sie sich an diesem Ort hervorragend für Dienstleistungen im Beförderungswesen.

Die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör sah wie eine gewaltige Ansammlung von Lagerhäusern aus, die inmitten der Ebene gelegen war. Die Verantwortlichen hatten auf viel Raum bestanden. Die Stellfläche reichte aus, um dort alle Wohnzimmer der Erde unterzubringen, und es blieb noch genügend Platz für Küchen und Ställe. Eigentlich hatte man nie versucht, alle Lagerhäuser vollständig aufzufüllen. Der Anzahl der Dinge, die man vielleicht einmal benötigen könnte, wurde nur durch die menschliche Vorstellungskraft Grenzen gesetzt, und irgendwann würde im Zuge des ewig währendes Kampfes der unsichtbaren Mächte, die Menschheit zu verderben beziehungsweise zu erleuchten, alles einmal gebraucht werden. Man konnte nie im voraus wissen, wann irgendein Dämon einen thrakischen Speer aus den Jahr 55 nach Christ oder etwas ähnlich Ausgefallenes benötigte. Die Abteilung simulierte die meisten der angeforderten Dinge und verfügte über die phantasievollsten Szeneriedesigner, die es jemals gegeben hatte.

Die Anlage war am Ufer des Styx errichtet worden, dieses erstaunlichen Flusses, der die Erde und sämtliche Himmel und Höllen durchfließt. Auf seinen düsteren Fluten verrichtete Charon, der uralte Fährmann, seinen Dienst zwischen den Welten und Jahrhunderten. Die übernatürlichen Mächte, denen er manchmal diente, betrachteten die Erde als das größte aller jemals erdachten Spielfelder und wollten von keinem Ereignis abgeschnitten werden, wie weit entfernt in der Zukunft oder Vergangenheit es auch liegen mochte.

Azzie stieg vom Rücken des Rok. Er schritt zügig aus, schwebte manchmal, wenn die Lauferei ermüdend wurde, und durchquerte die langen Straßen, die auf beiden Seiten von Lagerhäusern gesäumt wurden. Jedes Gebäude trug ein Schild mit der Aufschrift: Zutritt nur für autorisiertes Personal. Bewaffnete Salis, die neutralen Geister des Limbus, hielten Wache. Sie trugen sogenannte Energiedisruptoren. Diese Waffen, die wie Speere mit Zielfernrohren und Abzugshähnen aussahen, sandten eine verheerende Partikelstrahlung aus (auch wenn von anderer Seite behauptet wird, es wären Wellen), die selbst das Persönlichkeitsmuster der mächtigsten Dämonen auflösten. »Das Gehirn zu Brei schlagen« war die gängige Redewendung in diesem Jahr. Azzie machte einen weiten Bogen um sie. Der Limbus war in letzter Zeit zu einem gefährlichen Pflaster geworden, was mehr an den Wächtern als an denen lag, die sie bewachten.

Nach längerer Zeit erreichte er ein Lagerhaus mit einer unbewachten Tür. Darüber hing ein Schild mit der Aufschrift: Auskunftsbüro, ein überraschend nüchterner Anblick an einem derart zwischendimensionalen Ort, aber Azzie verschwendete keine Zeit damit, die Auskunftsstelle aufzusuchen.

Im Inneren des Gebäudes entdeckte er rund zwanzig Dämonen der verschiedensten Herkunft und Positionen, die darauf warteten, daß sie an der Reihe waren, ihre Beschwerden gegenüber einem jungen Schreibtischdämon vorzubringen, der trotz der zur Zeit herrschenden Bekleidungsvorschriften eine aus Plaidstoff gefertigte Golfmütze trug. (Dämonen können sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft reisen, aber es ist ihnen untersagt, Andenken mitzubringen.)

Azzie zückte seine Schwarze Kreditkarte und schob sich zum Anfang der Schlange vor. »Mein Anliegen hat äußersten Vorrang«, erklärte er dem Schreibtischdämon. »Ich habe die volle Unterstützung des Hohen Dämonenrates.«

»Ach, tatsächlich?« fragte der junge Dämon unbeeindruckt.

Azzie hielt ihm die Schwarze Kreditkarte vor die Nase.

»Sagt er die Wahrheit?« fragte der Angestellte die Kreditkarte.

»DAS KANNST DU GLAUBEN!« blitzte die Karte zurück.

»Na schön«, erwiderte der Dämon. »Was können wir also für eine so wichtige Persönlichkeit wie Sie tun?«

Das Benehmen des jungen Dämons ging Azzie ziemlich auf die Nerven, aber er beschloß, es zu ignorieren.

»Zuerst einmal brauche ich zwei Schlösser«, sagte er. »Ich weiß, das ist eine große Bestellung, aber ich brauche sie wirklich.«

»Zwei Schlösser, was?« Der junge Dämon musterte ihn ungerührt. »Ich schätze, Ihr ganzer Plan wäre ohne die Schlösser zum Scheitern verurteilt.«

»Vollkommen richtig.«

»Dann finden Sie sich schon mal damit ab, Kumpel, denn wir haben nur ein Schloß vorrätig, und selbst das ist kein richtiges Schloß. Es besteht äußerlich aus echten Mauern und Zinnen, aber der Rest ist ein geistiges Konstrukt, das nur von alten Zauber Sprüchen zusammengehalten wird.«

»Das ist lächerlich«, protestierte Azzie. »Ich dachte, die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör hätte eine unbegrenzte Menge an Schlössern.«

»Vor langer Zeit war das einmal der Fall. Aber die Voraussetzungen haben sich verändert, die Möglichkeiten wurden begrenzt. Es bedeutet sehr viel mehr Umstände für alle Beteiligten, aber es macht die Dinge auch interessanter. Zumindest lautet so die Theorie der teuflischen Seite unserer Abteilung.«

»Davon habe ich nichts gehört«, sagte Azzie. »Wissen Sie eigentlich, wovon Sie sprechen?«

»Wenn ich das wüßte«, entgegnete der Angestellte, »glauben Sie, dann würde ich diesen dämlichen Job machen und Leuten wie Ihnen erzählen, daß Sie nur ein Schloß bekommen können?«

»Na schön«, gab Azzie nach. »Ich nehme das Schloß, das Sie haben.«

Der Angestellte kritzelte irgend etwas auf einen Pergamentbogen. »Sie müssen es so nehmen, wie es ist. Wir haben keine Zeit, weiter daran herumzubasteln.«

»Wo liegt das Problem?«

»Ich habe Ihnen schon von den Zaubersprüchen erzählt, die das Ding zusammenhalten. Es gibt nicht genug davon, deshalb verschwinden immer wieder Teile des Schlosses.«

»Welche Teile?« wollte Azzie wissen.

»Das hängt vom Wetter ab«, erklärte der Angestellte. »Da das Schloß von Schönwetterzaubersprüchen zusammengehalten wird, haben lang anhaltende Regenperioden eine höllische Auswirkung auf seine provisorische Existenz.«

»Gibt es nicht eine Art Plan, aus dem hervorgeht, welche Teile wann verschwinden?«

»Natürlich gibt es einen Plan«, bestätigte der Angestellte. »Aber der müßte dringend auf den neusten Stand gebracht werden. Sie wären verrückt, wenn Sie sich darauf verlassen würden.«

»Ich möchte ihn trotzdem haben«, sagte Azzie. Er hatte großen Respekt vor beschriebenem Pergament.

»Wohin soll ich das Schloß für Sie liefern?« erkundigte sich der Angestellte.

»Einen Moment, so geht das nicht. Ich brauche wirklich zwei Schlösser. Ich habe zwei verschiedene Personen. Der Mann muß von seinem Schloß zum Schloß der Frau gelangen, die er liebt oder zu lieben glaubt. Also brauche ich unbedingt zwei Schlösser.«

»Wie wäre es mit einem Schloß und einem sehr großen Haus?«

»Nein, das widerspricht völlig dem Geist des Spiels.«

»Dann versuchen Sie, mit einem auszukommen«, schlug der Angestellte vor. »Sie können Ihre Personen hin und her schieben. Es ist leicht, das Aussehen eines Schlosses zu verändern, besonders wenn immer wieder Räume verschwinden.«

»Ich nehme an, mir bleibt nichts anderes übrig«, sagte Azzie. »Oder ich könnte einem von ihnen mein Chateau zur Verfügung stellen. Wie schnell können Sie es liefern?«

»Heh, für Sie kümmere ich mich auf der Stelle darum«, erwiderte der Schreibtischdämon in einem Tonfall, der Azzie verriet, daß er es erst bekommen würde, wenn es in der Hölle schneite. Er klopfte auf seine Schwarze Kreditkarte. »TU, WAS ER VERLANGT!« blitzte die Karte auf. »KEINE SPIELEREIEN!«

»In Ordnung«, sagte der Angestellte. »Ich habe nur Spaß gemacht. Wohin wollen Sie das Schloß geliefert haben?«

»Kennen Sie eine Gegend auf der Erde, die Transsylvanien heißt?«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich werde es herausfinden.«

»Äh, wissen Sie vielleicht zufällig, wo ich einen guten Kopf auftreiben könnte?« fragte Azzie. »Menschlich? Männlich?«

Der Angestellte lachte lediglich.

So kam es, daß Azzie die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör verließ und auf die Erde zurückkehrte, wo inzwischen fast eine Woche verstrichen war. Er begab sich ins Chateau des Artes und stellte gereizt fest, daß er Frike nirgendwo finden konnte. Also bestieg er sein Pferd und beschloß, nach Augsburg zu reiten, um Frike zu suchen.

Er stürmte in die Amtstube von Estel Castelbracht und erkundigte sich ohne Umschweife, ob der Bürgermeister seinen Gehilfen gesehen hätte. Ein diplomatisches Auftreten schien ihm unangebracht.

»Ich habe ihn tatsächlich gesehen«, bestätigte Castelbracht. »Er ist die Straße entlanggeeilt und hat das Haus von Dr. Albertus dort drüben betreten. Ich habe gehört, wie er irgend etwas von einem Kopf vor sich hingemurmelt hat…«

»Vielen Dank«, sagte Azzie und schob dem Mann Geld zu, wie es seine Gewohnheit im Umgang mit offiziellen Amtsträgern war, wann immer er es sich leisten konnte.

KAPITEL 8

Das Haus des Doktors lag am Ende eines schmalen Weges, der zur Stadtmauer führte. Es stand allein da, ein hohes altes Gebäude. Das Erdgeschoss war aus Stein gemauert, die oberen Stockwerke bestanden aus verkleidetem Holz. Azzie stieg die Eingangsstufen hinauf und betätigte den großen Bronzeklopfer.

»Wer klopft da?« erklang eine Stimme von drinnen.

»Jemand, der eine Auskunft wünscht«, erwiderte Azzie.

Die Tür wurde von einem älteren weißhaarigen Herrn geöffnet, der eine schöne römische Toga trug, obwohl diese Kleidung seit einigen hundert Jahren außer Mode war. Er war groß und gebeugt und stützte sich auf einen langen Stock.

»Lord Azzie, wie ich vermute«, sagte der alte Herr.

»Richtig«, bestätigte Azzie. »Man hat mir gesagt, daß ich hier meinen Diener Frike finden könnte.«

»Ah, natürlich, Frike«, antwortete der alte Herr. »Wollt Ihr nicht eintreten, Herr? Übrigens, ich bin Meister Albertus.«

Er führte seinen Besucher durch düstere Räume, an einem unordentlichen Wohnzimmer und einer schmutzigen Küche mit Waschnische vorbei in ein behagliches kleines Studierzimmer im hinteren Bereich des Hauses.

Frike stand vor dem Kamin am anderen Ende des Raums. Er lächelte, als er Azzie eintreten sah.

»Frike!« rief Azzie. »Ich dachte schon, du hättest mich im Stich gelassen.«

»Nein, Gebieter«, sagte Frike, »das würde mir nicht im Traum einfallen. Aber während Eurer Abwesenheit bin ich in die Dorfschenke gegangen, um Gesellschaft zu haben und mich an dem kräftigen Rotwein zu laben, der für die wilde Tapferkeit der Menschen in dieser Gegend verantwortlich ist. Dort habe ich dann diesen ehrenwerten Herrn getroffen, Messer Albertus, der mein alter Meister während meiner Lehrzeit damals in Salerno war.«

»So ist es«, bekräftigte Messer Albertus augenzwinkernd. »Ich kenne diesen Schurken sehr gut, Lord Azzie. Es hat mich außerordentlich gefreut zu hören, daß er das Glück hatte, in Eure Dienste treten zu können. Ich habe ihn in mein Haus gebracht, um ihm meine Unterstützung in der Angelegenheit anzubieten, in der er Euch hilft.«

»Von welcher Hilfe genau sprecht Ihr?« wollte Azzie wissen.

»Nun, Herr, wie es scheint, benötigt Ihr ein paar erstklassige Körperteile. Und zufällig habe ich eine besondere Auswahl davon in meinem Laboratorium.«

»Seid Ihr Arzt?« fragte Azzie.

Albertus schüttelte das weißhaarige Haupt. »Ich bin Alchemist, Herr, und in meinem Beruf ist der Besitz von Körperteilen oft sehr nützlich. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt…«

Azzie schloß sich dem älteren Mann an, dicht gefolgt von Frike. Sie gingen durch einen Flur zu einer verriegelten Tür. Albertus schloß sie mit einem Schlüssel auf, der an einem Band um seinen Hals hing. Hinter der Tür führte eine steinerne Wendeltreppe zu einem gut eingerichteten alchemistischen Labor im Keller. Dort zündete Albertus eine alte Öllampe an. In ihrem Schein erblickte Azzie mehrere Tische, die mit Destillierkolben und Glasbehältern übersät waren, und einen Plan mit den Chakrapunkten aus Indien an einer Wand. Auf Bücherregalen, die sich über eine Seite des Raums zogen, lagen mumifizierte menschliche Körperteile in allen Größen.

»Ein schönes Labor«, lobte Azzie. »Mein Kompliment, Doktor! Aber diese Exemplare sind sehr alt. Sie mögen einen antiquarischen Wert besitzen, aber für mich sind sie uninteressant.«

»Das sind nur ein paar überschüssige Teile«, erklärte Albertus. »Aber seht her, was ich hier habe.«

Er ging zu einem kleinen Bottich, der auf einem Nebentisch stand, und zog einen menschlichen Kopf daraus hervor. Das Gesicht gehörte einem jungen Mann. Es war totenbleich, aber noch immer attraktiv, obwohl dort, wo einst die Augen gesessen hatten, jetzt nur noch rötliche Löcher gähnten.

»Wie ist er gestorben?« fragte Azzie. »Und was ist mit seinen Augen passiert?«

»Er hatte das Pech, sie zu verlieren, Herr.«

»Vor oder nach seinem Tod?«

»Vor seinem Tod, aber nur kurz davor.«

»Erzählen Sie mir davon.«

»Mit Vergnügen«, sagte Albertus. »Der Name des Burschen war Phillipe, und er lebte in einem Dorf nicht weit entfernt von hier. Er sah wirklich sehr gut aus. Viel besser, als es irgendeinem jungen Mann zusteht. Eines Tages erblickte er Miranda, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns aus dieser Gegend. Sie war damals gerade fünfzehn Jahre alt und so wunderschön wie die Morgendämmerung über den Bergen. Zart und unbefleckt war sie, und sie hatte sich vorgenommen, ihr Leben in äußerster Reinheit zu verbringen und nur Gutes zu tun.

Nachdem er sie gesehen hatte, entflammte Phillipe in Leidenschaft für sie, und obwohl man behauptet, daß er ein rechter Feigling war, beschloß er doch, sie zu erobern. Eines Tages kletterte er über die Mauer, die das Haus ihres Vaters umgab, ging in den Raum, wo sie Butter machte, und sprach sie an. Miranda war völlig abgeschieden aufgewachsen und hatte noch nie einen Mann wie ihn gesehen. Jeder im Haushalt ihres Vaters war alt, abgesehen von ihren drei Brüdern, und die waren fort und kämpften in dem einen oder anderen Krieg.

Phillipe betörte sie mit süßen Worten und herzzerreißenden Erzählungen über seinen eigenen Leidensweg. Miranda hatte ein weiches Herz und war tief bewegt, als sie von ihm erfuhr, daß er krank sei und nicht mehr lange leben würde.

Eine Lüge, wie Phillipe damals glaubte, aber sie sollte sich schon bald als Prophezeiung erweisen! Er täuschte einen Schwächeanfall vor, und sie ließ zu, daß er einen Arm um sie legte, um sich festzuhalten. Sie berührten sich, und so kam eins zum anderen.

Es ist die altbekannte Geschichte. Um es kurz zu machen, er verführte sie, und sie lief mit ihm fort, denn er schwor ihr, für sie zu sorgen. Doch als sie in die erste größere Stadt kamen, nach Civalle in der Provence, ließ er sie sitzen und ging seiner eigenen Wege.

Auf sich allein gestellt, machte Miranda eine furchtbare Zeit durch, bis sie dem Maler Chodlos Modell stand. Ein paar Monate lang lebte sie als seine Gefährtin mit ihm zusammen, und beide schienen recht glücklich zu sein. Chodlos war ein Bär von einem Mann, aber trotz seiner Größe nicht sonderlich stark. Er war immer fröhlich, wenn auch etwas zu trinkfreudig. Bei seiner berühmten Magdalene hatte ihm Miranda Modell gestanden. Er hätte ein wirklich großartiger Künstler werden können, doch noch bevor das Jahr vorüber war, war er tot, bei einer Kneipenschlägerei erschlagen.

Mirandas Herz war gebrochen, denn sie hatte den Maler wirklich geliebt. Chodlos’ Gläubiger räumten alle Möbel aus der Wohnung, nahmen sämtliche Gemälde mit und warfen Miranda auf die Straße. Sie hatte kein Geld und wußte nicht, wohin sie hätte gehen können. Um nicht zu verhungern, arbeitete sie schließlich in einem Bordell. Aber ihr Unglück sollte noch nicht vorbei sein. Eines Nachts kam ein Verrückter in das Bordell. Niemand weiß, was sich zwischen ihm und Miranda abgespielt hat, aber bevor irgend jemand einschreiten konnte, hatte er ihr die Augen rausgerissen und ihr dann die Kehle durchgeschnitten.

Als sie davon erfuhren, kamen Mirandas Brüder Ansei, Chor und Hald in die Stadt, um Rache für ihre Schwester zu nehmen. Der Verrückte war bereits tot, vom Mob in Stücke gerissen. Die Brüder fanden Phillipe in einer Kneipe, wo er mit einem neuen Liebchen trank. Sie legten ihn rücklings über einen Tisch und erklärten ihm, daß er genauso sterben würde, wie Miranda gestorben war. Dann rissen sie ihm die Augen heraus und schnitten ihm die Kehle durch. Das ist die Geschichte des Kopfs, den Ihr hier seht.«

»Es ist wirklich ein sehr hübscher Kopf«, stellte Azzie fest, hob ihn hoch und sah in die leeren Augenhöhlen. »Was ich jetzt noch brauche, ist der dazu passende weibliche Kopf. Diese Miranda. Ein Verrückter hat sie getötet, was? Meister Albertus, wißt Ihr, was mit ihrer Leiche geschehen ist? Und vor allen Dingen, was mit ihrem Kopf?«

»Leider habe ich keine Ahnung«, erwiderte Albertus.

»Ihr habt mir sehr geholfen«, sagte Azzie. »Nennt mir Euren Preis für diesen Kopf.«

ERSTE ERFOLGE

KAPITEL 1

»Meister, seht Euch diesen hier an.«

Es war der vierte Kopf, den Frike in dieser Woche brachte. Dieser hatte einst einer dunkelgelockten Dame gehört und sah immer noch ziemlich hübsch aus – besonders falls es gelang, die Nase wieder zu richten, die von Würmern zerfressen worden war.

»Nein, Frike, der ist nicht geeignet«, seufzte Azzie und wandte sich ab.

»Aber warum denn nicht, Herr? Sie ist perfekt!«

»Es gibt nur eine, die man als perfekt bezeichnen könnte.«

»Wer ist das, Herr?«

»Frike, die perfekte Partnerin für unseren Märchenprinzen wäre Miranda, das Mädchen, das Phillipe verführt hat.«

»Aber wir wissen nicht, wo sie ist!«

»Noch nicht.« Azzie stand auf und ging eine Weile ruhelos auf und ab. »Aber wir werden sie finden.«

»Der Kopf ist mittlerweile bestimmt schon verwest.«

»Das kann man nie wissen. Sollte ihr Gesicht durch irgendeinen glücklichen Umstand noch nicht zerstört sein, wird sie meine Prinzessin Rosenrot in der kleinen Posse werden, die ich inszeniere.«

»Aber Gebieter, wir haben keinen Anhaltspunkt, wo sich ihre Leiche befindet.«

»Wir werden unsere Suche in Civalle beginnen, wo sie gestorben ist. Wahrscheinlich hat man sie dort begraben.«

»Meister, das ist Zeitverschwendung. Euch bleibt ohnehin nicht mehr viel Zeit bis zum Wettkampf, und es gibt noch viel zu tun.«

»Sattle unsere Pferde, Frike. Was diese Dinge anbelangt, bin ich ein Künstler. Ich brauche unbedingt Mirandas Kopf für meine Prinzessin.«

»Sie hatte eine interessante Vergangenheit, Herr, aber warum muß es unbedingt dieses bestimmte Mädchen sein?«

»Begreifst du denn nicht, Frike? Es macht meinen Plan noch eleganter. Wir werden diese beiden Liebenden nach ihrem Tod wieder zusammenbringen. Natürlich werden ihre bewußten Erinnerungen ausgelöscht sein, aber etwas davon wird trotzdem bleiben. Etwas, das mir helfen wird, meine Geschichte vom Märchenprinzen und Prinzessin Rosenrot zu einem hübschen Ende zu bringen. Wir müssen Mirandas Leiche finden und hoffen, daß ihr Gesicht noch in einem guten Zustand ist. Geh und kümmere dich um die Pferde.«

Nachdem Frike die Pferde gesattelt und gepackt hatte, machten sie sich auf den Weg nach Civalle in der Provence. Es war Ende Juni, und die Reise verlief problemlos und angenehm. Frike hatte gehofft, daß Azzie sie mit übernatürlichen Mitteln befördern würde, aber sein Herr und Gebieter meinte, daß der Aufwand zu groß wäre. Er mußte mit seinen dämonischen Kräften haushalten. Man konnte nie wissen, was einen erwartete.

Schließlich trafen sie in Civalle ein, einer hübschen südländischen Stadt in der Nähe von Nizza. Durch Albertus’ Beschreibung fiel es ihnen nicht schwer, das Bordell zu finden, in dem Miranda getötet worden war. Azzie sprach mit der Madam und erfuhr, das Mirandas Brüder die Leiche ihrer Schwester mitgenommen hatten, wohin, das wußte niemand. Er entlohnte sie großzügig für die Auskunft und erkundigte sich, ob vielleicht ein Kleidungsstück des Mädchens zurückgeblieben sei. Die Madam fand ein altes Leibchen, das sie ihm für zwei Goldsoldi verkaufte. Ob es wirklich Miranda gehört hatte, wußte Azzie nicht mit Sicherheit – noch nicht.

»Was jetzt, Gebieter?« fragte Frike, nachdem sie das Bordell verlassen hatten.

»Das wirst du zu gegebener Zeit schon erfahren«, erwiderte Azzie.

Sie ließen die Stadt hinter sich zurück und ritten eine Weile durch den Wald. Dann schlugen sie ihr Lager auf und aßen kalte Fleischpastete und gekochten Lauch. Nach dem Essen entfachte Frike auf Azzies Anweisung hin ein Feuer. Als die Flammen hoch aufloderten, holte Azzie ein kleines Glasröhrchen aus der Truhe hervor, in der er sein magisches Zubehör aufbewahrte, und ließ einen einzelnen Tropfen einer dunklen Flüssigkeit in das Feuer fallen.

Die Flammen loderten noch höher, und Frike wich geduckt zurück.

»Paß auf!« befahl Azzie. »Das ist sehr lehrreich. Vielleicht hast du ja schon mal von den sagenhaften Jagdhunden der alten Götter gehört. Heutzutage haben wir etwas Besseres.«

Als die Flammen wieder kleiner wurden, flogen drei große Vögel über das Lager und landeten neben Azzie. Es waren Raben mit kleinen tückischen Augen.

»Ich hoffe, es geht euch gut«, wandte sich Azzie an sie.

»Wir können nicht klagen«, erwiderte einer der Raben.

»Ich möchte euch meinen Diener Frike vorstellen. Frike, das sind die Morrigan, übernatürliche irische Vögel, und ihre Namen lauten Babd, Macha und Nemain.«

»Erfreut, eure Bekanntschaft zu machen«, sagte Frike, der vorsorglich Abstand zu ihnen hielt, denn sie beäugten ihn durchdringend und abschätzend.

»Was können wir für Eure Exzellenz tun?« fragte Macha.

Azzie zog Mirandas Kleidungsstück hervor. »Spürt diese Frau auf«, verlangte er. »Diejenige, die das zuletzt getragen hat. Sie ist übrigens tot.«

Babd schnupperte an den Stoff. »Das hättet Ihr uns nicht zu sagen brauchen«, stellte er fest.

»Ich hatte das Ausmaß eurer Kräfte vergessen. Fliegt, ihr Unvergleichlichen. Findet diese Frau für mich!«

Nachdem die Raben davongeflogen waren, sagte Azzie zu Frike: »Wir wollen es uns bequem machen. Es könnte eine längere Zeit dauern, aber sie werden das Mädchen finden.«

»Daran habe ich nie gezweifelt«, versicherte Frike.

Sie aßen mehr von der kalten Fleischpastete und dem Lauch, unterhielten sich über das Wetter und stellten Vermutungen darüber an, in welcher Form die himmlischen Mächte an dem Wettkampf teilnehmen würden.

Der Tag zog sich dahin. Der blaue Himmel der Provence wölbte sich über das Land wie eine Kuppel mit einem Stich ins Messingfarbene, die Licht und Hitze ausstrahlte. Sie aßen noch mehr Lauch.

Nach langer Zeit kehrte ein Rabe zurück, der sich als Nemain zu erkennen gab. Er kreiste zweimal über das Lager, bevor er sich auf Azzies ausgestrecktem Arm niederließ.

»Was hast du erfahren?« wollte Azzie wissen.

Nemain legte den Kopf schief und erwiderte mit dünner Stimme: »Ich glaube, wir haben die gefunden, die Ihr sucht.«

»Wo ist sie?«

Die beiden anderen Raben flatterten herab. Einer hockte sich auf Azzies Kopf, der andere auf Frikes Schulter.

»Ja, es ist eindeutig die Frau, die Ihr sucht«, sagte Macha, der älteste der drei. »Der Geruch ist unverkennbar.«

»Ich kann doch annehmen, daß sie tot ist?« erkundigte sich Azzie.

»Natürlich ist sie tot«, bestätigte Macha. »Ihr wolltet sie doch tot haben, nicht wahr? Und selbst wenn sie noch leben würde, könntet Ihr sie jederzeit töten lassen.«

Azzie machte sich nicht die Mühe zu erklären, daß es gewisse Vorschriften gegen ein solches Vorgehen gab. »Wo kann ich sie finden?«

»Wenn Ihr dieser Straße ein paar Meilen weit folgt, kommt Ihr in eine kleine Stadt. Die Frau befindet sich im zweiten Gebäude zu Eurer Linken.«

»Ich danke dir, Vogel des Unheils«, sagte Azzie.

Macha nickte und schwang sich in die Luft. Die anderen schlossen sich ihm an. Kurz darauf waren sie verschwunden.

Azzie und Frike bestiegen ihre Pferde und ritten die Straße entlang nach Süden. Es war eine alte römische Straße, die Südeuropa durchquerte und in die große Festungsstadt Carcassonne führte. Ihr Zustand war deutlich besser als der vieler anderen Straßen, die sie bisher benutzt hatten. Sie ritten schweigend dahin und erreichten nach einer Weile ein relativ großes Dorf. Azzie schickte Frike voraus, um nach einer Unterkunft Ausschau zu halten, während er sich selbst auf die Suche nach Mirandas Kopf begab.

Er ging zu dem Haus, das die Raben ihm genannt hatten. Es war das größte Gebäude entlang des Weges, ein dunkles Haus, das durch die schießschartenartigen Fenster und das schlecht gedeckte Dach einen abstoßenden Anblick bot.

Azzie klopfte an die Tür. Keine Antwort. Er drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Er öffnete sie und trat in den Hauptraum.

Es war dunkel im Haus, nur durch die Risse im Dach fiel etwas Licht. Ein intensiver Weingeruch lag in der Luft.

Auf einmal meldete sich Azzies Gespür für Gefahr, allerdings einen Augenblick zu spät. Er fiel durch ein Loch im Boden in den Keller und prallte hart auf. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, fand er sich im Inneren einer Flasche wieder.

KAPITEL 2

Es war eine Glasflasche mit einer breiten Öffnung, wie man sie in diesem Zeitalter nur selten zu sehen bekam, groß genug, um einen Dämon mittlerer Größe wie Azzie zu fassen. Der Sturz hatte ihn einen Moment lang benommen gemacht. Er hörte ein Geräusch über sich, konnte es jedoch nicht deuten, bis er nach oben blickte. Erst dann begriff er, daß die Flasche mit einem hölzernen Korken verschlossen worden war. Azzie schüttelte die Benommenheit schnell wieder ab. Wieso steckte er hier in einer Flasche?

Er spähte durch das grüne Glas und sah, daß er sich in einem von vielen Kerzen erhellten Raum befand. Um einen kleinen Tisch herum standen drei rauh aussehende Männer, die sich gerade stritten.

Azzie klopfte an das Glas, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Sie drehten sich zu ihm um. Einer von ihnen, der Mann mit dem häßlichsten Gesicht, kam näher und sagte irgend etwas. Da der Flaschenhals verstopft war, drang kein Geräusch herein, worauf Azzie hinwies, indem er auf seine Ohren deutete und den Kopf schüttelte.

Als der tölpelhafte Bursche endlich verstanden hatte, sagte er den anderen Bescheid. Sie begannen, erneut zu streiten, diesmal noch ungestümer. Schließlich gelangten sie zu irgendeiner Entscheidung. Der erste Mann kletterte eine an die Flasche gelehnte Leiter hinauf und hob den hölzernen Stöpsel ein wenig an.

»Jetzt kannst du hören«, sagte er. »Aber wenn du irgendwelche Dummheiten versuchst, stopfen wir den Korken fest, hauen ab und lassen dich hier für immer schmoren.«

Azzie regte sich nicht. Er rechnete sich eine gute Chance aus, den Korken herausstoßen zu können, bevor die drei ihn festklopfen konnten, aber er wollte erfahren, was sie zu sagen hatten.

»Du bist wegen der Hexe gekommen, nicht wahr?« fragte der Mann.

»Es würde die Dinge erleichtern, wenn ich eure Namen wüßte«, erwiderte Azzie.

»Das da ist Ansei, der da ist Chor, und ich bin Hald. Wir sind Brüder, und die tote Hexe Miranda ist unsere Schwester.«

»Sieh an«, sagte Azzie. »Wo ist sie?«

»Sie ist ganz in der Nähe. Wir haben sie mit Eis frischgehalten.«

»Das wir teuer gekauft haben«, warf sein Bruder Ansei ein. »Wir müssen unser Geld zurückbekommen. Und das ist erst der Anfang.«

»Ihr seid etwas voreilig«, wandte Azzie ein. »Was bringt euch auf den Gedanken, daß eure Schwester, die ihr eine Hexe nennt, den ganzen Aufwand wert ist?«

»Der Doktor hat es uns gesagt.«

»Was für ein Doktor ist das?« wollte Azzie wissen.

»Der alte Dr. Parvenü. Er ist außerdem der örtliche Alchemist. Nachdem dieser verrückte Kerl Miranda umgebracht hat und wir sie fortgeschafft hatten, haben wir zuerst Dr. Parvenü gefragt, der ein Experte in diesen Dingen ist. Natürlich erst, nachdem wir Phillipe getötet hatten.«

»Ja, ich weiß von Phillipe, ihrem Verführer«, sagte Azzie. »Und was solltet ihr nach Dr. Parvenüs Anweisungen mit der Leiche eurer Schwester tun?«

»Er hat uns in allen Dingen beraten und uns gesagt, wir sollten ihren Kopf behalten.«

»Wieso?«

»Er hat gesagt, daß eine Schönheit wie die ihre mit Sicherheit einen Dämon anlocken würde!«

Azzie sah keinen Grund, diesen Kerlen zu erklären, was er wirklich mit Mirandas Kopf vorhatte. Er war ziemlich entspannt. Dämonen lernen schon sehr früh, wie man mit dem Flaschentrick umgeht, und diese Burschen wirkten nicht allzu schlau…

»Dieser verrückte Kerl, der Miranda umgebracht hat – wer war er?«

»Wir haben nur gehört, daß er Armand hieß. Keiner von uns hat ihn gesehen, denn als wir das Bordell erreicht hatten, war er schon tot. Nachdem die Leute entdeckt hatten, was er Miranda angetan hatte, waren sie so aufgebracht, daß sie ihn totgeschlagen und seine Leiche in Stücke gerissen haben.«

»Und jetzt wollt ihr den Kopf eurer eigenen Schwester verkaufen?«

»Natürlich! Sie war eine Hure! Was macht es da noch aus, was wir mit ihrem Kopf machen?«

»Ich schätze, ich könnte euch fünf Goldstücke für sie geben«, sagte Azzie. »Es sei denn, ihr Gesicht ist völlig zerschlagen und entstellt.«

»Nicht im geringsten!« beteuerte Ansei. »Sie sieht jetzt noch genauso gut wie zu Lebzeiten aus. Vielleicht sogar noch besser, wenn man den Anblick von Leid und Schmerz mag.«

»Bevor ich kaufe«, gab Azzie zu bedenken, »muß ich sie erst einmal sehen.«

»Das wirst du. Natürlich durch die Flasche!«

»Natürlich«, sagte Azzie. »Bringt sie her.«

Ansei rief seinen Brüdern zu, Mirandas Kopf zu bringen. Chor und Hald eilten in den hinteren Teil des Kellers und kehrten kurz darauf mit dem gewünschten Objekt zurück. Ansei wischte den Kopf an seinem Hemd ab, um die Eiskristalle zu entfernen, bevor er ihn Azzie präsentierte.

Azzie sah, daß Miranda selbst im Tod noch wunderschön war. Die großen traurigen Lippen waren ein wenig geöffnet. Das aschblonde Haar klebte ihr an der Stirn. Ein Wassertropfen glitzerte auf ihrer Wange…

Er wußte sofort, daß ihn sein Instinkt nicht getrogen hatte, sie war wirklich genau diejenige, die er gebraucht hatte.

»Also, was meinst du?« wollte Ansei wissen.

»Sie ist ganz passabel«, erwiderte Azzie. »Laß mich jetzt hier raus, und wir sprechen über den Preis.«

»Wie wäre es, wenn du uns dafür drei Wünsche gewährst?« fragte Ansei.

»Nein«, sagte Azzie.

»Nein? Einfach so?«

»Genau.«

»Kein Gegenangebot?«

»Nicht solange ihr mich in dieser Flasche eingesperrt haltet.«

»Aber wenn wir dich rauslassen, haben wir nichts mehr, womit wir dich unter Druck setzen können.«

»Das stimmt«, bestätigte Azzie.

Ansei und seine Brüder berieten sich flüsternd. Dann kam Ansei zurück. »Meine Brüder meinen, ich soll dir sagen, daß wir einen Beschwörungsgesang kennen, mit dem wir dir das Leben ziemlich schwer machen können.«

»Ach, wirklich?«

»Ja, wirklich.«

»Also dann, nur zu.«

Die drei Brüder begannen zu singen.

»Entschuldigt, Jungs«, unterbrach Azzie, »aber ich fürchte, ihr macht einen Fehler bei einigen Wörtern. Es sollte fantago und nicht fandrago heißen. Nur eine Kleinigkeit, aber bei magischen Zaubersprüchen ist die richtige Betonung absolut unverzichtbar.«

»Komm schon«, beharrte Ansei. »Gewähr uns ein paar Wünsche. Was bedeutet das schon für dich?«

»Ich weiß, ihr glaubt, Dämonen hätten alle möglichen besonderen Fähigkeiten«, sagte Azzie. »Aber das heißt nicht, daß wir sie auch anwenden müssen.«

»Was, wenn wir dich nicht freilassen? Wie würde es dir gefallen, jahrelang in einer Flasche zu schmoren?«

Azzie lächelte. »Habt ihr euch jemals überlegt, was passiert, wenn ein Dämon und die Leute, die ihn gefangen haben, sich nicht auf eine Gegenleistung für seine Freilassung einigen können? Darüber berichten die alten Geschichten nichts, stimmt’s? Denkt jetzt mal vernünftig nach. Glaubt ihr etwa, ich hätte keine Freunde? Früher oder später werden sie mich vermissen und nach mir suchen. Wenn sie mich hier als euren Gefangenen finden… nun, vielleicht könnt ihr euch vorstellen, was sie dann tun würden.«

Ansei dachte darüber nach, und das Ergebnis seiner Überlegungen gefiel ihm ganz und gar nicht. »Warum sollten sie uns irgend etwas antun?« fragte er. »Nach den Regeln der Magie haben wir das Recht, Dämonen zu fangen. Wir haben dich ganz legal und ehrlich erwischt.«

Azzie lachte. Es war ein furchtbares Geräusch, das er für solche Situationen geübt hatte.

»Was wißt ihr armen Trottel denn schon von den Regeln der Magie oder den Gesetzen, die den Umgang mit gefangenen übernatürlichen Geschöpfen regeln? Es wäre besser, wenn ihr euch nur auf menschliche Geschäfte beschränkt. Sobald ihr euch einmal auf übernatürliches Terrain begeben habt, könnt ihr euch nie sicher sein, was als nächstes passieren wird.«

Mittlerweile zitterte Ansei, und seine Brüder machten den Eindruck, als würden sie jeden Moment türmen. »Großer Dämon, ich wollte Euch nicht erzürnen«, versicherte er. »Es ist nur so, daß Dr. Parvenü uns gesagt hat, daß es ganz einfach wäre. Was wollt Ihr von uns?«

»Öffnet die Flasche«, verlangte Azzie.

Ansei und seine Brüder entfernten den Korken. Azzie schlüpfte heraus und machte sich so groß, daß er Ansei, den größten der drei, um einen halben Meter überragte.

»Also dann, meine Kinder«, sagte Azzie. »Was ihr zuerst über den Umgang mit übernatürlichen Kreaturen lernen müßt – im Gegensatz zu den gängigen Überlieferungen – ist, daß sie euch immer hereinlegen werden. Versucht also nie, sie zu überlisten oder zu betrügen. Führt euch zum Beispiel vor Augen, wie ihr mich aus der Flasche herausgelassen habt, als ich völlig hilflos war.«

Die Brüder wechselten einen Blick.

»Ihr meint, wir hatten Euch tatsächlich in unserer Gewalt?« erkundigte sich Ansei nach einer Weile.

»Das ist vollkommen richtig«, bestätigte Azzie.

»Ihr seid unser hilfloser Gefangener gewesen?«

»Genau.«

»Er hat uns reingelegt«, stellte einer der Brüder fest und nickte langsam.

Die drei wechselten erneut einen Blick.

Schließlich räusperte sich Ansei. »Wißt Ihr, großer Dämon, bei Eurer derzeitigen Größe sehe ich keine Möglichkeit, Euch wieder in die Flasche zu stecken. Ich wage sogar die Behauptung, Exzellenz, daß Ihr nicht einmal selbst in sie hineingelangen könntet, auch wenn Ihr es wolltet.«

»Aber du möchtest, daß ich es versuche, nicht wahr?«

»Ganz und gar nicht«, beeilte sich Ansei zu versichern. »Wir stehen Euch völlig zu Diensten. Ich wollte nur, Ihr würdet mir zeigen, daß Ihr es wieder tun könnt.«

»Angenommen, ich zeige es dir, würdest du mich dann nicht betrügen und den Korken wieder festklopfen?«

»Nein, Herr, natürlich nicht.«

»Würdest du darauf schwören?«

»Bei meiner unsterblichen Seele«, beteuerte Ansei.

»Und die anderen?«

»Wir schwören ebenfalls«, erwiderten Chor und Hald.

»Also gut«, sagte Azzie. »Dann paßt genau auf.« Er schlüpfte in die Flasche und wand sich, bis er genau in sie hineinpaßte. Sobald er in ihr verschwunden war, drückten die Brüder den Korken wieder in den Flaschenhals.

Azzie sah sie durch das Glas an. »In Ordnung, laßt jetzt den Unfug und öffnet die Flasche wieder!«

Die Brüder kicherten. Ansei winkte ihnen zu, worauf Chor und Hald eine Steinfliese vorn Boden hoben, unter der ein gemauerter Brunnen zum Vorschein kam. Aus der Tiefe drang das Plätschern von Wasser herauf.

»Hör zu, Dämon«, verkündete Ansei. »Wir werden dich zusammen mit der Flasche in den Brunnen stoßen, ihn wieder zudecken und einen Totenschädel mit gekreuzten Knochen darauf malen, damit die Leute glauben, daß er vergiftet ist. Sollen deine Freunde doch versuchen, dich dann noch zu finden.«

»Ihr habt euer Wort gebrochen«, stellte Azzie fest.

»Na und? Es gibt nicht viel, was du deswegen unternehmen kannst.«

»Alles, was ich tun kann«, sagte Azzie, »ist, euch eine Geschichte zu erzählen.«

»Komm schon, laß uns hier abhauen«, drängten die beiden anderen Brüder.

»Nein, laßt uns zuerst anhören, was er zu sagen hat«, entgegnete Ansei. »Dann können wir ihn auslachen, bevor wir verschwinden.«

»Flaschen zur Aufbewahrung von Dämonen sind schon seit mehreren tausend Jahren in Gebrauch«, begann Azzie. »Die erste Flasche, die jemals gemacht wurde – übrigens von einem Chinesen –, wurde eigens zu dem Zweck angefertigt, einen von uns zu fangen. Die alten Assyrer und Hethiter haben ihre Dämonen in Tonkrügen eingesperrt. Einige afrikanische Stämme haben uns in eng geflochtenen Körben gehalten. Das alles ist uns bekannt, und wir wissen, wie sich die Methoden, uns zu fangen, von Land zu Land unterscheiden. In Europa haben alle Dämonen dies hier dabei.«

Er hob eine Hand. An seinem Zeigefinger – oder seiner Zeigeklaue – glitzerte ein funkelnder Diamant.

»Und damit machen wir das.« Azzie drückte die Spitze des Diamanten gegen das grüne Glas, vollführte eine kreisförmige Bewegung mit dem Arm und drückte gegen das Segment. Das runde Glasstück fiel nach außen. Azzie trat durch die so entstandene Öffnung.

»Wir haben nur Spaß gemacht«, behauptete Ansei, dessen Gesicht eine erstarrte Maske der Angst war. »Stimmt’s, Jungs?«

»Natürlich«, versicherten Chor und Hald. Beide grinsten von einem Ohr zum anderen, und von ihren kaum vorhandenen Stirnen perlte der Schweiß.

»Dann wird euch das erst recht Spaß machen«, sagte Azzie. Er wedelte mit den Fingern und murmelte etwas vor sich hin. Flammen blitzten auf, aus dem Nichts erschien eine Rauchwolke. Als sich der Qualm verzog, wurde ein kleiner Dämon mit einer Hornrandbrille sichtbar, der irgend – etwas mit einer Gänsefeder auf einen Pergamentbogen kritzelte.

»Silenus«, wandte sich Azzie an ihn. »Verbuchen Sie diese drei auf mein Konto und nehmen Sie sie mit. Sie haben sich selbst verdammt.«

Silenus nickte und vollführte eine Handbewegung, worauf die drei Brüder verschwanden. Kurz darauf verschwand er ebenfalls.

Wie Azzie später Frike gegenüber bemerkte, war es ihm noch nie so leicht gefallen, drei Seelen dabei behilflich zu sein, sich selbst zu verdammen, und das praktisch ohne Druck von seiner Seite.

KAPITEL 3

»O Gebieter, es tut so gut, wieder nach Hause zu kommen!« sagte Frike, als er den Riegel an der Eingangstür des großen Anwesens in Augsburg zurückschob.

»Es ist wirklich schön«, bestätigte Azzie. »Brrr.« Er rieb sich die Klauen. »Ziemlich kalt, hier! Mach ein Feuer, sobald du die Körperteile verstaut hast.«

Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer langen Verbundenheit mit der Höllenglut genießen Dämonen ein prasselndes Kaminfeuer.

»Ja, Meister. Wohin damit?«

»Natürlich ins Kellerlabor.«

Frike eilte hinaus und entlud den Karren. Er enthielt eine erkleckliche Anzahl an Körperteilen, die in verschiedene jauchegetränkte Stoffe eingewickelt waren, genug – falls Azzies Berechnungen stimmten – um zwei komplette Körper fertigzustellen, einen männlichen und einen weiblichen, die fortan als der Märchenprinz und Prinzessin Rosenrot bekannt sein würden.

Am nächsten Tag begann die Arbeit an den Körpern. Frike erwies sich als sehr geschickt im Umgang mit Nadel und Faden. Er flickte den Märchenprinzen so sauber zusammen, wie ein Schneider einen Anzug näht. Natürlich waren die Einstiche und Nähte zu sehen, aber Azzie beruhigte seinen Gehilfen. Mit ihrer Wiederbelebung würden die Körper diese Stigmata ihrer Wiedergeburt verlieren.

Es wurden behagliche häusliche Abende. Azzie zog sich mit seinem Exemplar von König Salomons Geheimnisse in einen Winkel des Labors zurück, ein Buch, das er schon immer hatte lesen wollen. Es war sehr angenehm, jetzt damit im Laboratorium mit seinen Gerüchen nach Spiritus, Kerosin, Schwefel, Ammoniak und dem vielfältigen alles überlagernden Geruch von versengtem und verfaulendem Fleisch zu sitzen, hin und wieder den Blick von dem auf seinen Knien aufgeschlagen liegenden Buch zu heben und dem alten Frike zuzusehen, der mit einer winzigen Stahlnadel über seine Arbeit gebückt dasaß. Das Licht einer niedrig angebrachten Lampe warf seinen monströsen buckligen Schatten an eine Wand.

Die Nadel war von den Ruud für ihn geschmiedet worden, den kleinsten und klügsten Zwergen Mitteleuropas. Der Faden bestand aus der feinsten taporbaneischen Seide, so hauchdünn und durchsichtig, daß es schien, als würden sich die klaffenden Wunden zwischen beispielsweise einem Arm und einer Schulter wie durch eine fleischliche Form von Magnetismus oder Magie schließen. Aber in diesem Fall war Frikes winzige Nadel die einzige Magie, die ihre säuberlichen kleinen Stiche machte und Stück für Stück einen vollständigen Menschen aus dem Stapel der Körperteile zusammenfügte, die ordentlich zu seiner Linken auf einer Lage Gletschereis aufgeschichtet waren.

Frike war ein gewissenhafter Arbeiter, aber er mußte beaufsichtigt werden. Mehr als einmal brachte er dort, wo Arme hingehörten, Beine an, entweder auf Grund von Kurzsichtigkeit oder aus einem perversen Sinn für Humor. Als er jedoch den Kopf des Märchenprinzen auf den Oberkörper der Prinzessin zu nähen begann, fand Azzie, daß sein Diener endgültig die Grenzen überschritten hatte.

»Laß den Unfug«, herrschte er ihn an, »sonst sorge ich dafür, daß du in einer Höllengrube landest, wo du ein paar Jahrhunderte lang Kies zu Felsbrocken zusammenbacken kannst, bis dir der Spaß vergeht und du Disziplin lernst.«

»Entschuldigt, Gebieter«, sagte Frike und arbeitete danach sehr sorgfältig und genau.

So nahmen die Körper allmählich Gestalt an. Abgesehen von der ungelösten Frage der richtigen Augen, blieb nur das Problem der nicht zueinanderpassenden Hände von Prinzessin Rosenrot. Die unterschiedlichen Größen der Hände waren nicht so gravierend, aber eine war gelb, die andere weiß, und das konnte nicht geduldet werden. Azzie warf die gelbe Hand weg und unternahm einen kurzen Abstecher zum medizinischen Zentrum in Schnachtsburg. In einem Geschäft, das auf nekrophile Andenken spezialisiert war, fand er glücklicherweise die Hand einer Taschendiebin für seine Prinzessin.

Kurz nach seiner Rückkehr erhielt er Nachricht von der Abteilung für Zubehör und Ausrüstung, daß sein Schloß an die von ihm angegebenen Koordinaten ausgeliefert werden konnte. Azzie brach sofort auf und flog über die Alpen zur ungarischen Ebene. Das Land breitete sich in üppigem Grün vor ihm aus. Er fand die Stelle, die er ausgesucht hatte. Sie war unverkennbar durch einen Hain hoher purpurfarbener Bäume, die gerade blühten und aussterben würden, bevor die moderne Wissenschaft Gelegenheit finden konnte, sie als anormal einzustufen. Merioneth wartete dort auf ihn, ein häßlicher Dämon mit randloser Brille von der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör, der eine geglättete und mit Messingklammern versehene Holztafel in der Hand hielt – den Vorgänger des später allgegenwärtigen Klemmbretts.

»Sind Sie Azzie Elbub?« fragte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte Azzie. »Warum sollte ich sonst hier sein?«

»Sie könnten Ihre Gründe haben. Besitzen Sie irgendeinen Ausweis?«

Azzie zeigte ihm seine Schwarze Kreditkarte, in die sein Name eingraviert war.

»Sie hat kein Foto«, bemängelte Merioneth, »aber ich werde sie trotzdem akzeptieren. In Ordnung, wo soll das Schloß aufgestellt werden?«

Azzie sah sich um. Er hatte sich eine hüglige Landschaft ausgesucht, die er jetzt kritisch beäugte.

»Ich möchte es genau dort drüben haben«, entschied er.

»Auf dieser ebenen Stelle?«

»Richtig. Aber vorher müssen Sie dort noch einen Berg aus Glas errichten.«

»Wie, bitte?« fragte Merioneth.

»Ich möchte einen gläsernen Berg. Das verzauberte Schloß muß auf seinem Gipfel stehen.«

»Sie möchten Ihr Schloß auf der Spitze eines gläsernen Berges?«

»Natürlich. Verzauberte Schlösser stehen immer dort.«

»Gewöhnlich, vielleicht sogar in der Regel, aber nicht immer. Ich könnte Ihnen mehrere traditionelle Geschichten…«

»Dieses Schloß wird auf einem gläsernen Berg stehen«, beharrte Azzie.

Merioneth nahm seinen Zwicker ab, polierte ihn an seinem grauen Pelz und setzte ihn wieder auf. Er öffnete seine Aktentasche. Sie war aus dunkel gebräunter Menschenhaut gefertigt, und ihre Verschlüsse bestanden aus vergilbten Zähnen. Azzie betrachtete sie voller Bewunderung und beschloß, sich ebenfalls so eine Tasche zu besorgen, sobald er die Zeit dazu fand. Merioneth kramte in den Papieren herum, fischte schließlich ein Blatt hervor und las es mit geschürzten Lippen.

»Das ist Ihre ursprüngliche Bestellung«, sagte er. »Hier steht nichts über einen Berg.«

Azzie trat zu ihm und überflog die Auftragsbestätigung. »Hier steht, daß Sie die übliche Umgebung zur Verfügung stellen werden.«

»Die übliche Umgebung beinhaltet keinen Glasberg. Wie wäre es mit einem schon existierenden Berg?«

»Er muß aus Glas sein«, verlangte Azzie. »Soweit ich weiß, gibt es keine natürlichen Glasberge.«

»Warum nehmen Sie nicht statt dessen einen erloschenen Vulkan?« schlug Merioneth vor. »Mit jeder Menge Obsidian?«

»Das wird nicht funktionieren«, widersprach Azzie. »Gläserne Berge sind ein Bestandteil der Überlieferung, seit die Menschen angefangen haben, ihre Geschichten zu erzählen. Sie haben doch bestimmt irgendwo einen in Ihrem Fundus.«

Merioneth schürzte wieder die Lippen und setzte einen skeptischen Geschichtsausdruck auf. »Vielleicht haben wir einen, vielleicht aber auch nicht. Der springende Punkt ist, er steht nicht auf der Bestellung.«

»Können wir ihn nicht nachträglich eintragen?«

»Nein, das ist zu spät.«

»Könnten wir die Sache nicht irgendwie gütlich regeln?« hakte Azzie nach.

»Was meinen Sie damit?«

»Ich bin bereit, die zusätzlichen Kosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Kann ich meine Kreditkarte damit belasten?«

Merioneth zuckte die Achseln. »Das ist nicht der Punkt. Das Problem ist, daß der Auftrag bereits ausgefüllt und unterschrieben worden ist.«

Azzie sah sich das Formular an. Er deutete auf eine bestimmte Stelle. »Sie könnten den Zusatz dort eintragen, direkt über die Unterschrift. ›Ein gläserner Berg und ein verzauberter Wald.‹«

»Sollten meine Vorgesetzten irgendwann davon Wind bekommen…«

»Und ich würde Sie für Ihre Unannehmlichkeiten entschädigen«, bot Azzie an. Er griff in eine Innentasche seines Mantels und zog eine kleine Mappe daraus hervor, in der er seine Wertgegenstände aufbewahrte. In der Mappe steckte ein Wildlederbeutel mit den Edelsteinen, die Rognir in ihn investiert hatte. Er nahm eine Handvoll heraus und zeigte sie Merioneth.

»Na und?« fragte der andere.

»Sie gehören Ihnen, wenn Sie für mich einen Glasberg in die Bestellung einfügen«, sagte Azzie.

Merioneth betrachtete die Edelsteine. »Ich könnte deswegen in arge Schwierigkeiten kommen.«

Azzie legte ein paar Steine dazu.

»Ich denke, ich könnte es erledigen«, murmelte Merioneth und nahm die Steine entgegen. Er beugte sich über das Auftragsformular, kritzelte darauf herum und hob dann den Kopf. »Aber ein verzauberter Wald… das ist wieder etwas ganz anderes.«

»Verzauberte Wälder sind keine große Sache«, stellte Azzie klar. »Sie sind nicht so selten wie gläserne Berge. Man stolpert überall geradezu über verzauberte Wälder.«

»Es sei denn, man braucht einen auf die Schnelle«, sagte Merioneth, den Blick auf Azzies Wildlederbeutel gerichtet. »Ich nehme an, Sie wollen auch eine Straße, der durch ihn führt, was?«

»Nichts besonderes. Ein einfacher Feldweg würde reichen.«

»Und wer soll das alles Überwachen, häh? Ich brauchte einen Aufseher. Und die Dienste eines Aufsehers…«

»Ich weiß, es stand nicht auf der ursprünglichen Bestellung.« Azzie fischte vier weitere Steine hervor und reichte sie Merioneth. »Reicht das?«

»Das reicht für den Wald und die allgemeine Arbeit. Aber Sie wollen ihn auch verzaubert haben, richtig?«

»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt. Wozu wäre ein Wald gut, der nicht verzaubert ist?«

»Kommen Sie mir nicht auf diese Tour«, warnte Merioneth. »Dieser Wald ist mir egal. Ich versuche nur, die Bestellung zu verstehen. Welche Art von Verzauberung haben Sie sich vorgestellt?«

»Das übliche Zeug«, erwiderte Azzie. »Lebendige Feuerbäume wären hübsch. Davon sind immer jede Menge auf Lager.«

»Sind Sie Gartenbauexperte, daß Sie darüber so genau Bescheid wissen?« erkundigte sich Merioneth mit beißendem Spott. »Tatsache ist, daß zu dieser Jahreszeit nur sehr wenige erhältlich sind. Und ich nehme an, Sie wollen sie auch mit magischen Dornen.«

»Natürlich.«

»Magische Dornen gehören nicht zur Standardausführung.«

Einige weitere Edelsteine wechselten den Besitzer.

»Dann lassen Sie uns also sehen«, sagte Merioneth. »Was genau sollen diese magischen Dornen tun?«

»Was sie gewöhnlich tun. Wenn ein Reisender den Wald durchquert, der nicht reinen Herzens ist oder nicht über den entsprechenden Gegenzauber verfügt, sollen sie ihn aufspießen.«

»Das habe ich mir schon gedacht! Aufspießen kostet extra!«

»Extra! Was, zum Teufel, soll das schon wieder heißen?«

»Ich habe Besseres zu tun, als hier herumzutrödeln und mit Ihnen zu streiten«, sagte Merioneth und entfaltete seine Schwingen.

Azzie zahlte ihm noch ein paar Edelsteine. Der Wildlederbeutel war leer. Er hatte Rognirs Schatz in erstaunlich kurzer Zeit durchgebracht.

»Ich denke, wir haben uns jetzt auf ein Grundmodell geeinigt«, stellte Merioneth fest. »Es gibt da noch einige Verfeinerungen, die ich mir vorstellen könnte, ein paar Sachen, die Ihnen wahrscheinlich gefallen würden, aber die würden mehr kosten.«

»Vergessen Sie die Verfeinerungen«, sagte Azzie. »Liefern Sie nur, worauf wir uns geeinigt haben. Und schnell, bitte! Ich habe noch andere Dinge zu erledigen.«

Merioneth forderte einen Arbeitstrupp an, und die Dämonen begannen damit, den Wald aufzubauen. Sie arbeiteten schnell und professionell, nachdem sie einmal in Fahrt gekommen waren, auch wenn einige der jüngeren Dämonen offensichtlich nicht an körperliche Arbeit gewöhnt waren. Aber die Aufseher sorgten dafür, daß sich jeder ins Zeug legte, und so ging die Arbeit schnell voran.

Sobald der Basiswald stand und die Zaubersprüche installiert, wenn auch noch nicht aktiviert waren, beauftragte der Vorarbeiterdämon einen Hilfsarbeiter damit, das Gestrüpp und die Wildblumen einzufügen, und wandte seine Aufmerksamkeit der Errichtung des Schlosses zu. Werkkolonnen oben im Limbus warfen die Mauerblöcke mit Schwung hinab. Die Dämonen unten auf der Erde fluchten, während sie auswichen, die Stücke auffingen und sie zusammensetzten. Nach und nach wuchsen die hohen Zinnenmauern und spitzen Türme empor. Das Schloß entsprach zwar nicht historischen Kriterien, war aber eindeutig von märchenhaftem Aussehen.

In dieser Konstruktionsphase traten einige Schwierigkeiten auf. Als der Burggraben ausgehoben werden sollte, stellte sich heraus, daß kein Erdaushubgerät vorhanden war. Eine Gruppe Drachen wurde herbeigerufen und mit Jungfrauen bestochen. Nachdem sie gespeist hatten, buddelten die Drachen einen schönen Burggraben, der sieben Meter breit und zehn Meter tief war. Aber natürlich fehlte jetzt wieder das Wasser, und niemand schien zu wissen, wer für die Wasserversorgung verantwortlich war. Azzie löste das Problem schließlich, indem er bei der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör einen Wetterzauber anforderte und einen kurzen aber heftigen Regen herbeirief. Der Wolkenbruch und das Wasser aus den Sturzbächen füllten den Graben bis zum Rand. Ein Schwanenpaar verlieh dem Ganzen einen zusätzlichen Hauch von Klasse.

Bald ragte das Schloß hoch und prachtvoll auf, ein luftiges Gebilde aus Steintürmen und Kuppeln. Auf den höchsten Turmspitzen flatterten helle Banner in der Brise. Natürlich war das Schloß noch nicht eingerichtet und sehr zugig, denn niemand macht sich die Mühe, die Fugen und Spalten in magischen Schlössern abzudichten. Azzie bestellte das Mobiliar bei der Versorgungsabteilung. Außerdem blieb noch das Problem der Innenbeleuchtung. Da Öllampen nicht genug Licht spendeten, entschied sich Azzie für eine magische Beleuchtung.

Schließlich war es geschafft. Azzie trat ein paar hundert Schritte zurück und bewunderte sein Werk. Es war ein Schloß, wie es der verrückte König Ludwig II von Bayern geliebt hätte, wäre er jetzt schon geboren. Es würde seinen Zweck erfüllen.

Azzie kehrte zu seinem Anwesen zurück, um seine Hauptpersonen fertigzustellen. Die Körper in den Bottichen sahen mittlerweile sehr gut aus, alle Nähte waren verblaßt. Die Jauche und die Zaubersprüche hatten perfekt gewirkt. Aber noch wohnte keine Intelligenz in den Körpern, das würde der letzte Schritt sein, und so taten sie die merkwürdigsten Dinge, während ein Körperteil nach dem anderen zum Leben erwachte. Azzie bemühte sich, sie zu stabilisieren, und schließlich gelang es ihm auch.

Dann wies Frike ihn darauf hin, daß beide noch immer blind waren.

»Stimmt«, sagte Azzie. »Das habe ich mir bis zum Schluß aufgehoben.«

Er setzte sich und dachte an Ylith. Ja, das Problem hatte er sich bis ganz zum Schluß aufgehoben.

KAPITEL 4

Azzie mochte Hexen. Er betrachtete sie als eine ständige Quelle, aus der Dämonen schöpfen konnten, die eine Begleiterin suchten, um sich die Samstagabende zu vertreiben. Zu dieser Zeit waren Hexensabbate die Vorläufer der späteren Nachtclubs.

»Frike! Bring mir Kreide und Kerzen!«

Der Diener eilte zur Vorratskammer, in der das magische Zubehör aufbewahrt wurde. In einer kompakten Truhe fand er die Dinge, die sein Gebieter benötigte. Die Kerzen waren so dick wie das Handgelenk eines erwachsenen Mannes und fast so groß wie Frike selbst. Er klemmte sich fünf unter einen Arm, eine Kerze für jede Spitze des Pentagramms. Sie waren so hart wie mumifiziertes Fleisch und fühlten sich etwas schmierig an. Frike kehrte mit ihnen und einem Stück Kreide in das Wohnzimmer zurück. Azzie räumte die Arbeitsplatte aus dem Weg. Er hatte Mantel und Wams abgelegt. Unter seinem Hemd zeichneten sich langgestreckte Muskeln ab, als er eine Ersatzrüstung in eine Ecke schleifte.

»Ich weiß nicht, wozu ich diesen ganzen Schrott aufbewahre«, murmelte er vor sich hin. »Gib mir die Kreide, Frike. Ich werde die Figur selbst malen.«

Er bückte sich und zeichnete das fünfeckige Symbol mit dem Kreidestück auf den Steinfußboden. Das Kaminfeuer tauchte ihn in rötliches Licht und betonte so sein fuchsartiges Aussehen. Frike erwartete beinahe, daß die Beine seines Herrn sich in die röten pelzigen Läufe eines Fuchses verwandeln würden, aber trotz aller Aufregung behielt Azzie seine menschliche Gestalt bei. Er hatte sehr lange daran gearbeitet. Erfahrene Dämonen unternehmen große Anstrengungen, ihre menschliche Erscheinungsform ihren Idealvorstellungen anzupassen.

Frike sah zu, wie Azzie die hebräischen Zeichen der Macht aufmalte und dann die Kerzen anzündete.

»Ylith!« intonierte Azzie, verschränkte die Klauen und knickte auf eine Art in den Knien ein, deren Anblick Frike weh tat. »Komm zu mir, Ylith!«

Der Diener registrierte eine Bewegung im Zentrum des Pentagramms. Von den Kerzen ringelte sich farbiger Rauch empor. Die Rauchfäden tanzten auf und nieder, vereinigten sich, sprühten helle Funken und nahmen schließlich eine feste Gestalt an.

»Ylith!« rief Azzie.

Aber es war nicht Ylith. Das Geschöpf im Pentagramm war zwar eine Frau, aber damit endete auch schon jede Ähnlichkeit mit der Ylith, an die sich Azzie erinnerte. Diese Person war ein kleines stämmiges Weib mit orangefarbenem Haar und einer Hakennase. Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn finster an.

»Was willst du?« fragte sie unfreundlich. »Ich wollte gerade eine Hexenversammlung besuchen, als du mich beschworen hast. Wäre ich nicht davon überrascht worden, hätte ich deinen Zauberspruch abgeblockt, den du ohnehin falsch gewirkt hast.«

»Du bist nicht Ylith, oder?« vergewisserte sich Azzie.

»Ich bin Mylith«, entgegnete die Hexe.

»Aus Athen?«

»Kopenhagen.«

»Es tut mir schrecklich leid«, versicherte Azzie. »Ich wollte Ylith aus Athen herbeirufen. Der Geistaustausch muß die Dinge durcheinandergebracht haben.«

Mylith rümpfte abfällig die Nase, wischte eins von Azzies hebräischen Zeichen weg und malte ein neues an seiner Stelle. »Du hattest den falschen Wert. Wenn das jetzt alles war…«

»Es wäre mir ein Vergnügen, dich wieder zurück nach Hause zu schicken«, sagte Azzie.

»Das mache ich lieber selbst«, wehrte Mylith ab. »Wer weiß, wohin mich dein Zauber schicken würde!«

Sie vollführte eine Geste mit beiden Händen und verschwand.

»Das war äußerst peinlich«, stellte Azzie fest.

»Ich fand es erstaunlich, daß Ihr überhaupt etwas herbeibeschwören konntet«, meinte Frike. »Mein letzter Meister, der Dämon Throdeus, konnte samstags überhaupt nichts beschwören.«

»Und woran hat das deiner Meinung nach gelegen?« wollte Azzie wissen.

»Bevor er ein Dämon geworden ist, war er ein orthodoxer Rabbiner«, erklärte Frike.

Azzie begann mit der nächsten Beschwörung. Wieder kringelten sich farbige Rauchfäden im Zentrum des Pentagramms. Doch als sie sich diesmal verfestigten, stand dort statt der orangehaarigen, häßlichen kleinen Hexe eine attraktive, schwarzhaarige große Frau in einem kurzen seidenen Nachtgewand.

»Ylith!« rief Azzie.

»Wer ist da?« fragte die Hexe und rieb sich die Augen. »Azzie? Bist du es wirklich? Mein Lieber, du hättest mir vorher einen Boten schicken sollen. Ich habe geschlafen.«

»Ist das ein Nachtgewand?« erkundigte sich Azzie, denn er konnte ihre schweren wohlgeformten Brüste durch den pfirsichfarbenen dünnen Stoff erkennen und auch einen Blick auf ihren rosigen Po erhaschen, als er sie umkreiste.

»Kurze Nachtgewänder sind der letzte Schrei in Byzanz«, erklärte Ylith. »Ich glaube allerdings nicht, daß sie sich in Europa durchsetzen werden. Jedenfalls nicht in nächster Zeit.« Sie trat aus dem Pentagramm heraus. »Es ist schön, dich wiederzusehen, Azzie, aber ich brauche wirklich etwas zum Anziehen.«

»Ich habe dich schon mit weniger am Leib gesehen«, sagte Azzie.

»Ich weiß, aber das ist keine von diesen Gelegenheiten. Außerdem starrt mich dein tölpelhafter Diener an! Ich brauche eine Garderobe, Azzie!«

»Und die wirst du auch bekommen!« rief Azzie. »Frike!«

»Ja, Meister?«

»Stell dich in das Pentagramm.«

»Gebieter, ich denke, daß ich wirklich nicht…«

»Du sollst nicht denken. Tu einfach, was ich dir sage.«

Murrend hinkte Frike ins Zentrum des Pentagramms.

»Ich schicke dich nach Athen. Sammle so viele Kleidungsstücke wie möglich von dieser Dame zusammen. In ein paar Minuten hole ich dich wieder zurück.«

»Da ist ein dunkelblaues Kleid mit Pelzkragen im Ankleidezimmer«, warf Ylith ein. »Das mit den dreiviertellangen Ärmeln. Achte bitte darauf, daß du das mitbringst. Und in dem kleinen Schränkchen neben der Küche…«

»Ylith!« unterbrach Azzie ihren Wortschwall. »Wir können später mehr Kleidung besorgen, falls es nötig werden sollte. Im Augenblick habe ich es ziemlich eilig.«

Er hob die Hände und intonierte einen Zauberspruch. Frike verschwand mitten in einem gemurmelten Protest.

»Schön, jetzt sind wir allein«, sagte Ylith. »Azzie, warum hast du mich nicht schon früher gerufen? Es muß Jahrhunderte her sein, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben!«

»Ich war in der Grube«, erklärte er. »Da habe ich völlig das Zeitgefühl verloren.«

Er geleitete sie zu dem großen Sofa, das vor dem Kamin stand und brachte ihr Wein und einen Teller mit kleinen Kuchen, die sie mochte, wie er sich erinnerte. Sie ließen sich auf dem Sofa nieder, und Azzie wandte einen kleineren Zauber an, mit dem er zur Zeit beliebte Melodien erklingen ließ. Dann blickte er ihr tief in die Augen.

»Ylith«, sagte er, »ich habe ein Problem.«

»Erzähl mir davon«, forderte sie ihn auf.

Das tat er, und er war so tief in seinen Ausführungen versunken, daß er Frike mehrere Stunden lang vergaß. Als er ihn schließlich zurückholte, dämmerte bereits der Morgen, und sein Diener tauchte gähnend auf, über und über mit Frauenkleidern behangen.

KAPITEL 5

Azzie führte Ylith in das Laboratorium, wo der Märchenprinz und Prinzessin Rosenrot, mittlerweile vollkommen hergestellt, Seite an Seite auf Marmortafeln lagen. Azzie hatte Leinentischdecken über sie ausgebreitet, da er festgestellt hatte, daß leichtbekleidete Menschen besser als gar nicht bekleidete aussahen.

»Sie geben ein hübsches Paar ab, nicht wahr?« fragte er.

Ylith seufzte. Ihr längliches, ausdrucksstarkes Gesicht war einen Moment lang wunderschön, im nächsten wieder finster. Azzie versuchte, seine Wahrnehmung so einzustellen, daß er nur ihre schöne Seite sah, aber das war ziemlich schwer, denn Hexen besitzen einen verborgenen Gesichtszyklus. Seit langem schon empfand Azzie zwiespältige Gefühle für Ylith. Manchmal glaubte er, sie zu lieben, manchmal haßte er sie. Manchmal hatte er versucht, das Problem durch einen Frontalangriff zu lösen, dann wieder hatte er es vorgezogen, es zu verdrängen, indem er sich einfacheren Problemen zugewandt hatte, zum Beispiel der Frage, wie er am bestes Böses tun und die allgemeine Schlechtigkeit der Welt noch vergrößern konnte. Manchmal – und das war meistens der Fall – wußte er nicht, was er tun sollte. Er liebte Ylith, auch wenn er sie nicht immer mochte. Aber gleichzeitig war sie seine beste Freundin, und wenn er ein Problem hatte, wandte er sich damit an sie.

»Sie sind wirklich niedlich«, stimmte Ylith ihm zu, »von den fehlenden Augen einmal abgesehen. Aber das weißt du selbst.«

»Aus diesem Grund habe ich sie dir gezeigt«, erklärte Azzie. »Ich habe dir bereits erzählt, daß ich sie in den Jahrtausendwettkampf schicken werde. Sie werden die Geschichte vom Märchenprinzen ganz allein spielen, ohne Druck von meiner Seite, indem sie sich des berühmten freien Willens bedienen, den angeblich alle intelligenten Geschöpfe besitzen. Und sie werden die falschen Schlüsse treffen und sich für alle Ewigkeit selbst verdammen. Aber ich brauche Augen für sie, allerdings nicht irgendwelche, sondern ganz besondere Augen. Verzauberte Augen. Ich brauche sie, um der Geschichte eine besondere Note zu verleihen – diese Märchenatmosphäre, wenn du weißt, was ich meine.«

»Ich verstehe dich nur zu gut, mein Schatz«, erwiderte Ylith. »Und du möchtest, daß ich dir helfe? Oh, Azzie, was bist du nur für ein Kind! Was hat dich denn auf die Idee gebracht, daß ich Augen für dich suchen würde?«

Darüber hatte Azzie noch gar nicht nachgedacht. Er kratzte sich am Kopf – Schuppen, die holte man sich jedes Mal in der Grube – und überlegte.

»Ich dachte, du würdest einverstanden sein, weil es richtig ist, das zu tun«, sagte er. »Ich meine, du möchtest doch genau wie ich, daß das Böse siegt, oder? Stell dir vor, das Gute würde für die nächsten tausend Jahre das Schicksal der Menschheit bestimmen; das könnte auch dich aus dem Geschäft drängen.«

»Da hast du einen Punkt«, gab Ylith zu, »aber der überzeugt mich nicht ganz. Warum sollte ich dir helfen? Ich habe mein eigenes Leben und andere Aufgaben vor mir. Ich habe administrative Pflichten in der Hexenversammlung, und ich gebe Unterricht…«

Azzie tat einen geistigen Atemzug, wie er es immer machte, bevor er eine seiner wirklich großen Lügen vom Stapel ließ. Und während er geistig Luft holte, halfen ihm sein Genie und all seine Fähigkeiten, in die Rolle zu schlüpfen, – von der er wußte, daß sie jetzt erforderlich war.

»Es ist ganz einfach, Ylith«, sagte er. »Ich liebe dich.«

»Oh, sicher!« erwiderte sie verächtlich, aber nicht so, daß sie damit das Gespräch beendete. »Das ist einfach großartig! Erzähl nur mehr davon!«

»Ich habe dich immer geliebt«, versicherte Azzie.

»Was du durch dein Verhalten ja zur Genüge bewiesen hast, nicht wahr?« fragte Ylith.

»Ich kann dir erklären, warum ich mich nie gemeldet habe«, behauptete Azzie.

»Darauf würde ich wetten!« konterte Ylith. Sie wartete.

»Es gibt zwei Gründe«, begann Azzie, der im Augenblick noch keine Ahnung hatte, welche Gründe das waren. Aber für den Fall, daß ein Grund nicht ausreichte, wollte er lieber gleich zwei parat haben.

»So? Dann laß mal hören!«

»Ich habe dir bereits erzählt, daß ich in der Grube war.«

»Und du hättest mir nicht wenigstens eine Postkarte schicken können? Diese ›Ich-war-in-der-Grube‹-Ausrede habe ich schon einmal gehört!«

»Ylith, du mußt mir ganz einfach glauben. Es gibt gewisse Dinge, über die ein Mann nicht sprechen kann. Aber ich gebe dir mein Wort, es haben sich bestimmte Dinge ereignet. Ich könnte dir alles erklären, wenn wir Zeit hätten, aber das Wichtigste ist, daß ich dich liebe. Der böse Zauberbann ist endlich verflogen, und wir können wieder Zusammensein, so wie du es immer gewollt hast und wie ich es insgeheim auch gewollt habe, auch wenn ich früher vielleicht einmal etwas anderes behauptet habe.«

»Was für ein Zauberbann?« wollte Ylith wissen.

»Hast du gerade einen Zauberbann erwähnt?«

»Du hast gesagt: ›Der böse Zauberbann ist endlich verflogen.‹«

»Habe ich das gesagt? Bist du dir sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher!«

»Also, das hätte ich nicht sagen dürfen«, sagte Azzie. »Eine Bedingung für die Beendigung des bösen Zauberbanns war es, daß ich nie darüber reden sollte. Ich hoffe nur, wir haben ihn jetzt nicht wieder ausgelöst.«

»Was für ein Zauberbann?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Ylith richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und blickte Azzie finster an. Er war wirklich ein unmöglicher Dämon. Natürlich erwartet man von einem Dämon, daß er log, aber selbst der schlimmste Dämon sagt hin und wieder die Wahrheit. Es ist fast unmöglich, nicht ab und zu schon allein aus Versehen die Wahrheit zu sagen. Sah man einmal von Azzie ab. Was jedoch nicht daran lag, daß er im Grunde seines Herzens ein Lügner war. Nein, es lag vielmehr daran, daß er sich so sehr bemühte, besonders böse zu sein. Trotzdem konnte sie nicht anders, als ihn gern zu haben. Sie fühlte sich noch immer zu ihm hingezogen. Und es war nicht gerade die amüsanteste Zeit in Athen.

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