9

Ich möchte Sie nicht mit Wiederholungen langweilen. Das zweite Jahr verlief mehr oder weniger wie das erste und hatte dasselbe Finale. Das dritte ebenso. Im zweiten Jahr besuchte mich Rein zweimal mit einem Korb voller schöner Sachen und einem Mund voller Klatsch. Beide Male verbat ich ihm, mich jemals wieder aufzusuchen. Im dritten Jahr ließ er sich sechsmal sehen, jeden zweiten Monat, und jedesmal wiederholte ich mein Verbot und aß seine Gaben und hörte mir an, was er zu sagen hatte.

Irgend etwas stimmte nicht in Amber. Seltsame Dinge bewegten sich durch die Schatten und machten sich überall gewalttätig bemerkbar. Natürlich wurden sie vernichtet. Eric versuchte sich noch darüber klar zu werden, wie sie sich hatten bilden können. Ich sagte nichts von meinem Fluch, wenn ich mich auch innerlich freute, daß er solche Wirkungen gezeitigt hatte.

Random war ebenso wie ich noch gefangen. Inzwischen hatte er jedoch seine Frau bei sich. Die Stellung meiner anderen Brüder und Schwestern war unverändert. Dies half mir durch den dritten Jahrestag der Krönung, verlieh mir das Gefühl, fast wieder am Leben zu sein.

Es.

Es! Eines Tages war es da, und es erfüllte mich mit einem solchen Wohlgefühl, daß ich sofort die letzte Flasche Wein aufmachte und die letzte Schachtel Zigaretten anbrach, die ich mir aufgehoben hatte.

Ich rauchte und trank und genoß das Gefühl, Eric irgendwie besiegt zu haben. Wenn er die Wahrheit erfuhr, mochten die Folgen für mich tödlich sein. Aber ich wußte, daß er keine Ahnung hatte.

Also freute ich mich, rauchte und trank und streckte mich im Lichte dessen, was geschehen war.

Ja, im Licht.

Ich hatte einen winzigen Streifen Helligkeit entdeckt, irgendwo rechts von mir.

Können Sie sich vorstellen, was mir das bedeutete?

Sehen wir es mal so: Ich war in einem Krankenhausbett erwacht und erfuhr, daß ich mich viel zu schnell erholt hatte. Wissen Sie, was ich damit sagen will?

Meine Wunden heilen schneller als die Verletzungen anderer. Alle Lords und Ladies von Amber besitzen diese Fähigkeit.

Ich hatte die Pest überlebt, ich hatte den Marsch auf Moskau überstanden . . .

Mein Körper regeneriert sich schneller und besser, als ich es jemals bei anderen erlebt habe. Bei Nervengewebe dauert es nur etwas länger, das ist alles. Mein Sehvermögen kehrte zurück – das hatte diese Entdeckung zu bedeuten, dieser herrliche Streifen Helligkeit, irgendwo rechts von mir.

Nach einer Weile wußte ich, daß es sich um das kleine vergitterte Fenster in meiner Zellentür handelte.

Meine Finger ertasteten die Tatsache, daß mir neue Augen gewachsen waren. Dieser Vorgang hatte drei Jahre gedauert, aber ich hatte es geschafft. Dies war die winzige Chance, die ich schon erwähnt habe – jener Vorgang, den nicht einmal Eric richtig abzuschätzen wußte, weil die Familienmitglieder in mancher Hinsicht doch sehr verschieden sind. Insoweit hatte ich ihn besiegt; ich wußte, daß mir neue Augäpfel wachsen konnten. Mir war bald klar geworden, daß das Nervengewebe meines Körpers nachwachsen konnte, wenn man ihm genug Zeit ließ. In den preußisch-französischen Kriegen hatte ich eine schwere Rückgratverletzung davongetragen. Nach zwei Jahren war die Lähmung verschwunden gewesen. Ich hatte von Anfang an die Hoffnung genährt – eine vage Hoffnung, das will ich gern eingestehen –, daß ich dasselbe mit meinen ausgebrannten Augäpfeln vollbringen könnte. Und ich hatte recht behalten. Das Sehvermögen kehrte langsam zurück.

Wie lange noch bis zum Jahrestag von Erics Krönung? Ich blieb stehen, und mein Herz begann schneller zu klopfen. Sobald man bemerkte, daß ich das Augenlicht zurückgewonnen hatte, würde ich es wieder verlieren.

Deshalb mußte ich fliehen, ehe die vier Jahre vorüber waren.

Aber wie?

Bis jetzt hatte ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, denn selbst wenn ich eine Möglichkeit fand, aus der Zelle auszubrechen, war mir doch der Weg aus der Stadt – oder auch nur aus dem Palast – ganz gewiß versperrt; immerhin war ich blind und allein.

Doch jetzt . . .

Die Tür zu meiner Zelle war ein großes, schweres, metallgefaßtes Ding, in etwa fünf Fuß Höhe von einem winzigen Gitter durchbrochen, durch das man sehen konnte, ob ich noch lebte – falls sich jemand dafür interessierte. Selbst wenn ich das Gitter herausnehmen konnte, vermochte ich durch die Öffnung nicht an das Schloß heranzukommen. Unten gab es eine kleine Klappe – groß genug für das Essen, und das war schon alles. Die Scharniere befanden sich entweder draußen oder zwischen Tür und Türpfosten; ich konnte ihre Stellung nicht genau bestimmen. Jedenfalls kam ich nicht heran. Es gab keine Fenster und keine anderen Türen.

Es war fast, als wäre ich blind – nur war da eben das schwache und beruhigende Licht hinter dem Gitter. Ich wußte, daß meine Sehkraft noch nicht völlig wiederhergestellt war. Bis dahin war es noch ein weiter Weg. Aber selbst wenn ich wieder richtig hätte sehen können – in der Zelle war es pechschwarz. Dies war mir bekannt – weil ich die Verliese unter Amber eben kannte.

Ich wanderte erneut hin und her und überdachte meine Lage, beschäftigte mich mit allem, was mir vielleicht helfen konnte. Da war meine Kleidung, meine Matratze und genug feuchtes Stroh. Ich hatte auch Streichhölzer – gab aber den Gedanken, das Stroh anzuzünden, schnell wieder auf. Ich glaubte nicht, daß jemand herbeieilen und die Tür öffnen würde. Eher würde mich der Wächter auslachen, wenn er überhaupt etwas bemerkte. Beim letzten Bankett hatte ich einen Löffel mitgehen lassen. Eigentlich wollte ich ja ein Messer stibitzen, doch Julian hatte mich dabei erwischt, wie ich eins zur Hand nahm, und hatte es mir entrissen. Er wußte allerdings nicht, daß dies mein zweiter Versuch war. Der Löffel steckte bereits in meinem Stiefel.

Aber was konnte mir das gute Stück jetzt nützen?

Ich hatte Geschichten von Gefangenen gehört, die sich mit den seltsamsten Gegenständen einen Weg in die Freiheit graben konnten – Gürtelschnallen (so etwas besaß ich nicht) und so weiter. Aber ich hatte nicht die Zeit, den Grafen von Monte Christo zu spielen. Ich mußte innerhalb weniger Monate entkommen, sonst konnte mir auch das neue Augenlicht nicht weiterhelfen.

Die Tür bestand hauptsächlich aus Holz. Eichenholz. Vier Metallstreifen hielten sie zusammen. Ein Band führte im oberen Teil ganz herum, ein zweites weiter unten, unmittelbar über dem Türchen, und zwei verliefen von oben nach unten, links und rechts an dem fußbreiten Gitter vorbei. Die Tür öffnete sich nach außen, das wußte ich noch, und das Schloß befand sich zu meiner Linken. Wenn ich mich recht erinnerte, war die Tür etwa fünf Zentimeter dick, und ich wußte auch noch die ungefähre Position des Schlosses – einen Eindruck, den ich bestätigte, indem ich mich gegen die Tür lehnte und an der Stelle die Spannung überprüfte. Ich wußte auch, daß die Tür zusätzlich verriegelt war, aber darüber konnte ich mir später noch Gedanken machen. Vielleicht konnte ich den Griff des Löffels zwischen Türkante und Türöffnung nach oben gleiten lassen.

Ich kniete mich auf meine Matratze und kratzte mit dem Löffel ein Viereck in die Tür, in dessen Mitte das Schloß liegen mußte. Ich arbeitete, bis mir die Hand schmerzte – ein paar Stunden lang. Dann fuhr ich mit dem Fingernagel über die Oberfläche. Ich hatte noch keine große Kerbe ins Holz gegraben, aber es war wenigstens ein Anfang. Ich nahm den Löffel in die linke Hand und machte weiter, bis auch sie schmerzte.

Ich hoffte, daß Rein wieder einmal auftauchen würde. Ich glaubte, ihn mit dem nötigen Nachdruck überreden zu können, mir seinen Dolch anzuvertrauen. Da er sich aber nicht blicken ließ, schabte ich weiter.

Tag um Tag arbeitete ich, bis ich etwa einen Zentimeter tief in das Holz eingedrungen war. Sobald ich die Schritte eines Wächters hörte, schob ich das Bettgestell wieder an die gegenüberliegende Mauer und legte mich mit dem Rücken zur Tür darauf. Wenn der Mann vorbei war, setzte ich meine Arbeit fort. Obwohl ich meine Hände zum Schutz in ein Tuch einwickelte, das ich mir von meiner Kleidung abgerissen hatte, holte ich mir zahlreiche Blasen, die aufplatzten, und das rohe Fleisch darunter begann zu bluten. Ich legte also eine Pause ein, um die Wunden heilen zu lassen. In dieser Zeit wollte ich planen, was nach dem Ausbruch zu tun war.

Wenn ich tief genug in der Tür war, wollte ich den Riegelbalken anheben. Das Geräusch des fallenden Holzes würde vermutlich einen Wächter alarmieren. Aber bis dahin war ich längst draußen. Mit einigen festen Tritten konnte ich das Stück herausfallen lassen, an dem ich gerade arbeitete. Sobald die Tür aufschwang, sah ich mich dem Wächter gegenüber. Der Mann würde bewaffnet sein, ich nicht. Ich mußte es mit ihm aufnehmen.

Vielleicht fühlte sich der Mann zu sicher – wahrscheinlich nahm er an, ich könnte nichts sehen. Andererseits mochte er Angst empfinden bei der Erinnerung daran, wie ich nach Amber gekommen war. Wie auch immer – er mußte sterben, und ich wollte seine Waffen an mich nehmen. Ich umspannte mit der linken Hand meinen rechten Bizeps und spürte, wie sich die Fingerspitzen berührten. Himmel! Ich war ja ausgemergelt! Egal, ich war vom Blute Ambers und spürte, daß ich einen gewöhnlichen Gegner sogar in dieser Situation überwältigen konnte. Vielleicht machte ich mir damit etwas vor, aber ich mußte es versuchen.

Wenn ich durchkam, wenn ich dann eine Klinge in der Hand hielt, konnte mich nichts davon abhalten, zum Muster vorzudringen. Ich wollte es beschreiten und mich dann von der Mitte aus in einen Schatten meiner Wahl versetzen lassen. Dort wollte ich mich erholen, ohne die Dinge zu überstürzen. Und wenn es mich ein Jahrhundert kostete – ich wollte alles perfekt vorbereiten, ehe ich wieder gegen Amber vorging. War nicht ich der Herrscher hier? Hatte ich mich nicht vor den Augen aller gekrönt, ehe Eric dasselbe getan hatte? Ich würde meinen Anspruch auf den Thron schon durchsetzen!


Nach etwa einem Monat waren meine Hände verheilt, und von der Schaberei bildeten sich gewaltige Schwielen. Ich hörte die Schritte eines Wächters und zog mich auf die andere Seite der Zelle zurück. Ein leises Quietschen ertönte, und mein Essen wurde unter der Tür hindurchgeschoben. Und wieder erklangen Schritte, verloren sich in der Ferne.

Ich kehrte zur Tür zurück. Ich brauchte gar nicht erst hinzuschauen – ich wußte, was sich auf dem Tablett befand; ein trockenes Stück Brot, ein Krug mit Wasser, und wenn ich Glück hatte, auch ein Stück schimmeliger Käse. Ich zog die Matratze zurecht, kniete mich darauf und betastete die Rille. Ich war etwa halb durch.

Dann hörte ich das leise Lachen.

Es ertönte hinter mir.

Ich wandte mich um und brauchte gar nicht erst meine Augen zu bemühen, um zu wissen, daß noch jemand in der Zelle war.

Unmittelbar vor der linken Wand stand ein Mann und kicherte vor sich hin.

»Wer seid Ihr?« fragte ich, und meine Stimme hörte sich seltsam an. Da wurde mir bewußt, daß ich seit langer Zeit nicht mehr gesprochen hatte.

»Fliehen«, sagte er. »Er versucht zu fliehen.« Und wieder lachte er.

»Wie seid Ihr hier hereingekommen?«

»Zu Fuß«, entgegnete er.

»Von wo? Wie?«

Ich riß ein Streichholz an. Das Licht schmerzte meinen noch sehr empfindlichen Augen, doch ich hielt es in die Höhe.

Ein kleiner Mann. Winzig, könnte man sagen. Etwa fünf Fuß groß und bucklig. Haar und Bart waren so lang und dicht wie bei mir. Das einzige hervorstechende Merkmal in der Pelzpracht waren die lange Hakennase und die nahezu pechschwarzen Augen, die sich im Lichtschein zusammengezogen hatten.

»Dworkin!« rief ich überrascht.

Und er lachte.

»So heiße ich. Und wie heißt Ihr?«

»Kennt Ihr mich nicht wieder, Dworkin?« Ich zündete ein zweites Streichholz an und hielt es mir vors Gesicht. »Schaut einmal genau hin. Vergeßt den Bart und das Haar. Stellt Euch vor, ich wäre etliche Pfund schwerer. Ihr habt mich in exquisitem Detail auf mehreren Kartenspielen festgehalten.«

»Corwin«, sagte er schließlich. »Ich erinnere mich an Euch. Jawohl.«

»Ich hatte Euch für tot gehalten.«

»Das bin ich aber nicht. Seht Ihr?« Und er drehte sich im Kreise. »Wie geht es Eurem Vater? Habt Ihr ihn kürzlich gesehen? Hat er Euch hierhergesteckt?«

»Oberon ist nicht mehr in Amber«, erwiderte ich. »Mein Bruder Eric herrscht in der Stadt, und ich bin sein Gefangener.«

»Dann habe ich gewisse Vorrechte«, sagte er, »denn ich bin Oberons Gefangener.«

»Oh? Niemand von uns wußte, daß Vater Euch eingesperrt hatte.«

Ich hörte ihn weinen.

»Ja«, sagte er nach einer Weile. »Er hat mir nicht getraut.«

»Warum nicht?«

»Ich sagte ihm, ich hätte eine Möglichkeit gefunden, Amber zu vernichten. Ich habe ihm die Methode beschrieben, und da hat er mich eingesperrt.«

»Das war ungerecht von ihm«, sagte ich.

»Ich weiß«, stimmte er zu, »aber er gab mir eine schöne Wohnung und viele Dinge, die ich erforschen konnte. Nur besuchte er mich nach einer gewissen Zeit nicht mehr. Er brachte immer Männer mit, die mir Tintenkleckse zeigten und mich aufforderten, Geschichten darüber zu erzählen. Das war ganz lustig, bis ich eine Geschichte erzählte, die mir selbst nicht gefiel, und einen seiner Begleiter in einen Frosch verwandelte. Der König war zornig, als ich ihn nicht zurückverwandeln wollte. Ich habe inzwischen so lange niemanden mehr gesehen, daß ich den Kerl sogar jetzt noch zurückverwandeln würde, wenn er darauf bestünde. Einmal . . .«

»Wie seid Ihr hierher gekommen, in meine Zelle?« fragte ich noch einmal.

»Ich hab’s Euch doch gesagt. Zu Fuß.«

»Durch die Mauer?«

»Natürlich nicht. Durch die Schatten-Mauer.«

»Niemand kann in Amber durch die Schatten schreiten. In Amber gibt es keine Schatten.«

»Hihi, man muß sich nur auskennen und ein bißchen schummeln«, sagte er.

»Wie?«

»Ich entwarf einen neuen Trumpf und bin hindurchgeschritten, um mal zu sehen, was sich auf dieser Seite der Mauer tut. Ach je – da fällt mir ein . . . ich kann ja ohne den Trumpf nicht zurück! Ich muß einen neuen zeichnen. Habt Ihr irgend etwas zu essen?«

»Nehmt ein Stück Brot«, sagte ich und reichte ihm den Laib. »Und hier ist ein Stück Käse dazu.«

»Dank sei Euch, Corwin«, und er verschlang die Brocken und trank anschließend meinen Wasserkrug leer. »Wenn Ihr mir jetzt einen Stift und ein Stück Pergament geben könntet, kann ich in meine Räume zurückkehren. Ich möchte gern noch ein Buch zu Ende lesen. Unser Gespräch hat mich gefreut. Die Sache mit Eric ist bedauerlich. Ich komme ein andermal wieder, dann können wir uns ausführlicher unterhalten. Wenn Ihr Euren Vater seht, sagt ihm bitte, er soll nicht zornig sein, weil ich . . .«

»Ich habe weder Schreibstift noch Pergament«, stellte ich fest.

»Meine Güte!« rief er aus. »Wie unzivilisiert.«

»Ich weiß. Eric ist eben nicht besonders zivilisiert.«

»Nun denn, was habt Ihr statt dessen? Meine Räume gefallen mir doch besser als dieser Ort. Zumindest sind sie besser beleuchtet.«

»Ihr habt mit mir gegessen«, sagte ich, »und jetzt möchte ich Euch um einen Gefallen bitten. Wenn Ihr mir die Bitte erfüllt, dann will ich alles in meiner Macht Stehende tun, um die Angelegenheit zwischen Euch und Vater zu bereinigen, das verspreche ich Euch.«

»Was wollt Ihr?« fragte er.

»Ich bin seit langer Zeit ein großer Bewunderer Eurer Arbeit«, sagte ich. »Und es gibt ein Motiv, das ich mir stets von Eurer Hand gewünscht habe. Kennt Ihr den Leuchtturm von Cabra?«

»Natürlich. Ich bin oft dort gewesen. Ich kenne den Wächter Jopin. Früher habe ich öfter mit ihm Schach gespielt.«

»Vor allen Dingen habe ich mir eins ersehnt – eine Eurer magischen Skizzen des großen grauen Turms – das ist mein Herzenswunsch.«

»Ein einfaches Thema«, sagte er, »und auch ganz reizvoll. Ich habe früher einmal ein paar Grundskizzen davon gemacht, doch weiter bin ich nicht gekommen. Es kam mir immer andere Arbeit dazwischen. Wenn Ihr möchtet, hole ich Euch eine der Zeichnungen.«

»Nein«, sagte ich. »Ich wünsche mir etwas Dauerhafteres, das mir hier in der Zelle Gesellschaft leisten soll – um mich zu trösten, und andere, die vielleicht nach mir hier leben müssen.«

»Löblich«, sagte er. »Was habt Ihr Euch als Material gedacht?«

»Ich habe hier einen Stift«, erwiderte ich (der Löffel war inzwischen ziemlich scharf) »und hätte das Bild gern an der gegenüberliegenden Wand, damit ich es anschauen kann, wenn ich mich ausruhe.«

Er schwieg einen Augenblick lang und sagte dann: »Die Beleuchtung ist aber ziemlich schlecht.«

»Ich habe mehrere Streichholzheftchen«, erwiderte ich. »Ich werde die Hölzer aneinander anzünden und hochhalten. Wenn der Vorrat knapp wird, können wir auch etwas von dem Stroh verbrennen.«

»Die Arbeitsbedingungen sind nicht gerade ideal . . .«

»Ich weiß«, sagte ich, »und ich entschuldige mich dafür, großer Dworkin, aber etwas Besseres kann ich Euch leider nicht bieten. Ein Kunstwerk von Eurer Hand würde mein bescheidenes Dasein unvorstellbar bereichern.«

Er kicherte vor sich hin.

»Also gut. Aber Ihr müßt mir versprechen, daß Ihr mir hinterher Licht zur Verfügung stellt, damit ich mir einen Rückweg in meine Gemächer aufzeichnen kann.«

»Einverstanden«, sagte ich und griff in die Tasche.

Ich hatte drei volle Streichholzhefte und ein angebrochenes.

Ich drückte ihm den Löffel in die Hand und führte ihn zur Wand.

»Habt Ihr Euch mit dem Stift vertraut gemacht?« fragte ich.

»Ja – ein angespitzter Löffel, nicht wahr?«

»Ja. Ich mache Licht, sobald Ihr bereit seid. Ihr müßt schnell zeichnen, da mein Vorrat an Streichhölzern beschränkt ist. Ich sehe die Hälfte für den Leuchtturm vor, und die andere Hälfte für Eure Sache.«

»Gut«, sagte er. Ich zündete ein Streichholz an, und er begann die feuchte graue Wand mit Linien zu überziehen.

Zuerst zeichnete er ein hohes Rechteck als eine Art Rahmen. Dann begann er mit energischen Strichen den Leuchtturm zu umreißen.

So unzurechnungsfähig er sonst war – seine Zeichenkunst war ungeschmälert. Ich hielt jedes Streichholz mit den Fingerspitzen, spuckte mir auf Daumen und Zeigefinger der anderen Hand und ergriff das bereits abgebrannte Ende, drehte das ganze Gebilde herum und ließ das Streichholz völlig abbrennen, ehe ich das nächste anzündete.

Als das erste Heft mit Streichhölzern aufgebraucht war, hatte er den Turm abgeschlossen und beschäftigte sich mit Meer und Himmel. Ich ermutigte ihn, indem ich mit jedem Strich anerkennend vor mich hin murmelte.

»Großartig, wirklich großartig«, sagte ich, als das Werk fast vollendet war. Zuletzt ließ er mich ein weiteres Streichholz verschwenden, damit er seine Signatur anbringen konnte. Ich war nun fast mit der zweiten Packung am Ende.

»Jetzt wollen wir es bewundern«, meinte er.

»Wenn Ihr in Eure Räumlichkeiten zurück wollt, müßt Ihrmir das Bewundern überlassen«, sagte ich. »Wir haben zu wenige Streichhölzer, um uns noch als Kunstkritiker zu betätigen.«

Er schmollte ein wenig, ging dann aber an die andere Wand und begann zu zeichnen, sobald das erste Streichholz entflammt war.

Er zeichnete einen Arbeitsraum mit einem Schädel auf dem Tisch, daneben einen Globus, reihenweise Bücher an allen Wänden.

»Das ist gut«, sagte er, als ich mit dem dritten Heftchen durch war und den angebrochenen Streichholzvorrat in Angriff nahm.

Es kostete sechs weitere Streichhölzer, bis er fertig war und das Werk signiert hatte.

Er starrte darauf, während das achte Streichholz brannte – ich hatte nur noch zwei –, dann machte er einen Schritt darauf zu – und war verschwunden.

Schon versengte mir die Flamme den Finger, und ich ließ das Hölzchen fallen, das zischend im Stroh verlöschte.

Zitternd stand ich da, von seltsamen Gefühlen bewegt, und im nächsten Augenblick hörte ich seine Worte und spürte seine Gegenwart neben mir. Er war zurückgekommen!

»Mir ist da noch etwas eingefallen«, sagte er. »Wie könnt Ihr überhaupt das Bild sehen, wo es hier doch so dunkel ist?«

»Oh, ich kann im Dunkeln sehen«, erwiderte ich. »Ich habe so lange darin gelebt, daß ich mich geradezu damit angefreundet habe.«

»Ich verstehe. Ich wollte es nur wissen. Streicht noch ein Hölzchen an, damit ich wieder verschwinden kann.«

»Aber gern«, sagte ich und nahm mein vorletztes Zündholz. »Beim nächsten Mal solltet Ihr aber Euer eigenes Licht mitbringen – ich habe jetzt keine Streichhölzer mehr.«

»Gut.« Ich machte Licht, und er betrachtete seine Zeichnung, ging darauf zu und verschwand von neuem.

Ich wandte mich hastig um und betrachtete den Leuchtturm von Cabra, ehe die Flamme verlöschte. Ja, die Fähigkeit regte sich. Ich spürte sie.

Doch genügte das letzte Streichholz?

Nein, vermutlich nicht.

Es erforderte eine längere Periode der intensiven Konzentration, ehe ich einen Trumpf zur Flucht verwenden konnte.

Was ließ sich verbrennen? Das Stroh war zu feucht und mochte nicht brennen. Es wäre schlimm, den Fluchtweg vor Augen zu haben – den Weg in die Freiheit –, ohne ihn benutzen zu können.

Ich brauchte eine Flamme, die eine Zeitlang brannte.

Meine Matratze! Es handelte sich um einen mit Stroh gefüllten Stoffsack. Das Stroh war bestimmt trockener als das andere, und der Stoff mochte ebenfalls brennen.

Ich fegte die Hälfte des Steinbodens frei. Dann suchte ich den angespitzten Löffel, um damit den Strohsack zu öffnen. Und ich fluchte. Dworkin hatte mein Handwerkszeug mitgenommen!

Ich zerrte und riß an dem Ding.

Schließlich ging der Stoff auf, und ich zog das trockene Stroh aus der Mitte, häufte es auf und legte den Bezug daneben, als weitere Nahrung für das Feuer, falls ich es brauchte. Je weniger Rauch, desto besser. Wenn zufällig ein Wächter vorbeikam, mochte er aufmerksam werden. Aber die Wahrscheinlichkeit war nicht besonders groß, da man mich erst vor kurzem versorgt hatte und ich nur eine Mahlzeit am Tag erhielt.

Ich zündete mein letztes Streichholz an, benutzte es dazu, die Papierhülle der Streichhölzer anzuzünden. Als die Flamme brannte, hielt ich sie an das Stroh.

Fast hätte es nicht geklappt. Obwohl das Stroh aus dem Kern meiner Matratze kam, war es feuchter, als ich angenommen hatte. Doch endlich begann es zu glühen, dann zu flackern. Ich mußte zwei weitere leere Zündholzheftchen anzünden, bis es soweit war – und ich war froh, daß ich sie nicht in das Toilettenloch geworfen hatte.

Ich legte das dritte auf das Stroh, nahm den Stoffbezug in die linke Hand, richtete mich auf und betrachtete die Zeichnung.

Als die Flammen höher wurden, kroch der Feuerschein an der Wand empor, und ich konzentrierte mich auf den Turm und erinnerte mich daran. Ich glaubte den Schrei einer Möwe zu hören, spürte so etwas wie eine salzige Brise und hatte das Empfinden, daß das Bild immer realer wurde.

Schließlich warf ich den Bezug auf das Feuer, und die Flammen verlöschten einen Augenblick lang, ehe sie noch höher flackerten. Ich nahm den Blick nicht von der Zeichnung.

Dworkins Hand besaß noch immer den alten Zauber, denn bald kam mir der Leuchtturm so real vor wie die Zelle. Dann war er die einzige Wirklichkeit, während die Zelle zu einem Schatten hinter mir verblaßte. Ich hörte das Plätschern der Wellen und spürte so etwas wie die Nachmittagssonne auf den Schultern.

Ich trat vor, doch mein Fuß berührte das Feuer nicht.

Ich stand auf dem sandigen, mit Felsbrocken übersäten Ufer der kleinen Insel Cabra mit dem großen grauen Leuchtturm, der den Schiffen Ambers in der Nacht den Weg wies. Eine Horde erschrockener Möwen umflog mich kreischend, und mein Lachen verschmolz mit der Brandung und dem Freiheitslied des Windes. Amber lag dreiundvierzig Meilen links hinter mir.

Ich hatte es geschafft.

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