Zweiter Teil

Mrs. Pope Graham vom Hotel Islay kommt zu einem verdächtigen Gast, Inspektor Mendel zu einem billigen Babysitter

Das Hotel Islay in Sussex Gardens, wo George Smiley am Tag nach seinem Besuch in Ascot unter dem Namen Barraclough sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, war ein für diese Lage sehr ruhiges Haus und für Smileys Zwecke vorzüglich geeignet. Es stand in einer Reihe älterer Herrschaftshäuser knapp hundert Me­ter südlich von Paddington Station und war von der Hauptstraße durch eine Reihe gleichhoher Bäume und einen Parkplatz getrennt. Draußen dröhnte der Verkehr die ganze Nacht hindurch. Das Innere jedoch war trotz der Anhäufung scheußlicher Tapeten und kupferner Lampenschirme ein Hort der Stille. Nicht nur, daß sich im Hotel nichts regte: Auch in der Außenwelt regte sich nichts, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Besitzerin, Mrs. Pope Graham, Majorswitwe, deren furchtbar schleppende Stimme Mr. Barraclough genau wie jedem anderen, der das gastliche Haus aufsuchte, ein Gefühl grenzenloser Müdigkeit ver­mittelte. Inspektor Mendel, dessen Informantin sie seit vielen Jah­ren war, behauptete, ihr Name sei schlicht Graham. Das Pope habe sie zwecks größerer Vornehmheit oder als Huldigung an Rom hinzugefügt. »Ihr Vater war nicht zufällig bei der Greenjacket-Brigade?« erkundigte sie sich gähnend, als sie den Namen Barraclough im Register las. Smiley zahlte ihr fünfzig Pfund Vor­schuß für einen zweiwöchigen Aufenthalt und sie gab ihm Zimmer Nummer acht, weil er ungestört arbeiten wollte. Er bat um einen Schreibtisch, und sie gab ihm einen wackeligen Bridgetisch, Nor­man, der Hotelboy, schleppte ihn an. »Er ist georgianisch«, seufzte sie, als sie die Lieferung überwachte. »Sie werden ihn doch sorg­sam behandeln, nicht wahr, mein Lieber? Eigentlich sollte ich ihn gar nicht ausleihen, er hat dem Major gehört.« Zu den fünfzig Pfund fügte Mendel privatim weitere zwanzig a conto aus seiner eigenen Brieftasche hinzu, Schmierlappen, wie er sagte, die er später wieder von Smiley kassierte. »Wo nichts ist, kann auch nichts stinken, wie?« meinte er.

»So könnte man sagen«, bestätigte Mrs. Pope Graham und barg die Scheine hoheitsvoll in ihren Dessous.

»Ich will jeden Dreck erfahren«, schärfte Mendel ihr ein, als sie in ihrer Souterrainwohnung bei einer Flasche ihrer Lieblings­marke saßen. »Genaue Zeiten von Kommen und Gehen, Kon­takte, Lebensweise und vor allem« — er hob einen mahnenden Finger - »vor allem, und das ist wichtiger, als Sie wissen können, müssen mir alle verdächtigen Personen gemeldet werden, die sich für ihn interessieren oder unter irgendeinem Vorwand Ihr Per­sonal aushorchen wollen.« Er warf ihr seinen Lage-der-Nation-Blick zu. »Auch wenn sie behaupten, sie wären die Königliche Leibgarde und Sherlock Holmes in einer Person.«

»Wir sind allein hier, ich und Norman«, sagte Mrs. Pope Graham und wies auf einen fröstelnden Jungen in einem schwarzen Man­tel, den Mrs. Pope Graham mit einem beigen Samtkragen heraus­geputzt hatte. »Und bei Norman werden sie kein Glück haben, nicht wahr, Lieber, du bist viel zu taktvoll.«

»Außerdem alle Briefe, die für ihn kommen«, sagte der Inspektor. »Briefmarken und Poststempel, wenn irgend lesbar, notieren, aber nicht dran rumpfuschen oder zurückhalten. Außerdem seine Sa­chen.« Er ließ einen Engel durch den Raum schweben, während er den mächtigen Safe betrachtete, der einen so wesentlichen Be­standteil des Mobiliars darstellte. »Hin und wieder wird er etwas hinterlegen wollen. Es werden hauptsächlich Papiere sein, manch­mal Bücher. Außer ihm darf nur ein einziger Mensch auf der Welt diese Dinge zu Gesicht bekommen« - er ließ ein kurzes See­räubergrinsen aufblitzen -, »ich. Verstanden? Niemand sonst darf auch nur wissen, daß sie hier sind. Und murksen Sie nicht dran herum, er merkte es, er ist ein scharfer Hund. Es müßte meister­haft gemurkst sein. Mehr sage ich nicht«, schloß Mendel. Smiley gegenüber bemerkte er nach seiner Rückkehr aus Somerset, wenn der Preis nicht höher sei als zwanzig Lappen, dann seien Norman und seine Herrin die billigsten Babysitter in der Branche. Worauf er zu Unrecht stolz war, verzeihlicherweise, denn er konnte schließlich nicht wissen, daß Jim den gesamten Automo­bilclub eingespannt hatte; und ebensowenig konnte er wissen, auf welche Weise es Jim in der Folge möglich war, den Pfaden von Mendels mißtrauischen Nachforschungen zu folgen. Und weder Mendel noch irgend jemand sonst ahnte das Ausmaß elektrisierter Alarmbereitschaft, in die der Zorn, die Anspannung des Wartens und vielleicht ein kleiner Knacks Jim versetzt haben mochten.

Zimmer acht lag im obersten Stock. Das Fenster ging auf die Dachbrüstung hinaus. Gegenüber, in einer Seitenstraße, war eine zweifelhafte Buchhandlung und ein Reisebüro mit dem Namen »Weite Welt«. Im Handtuch war Swan Hotel Marlow eingewebt. Lacon kam noch am gleichen Abend mit einer dicken Akten­mappe angestelzt, die eine erste Portion Papiere aus seinem Büro enthielt. Zu ihrer Unterredung setzten sie sich nebeneinander aufs Bett, und Smiley ließ ein Transistorradio spielen, um ihre Stim­men zu übertönen. Lacon nahm das ungnädig auf, irgendwie schien er zu alt für solche Scherze. Anderntags holte Lacon auf dem Weg zum Dienst die Papiere wieder ab und gab die Bücher zurück, mit denen Smiley die Mappe ausgestopft hatte. In dieser Rolle war Lacon miserabel. Er gab sich gekränkt und zerfahren und machte kein Hehl daraus, daß er diese Unregelmäßigkeit haßte. Die Röte, die sein Gesicht in der Kälte annahm, schien nicht mehr weichen zu wollen. Aber bei Tag konnte Smiley die Papiere nicht lesen, da sie Lacons Mitarbeitern jederzeit zugäng­lich sein mußten, und ihr Verschwinden hätte Staub aufgewirbelt. Er hätte es auch nicht gewollt. Er wußte besser als jeder andere, daß die Zeit verzweifelt drängte. In den nächsten drei Tagen än­derte sich sein Programm nur sehr wenig. Allabendlich lieferte Lacon auf dem Weg zum Bahnhof Paddington seine Papiere ab, und allnächtlich meldete Mrs. Pope Graham Mendel verschwöre­risch, daß der lange Griesgram wieder dagewesen sei, der Nor­man immer so scheel ansehe. Allmorgendlich, nach drei Stunden Schlaf und einem widerlichen Frühstück aus halbgaren Würsten und zerkochten Tomaten - etwas anderes war nicht zu haben - wartete Smiley auf Lacons Kommen, dann floh er dankbar hinaus in den kalten Wintertag, um seinen Platz in der menschlichen Ge­sellschaft wieder einzunehmen.

Es waren schon außergewöhnliche Nächte für Smiley, so allein dort oben im Dachgeschoß. Wenn er später nach einer Zeit, die ebenso erfüllt und nach außen hin weit ereignisreicher war, an sie zurückdachte, so erschienen sie ihm wie eine einzige Reise, fast wie eine einzige Nacht. Ich kann ihm doch sagen, daß Sie es über­nehmen, hatte Lacon schamlos im Garten geflötet. Vorwärts, zurück ? Während Smiley Pfad um Pfad in seine eigene Vergangen­heit zurückwanderte, verschwand dieser Unterschied: Vorwärts oder rückwärts, es war die gleiche Reise, und sein Ziel lag vor ihm.

Nichts in diesem Zimmer, kein einziger Gegenstand in diesem Sammelsurium schäbigen Hotelkrams, trennte ihn von den Zim­mern seiner Erinnerung. Er war wieder in der obersten Etage des Circus, in seinem eigenen schäbigen Büro mit den Drucken von Oxford, genau wie er es vor einem Jahr verlassen hatte. Jenseits der Tür war das niedrige Vorzimmer, wo Controls grauhaarige Damen, die Mütter, leise tippten und Anrufe beantworteten; wäh­rend hier im Hotel ein unentdecktes Genie ein paar Türen weiter Tag und Nacht geduldig auf einer alten Schreibmaschine klap­perte. Am anderen Ende des Vorzimmers - in Mrs. Pope Grahams Haus befand sich dort ein Badezimmer mit einem Schild, das die Benutzung verbot - war die verbotene Tür zu Controls Allerheiligstem: ein Schlauch von Zimmer, mit alten Stahlschränken und alten roten Büchern, einem Geruch nach süßem Staub und Jas­mintee. Hinter dem Schreibtisch Control persönlich, damals schon nur mehr ein Gerippe von Mann, mit seinem schütteren grauen Stirnhaar und dem warmen Lächeln eines Totenschädels. Diese geistige Verwandlung war so vollständig, daß Smiley, als sein Telefon klingelte - der Anschluß war eine zusätzliche Lei­stung und in bar zu bezahlen - sich erst wieder erinnern mußte, wo er war. Andere Geräusche übten eine ähnlich verwirrende Wirkung auf ihn aus, zum Beispiel das Scharren von Tauben auf dem Dach, das Knarren der Fernsehantenne im Wind, und bei Regen der gurgelnde Bach in der Dachrinne. Denn auch diese Geräusche gehörten zu seiner Vergangenheit und waren in Cam­bridge Circus nur in der fünften Etage zu vernehmen gewesen. Das war wohl der Grund, warum sein Ohr sie nun heraushörte: Sie waren die Geräuschkulisse seiner Vergangenheit. Als Smiley einmal frühmorgens im Hotelkorridor Schritte hörte, ging er tat­sächlich zur Tür, weil er mit dem Chiffreur vom Nachtdienst rechnete. Er war gerade in Guillams Fotos vertieft und versuchte, an Hand viel zu spärlicher Informationen das Verfahren auszu­tüfteln, nach dem eingehende Telegramme aus Hongkong unter dem Circus-Lateralismus bearbeitet werden mochten. Aber anstatt des Chiffreurs hatte er Norman vorgefunden, der barfuß im Schlafanzug vor der Tür stand. Über den Läufer waren Konfetti verstreut, und vor der Tür gegenüber standen zwei Paar Schuhe, ein Paar Damen- und ein Paar Herrenschuhe, obwohl kein Mensch im Islay, am allerwenigsten Norman, sie jemals putzen würde.

»Laß das Spionieren und geh zu Bett«, hatte Smiley gesagt. Und als Norman ihn nur anglotzte; »Ach, so geh doch, ja?« - und bei­nahe, aber er hielt sich zurück- »Du schmieriger Knirps.«

»Operation Witchcraft« lautete der Titel des ersten Bands, den Lacon ihm an diesem Sonntag brachte. »Vorschriften zur Vertei­lung besonderer Produkte.« Der übrige Einband war mit Warn­zetteln und Benutzungsanweisungen vollgeklebt, darunter eine, die mit entzückender Naivität dem zufälligen Finder nahelegte: »Diese Akte ungelesen zurück an den Chefarchivar im Kabi­nettsbüro.«

»Operation Witchcraft« stand auf dem zweiten Band. »Antrag auf zusätzliche Mittel an Schatzamt, Wohnmöglichkeit in London, be­sondere Zahlungsvereinbarungen, Prämie etc.«

»Quelle Merlin«, stand auf dem dritten, der mittels einer rosa Kordel mit dem ersten zusammengebunden war. »Auswertung durch Konsumen­ten, Kosteneffektivität, weitere Auswertung, siehe auch geheimer Anhang.« Aber der geheime Anhang war nicht angehängt, und als Smiley nach ihm fragte, schlug ihm ein Eishauch entgegen. »Der Minister verwahrt ihn in seinem Privatsafe«, knurrte Lacon. »Kennen sie die Kombination?«

»Wo denken Sie hin!« erwiderte Lacon wütend. »Wie lautet der Titel des Anhangs?«

»Das kann für Sie von keinerlei Interesse sein. Ich begreife nicht, warum Sie Ihre Zeit überhaupt damit vergeuden sollen, hinter diesem Material herzujagen. Es ist streng geheim, und wir haben alles Menschenmögliche getan, um den Leserkreis auf ein Mini­mum zu beschränken.«

»Auch ein geheimer Anhang muß einen Titel haben«, sagte Smiley milde.

»Dieser hat keinen.«

»Gibt er Merlins Identität an?«

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Der Minister würde sie nicht kennen wollen, und Alleline würde ihn nicht aufklären.«

»Was bedeutet weitere Auswertung?«

»Sie haben kein Recht, mich auszufragen, George. Sie gehören nicht mehr zur Familie, wie Sie wissen. Von Rechts wegen hätte ich Sie erst einmal genau durchleuchten lassen müssen.«

» Witchcraft-durchleuchten?«

»Ja.«

»Gibt es eine Liste der Personen, die solche Durchleuchtungen hinter sich haben?«

Sie liegt im Kabinettsbüro, gab Lacon zurück und hätte um ein Haar die Tür hinter sich zugeknallt, doch kam er zurück, wäh­rend sanft das Lied »Sag mir, wo die Blumen sind« erklang. »Der Minister . . .« begann er von neuem. »Er hat nichts übrig für umschweifige Erklärungen. Er sagt immer: Ich glaube nur, was auf einer Postkarte Platz hat. Er wartet ungeduldig auf handgreifliche Resultate.«

»Sie vergessen Prideaux nicht, ja? Einfach alles, was Sie über ihn finden können; jeder kleinste Wisch ist besser als gar nichts.« Smiley ließ Lacon eine Weile hierüber nachglotzen, dann zu einem zweiten Abgang ansetzen: »Verrennen Sie sich auch nicht in eine fixe Idee, George? Es ist Ihnen doch klar, daß Prideaux höchst­wahrscheinlich kein einziges Wort von Witchcraft gehört hat, ehe er angeschossen wurde? Ich begreife wirklich nicht, warum sie nicht bei der Hauptsache bleiben können, anstatt dieses Herum­wühlens in . . .« Aber inzwischen hatte er sich bereits aus dem Zimmer hinausgeredet.

Smiley wandte sich dem letzten Stoß zu: »Operation Witchcraft, Schriftwechsel mit Department.« Department war eine von Whitehalls zahlreichen beschönigenden Umschreibungen für den Circus. Dieser Band bestand aus offiziellen Aktennotizen, ge­wechselt zwischen dem Minister einerseits und - sofort zu er­kennen an seiner berühmten Schulschrift - Percy Alleline anderer­seits, der damals noch auf den unteren Sprossen von Controls hierarchischer Leiter schmachtete.

Ein recht glanzloses Denkmal, fand Smiley bei der Durchsicht dieser vielbenutzten Akten, für einen so langen und grausamen Krieg.

George Smiley füttert sein Gedächtnis mit Akten aus Oliver Lacons Geheimarchiv

Als Smiley nun in die Lektüre von Lacons Akten einstieg, erlebte er diesen langen und grausamen Krieg in seinen wichtigsten Schlachten noch einmal. Die Gegenspieler waren Alleline und Control, der Ursprung des Krieges im dunkeln. Die Akten enthielten einen denkbar dürftigen Bericht; Smileys Gedächtnis enthielt weit mehr. Bill Haydon, der die Ereignisse ebenso sorg­fältig wie besorgt verfolgt hatte, behauptete, die beiden Männer hätten einander in Cambridge hassen gelernt, wo Control sich kurze Zeit als Lehrer und Alleline als Student aufgehalten hatten. Laut Bill sei Alleline Controls Schüler gewesen, ein schlechter Schüler, und Control habe sich über ihn mokiert, was sehr wohl möglich war. Die Geschichte war so grotesk, daß Control nicht umhin konnte, sie noch hochzuspielen:

»Percy und ich sind Blutsbrüder, höre ich. Haben uns gemein­sam in diesen Stechkähnen, den Punts, getummelt, man stelle sich vor!« Er sagte nie, ob es wahr war.

Derartige Halbmythen konnte Smiley mit ein paar Tatsachen aus dem früheren Leben der beiden Männer zurechtrücken. Während Controls Herkunft unbekannt war, stammte Percy Alleline aus dem Süden Schottlands und war in einem Pfarrhaus geboren; sein Vater war ein presbyterianischer Eiferer, und wenn Percy auch nicht seinen Glauben hatte, so hatte er doch zweifellos seine sektiererische Unduldsamkeit geerbt. Er verpaßte den Krieg um ein paar Jahre und kam von einer Firma in der City zum Circus. In Cambridge hatte er sich ein bißchen als Politiker (gleich rechts von Dschingis Khan, sagte Haydon, der weiß Gott selber kein Scheiß-Liberaler gewesen war) und ein bißchen als Sportler hervorgetan. Er war von einem unbedeutenden Menschen namens Maston angeworben worden, der eine Zeitlang versucht hatte, sich ein Plätzchen bei der Gegenspionage einzurichten. Maston sah für Alleline eine große Zukunft voraus, fiel jedoch selber in Ungnade, nachdem er seinen Schützling frenetisch feilgeboten hatte. Die Personalabteilung des Circus expedierte Alleline, um ihn loszuwerden, nach Südamerika, wo er unter konsularischer Tarnung zwei volle Dienstperioden ableistete, ohne nach England zurückzukehren.

Sogar Control gab später zu, wie Smiley sich erinnerte, daß Alle­line dort vorzüglich gearbeitet habe. Den Argentiniern gefiel die Art, wie er ritt und Tennis spielte, und sie hielten ihn für einen Gentleman - so Control - und nahmen daher an, er müsse dumm sein, was Percy niemals völlig war. Als er die Stelle an seinen Nachfolger übergab, hatte er an beiden Küstenstrichen seine Agentenkette gezogen und war auch schon auf dem Vorstoß nach Norden. Nach einem Heimaturlaub und einer mehrwöchi­gen Instruktion wurde er nach Indien versetzt, wo seine Agenten ihn als den wiedererstandenen britischen Sahib zu betrachten schienen. Er predigte ihnen Loyalität, zahlte ihnen so gut wie gar nichts und verbriet sie, wenn es ihm in den Kram paßte. Von In­dien aus ging er nach Kairo. Dieser Posten hätte für Alleline schwierig, wenn nicht unhaltbar sein müssen; denn der Nahe Osten war bis dato Haydons Stammrevier gewesen. Die Netze in Kairo blickten zu Bill auf wie zu einem modernen Lawrence von Arabien — buchstäblich das gleiche Bild, das Martindale in jener schicksalhaften Nacht in seinem obskuren Club von ihm gezeichnet hatte. Sie waren bereit, seinem Nachfolger das Leben zur Hölle zu machen. Trotzdem boxte Percy sich verbissen durch, und wenn er den Amerikanern aus dem Weg gegangen wäre, hätte Haydon in ihm noch seinen Meister gefunden. So aber kam es zu einem Skandal und einem offenen Zusammenstoß zwischen Percy und Control.

Die Umstände lagen noch immer im dunkeln: der Zwischenfall hatte sich lange vor Smileys Ernennung zu Controls oberstem Kammerherrn ereignet. Alleline hatte sich offenbar ohne Autorisation Londons in ein albernes amerikanisches Komplott zur Absetzung eines einheimischen Potentaten, der durch eine ge­nehmere Figur ersetzt werden sollte, eingelassen: Alleline war schon immer ein großer Bewunderer der Amerikaner gewesen. In Argentinien hatte er staunend ihre Rotte linksgerichteter Poli­tiker um den halben Erdball verfolgt; in Indien entzückte ihn ihre Geschicklichkeit bei der Zunichtemachung der Zentralisie­rungsbestrebungen. Während Control, wie die meisten im Circus, die Amerikaner ebenso verachtete wie alle ihre Werke, die er häu­fig zu sabotieren suchte.

Das Komplott platzte, die britischen Ölgesellschaften waren wü­tend, und Alleline mußte sich, wie es so bildhaft im Jargon heißt, barfuß auf die Socken machen. Später behauptete Alleline, Control habe ihn zuerst dazu gedrängt und ihm dann den Teppich unter den Füßen weggezogen. Wie dem auch gewesen sei, Alleline kam nach London und fand dort den Befehl vor, sich in der Nursery einzustellen, wo er die Ausbildung von Neulingen übernehmen sollte. Diese Planstelle war normalerweise Vertrags­angestellten vorbehalten, die noch ein paar Jährchen bis zu ihrer Pensionierung hatten. Heutzutage, erklärte Bill Haydon, damals Personalchef, gebe es in London so furchtbar wenige Jobs für einen Mann von Percys Dienstalter und Fähigkeiten. »Dann werden Sie verdammt noch mal einen für mich erfinden müssen«, sagte Percy. Er hatte recht. Wie Bill sich wenig später Smiley gegenüber in schöner Offenheit ausdrückte: Er hatte die Rechnung ohne die Alleline-Lobby gemacht. »Aber wer sind diese Leute?« hatte Smiley immer wieder gefragt. »Wie können sie Ihnen einen Mann aufzwingen, wenn Sie ihn nicht wollen?«

»Golfer«, knurrte Control. Golfer und Konservative, denn Alle­line liebäugelte damals mit der Opposition und wurde mit offenen Armen empfangen, nicht zuletzt von Miles Sercombe, Anns leider nicht geschaßtem Vetter und Lacons Minister. Doch Control konnte wenig dagegen machen. Im Circus herrschte Flaute, und es ging sogar die Rede, man wolle die ganze Mann­schaft ausrangieren und irgendwo mit einer anderen neu an­fangen. In dieser Welt treten Fehlschläge traditionsgemäß in Serien auf, aber dies war eine ungewöhnlich lange Pechsträhne gewesen. Das Produkt war zurückgegangen; immer mehr Material hatte sich als verdächtig erwiesen. Dort, wo es darauf ankam, hatte Control nicht allzuviel zu sagen.

Diese vorübergehende Ohnmacht trübte Controls Freude bei der Abfassung von Percy Allelines Eignungsgutachten für den Posten des Operationsleiters nicht im geringsten. Damit machte er Percy, wie er sagte »hofnarrenfähig«.

Smiley konnte nichts unternehmen. Bill Haydon war damals in Washington und versuchte, mit den, wie er es ausdrückte, faschi­stischen Puritanern der amerikanischen Dienststelle erneut über ein Informationsabkommen zu verhandeln. Aber Smiley war in die fünfte Etage aufgestiegen, und dort gehörte es zu seinen Auf­gaben, Control alle Bittsteller vom Hals zu halten. Folglich hatte Alleline mit Smiley zu tun, sooft er kam und fragte: »Warum?« Suchte ihn in seinem Büro auf, wenn Control nicht da war, lud ihn in seine trübselige Wohnung ein, nachdem er seine Ge­liebte vorsorglich ins Kino geschickt hatte und fragte immer wieder in seinem klagenden Tonfall: »Warum?« Einmal hatte er sogar eine Flasche Malzwhisky erstanden, den er Smiley nach­gerade aufdrängte, während er selber der billigeren Sorte treu blieb.

»Was habe ich ihm denn so Furchtbares angetan, George? Wir haben uns ein paarmal gekabbelt, aber was ist daran so unge­wöhnlich, können Sie mir das sagen? Warum hackt er auf mir herum? Ich will doch nichts als einen Platz am obersten Tisch. Gott weiß, daß meine Qualifikation mich dazu berechtigt.« Mit obersten Tisch meinte er die fünfte Etage. Die Kompetenzen, die Control ihm zugewiesen hatte und die auf den ersten Blick höchst eindrucksvoll wirkten, gaben Alleline das Recht, sämtliche Einsatzpläne zu überprüfen, ehe sie durch­geführt würden. Das Kleingedruckte machte dieses Recht von der Zustimmung der betroffenen Abteilungen abhängig, und Control sorgte dafür, daß es nicht so weit kam. Der Dienstver­trag verpflichtete ihn zur »Koordinierung von Quellen und Schlichtung regionaler Kompetenzstreitigkeiten«, eine Aufgabe, die Alleline später mit der Einrichtung von London Station er­füllt hat. Aber die für Quellen zuständigen Abteilungen, wie zum Beispiel die Aufklärer, die Fälscher, die Abhörer und die Funker, weigerten sich, ihm Einblick zu gewähren, und er hatte keine Möglichkeit, sie zu zwingen. Alleline darbte also, von Mittag an war sein Tisch leer.

»Ich bin mittelmäßig, das ist der Grund, wie? Heutzutage muß jeder ein Genie sein, eine Primadonna, kein Statist, und uralt obendrein.« Denn Alleline, obwohl man es bei ihm leicht vergaß, war für den obersten Tisch ein noch junger Mann. Einen Unter­schied von acht und zehn Jahren konnte er gegen Haydon und Smiley ins Treffen führen, und gegen Control noch mehr. Control war unerbittlich: »Percy Alleline würde seine Mutter für einen Adelstitel verkaufen, und diese Dienststelle für einen Sitz im Oberhaus.« Und später, als die niederträchtige Krankheit ihn bereits befallen hatte: »Ich weigere mich, mein Lebenswerk einem Paradepferd zu hinterlassen. Ich bin zu eingebildet, um auf Schmeicheleien reinzufallen, zu alt, um ehrgeizig zu sein, und ich bin häßlich wie die Nacht. Percy ist in allem das Gegenteil, und in Whitehall gibt es genügend Tausendsassas, denen einer wie er mehr liegt als ich.«

Womit Control sich gewissermaßen selber den Fall Witchcraft auf Umwegen aufgehalst hatte.

»George, kommen Sie rein«, hatte Control eines Tages durch die Sprechanlage gebellt. »Bruder Percy will mir das Messer auf die Brust setzen. Kommen Sie rein, oder es gibt ein Blutbad.« Es war die Zeit, erinnerte sich Smiley, als ruhmlose Krieger aus aller Herren Länder zurückkehrten. Roy Bland war soeben aus Belgrad heimgeflogen, wo er mit Toby Esterhases Hilfe versucht hatte, die Reste eines sterbenden Agentennetzes zu retten; Paul Skordeno, zu jener Zeit Nr. 1 in Deutschland, hatte vor kurzem seinen besten sowjetischen Agenten in Ostberlin verloren, und Bill selber war nach einer weiteren erfolglosen Reise zurück in seinem Turmzimmer und wütete über die Pentagon-Arroganz, die Pentagon-Idioten, die Pentagon-Lumpen; und behauptete, die Zeit sei gekommen, »sich lieber mit den verdammten Russen zusammenzutun«.

Und im Hotel Islay war es nach Mitternacht, denn ein verspäteter Gast klingelte an der Tür. Wofür Norman ihm zehn Silberlinge abknöpfen wird, dachte Smiley. Mit einem Seufzer zog er den ersten Band der Witchcraft-Akten heran, leckte bedächtig Zeige­finger und Daumen der rechten Hand und ging daran, das amtliche Gedächtnis mit seinem eigenen zu verquicken.

»Wie besprochen«, schrieb Alleline nur ein paar Monate nach dieser Unterredung in einem leicht hysterischen persönlichen Brief an Anns einflußreichen Vetter, den Minister, der in Lacons Akte enthalten war.

»Die Witchcraft-Berichte kommen sämtlich aus einer Quelle, die unbedingt äußerste Behutsamkeit erfordert. Meiner Meinung nach wird keine der in Whitehall üblichen Verteilermethoden diesem Fall gerecht. Depeschenkoffer, wie wir sie für gadfly benutzten, erwiesen sich als ungeeignet, als Whitehall-Konsumenten die Schlüssel verloren und, in einem besonders bedauerlichen Fall, ein überarbeiteter Unterstaatssekretär seinem Mitarbeiter seinen Schlüssel überließ. Ich sprach bereits mit Lilley vom Geheimdienst der Kriegsmarine, der bereit ist, uns im Haupt­gebäude der Admiralität einen eigenen Leseraum zu überlassen, wo das Material den Konsumenten zur Verfügung gestellt und von einem dienstälteren Aufsichtsbeamten dieser Dienststelle bewacht werden könnte. Der Leseraum wird aus Sicherheits­gründen als Konferenzraum der Adriatic Working Party oder kurz AWP bezeichnet. Zugelassene Konsumenten erhalten keine Lese­karten, da hier zu leicht Mißbrauch getrieben werden könnte. Sie weisen sich vielmehr persönlich meinem Aufsichtsbeamten gegen­über aus« - Smiley nahm das Pronomen zur Kenntnis -, »der eine Eintragungsliste mit Fotos der Konsumenten zur Hand hat.«

Lacon, der noch nicht überzeugt war, an das Schatzamt auf dem Weg über seinen verhaßten Gebieter, den Minister, dem unum­gänglichen Dienstweg:

»Vorausgesetzt, daß dies notwendig ist, müßte der Leseraum weitgehend umgebaut werden.

1. Werden Sie die Finanzierung übernehmen?

2. Wenn ja, so sollten die Kosten offiziell von der Admiralität getragen werden. Das Department wird vertraulich Rückzahlung leisten.

3. Es erhebt sich ferner die Frage zusätzlichen Aufsichtspersonals, ein weiterer Kostenpunkt...«

Und ferner erhebt sich die Frage größeren Ruhms für Percy Al­leline, kommentierte Smiley, während er langsam die Seiten um­wandte. Schon blitzte es auf Schritt und Tritt wie ein Leuchtsignal: Percy ist auf dem Marsch zum obersten Tisch, und Control könnte ebensogut schon tot sein.

Aus dem Treppenhaus erscholl recht wohltönender Gesang. Ein wallisischer Gast wünschte, stockbetrunken, der Welt eine gute Nacht.

Witchcraft war, wie Smiley sich erinnerte - wiederum war sein Gedächtnis am Zug, die Akten wußten nichts von solchem menschlichen Kleinkram -, keineswegs Percy Allelines erster Versuch, auf seinem neuen Posten eine eigene Operation aufzu­ziehen; doch da seine Dienstanweisung ihn an Controls Zustim­mung band, war er bisher nicht zum Zug gekommen. Eine Zeit­lang hatte er sich auf Tunnelbau konzentriert. Die Amerikaner hatten in Berlin und Belgrad Audio-Tunnels gebaut, und die Franzosen hatten sich ähnlicher Einrichtungen gegen die Ameri­kaner bedient. Schön, nun würde unter Percys Banner auch der Circus in diesen Markt einsteigen. Control sah dem Ganzen milde zu, ein innerdienstlicher Ausschuß wurde gebildet (be­kannt als Alleline-Ausschuß), ein Spezialteam der Klempner in­spizierte die Fundamente der Sowjetbotschaft in Athen, wo Al­leline auf uneingeschränkte Unterstützung durch das letzte Militärregime hoffte, das er genau wie seine Vorgänger ungemein bewunderte. Dann stieß Control ganz sanft Percys Bauklötzchen um und wartete, bis er mit einem neuen Projekt ankam. Und das hatte Percy nach verschiedenen Zwischenversuchen an jenem grauen Morgen getan, an dem Control Smiley mit solcher Ent­schiedenheit zur Tafelrunde gebeten hatte.

Control saß an seinem Schreibtisch, Alleline stand am Fenster, zwischen ihnen lag ein einfacher Aktenhefter, knallgelb und ge­schlossen.

»Setzen Sie sich hierhin und schauen Sie sich diesen Blödsinn an.«

Smiley setzte sich in den Lehnstuhl, und Alleline blieb am Fenster stehen, stützte die Ellbogen aufs Fensterbrett und starrte über die Dächer hinweg auf die Nelsonsäule und die etwas kümmerlichen Türmchen von Whitehall.

In dem Hefter befand sich die Fotografie eines Dokuments, das sich als hochwichtige sowjetische Marinedepesche entpuppte, fünfzehn Seiten lang.

»Wer hat die Übersetzung angefertigt?« fragte Smiley und dachte, der Qualität nach könne sie Roy Blands Werk sein. »Der liebe Gott«, antwortete Control. »Der liebe Gott persönlich, nicht wahr, Percy? Stellen sie ihm keine Fragen, George, er sagt kein Wort.«

Um diese Zeit hatte Control ungemein jugendlich ausgesehen, entsann sich Smiley, auch, daß Control schlanker geworden war, daß seine Wangen rosig waren und daß jeder, der ihn nur flüchtig kannte, sich bemüßigt gefühlt hatte, ihn zu seinem guten Aussehen zu beglückwünschen. Smiley war vielleicht der einzige, dem die winzigen Schweißperlen auffielen, die sogar damals fast ständig Controls Haaransatz säumten.

Das Dokument war, genau gesagt, eine angeblich für das sowje­tische Oberkommando erstellte Bewertung einer vor kurzem im Mittelmeer und im Schwarzen Meer abgehaltenen Flottenübung. In Lacons Akte fand es sich schlicht als Report Nr. 1, unter der Bezeichnung Marine. Seit Monaten schon löcherte die Admira­lität den Circus wegen irgendeiner Information über diese Übung. Sie war daher von beachtlichem Aktualitätswert, was sie in Smileys Augen sofort verdächtig machte. Sie ging ins Detail, handelte jedoch von Dingen, die Smiley nicht einmal entfernt verständlich waren: Küsten-See-Schlagkapazität, Radioaktivierung feindlicher Warnsysteme, die höhere Mathematik des Gleich­gewichts des Schreckens. Wenn das Dokument echt war, hatte es Goldwert, aber es gab keinen Grund zu der Annahme, daß es echt war. Woche für Woche behandelte der Circus Dutzende nicht angeforderter sogenannter Sowjet-Dokumente. Die meisten waren nichts als Plunder. Einige waren von Verbündeten, die ihre eigenen Absichten verfolgten, eingespielt worden, andere russische Abfallprodukte. Nur sehr selten erwies das eine oder andere sich als einwandfrei, aber meist erst, nachdem es verworfen worden war.

»Wessen Initialen sind das?« fragte Smiley und meinte ein paar russische Buchstaben, die mit Bleistift an den Rand geschrieben waren. »Weiß das jemand?«

Control wies mit einer Kopfbewegung auf Alleline.

»Fragen Sie die zuständige Stelle. Nicht mich.«

»Zharow«, sagte Alleline. »Admiral, siebente Eskadra.«

»Es ist nicht datiert«, bemängelte Smiley.

»Es ist ein Entwurf«, erwiderte Alleline überlegen, und sein Ak­zent war deutlicher denn je. »Zharow hat es am Donnerstag ab­gezeichnet. Die endgültige Fassung mit den Zusätzen ging am Montag hinaus und ist entsprechend datiert.« Heute war Dienstag.

»Woher kommt es?« fragte Smiley, der noch immer ratlos war. »Percy sieht sich außerstande, das zu sagen«, sagte Control. »Was sagen unsere Auswerter?«

»Die haben es noch nicht gesehen«, sagte Alleline. »Und sie wer­den es auch nicht zu sehen bekommen.«

Control sagte eisig: »Mein Bruder in Christo, Lilley vom Geheim­dienst der Kriegsmarine, hat immerhin eine vorläufige Beurteilung abgegeben, nicht wahr, Percy? Percy hat es ihm gestern abend gezeigt — bei einem Gläschen Gin, nicht wahr, Percy, im Tra­vellers?«

»In der Admiralität.«

»Bruder Lilley, ebenfalls Schotte, geizt im allgemeinen mit seinem Lob. Als er mich jedoch vor einer halben Stunde anrief, war er außer Rand und Band. Er hat mir sogar gratuliert. Er erachtet das Dokument für echt und bittet uns - oder vielmehr Percy - um die Genehmigung, die übrigen Lords der Admiralität vom Inhalt in Kenntnis setzen zu dürfen.«

»Ganz unmöglich«, sagte Alleline. »Es ist ausschließlich für seine Augen bestimmt, jedenfalls für die nächsten paar Wochen.«

»Die Ware ist so heiß«, erklärte Control, »daß sie erst abkühlen muß, ehe sie verteilt werden kann.«

»Aber woher kommt sie?« bohrte Smiley weiter.

»Keine Sorge, Percy hat schon einen Decknamen. Waren um Decknamen nie verlegen, wie, Percy?«

»Wo setzt sie an? Wer ist damit befaßt?«

»Sie werden Ihre helle Freude haben«, versprach Control leise. Er war außerordentlich wütend. Während ihrer langen Zusam­menarbeit hatte Smiley ihn noch nie so wütend gesehen. Die mageren, fleckigen Hände zitterten, und die normalerweise leb­losen Augen sprühten Feuer. »Quelle Merlin«, sagte Alleline und ließ der Eröffnung ein leichtes, aber sehr schottisches Schmatzen vorangehen, »ist eine hochrahmige Quelle mit Zugang zu den höchsten Ebenen sowjetischer Politik.« Und er fügte im pluralis majestatis hinzu: »Wir haben sein Produkt Witchcraft getauft.« Er hatte genau die gleichen Worte gebraucht, bemerkte Smiley, wie in seinem streng geheimen und persönlichen Brief an einen Gönner im Schatzamt, worin er für sich größere Ermessensfreiheit bei ad hoc Zahlungen an Agenten erbat.

»Nächstens wird er sagen, er hat ihn bei der Fußball-Lotterie ge­wonnen«, prophezeite Control, der trotz seiner zweiten Jugend in der Umgangssprache nicht mehr ganz auf dem laufenden war. »Jetzt fragen Sie ihn, warum Sie ihn nicht fragen dürfen.« Alleline blieb unerschüttert. Auch er war rot im Gesicht, aber aus Triumph, nicht aus Ärger. Er dehnte die breite Brust zu einer langen Rede, ausschließlich an Smiley und mit ausdrucksloser Stimme, wie ein schottischer Polizist vor Gericht aussagt:

»Die Identität Merlins ist ein Geheimnis, zu dessen Enthüllung ich nicht befugt bin. Er ist die Frucht langer Bemühungen gewisser Leute in dieser Dienststelle. Leute, die mir verbunden sind, wie ich ihnen verbunden bin. Leute, die so wenig wie ich erbaut sind über die Mißerfolgskurve dieses Hauses. Es ist zuviel schief­gegangen. Zuviel Verluste, Verschwendung, Skandale. Ich habe es immer wieder gesagt, aber es war immer nur in den Wind gesprochen, er hat mir nicht einmal zugehört.«

»Mit >er< meint er mich«, erläuterte Control aus dem Zuschauer­raum. »>Er < bin in dieser Ansprache immer ich, kapiert, George?«

»Die etablierten Grundsätze von Effizienz und Sicherheit werden in diesem Betrieb mit Füßen getreten. Man fragt sich: wo sind sie überhaupt noch? Abschottung auf allen Ebenen: wo ist sie, George? Es gibt zu viele regionale Intrigen, die von oben gefördert werden.«

»Wieder eine Anspielung auf mich«, warf Control ein. »Teile und herrsche, lautet heutzutage die Devise. Die Leute, die ge­meinsam den Kommunismus bekämpfen helfen sollten, liegen sich gegenseitig in den Haaren. Auf diese Weise verlieren wir un­sere wichtigsten Partner.«

»Er meint die Amerikaner«, kommentierte Control. »Wir verlieren unseren Elan. Unsere Selbstachtung. Jetzt reicht's uns.« Er nahm den Bericht wieder an sich und klemmte ihn unter den Arm. »Wir haben, genau gesagt, die Schnauze voll.«

»Und wie jeder, dem's reicht«, sagte Control, als Alleline ge­räuschvoll das Büro verließ, »möchte er noch mehr.« Nun führten eine Weile, statt Smileys Erinnerungen, Lacons Akten die Geschichte weiter. Es war typisch für die Atmosphäre der letzten Wochen, daß Smiley, nachdem er anfangs mit einbe­zogen worden war, nie wieder ein Wort über die weitere Ent­wicklung erfuhr. Control haßte Fehlschläge, so wie er Kranksein haßte, und am meisten haßte er seine eigenen Fehlschläge. Er wußte, wenn man einen Fehlschlag akzeptierte, mußte man mit ihm leben; wenn eine Dienststelle nicht kämpfte, konnte sie nicht überleben. Er verachtete die Agenten im Seidenhemd, die sich gewaltige Brocken aus dem Etat unter den Nagel rissen, zum Schaden der Netze, die um ihr tägliches Brot arbeiteten und in die er alle Hoffnung setzte. Er liebte den Erfolg, aber er haßte Wunder, wenn sie alle seine übrigen Bemühungen in den Schat­ten stellten. Er haßte Schwäche, wie er Gefühle und Religion haßte, und er haßte Percy Alleline, der von beidem sein Gutteil abbekommen hatte. Seine Methode, sich mit ihnen auseinander­zusetzen, bestand darin, daß er buchstäblich seine Tür davor verschloß: sich in die schäbige Abgeschlossenheit seiner oberen Räume zurückzog, keine Besucher empfing und sich alle Telefon­anrufe durch die Mütter verabreichen ließ. Die gleichen stillen Damen verabreichten ihm Jasmintee und die zahllosen Dienst­akten, die er in Stößen anforderte und zurückreichte. Smiley sah sie ständig vor der Tür angehäuft, während er seinen eigenen Obliegenheiten nachging und versuchte, den übrigen Circus in Schwung zu halten. Viele waren uralt, aus den Tagen, ehe Control die Meute anführte. Einige waren persönlich, die Lebensläufe früherer und gegenwärtiger Mitarbeiter.

Control sagte nie, womit er sich beschäftigte. Wenn Smiley die Mütter fragte, sogar wenn Bill Haydon, der Lieblingssohn, an­tanzte und sich erkundigte, schüttelten sie nur die Köpfe oder hoben die Brauen in Richtung auf das Allerheiligste: »Endphase«, besagten diese sanften Blicke. »Wir hätscheln einen großen Mann am Ende seiner Laufbahn.« Smiley jedoch, der nun geduldig Akte für Akte durchblätterte und in einem Winkel seines kom­plexen Gedächtnisses Irinas Tagebuch für Ricki Tarr rezitierte: Smiley wußte - und dieses Wissen war ihm ein durchaus realer Trost -, daß er nicht als erster diese Forschungsreise unternahm; daß Controls Geist ihn fast bis zu den letzten Stationen begleitete; und vielleicht sogar über die ganze Strecke mitgegangen wäre, wenn die Operation Testify ihn nicht in elfter Stunde abgewürgt hätte.


Wiederum Frühstück, und ein sehr gedrückter Walliser, ohne je­den Appetit auf halbgare Würste und zerkochte Tomaten. »Möchten Sie diese da zurückhaben«, fragte Lacon, »oder sind Sie damit durch? Sie können nicht sehr aufschlußreich sein, denn sie enthalten nicht einmal die Berichte.«

»Heute abend, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Sie wissen vermutlich selber, daß Sie wie ein Wrack aussehen.« Er wußte es nicht, aber als er in die Bywater Street zurückkehrte, zeigte ihm Anns hübscher Spiegel dort seine rotgeränderten Augen und die Furchen der Übermüdung in den fleischigen Backen.

Er schlief ein bißchen, dann ging er wieder seine geheimnisvollen Wege. Als der Abend kam, wartete Lacon bereits auf ihn. Smiley machte sich sogleich wieder an seine Lektüre. Sechs Wochen lang hatte die Marinedepesche laut Akten offen­bar keinen Nachfolger. Andere Abteilungen des Verteidigungs­ministeriums stimmten in den Lobgesang der Admiralität über die erste Depesche ein, das Auswärtige Amt bemerkte, dieses Dokument »werfe ein entscheidend neues Licht auf das sowje­tische Aggressionsdenken«, was immer das heißen sollte; Alle­line betonte immer wieder seine Forderung nach Sonderbehand­lung des Materials, aber er glich einem General ohne Armee. Lacon bezog sich frostig auf den »verzögerten Nachschub«, und schlug seinem Minister vor, er solle »die Situation mit der Admi­ralität abklären«. Von Control, soviel aus den Akten zu ersehen war, nichts. Vielleicht war er jetzt bettlägerig und betete, es möge vorübergehen. In der Zwischenzeit wies ein Moskau-Observant des Schatzamts säuerlich darauf hin, daß Whitehall in den letzten Jahren eine Menge ähnlicher Fälle erlebt habe: ein vielverhei­ßender erster Bericht, dann Schweigen oder schlimmer noch: ein Skandal.

Er hatte unrecht. In der siebenten Woche verkündete Alleline die Veröffentlichung von drei neuen Witchcraft-Reports, alle am gleichen Tag. Alle waren in Form geheimer sowjetischer ministerialinterner Korrespondenz, obwohl die Themen weit ausein­andergingen.

Witchcraft Nr. 2, wie Lacon den Bericht nannte, beschrieb Spannungen innerhalb des Comecon und sprach von der zerset­zenden Wirkung von Handelsabkommen mit dem Westen auf die schwächeren Mitglieder. Nach Circus-Normen war Nr. 2 ein klassischer Report aus Roy Blands Domäne, denn er behandelte das gleiche Zielobjekt, das vom Netz »Aggravate« seit Jahren von Ungarn aus vergeblich angepeilt wurde. »Ausgezeichneter tour d'horizon«, schrieb ein Konsument des Auswärtigen Amts, »von guten Nebeninformationen gestützt.«

Witcbcraft Nr. 3 beschäftigte sich mit dem Revisionismus in Ungarn und mit Kadars erneuten Säuberungsaktionen im politi­schen und akademischen Leben: wenn man müßigem Geschwätz ein für allemal ein Ende machen wollte, schrieb der Autor des Papiers, wobei er ein vor langer Zeit geprägtes Chruschtschow-

Wort übernahm, müsse man bloß noch ein paar Intellektuelle abknallen. Auch dies war Roy Blands Domäne. »Eine heilsame Mahnung«, schrieb der gleiche Kommentator aus dem Aus­wärtigen Amt, »an alle jene, die sich in der Illusion wiegen, daß die Sowjetunion mit ihren Satelliten sanft umgehe.« Die beiden letzten Berichte waren im wesentlichen Background-Information, aber Witchcraft Nr. 4, sechzig Seiten lang, wurde von den Konsumenten für einzigartig gehalten. Es handelte sich um ein umfangreiches technisches Gutachten des sowje­tischen Auslandsnachrichtendiensts über die Vor- und Nachteile des Verhandelns mit einem geschwächten amerikanischen Präsi­denten. Die Schlußfolgerung lautete, per saldo: wenn die Sowjet­union dem Präsidenten einen Köder für seine Wählerschaft lie­ferte, so könnte sie damit nützliche Zugeständnisse bei bevor­stehenden Diskussionen über nukleare Mehrfach-Sprengköpfe einhandeln. Hingegen wurde ernstlich in Frage gestellt, ob es wünschenswert sei, die Vereinigten Staaten zu sehr auf die Verliererseite zu drängen, da dies das Pentagon zu einem Vergeltungs- oder Präventivschlag verleiten könnte. Der Bericht stammte mitten aus Bill Haydons Domäne. Doch wie Haydon selber in einer herzbewegenden Notiz an Alleline schrieb - die prompt ohne Haydons Wissen fotokopiert an den Minister ge­schickt und in die Akten des Kabinettsbüros aufgenommen wurde -, in den fünfundzwanzig Jahren, die er mit der Bearbei­tung des sowjetischen Nuklearziels verbracht habe, sei ihm nichts von annähernd solcher Qualität untergekommen. »Und auch nicht unseren amerikanischen Waffenbrüdern«, schloß er, »wenn mich nicht alles täuscht. Ich weiß, es ist dafür noch zu früh, aber ich möchte doch meinen, wer immer dieses Material nach Washington schaffte, könnte allerhand dafür einhandeln. Ja, wenn Merlin seine Qualität hält, wage ich die Vorhersage, daß wir uns dafür alles kaufen können, was die Amerikaner in ihrem Laden haben.«

Percy Alleline bekam seinen Leseraum; und George Smiley braute sich Kaffee auf dem vorsintflutlichen Kocher neben dem Wasch­tisch. Mittendrin lief die Gasuhr ab, und wütend rief er nach Norman und bestellte für fünf Pfund Shillingmünzen.

Bill Haydon und Roy Bland machen Karriere, jeder auf seine Art

Mit steigendem Interesse setzte Smiley seine Reise durch Lacons magere Berichte über jenes erste Treffen der Gegenspieler bis zum heutigen Tag fort. Seinerzeit hatte sich im Circus der Arg­wohn in einem Maß ausgebreitet, daß das Thema sogar zwischen Smiley und Control tabu wurde. Alleline brachte die Berichte herauf und wartete im Vorzimmer, während die Mütter sie zu Control hineinbrachten, der sie unverzüglich abzeichnete, um zu demonstrieren, daß er sie gar nicht erst las. Alleline nahm die Akte wieder an sich, steckte den Kopf zu Smileys Tür herein, brummte einen Gruß und stapfte treppab. Haydon und Bland hielten sich fern, und sogar Bill Haydons Stippvisiten bei den traditionellen Wortgefechten in der obersten Etage, zu denen Control in vergangenen Tagen seine dienstälteren Leutnants gern ermutigte, wurden seltener und immer kürzer, bis sie schließlich ganz aufhörten.

»Control wird kindisch«, erklärte Haydon voll Verachtung. »Und wenn ich nicht irre, dann stirbt er auch bald. Fragt sich nur, was ihn zuerst erwischt.«

Die Donnerstags-Besprechungen wurden eingestellt und Smiley wurde von Control pausenlos gepiesackt; entweder sollte er ir­gendeinen undurchsichtigen Auftrag im Ausland erledigen oder als Controls persönlicher Abgesandter die inländischen Nieder­lassungen aufsuchen, Sarratt, Brixton, Acton und so weiter. Er hatte immer stärker das Gefühl, Control wolle ihn aus dem Weg haben. Wenn sie miteinander sprachen, fühlte er die ungute Spannung des Verdachts zwischen ihnen, so daß Smiley sich al­len Ernstes fragte, ob Bill vielleicht doch recht habe und Control seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen sei.

Aus den Akten des Kabinettsbüros ging klar hervor, daß die Operation Witchcraft während der folgenden drei Monate blühte und gedieh, und zwar ganz ohne Controls Zutun. Die Berichte trafen in einer Frequenz von zwei oder sogar drei pro Monat ein und ihre Qualität war, nach Aussage der Konsumenten, nach wie vor ausgezeichnet, aber Controls Name wurde selten erwähnt, und er wurde nie aufgefordert, seinen Kommentar dazu zu geben. Gelegentlich stießen die Auswerter auf geringfügige Unstimmig­keiten. Weit öfter beklagten sie sich, daß eine Überprüfung un­möglich sei, da Merlin sie auf nicht erfaßte Gebiete führe: können wir nicht die Amerikaner um Nachprüfung bitten? Können wir nicht, sagte der Minister. Noch nicht, sagte Alleline, der in einer vertraulichen Notiz, die niemand zu Gesicht bekam, hinzufügte: »Wenn die Zeit reif ist, werden wir mehr tun, als unser Material für ihres eintauschen. Wir sind nicht an einem einmaligen Aus­tausch interessiert. Unsere Aufgabe ist es, Merlin völlig einwand­frei zu identifizieren. Wenn das geschafft ist, kann Haydon die Ware zu Markt tragen . . .« Es war kein Zweifel mehr möglich: unter der kleinen Elite, der die Gemächer der Adriatic Working Party (AWP) vorbehalten waren, war Merlin bereits der Favorit. Sein Material war exakt, wie andere Quellen oft im nachhinein bestätigten. Ein Witchcraft-Ausschuß mit dem Minister an der Spitze wurde gebildet. Alleline war zweiter Vorsitzender. Merlin war zu einer ganzen Industrie geworden, in der Control nicht einmal einen Arbeitsplatz hatte. Und deshalb hatte er in seiner Verzweiflung Smiley zum Klinkenputzen ausgeschickt: »Es sind drei und Alleline«, sagte er. »Quetschen Sie sie aus, stel­len Sie sie auf die Probe, drangsalieren Sie sie, geben Sie ihnen alles, was sie schlucken können.«

Auch von diesen Besprechungen wußten die Akten nichts zu be­richten, sie gehörten ausschließlich in die dunkelsten Bereiche von Smileys Erinnerung. Er hatte schon gewußt, daß bei Control nichts mehr zu holen war, was ihren Hunger stillen konnte. Es war März. Smiley kehrte aus Portugal zurück, wo er einen Skandal vertuscht hatte, und fand Control in einer belagerten Festung. Akten lagen auf dem Fußboden verstreut; neue Riegel waren an die Fenster montiert worden. Er hatte den Tee wärmer über sein einziges Telefon gestülpt, und von der Decke hing ein Unterbrecher gegen elektronische Abhörversuche, ein Ding wie ein elektrischer Ventilator, der ständig die Stellung änderte. In den drei Wochen von Smileys Abwesenheit war Control ein alter Mann geworden.

»Sagen Sie ihnen, wir sollen hier mit Falschgeld bestochen wer­den«, murmelte er und blickte kaum von seiner Lektüre auf. »Sagen Sie ihnen, was Sie wollen. Ich brauche Zeit.«

Es sind drei, wiederholte Smiley nun im stillen, als er am Spiel­tisch des Majors saß und Lacons Liste der Leute studierte, die zu Witchcraft Zugang hatten. Im Moment war dreiundsechzig Besuchern die Benutzung des Leseraums der Adriatic Working Party gestattet. Jeder hatte, wie in der Kommunistischen Partei, eine Nummer, entsprechend seinem Eintrittsdatum. Nach Con­trols Tod war die Liste neu erstellt worden; Smiley stand nicht darauf. Aber die Spitze hielten noch immer die gleichen vier Gründerväter: Alleline, Bland, Esterhase und Bill Haydon. Drei und Alleline, hatte Control gesagt. Plötzlich wurde Smileys Denken, das während des Lesens für jede Folgerung, jede Quer­verbindung empfänglich war, von einer ganz abwegigen Vision überfallen. Er sah sich selber und Ann vor einem Jahr in den Klippen Cornwalls wandern. Es war die Zeit unmittelbar nach Controls Tod; die schlimmste Zeit, an die Smiley sich in ihrer langen und wirren Ehe erinnern konnte. Sie waren hoch über der Küste, irgendwo zwischen Lamorna und Porthcurno, wohin sie zu einer unmöglichen Jahreszeit gefahren waren, unter dem Vor­wand, daß Ann in der Seeluft ihren Husten loswerden würde. Sie waren den Klippenweg entlanggegangen, jeder hing seinen Gedanken nach: sie dachte an Haydon, vermutete er, er selber dachte an Control, Jim Prideaux und Testify, und an das furcht­bare Durcheinander, das er bei seiner Pensionierung hinterlassen hatte. Zwischen ihnen herrschte kein Einklang. Sogar die Ruhe war dahin, die sie früher bei ihrem Beisammensein genossen hat­ten; sie waren einander ein Rätsel, und das harmloseste Geplauder konnte seltsame, unkontrollierbare Wege einschlagen. Ann hatte in London ein zügelloses Leben geführt und jeden genommen, der sich dazu bereit fand. Er wußte, daß sie etwas zu begraben versuchte, das sie sehr schmerzte oder beunruhigte; aber er fand den Zugang zu ihr nicht.

»Wenn ich gestorben wäre«, fragte sie plötzlich, »anstatt Con­trol, wie wäre dann deine Einstellung zu Bill?« Smiley überlegte sich noch immer eine Antwort, als sie fortfuhr: »Manchmal habe ich das Gefühl, ich beschönige deine Ansicht über ihn. Kann das sein? Daß ich euch beide irgendwie zusammen­halte?«

»Das kann sein.« Er fügte hinzu: »Ja, ich glaube, ich hänge in gewisser Weise auch an ihm.«

»Ist Bill im Circus noch immer ein wichtiger Mann?«

»Vermutlich mehr denn je.«

»Und er reist noch immer nach Washington, mauschelt mit ihnen und dreht sie um und um?«

»Ich nehme es an. Man sagt so.«

»Ist er so wichtig, wie du früher warst?«

»Wahrscheinlich.«

»Wahrscheinlich«, wiederholte sie. »Ich nehme es an. Man sagt so. Ist er also besser? Ist er tüchtiger als du, ein besserer Kenner der höheren Circus-Mathematik? Sag mir's. Bitte, sag mir's. Bitte.«

Sie war seltsam erregt. Ihre Augen, die vom Wind tränten, schim­merten verzweifelt, sie hatte beide Hände auf seinen Arm gelegt und zerrte an ihm wie ein Kind, das eine Antwort will. »Du hast immer zu mir gesagt, man solle Männer nicht verglei­chen«, erwiderte er unbeholfen. »Du hast immer gesagt, du däch­test nicht in Vergleichen.«

»Sag mir's!«

»Gut, wie du willst: Er ist nicht besser.«

»Genauso gut?«

»Nein.«

»Und wenn es mich nicht gäbe, was würdest du dann von ihm halten? Wenn Bill nicht mein Vetter wäre, nicht mein ein und alles? Sag mir's. Würdest du mehr von ihm halten oder weniger?«

»Weniger, nehme ich an.«

»Dann mußt du von jetzt an weniger von ihm halten. Ich ver­stoße ihn aus der Familie, aus unserem Leben, aus allem. Hier und jetzt. Ich werfe ihn ins Meer. Da. Begreifst du?« Er begriff nur eins: Geh zurück zum Circus und beende deine Arbeit. Es war eine der unendlich vielen Arten, auf die sie den gleichen Gedanken ausdrücken konnte.

Noch immer beunruhigt durch diesen Spuk stand Smiley ziem­lich erregt auf, trat ans Fenster und schaute hinaus, wie gewöhn­lich, wenn er aus dem Tritt gekommen war. Eine Reihe Möwen, ein halbes Dutzend, hatte sich am Dachrand niedergelassen. Er hatte wohl ihren Schrei gehört und sich an diese Wanderung nach Lamorna erinnert.

Ich muß immer husten, wenn ich irgend etwas nicht sagen kann, hatte Ann ihm einmal gestanden. Was hatte sie damals nicht sagen können? fragte er mürrisch die Schornsteinaufsätze gegenüber. Connie konnte es sagen, Martindale konnte es sagen; warum nicht! auch Ann?

»Es sind drei und Alleline«, murmelte Smiley laut. Die Möwen waren weggeflogen, alle auf einmal, als hätten sie einen besseren Platz erspäht. »Sagen Sie ihnen, sie wollen sich mit Falschgeld einkaufen.« Wenn aber die Banken dieses Falschgeld annehmen? Wenn die Experten es für echt erklären und Bill Haydon es in den Himmel lobt? Und die Akten des Ministers voll sind des Beifalls für die wackeren neuen Männer des Circus, die endlich den Bann gebrochen haben?

Er nahm sich Esterhase als ersten vor, denn Toby verdankte ihm seine Karriere. Smiley hatte ihn in Wien angeworben, wo Toby als halbverhungerter Student in den Ruinen eines Museums lebte, dessen Kurator sein verstorbener Onkel gewesen war. Smiley war also zur Laundry nach Acton gefahren, wo er ihm am Walnuß-Schreibtisch mit der Reihe elfenbeinfarbener Telefone gegen­übersaß. An der Wand Anbetung der Könige, dubioser Italiener, 17. Jahrhundert. Vor dem Fenster ein umfriedeter Hof, voll­gestellt mit Autos, Lieferwagen und Motorrädern, und Ruhe­baracken, wo die Aufklärer-Teams ihre Freizeit totschlugen. Zuerst fragte Smiley nach Tobys Familie: er hatte einen Sohn in Westminster und eine Tochter an der medizinischen Fakultät, erstes Semester. Dann hielt er Toby vor, daß die Aufklärer mit ihrem Arbeitsplan zwei Monate in Verzug waren, und als Toby Ausflüchte gebrauchte, fragte er geradeheraus, ob die Jungens in letzter Zeit Sonderaufträge erfüllt hätten, entweder im Lande oder auswärts, die Toby aus verständlichen Sicherheitsgründen in seinen Meldungen nicht habe erwähnen können. »Für wen sollte ich das tun, George?« fragte Toby mit ausdruckslosem Blick. »Sie wissen, daß das nach meinem Kanon völlig illegal wäre.« Und in deinem Kanon, Toby, bist du eine wahre Kanone. »Nun, ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, daß Sie es für Percy Alleline tun«, schlug Smiley vor und lieferte ihm damit eine Ausrede. »Schließlich, wenn Percy Sie anweisen würde, ir­gend etwas zu tun und es nicht in die Meldung aufzunehmen, wären Sie in einer heiklen Lage.«

»Was für eine Art von irgend etwas zum Beispiel, George?«

»Im Ausland einen Briefkasten leeren, ein >sicheres Haus < trim­men, jemanden beschatten, in einer Botschaft Meisen kleben. Percy ist schließlich oberster Einsatzleiter. Sie könnten annehmen, er handle auf Befehl der obersten Etage. Ich kann mir so etwas ohne weiteres vorstellen.«

Toby blickte Smiley aufmerksam an. Er hielt eine Zigarette in der Hand, die er angezündet hatte, aber nicht rauchte. Es war eine Selbstgedrehte, aus einem silbernen Etui, sie brannte, aber er führte sie nicht ein einziges Mal an die Lippen. Sie kreiste, manch­mal vor ihm, manchmal zur Seite; zuweilen schien es, als wagte sie den Sprung, aber es kam nie so weit. Unterdessen hielt Toby seine Rede: eine von Tobys persönlichen Verlautbarungen, die seinen endgültigen Standpunkt in dieser Lebensphase ausdrückte. Toby liebte seine Arbeit, sagte er. Er wolle sie gern behalten. Sie sei sein Leben. Er hänge an ihr. Er habe noch andere Interessen, die ihn jederzeit ganz in Anspruch nehmen könnten, aber seine Arbeit sei ihm am liebsten. Sein einziger Kummer, sagte er, sei die Beförderung. Nicht daß er aus ehrgeizigen Gründen danach strebe. Er würde sagen, seine Gründe seien sozialer Natur. »Wissen Sie, George, ich habe so viele Dienstjahre hinter mir, daß es mir richtig peinlich ist, wenn diese jungen Burschen ver­langen, ich solle von ihnen Aufträge entgegennehmen. Sie ver­stehen, was ich sagen will? Acton sogar: Allein der Name Acton klingt für sie lächerlich.«

»Oh«, sagte Smiley milde. »Was sind das für junge Burschen?« Aber Esterhases Interesse war erloschen. Das Gesicht nahm nach dem Abschluß seiner Verlautbarung wieder den gewohnten leeren Ausdruck an, die Puppenaugen hefteten sich auf einen Punkt in mittlerer Entfernung.

»Meinen Sie Roy Bland?« fragte Smiley. »Oder Percy? Ist Percy jung? Wer, Toby?«

Es war sinnlos, bedauerte Toby: »George, wenn man überfällig ist für eine Beförderung und sich krumm schuftet, dann kommt einem jeder jung vor, der eine Sprosse höher auf der Leiter steht.«

»Vielleicht könnte Control Sie ein Stück nach oben hieven«, meinte Smiley und fand seine Rolle wenig sympathisch. Esterhases Erwiderung traf den Nerv. »Ach, wissen Sie, George, ich bin nicht so sicher, daß er im Moment dazu in der Lage ist. Ich möchte Ihnen etwas für Ann mitgeben« - er zog eine Schub­lade auf -, »als ich erfuhr, daß Sie kommen würden, rief ich ein paar Freunde an, etwas Schönes, sage ich, etwas für eine ideale Frau, wissen Sie, ich kann sie nicht mehr vergessen, seit wir uns einmal bei Bill Haydons Cocktail begegneten.« Und so trug Smiley den Trostpreis davon - ein kostbares Parfüm, vermutlich von einem heimkehrenden Aufklärer eingeschmug­gelt - und sagte bei Bland sein Sprüchlein auf. Damit, das wußte er, kam er einen Schritt näher an Haydon heran.

Smiley nahm wieder am Tisch des Majors Platz und suchte unter Lacons Akten, bis er auf einen schmalen Band mit der Aufschrift Operation Witchcraft, direkte Zuweisungen stieß, worin die er­sten, während der Laufzeit von Quelle Merlin angefallenen Aus­gaben verzeichnet waren. »Aus Sicherheitsgründen wird vorge­schlagen«, schrieb Alleline in einem weiteren persönlichen Me­morandum an den Minister, datiert mit dem 8. Februar vor zwei Jahren, »die Finanzierung für Witchcraft absolut getrennt von allen anderen Circusmitteln zu führen. Bis passende Deckung gefunden werden kann, ersuche ich um direkte Subventionen aus dem Etat des Schatzamtes anstelle bloßer Zuschüsse an die Ge­heime Bewilligung, die zweifellos in angemessener Zeit ihren Weg in die generelle Rechnungslegung des Circus finden würden. Ich werde Ihnen persönlich Rechenschaft ablegen.«

»Genehmigt«, hatte der Minister eine Woche später geschrieben, »vorbehaltlich...«

Es gab keine Vorbehalte. Ein Blick auf die erste Zahlenreihe zeigte Smiley alles, was er wissen mußte: Bereits bis Mai jenes Jahres, um die Zeit jenes Gesprächs in Acton, hatte Toby Esterhase persönlich nicht weniger als acht Reisen auf Rechnung des Witch­craft-Budgets unternommen, zwei nach Paris, zwei nach Den Haag, eine nach Helsinki und drei nach Berlin. In jedem Fall war als Zweck der Reise kurz und bündig »Produkt-Beschaffung« angegeben. Zwischen Mai und November, als Control in der Versenkung verschwand, unternahm er weitere neunzehn. Eine davon führte ihn nach Sofia, eine andere nach Istanbul. Keine erforderte eine Abwesenheit von mehr als drei vollen Tagen. Die meisten fanden an Wochenenden statt. Auf mehreren Reisen wurde er von Bland begleitet. Milde ausgedrückt, hatte Toby Esterhase, wie Smiley nie ernstlich bezweifelte, in seinen Hals ge­logen. Es machte Spaß, daß die Akte diesen Eindruck bestätigte.

Smiley hegte damals Roy Bland gegenüber zwiespältige Gefühle. Als er sie jetzt prüfte, fand er, daß sich daran nichts geändert hatte. Ein Universitätslehrer hatte ihn gemeldet, Smiley hatte ihn angeworben; auf erstaunlich ähnliche Weise war Smiley selber ins Netz geraten. Doch zu Roy Blands Zeiten fachte keine deut­sche Bestie die patriotische Flamme an, und antikommunistische Motive hatte Smiley immer ein bißchen störend empfunden. Wie Smiley hatte auch Bland keine richtige Kindheit gehabt. Sein Vater war Dockarbeiter, leidenschaftlicher Gewerkschafter und Mitglied der Kommunistischen Partei. Die Mutter starb, als Bland noch klein war. Der Vater haßte Bildung, wie er Autorität haßte, und als Bland ein gescheiter Junge wurde, setzte sein Vater sich in den Kopf, er habe seinen Sohn an die verhaßte herrschende Klasse verloren und prügelte ihn halb tot. Bland kämpfte sich trotzdem aufs Gymnasium durch, und in den Ferien schuftete er sich krumm, wie Toby sagen würde, um das Schulgeld zu ver­dienen. Als Smiley ihn in seiner Tutorenwohnung in Oxford kennenlernte, wirkte er so ausgepowert wie jemand, der gerade von einer schlimmen Reise zurückgekehrt. Smiley kümmerte sich um ihn und brachte ihm im Lauf mehrerer Monate be­hutsam einen Vorschlag nahe, den Bland annahm, vorwiegend, wie Smiley vermutete, aus Haß auf seinen Vater. Danach war er Smileys Obhut entzogen. Bland lebte nun von namenlosen Zuwendungen, arbeitete in der Marx Memorial Library und schrieb linksgerichtete Artikel für winzige Gazetten, die längst eingegangen wären, wenn der Circus sie nicht unterstützt hätte. An den Abenden debattierte er bei verräucherten Meetings in Wirtshäusern und Turnsälen. Den Urlaub verbrachte er in der Nursery, wo ein Fanatiker namens Thatch Mannequin-Kurse für Tiefenagenten im Auslandseinsatz abhielt, mit jeweils einem Schüler pro Kurs. Thatch trainierte Bland in allen Disziplinen und lotste seine progressiven Ansichten behutsam näher an das marxistische Lager seines Vaters. Genau drei Jahre nach seiner Anwerbung bekam er, teils wegen seines proletarischen Stamm­baums und des väterlichen Einflusses, in King Street einen Einjahresvertrag als Hilfslektor für Wirtschaftswissenschaften von der Universität Poznan. Damit war er lanciert. Von Polen aus bewarb er sich erfolgreich für eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften in Budapest, und in den folgenden acht Jahren lebte er das Nomadendasein eines kleinen Links- intellektuellen auf der Suche nach dem wahren Licht, gewann Sympathien, niemals Vertrauen. Er hielt sich in Prag auf, kehrte nach Polen zurück, lehrte zwei höllische Semester in Sofia und sechs in Kiew, wo er einen Nervenzusammenbruch erlitt, den zweiten in zwei Monaten. Wiederum nahm die Nursery ihn auf, dieses Mal um ihn »auszutrocknen«. Er wurde als sauber entlassen, seine Netze bekamen andere Außenagenten, und Roy selber wurde in den Circus versetzt, wo er, im wesentlichen vom Schreibtisch aus, die Netze führte, die er draußen angeworben hatte. In jüngster Zeit, so schien es Smiley, hatte Bland sich sehr an Haydon angeschlossen. Wenn Smiley unangemeldet bei Roy auftauchte, um mit ihm zu plaudern, so fand er mit ziemlicher Sicherheit Bill im Sessel lungern, umgeben von Papieren, Karten und Zigarettenrauch; kam er in Bills Büro, so bedeutete es keine Überraschung, wenn er Bland im durchgeschwitzten Hemd gewichtig auf dem Teppich hin und her stapfen sah. Bill bearbeitete Rußland, Bland die Satelliten; doch schon in jenen frühen Tagen von Witchcraft war der Unterschied nahezu verschwunden.

Sie hatten sich in einem Gartenlokal in St. John's Wood verab­redet. Es war immer noch Mai, halb sechs Uhr an einem trüben Tag, und der Park war leer. Roy brachte ein Kind mit, einen etwa fünfjährigen Jungen, einen winzigen Bland, blond, stämmig und rosig. Er sagte nicht, wer der Junge sei, aber manchmal ver­stummte er während ihres Gesprächs plötzlich und schaute hin­über zu der entfernten Bank, auf der er saß und Nüsse knapperte. Nervenzusammenbrüche oder nicht, Bland trug noch den Stempel der Thatch-Philosophie für Agenten im feindlichen Lager; Selbst­vertrauen, positive Beteiligung, Rattenfänger-Appeal und alle übrigen unbequemen Parolen, die in der Blütezeit des Kalten Krieges aus der Nursery fast so etwas wie ein Zentrum für mora­lische Aufrüstung gemacht hatten. »Also, wie lautet der Handel?« fragte Bland verbindlich. »Es geht nicht um einen Handel, Roy. Control findet die gegen­wärtige Situation ungesund. Er sieht nicht gern zu, wie Sie in eine Kabale verwickelt werden. Und ich auch nicht.«

»Großartig. Also, wie lautet der Handel?«

»Was möchten Sie?«

Auf dem Tisch, der noch naß war vom Nachmittagsregen, stand eine Lunch-Garnitur mit Essig und öl und einem Päckchen Pla­stikzahnstocher in der Mitte. Bland nahm einen heraus, spuckte das Papier auf den Rasen und fing an, mit dem breiten Ende seine Backenzähne zu bearbeiten.

»Tja, wie war's mit fünftausend unter der Hand aus dem Reptilien­fonds?«

»Und ein Haus und einen Wagen?« sagte Smiley und machte einen Scherz daraus.

»Und der Junge nach Eton«, fügte Bland hinzu und winkte über das Betonpflaster zu dem Jungen hinüber, während er weiter in den Zähnen stocherte. »Ich habe bezahlt, George. Sie wisssen es. Ich weiß nicht, was ich dafür eingekauft habe, aber ich habe einen gesalzenen Preis bezahlt. Davon will ich etwas zurückhaben. Zehn Jahre von allem abgeschnitten, nur für die fünfte Etage, das ist ein schöner Batzen in jedem Alter. Sogar in Ihrem. Es muß einen Grund gehabt haben, warum ich mich auf dieses Spiel ein­ließ, aber ich weiß nicht mehr recht, was es war. Muß Ihre magne­tische Persönlichkeit gewesen sein.«

Smileys Glas war noch nicht leer, also holte Bland sich selber eins an der Theke und auch etwas für den Jungen. »Sie haben doch die Bildung mit Löffeln gefressen«, erklärte er leichthin und setzte sich wieder. »Ein Künstler ist ein Kerl, der zwei fundamental entgegengesetzte Ansichten besitzen und damit leben kann. Wer hat sich das ausgedacht?«

»Scott Fitzgerald«, antwortete Smiley und dachte einen Augen­blick lang, Bland wolle etwas über Bill Haydon sagen. »Ja. Fitzgerald war nicht dumm«, bestätigte Bland. Als er trank, glitten seine leicht vorstehenden Augen seitwärts zum Zaun, als suchte er jemanden. »Und ich kann durchaus damit leben, George. Als guter Sozialist bin ich auf Geld aus. Als guter Kapitalist halte ich es mit der Revolution, denn wenn man's nicht besiegen kann, soll man's bespitzeln. Schauen Sie mich nicht so an, George. Es ist heute die Spielregel: Du kitzelst mein Gewissen, ich fahr dafür deinen Jaguar, stimmt's?« Noch während er das sagte, hatte er den Arm gehoben. »Bin gleich wieder da!« rief er über den Rasen. »Tischen Sie noch einen für mich auf!« Zwei Mädchen trieben sich jenseits des Zauns herum. »Stammt der Witz von Bill?« fragte Smiley und war plötzlich sehr ärgerlich.

»Wie bitte?«

»Ist das einer von Bills Witzen über das materialistische England die verhausschweinte Gesellschaft?«

»Wäre möglich«, sagte Bland und trank sein Glas aus. »Gefällt er Ihnen nicht?«

»Nicht besonders, nein.«

»Ich habe Bill nie als radikalen Reformer gekannt. Was ist denn plötzlich über ihn gekommen?«

»Das ist nicht radikal«, erwiderte Bland, der es nicht mochte, wenn jemand seinen Sozialismus oder Bill Haydon madig machte. »Das ist bloß, was man sieht, wenn man aus dem verdammten Fenster schaut. Das ist England heute, Mensch. Gefällt keinem, oder?«

»Wie sollte man Ihrer Meinung nach«, fragte Smiley und hörte sich in seinem bombastischsten Tonfall sprechen, »die Besitz- und Wettbewerbsinstinkte in der westlichen Gesellschaft aus­rotten, ohne gleichzeitig ...«

Bland hatte sein Glas ausgetrunken; und damit die Unterredung beendet.

»Was regen Sie sich auf? Sie haben Bills Job bekommen. Was wollen Sie mehr? So lang, wie's dauert.«

Und Bill hat meine Frau bekommen, dachte Smiley, als Bland sich zum Gehen anschickte; und Gott verdamm ihn, er hat dir's erzählt.

Der Junge hatte ein Spiel erfunden. Er hatte einen Tisch hochge­kantet und ließ eine Flasche in den Kies rollen. Jedesmal setzte er die Flasche höher an der Tischfläche an. Smiley ging, ehe sie zerschellte.

Zum Unterschied von Esterhase hatte Bland sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu lügen. Lacons Akten ließen keine Zweifel an seiner Beteiligung an der Operation Witchcraft: »Quelle Merlin«, schrieb Alleline in einer Aktennotiz, die kurz nach Controls Verschwinden von der Whitehall-Bühne datiert war, »ist in jedem Sinn eine Operation des gesamten Ausschus­ses ... Ich vermag nicht zu entscheiden, welcher meiner drei Mitarbeiter die von Ihnen vorgeschlagene Auszeichnung ver­dient . . . Blands Tatkraft liefert uns allen einen Ansporn . . .« Er beantwortete hierin den Vorschlag des Ministers, daß die Ver­antwortlichen für Witchcraft in der Neujahrsliste lobend erwähnt werden sollten: ». . . während Haydons Ingenium zuweilen dem von Merlin selber kaum nachsteht«, fügte er hinzu. Die Orden wurden allen dreien verliehen; Allelines Ernennung zum Chef wurde bestätigt, und damit rückte der ersehnte Ritterschlag näher.

George Smiley beschwört die Erinnerung an Ann und meditiert über Liebe und Freundschaft

Womit mir nur noch Bill übrigblieb, dachte Smiley. Einmal tritt sogar in einer Londoner Nacht eine Lärmpause ein. Zehn, zwanzig Minuten, dreißig, sogar eine Stunde lang grölt kein Betrunkener, schreit kein Kind und prallen keine Autos mit kreischenden Reifen aufeinander. In Sussex Gardens ist das ge­gen drei Uhr der Fall. In dieser Nacht war es früher, um eins, und Smiley stand wieder einmal an seinem Dachfenster und blickte wie ein Gefangener hinunter auf Mrs. Pope Grahams Sandfleck, wo seit kurzem ein Kombiwagen parkte. Das Dach war mit Slogans bekleckst: Sydney neunzig Tage, Athen Non­stop, Mary LOH, wir kommen. Drinnen glomm Licht, und er ver­mutete, daß dort ein paar Kinder in trauter Zweisamkeit schlum­merten. Teenager sollte er wohl sagen. An den Fenstern hingen Gardinen.

Womit mir nur noch Bill übrigblieb, dachte er und starrte noch immer auf die zugezogenen Gardinen des Kombiwagens und die grelle Globetrotter-Beschriftung; womit ich wieder bei Bill an­gelangt wäre und unserem freundschaftlichen kleinen Schwatz in der Bywater Street, nur wir beide, alte Freunde, alte Waffenge­fährten, die »alles miteinander teilten«, wie Martindale sich so elegant ausgedrückt hatte. Aber Ann war für den Abend weg­geschickt worden, damit die Männer allein sein konnten. Womit mir nur noch Bill übrigblieb, wiederholte er und fühlte, wie sein Blut in Wallung geriet, seine Vision deutlichere Farben annahm und seine Beherrschung gefährlich zu schwinden begann. Wer war er? Smiley hatte ihn nicht mehr im Griff. Sooft er an Bill dachte, malte er ihn zu groß und jedesmal wieder anders. Vor Anns Affäre mit Bill hatte er geglaubt, ihn recht gut zu kennen: seine Qualitäten und seine Grenzen. Er gehörte jenem angeblich ausgestorbenen Vorkriegstypus an, der gleichzeitig schuftig und nobel sein konnte. Sein Vater war hoher Justizbeamter, zwei sei­ner schönen Schwestern hatten in die Aristokratie geheiratet; in Oxford war er Parteigänger der unmodernen Rechten gewesen, nicht etwa der modischen Linken, wobei er sich allerdings kein Bein ausriß. Noch vor seinem zwanzigsten Jahr hatte er sich als unerschrockener Forscher und Amateurmaler originaler, wenn auch allzu ehrgeiziger Prägung betätigt: mehrere seiner Bilder hingen jetzt in Miles Sercombes albernem Palais in Carlton Gar­dens. Er hatte an jeder Botschaft und in jedem Konsulat im gan­zen Vorderen Orient seine Verbindungen und nutzte sie rück­sichtslos. Er erlernte mühelos die ausgefallensten Sprachen, und als das Jahr neununddreißig kam, holte ihn sich der Circus, der seit Jahren ein Auge auf ihn gehabt hatte. Der Krieg war eine Glanzzeit für ihn. Er war überall zugleich und charmant; er war unorthodox und zuweilen hemmungslos. Wahrscheinlich war er ein Held. Der Vergleich mit Lawrence drängte sich auf. Es stimmte ferner, wie Smiley zugab, daß Bill seinerzeit mit wichtigen historischen Problemen experimentiert hatte; alle möglichen großartigen Pläne für ein Wiedererstarken Englands zu Einfluß und Größe vorbrachte - wie Rupert Brooke sprach er selten von Großbritannien. Doch selbst in seinen wenigen ob­jektiven Augenblicken konnte Smiley sich kaum an ein Projekt erinnern, das je vom Start gekommen wäre.

Für die andere Seite von Haydons Charakter indessen vermochte Smiley als Kollege eher Respekt aufzubringen: die Unbeirrbar­keit des geborenen Agentenführers, sein hochentwickeltes Ge­fühl für das rechte Maß beim Zurückspielen von Doppelagenten, und das Aufziehen von Ablenkungs-Operationen; seine Fähig­keit, Zuneigung, sogar Liebe zu hegen, auch wenn sie anderen Bindungen zuwiderlief.


Als Zeuge dafür ausgerechnet meine eigene Frau - besten Dank! Vielleicht ist Bill wirklich ein Sonderfall, überlegte er bei seinem verzweifelten Bemühen, eine Norm zu finden. Wenn er sich Bill jetzt vorstellte und ihn mit Bland, Esterhase und sogar Alleline verglich, so schien es Smiley allen Ernstes, daß die anderen nur mehr oder weniger unvollkommene Nachahmungen des Origi­nals waren, Nachahmungen Haydons. Daß ihre Posen nur Ver­suche waren, sich zum gleichen unerreichbaren Ideal des perfek­ten Mannes hochzuschrauben, mochte die Vorstellung auch irrig oder unzutreffend sein; mochte Bill ihrer auch im höchsten Maß unwürdig sein. Bland und seine demonstrative Ungeschliffen­heit, Esterhase und sein künstliches super-englisches Gehabe,

Alleline und sein unechter Führungsanspruch: ohne Bill waren sie Nullen. Smiley wußte auch oder glaubte zu wissen - der Ein­fall kam ihm jetzt wie eine sanfte Erleuchtung -, daß Bill dagegen für sich allein auch sehr wenig war: daß er, während seine Be­wunderer - Bland, Prideaux, Alleline, Esterhase und der ganze übrige Supporter-Club - ihn für vollkommen hielten, in Wahr­heit sie für sich einspannte, Anleihen aus ihren passiven Persön­lichkeiten machte, hier ein Stück, dort ein Stück, und damit sein eigenes Ich abrundete: mit diesem Trick die Tatsache verschlei­erte, daß er weniger, viel weniger war als die Summe seiner scheinbaren Qualitäten . . . und schließlich seine Abhängigkeit von ihnen hinter der Arroganz des Künstlers verbarg, der sie als Geschöpfe seines Genius bezeichnete . . . » Jetzt reicht's aber«, sagte Smiley laut.

Er riß sich abrupt aus seiner Meditation los, verscheuchte sie är­gerlich als eine seiner vielen Theorien über Bill und kühlte sein überhitztes Denken durch die Erinnerung an ihre letzte Begeg­nung.


»Sie wollen mich vermutlich über den verdammten Merlin aus­quetschen«, begann Bill. Er wirkte müde und nervös; es war kurz vor seiner Abreise nach Washington. In den alten Tagen hätte er ein unpassendes Mädchen mitgebracht und sie Anns Ge­sellschaft überlassen, während er mit Smiley das Geschäftliche besprach; von Ann erwartete er, daß sie dem Mädchen gegen­über sein Genie herausstrich, dachte Smiley boshaft. Sie waren alle von der gleichen Sorte: Halb so alt wie er, schmuddelige Bo­hemeweiber, mürrische Kletten; Ann sagte, er müsse einen Hof­lieferanten haben. Und einmal brachte er sogar einen gräßlichen Knaben namens Steggie an, Hilfskellner aus einer der Kneipen in Chelsea, mit offenem Hemd und einem Goldkettchen um den Magen.

»Es heißt allgemein, Sie schreiben die Berichte«, erklärte Smiley. »Ich dachte, das sei Blands Job«, sagte Bill mit seinem füchsi­schen Grinsen.

»Roy macht die Übersetzungen«, sagte Smiley. »Sie verfassen die kommentierenden Berichte; sie sind auf Ihrer Maschine geschrie­ben. Das Material darf Stenotypistinnen nicht zugänglich gemacht werden.«

Bill hörte aufmerksam zu, er hatte die Brauen hochgezogen, als könne er jeden Augenblick unterbrechen oder zu einem passen­deren Thema übergehen, dann hievte er sich aus dem tiefen Sessel und schlenderte zum Bücherregal, wo er um ein ganzes Fach hö­her hinauf reichte als Smiley. Mit den langen Fingern fischte er einen Band heraus, schlug ihn auf, grinste.

»Percy Alleline ist nicht gut genug«, verkündete er und blätterte um. »Ist das die Prämisse?«

»So ziemlich.«

»Was bedeutet, daß auch Merlin nicht gut genug ist. Merlin würde gut genug sein, wenn er meine Quelle wäre, nicht wahr? Was würde passieren, wenn unser lieber Bill hier zu Control spazieren und sagen würde, er habe einen großen Fisch und wolle ihn selber drillen? >Große Klasse, Bill, mein Junge, klar tun Sie das. Ein Täßchen Hundepiß?< Er hätte mir einen Orden verliehen, anstatt Sie in den Korridoren herumschnüffeln zu lassen. Wir waren einmal ein feiner Haufen. Warum sind wir so vulgär ge­worden?«

»Wer führt ihn, Bill?«

»Percy? Karla natürlich, wer sonst? Kleiner Pinscher mit höch­ster Protektion. Weiß sich Liebkind zu machen. Percy hat sich an Karla verkauft, ist die einzige Erklärung.« Er hatte schon vor langer Zeit die Kunst absichtlichen Miß­verstehens entwickelt. »Percy ist unser Haus-Maulwurf«, sagte er.

»Ich meinte, wer führt Merlin? Wer ist Merlin? Was ist eigentlich los?«

Haydon verließ das Regal und machte einen Rundgang vor Smi­leys Bildern. »Ein Callot, wie?« - er hakte einen kleinen Gold­rahmen ab und hielt das Bild ans Licht - »Hübsch.« Er kippte die Brille, um sie als Vergrößerungsglas zu benutzen. Smiley war überzeugt, daß er das Bild schon ein dutzendmal betrachtet hatte. »Sehr hübsch. Kommt niemand auf die Idee, daß ich dabei der Gelackmeierte bin? Mein Zielobjekt ist zufällig Rußland, wissen Sie. Hab' ihm meine besten Jahre geopfert, Netze einge­richtet, Talentsucher, sämtliche Verbindungsstellen. Ihr Leute im fünften Stock habt vergessen, was das heißt: Ein Einsatz, bei dem es drei Tage dauert, bis man einen Brief aufgeben kann, und man kriegt nicht mal Antwort für seine Mühe.«

Smiley, pflichtschuldigst: »Ja, das habe ich vergessen. Ja, ich kann's Ihnen nachfühlen. Nein, ich denke nicht die Bohne an Ann; wir sind schließlich Kollegen und Männer von Welt und sind hier beisammen, um über Merlin und Control zu sprechen.«

»Und dann kommt dieser Parvenü Percy des Wegs, dieser verdammte schottische Klinkenputzer, keine Spur von Klasse, und schleppt eine ganze Wagenladung russischer Leckerbissen an. Verdammt ärgerlich, finden Sie nicht?«

»Äußerst.«

»Der Haken ist, meine Netze sind nicht sehr gut. Viel einfacher, Percy auszuspionieren, als . . .« Er brach ab, als hätte er genug von seiner eigenen These. Seine Aufmerksamkeit hatte sich einem winzigen Van Mieris, einem Kopf in Kreide, zugewandt. »Und das hier mag ich sehr«, sagte er. »Hat Ann mir geschenkt.«

»Wiedergutmachung ?«

»Wahrscheinlich.«

»Muß eine recht schwere Sünde gewesen sein. Seit wann haben Sie es?«

Noch jetzt erinnerte Smiley sich, wie still die Straße gewesen war. Dienstag? Mittwoch? Und er erinnerte sich, daß er gedacht hatte: »Nein, Bill. Für dich habe ich bisher noch keinen Trost­preis bekommen. Bis zum heutigen Abend bist du nicht einmal ein Paar Pantoffeln wert.« Gedacht, aber nicht gesagt. »Ist Control krank oder was?« fragte Haydon. »Nur sehr beschäftigt.«

»Was tut er den ganzen Tag? Er lebt wie ein Einsiedler. Wie ein bekloppter Einsiedler kratzt er in dieser Höhle dort oben still vor sich hin. Diese ganzen verdammten Akten, die er durchschnüf­felt, was um Gottes willen soll das sein? Eine sentimentale Reise durch seine unerfreuliche Vergangenheit, möcht ich wetten. Er sieht hundeelend aus. Daran ist wahrscheinlich auch Merlin schuld, wie?«

Wiederum sagte Smiley nichts.

»Warum kommt er nicht aus seinem Bau? Warum beschäftigt er sich nicht mit uns, anstatt dort oben nach Trüffeln zu wühlen? Wonach ist er aus?«

»Ich wußte nicht, daß er nach etwas aus ist«, sagte Smiley. »Ach, stellen Sie sich doch nicht so an. Natürlich ist er nach et­was aus. Ich hab eine Quelle dort oben, eine von den Müttern, wußten Sie das nicht? Liefert mir Indiskretionen gegen Schoko­lade. Control ackert die Personalakten der alten Circusrecken durch, klaubt den Dreck heraus, wer war rot? Wer war anders­rum? Die Hälfte von ihnen liegt schon unter der Erde. Arbeitet an einer Zusammenstellung aller unserer schwachen Seiten: können Sie sich das vorstellen? Und weshalb? Weil wir Erfolg haben. Er ist verrückt, George. Nicht mehr alle Tassen im Schrank: Altersblödsinn, dürfen Sie mir glauben. Hat Ann Ihnen je vom bösen Onkel Fry erzählt? Der glaubte, die Diener würden die Rosen mit Mikros spicken, um rauszukriegen, wo er sein Geld versteckt hat? Gehn Sie weg von ihm, George. Der Tod ist eine Nervensäge. Reißen Sie sich los, ziehen sie ein paar Etagen weiter runter. Zum Fußvolk.«

Ann war noch nicht zurück, und so schlenderten sie nebenein­ander die King's Road entlang und hielten nach einem Taxi Aus­schau, während Bill seine jüngsten politischen Ideen zum besten gab und Smiley »ja, Bill« und »nein, Bill« sagte und überlegte, wie er es Control beibringen sollte. Vor einem Jahr war Bill überzeugter Falke gewesen. Er hatte die konventionellen Streit­kräfte in Europa reduzieren und sie kurzerhand durch nukleare Waffen ersetzen wollen. Er war ungefähr der einzige Mensch in Whitehall gewesen, der noch an Englands unabhängige Ab­schreckungsmacht glaubte. In diesem Jahr war Bill, wenn Smiley sich recht erinnerte, Pazifist und wollte das Schwedenmodell ohne Schweden.

Kein Taxi kam, es war eine schöne Nacht, und wie alte Freunde wanderten sie Seite an Seite dahin.

»Übrigens, wenn Sie jemals diesen Mieris verkaufen wollten, lassen Sie mich's wissen, ja? Ich würde Ihnen einen anständigen Preis zahlen.«

Da er glaubte, Bill mache wieder einmal einen schlechten Witz, fuhr Smiley zu ihm herum und wollte ärgerlich erwidern. Hay­don entging es völlig. Er spähte straßab und winkte einem na­henden Taxi.

»Herrgott, seh'n Sie sich das an«, rief er ungehalten. »Voller ver­dammter Juden, die zu Quag's zum Fressen fahren.«

»Bill muß schon lauter Schwielen am Hintern haben«, brummte Control am nächsten Tag und blickte kaum von seiner Lektüre auf. »Seit Jahren sitzt er bloß herum und wartet seinen Tag ab. Einen Augenblick starrte er Smiley verloren an, als ob er durch ihn hindurch auf ein anderes, weniger fleischliches Ziel sähe ; dann senkte er die Augen und schien sich wieder ans Lesen zu machen. »Ich bin froh, daß er nicht mein Vetter ist«, sagte er. Am folgenden Morgen hatten die Mütter überraschende Nach­richten für Smiley. Control sei nach Belfast zu Besprechungen mit der Army geflogen. Als Smiley später die Reisevorschüsse nachprüfte, entdeckte er die Lüge. Niemand aus dem Circus war in diesem Monat nach Belfast geflogen, aber es fand sich eine Be­lastung für ein Retourbillett erster Klasse nach Wien und als An­tragsteller war Smiley angegeben. Haydon, der auch zu Control wollte, war wütend:

»Was, zum Teufel, ist denn in letzter Zeit los mit ihm? Er will wohl Irland kapern, die Organisation aufspalten. Herrjeh, der Mann ist eine Nervensäge.«

Das Licht im Kombiwagen erlosch, aber Smiley konnte den Blick noch immer nicht von dem buntscheckigen Dach abwen­den. Wie leben sie? fragte er sich. Woher kriegen sie Wasser, Geld? Er versuchte, sich in die Logistik eines Klausnerdaseins in Sussex Gardens einzufühlen: Wasser, Dränage, Licht. Ann würde das ohne weiteres lösen, ebenso Bill. Tatsachen. Was waren die Tatsachen?

Tatsache war, daß ich eines linden Sommerabends vor der Witchcraft-Zeit unerwartet aus Berlin zurückkehrte, um Bill Haydon auf dem Teppich im Salon ausgestreckt zu finden, während Ann ihm auf dem Grammophon Liszt vorspielte. Ann saß am anderen Ende des Zimmers, im Neglige ohne Make-up. Es gab keine Szene, jeder benahm sich gequält natürlich. Bill war, laut eigener Aussage, soeben aus Washington gelandet und auf dem Weg vom Flugplatz kurz vorbeigekommen. Ann war schon im Bett gewesen, hatte es sich jedoch nicht nehmen lassen, aufzustehen und ihn willkommen zu heißen. Wir waren uns darüber einig, wie schade es sei, daß wir nicht gemeinsam ein Taxi von Heathrow genommen hatten. Bill ging wieder, ich fragte:

»Was wollte er?« und Ann sagte: »Sich an einer Schulter aus­weinen.« Bill hatte Liebeskummer und wollte sein Herz aus­schütten, meinte sie.

»In Washington sitzt Felicity und möchte ein Baby, und in Lon­don Jan, die eins kriegt.«

»Von Bill?«

»Das weiß der Himmel. Bill weiß es bestimmt nicht.« Am nächsten Vormittag stellte Smiley wider eigene Absicht fest, daß Bill seit zwei Tagen zurück war, nicht erst seit einem. In der Folge benahm Bill sich Smiley gegenüber ungewohnt manierlich, und Smiley vergalt es ihm mit einer Zuvorkommenheit, die nor­malerweise jüngeren Freundschaften vorbehalten ist. Nach an­gemessener Zeit wurde Smiley deutlich, daß die Katze aus dem Sack war, und noch heute war er perplex, mit welcher Ge­schwindigkeit es sich herumgesprochen hatte. Vermutlich hatte Bill vor irgend jemandem damit geprahlt, vielleicht vor Bland. Wenn das Gerücht stimmte, dann hatte Ann drei ihrer eigenen Regeln verletzt. Bill war vom Circus und er war vom Set, wie sie Familie und Freundeskreis bezeichnete. Aus jedem der bei­den Gründe war er tabu. Drittens hatte sie ihn in der Bywater Street empfangen, laut Übereinkunft ein grober Verstoß gegen den Revierfrieden.

Wieder einmal zog Smiley sich in sein eigenes einsames Leben zurück und wartete darauf, daß Ann etwas sagen würde. Er übersiedelte ins Gästezimmer und sorgte dafür, daß er eine Menge abendlicher Verabredungen hatte und auf diese Weise von ihrem Kommen und Gehen weniger bemerkte. Ganz allmählich däm­merte ihm, daß sie zutiefst unglücklich war. Sie nahm ab, verlor ihre spielerische Art, und wenn er sie nicht so gut gekannt hätte, hätte er geschworen, sie leide unter einem schweren Anfall von Zerknirschung, ja, von Abscheu vor sich selber. Wenn er freund­lich zu ihr war, wehrte sie ihn ab; sie zeigte kein Interesse an Weihnachtseinkäufen und erkrankte an einem quälenden Husten, was, wie er wußte, ihr SOS-Ruf war. Ohne die Operation Testify wäre er schon früher mit ihr nach Cornwall abgereist. So aber mußten sie die Reise bis Januar verschieben, und dann war Con­trol tot, Smiley pensioniert und das Blatt hatte sich gewendet; und um die Schmach vollzumachen, deckte Ann die Haydon-Karte mit jeder Menge anderer, die sie aus dem Haufen heraus­ziehen konnte.

Was war passiert? Hatte sie die Beziehung abgebrochen? Oder Haydon? Warum sprach sie nie darüber? War es denn überhaupt so wichtig, eine Affäre unter so vielen anderen? Er gab auf. Wie die Katze aus Alice im Wunderland schien Bill Haydons Gesicht zu verschwimmen, sobald er sich ihm näherte und nur das Grin­sen blieb. Aber er wußte, daß Bill auf die eine oder andere Art Ann zutiefst verwundet hatte, und das war die unverzeihlichste aller Sünden.

Merlin beginnt endlich, menschliche Züge anzunehmen

Mit einem Grunzen des Abscheus kehrte Smiley an den wenig einladenden Schreibtisch zurück und setzte seine Lektüre von Merlins Fortschritten seit seinem erzwungenen Ausscheiden aus dem Circus fort. Die Ära Alleline hatte, wie er sofort sah, unver­züglich mehrere vorteilhafte Veränderungen in Merlins Lebens­stil bewirkt. Etwas wie eine Reifung, eine Beruhigung. Die nächt­lichen Spritztouren in europäische Hauptstädte hörten auf, der Nachrichtenstrom wurde regelmäßiger, weniger hektisch. Gewiß, es gab noch allerhand Kopfschmerzen. Merlins Geldwünsche gingen weiter - Ersuchen, niemals Drohungen -, und mit dem anhaltenden Wertverfall des Pfundes wurden diese ansehnlichen Zahlungen für das Schatzamt zu einem Alptraum. Es fand sich einmal sogar eine — nie weiter verfolgte - Anregung, Merlin möge »da wir das Land seiner Wahl sind, auch in etwa unserem finan­ziellen Engpaß Rechnung tragen«. Haydon und Bland waren offensichtlich empört gewesen: »Ich habe nicht die Stirn«, schrieb Alleline mit ungewohnter Offenheit an den Minister, »meinen Mitarbeitern dieses Thema nochmals vorzutragen.« Außerdem hatte es Krach wegen einer neuen Kamera gegeben, die von den Klempnern unter großem Kostenaufwand in röhren­förmige Bestandteile zerlegt und in eine genormte Stehlampe sowjetischer Herstellung eingepaßt worden war. Die Lampe wurde nach großem Wehgeschrei, diesmal aus dem Foreign Office, per Diplomatengepäck nach Moskau gemogelt. Dann stellte sich das Problem der Ablieferung. Die Außenstelle konnte nicht über Merlins Identität informiert werden und wußte auch nicht, was in der Lampe steckte. Die Lampe war sperrig und paßte nicht in den Gepäckraum des Wagens des Außenagenten. Nach mehreren Versuchen wurde eine »unsaubere« Übergabe be­werkstelligt, aber die Kamera funktionierte nie, und es gab böses Blut zwischen dem Circus und seiner Moskauer Außenstelle.


Ein weniger raffiniertes Modell wurde von Esterhase nach Hel­sinki gebracht und dort - so Allelines Aktennotiz an den Mini­ster - »einem vertrauenswürdigen Mittelsmann übergeben, der unbehelligt die Grenze passieren konnte«. Plötzlich richtete Smiley sich mit einem Ruck auf. »Wie besprochen«, schrieb Alleline in einer Notiz an den Minister, datiert mit dem 27. Februar dieses Jahres. »Sie erklärten sich einverstanden, dem Schatzamt einen zusätzlichen Antrag für ein Londoner Haus vorzulegen, das im Witchcraft-Budget geführt werden soll.« Er las es einmal, dann nochmals langsamer. Das Schatzamt hatte sechzigtausend Pfund für das Anwesen und weitere zehntausend für Einrichtung und Zubehör bewilligt. Es wollte jedoch, zwecks Kostenersparnis, die Überschreibung durch seine eigenen An­wälte erledigen lassen. Alleline weigerte sich, die Adresse mitzu­teilen. Aus dem gleichen Grund gab es Unstimmigkeiten darüber, wer die Unterlagen verwahren sollte. Dieses Mal blieb das Schatz­amt hart, und seine Anwälte trafen Vorsorge, daß das Haus zurückgegeben würde, falls Alleline sterben oder Bankrott machen sollte. Aber die Adresse behielt er für sich, desgleichen die Recht­fertigung dieses außergewöhnlichen und kostspieligen Beitrags zu einer Operation, die angeblich im Ausland abgewickelt wurde. Smiley suchte eifrig nach einer Erklärung. Die Abrechnungen waren darauf angelegt, wie er bald herausfand, keine zu liefern. Sie enthielten einen einzigen verkappten Hinweis auf das Lon­doner Haus, und zwar, als die Steuern verdoppelt wurden. Der Minister an Alleline: »Ich nehme an, das Londoner Ende ist noch immer wichtig?« Alleline an den Minister: »Eminent. Ich möchte sagen, mehr denn je. Ich möchte ferner sagen, daß der Kreis derer, die Bescheid wissen, sich seit unserem Gespräch nicht erweitert hat.« Bescheid- worüber?

Erst als er sich wieder den Akten zuwandte, in denen das Witchcraft-Produkt bewertet wurde, stieß er auf die Lösung. Das Haus war Ende März bezahlt worden. Unmittelbar darauf wurde es bezogen. Genau vom gleichen Datum an begann Merlin, mensch­liche Züge anzunehmen, und sie stellten sich hier in Form der Konsumentenkommentare dar. Bisher war Merlin für Smileys kritisches Auge eine Maschine gewesen: fehlerlos arbeitend, un­heimlich in der Reichweite, frei von den Streß-Symptomen, die das Arbeiten mit den meisten Agenten so schwierig machten. Jetzt war ihm plötzlich der Gaul durchgegangen.

»Wir legten Merlin Ihre erneuten Fragen wegen der Haltung des Kreml in Sachen eines Verkaufs russischer Ölüberschüsse an die Vereinigten Staaten vor. Wir machten ihn wunschgemäß darauf aufmerksam, daß dies im Widerspruch zu seinem Bericht vom letzten Monat stehe, wonach der Kreml zur Zeit mit der Regie­rung Tanaka wegen eines Vertrags über die Lieferung sibirischen Erdöls an den japanischen Markt Kontakt aufgenommen habe. Merlin sah in den beiden Berichten keinen Widerspruch und lehnt eine Prognose ab, welcher Markt im Endeffekt bevorzugt werden könnte.« Whitehall bedauerte seine Dreistigkeit. »Merlin wird seinen Bericht über die Unterdrückung des georgi­schen Nationalismus und die Aufstände in Tiblisi nicht - wie­derhole nicht - ausweiten. Da er nicht selber Georgier ist, ver­tritt er die gängige russische Ansicht, wonach alle Georgier Diebe und Vagabunden und am besten hinter Gittern seien . . .« White­hall drängte nicht weiter.

Merlin war plötzlich näher gerückt. War es nur der Erwerb eines Londoner Hauses, was Merlin für Smiley in greifbare physische Nähe brachte? Merlin schien aus der Abgeschiedenheit eines Moskauer Winters plötzlich hierher zu ihm, in dieses erbärm­liche Zimmer, gekommen zu sein; auf der Straße vor dem Fenster hielt, wie Smiley wußte, Mendel seine einsame Wache. Aus dem Nichts war ein Merlin aufgetaucht, der redete und Antwort gab und unentgeltlich seine Meinung dartat; ein Merlin, der Zeit hatte für Begegnungen. Hier in London? Der in einem Haus für sechzigtausend Pfund aus- und einging, aß und Bericht erstat­tete, große Töne spuckte und Witze über Georgier riß? War das der Kreis derer, die Bescheid wußten? Der Kern, der sich inner­halb des größeren Kreises der Witchcraft-Konsumenten gebildet hatte?

An dieser Stelle huschte eine höchst ausgefallene Gestalt über die Bühne: ein gewisser J. P. R., ein Neuling in Whitehalls wachsender Gruppe von Witchcraft-Auswertern. Smiley konsultierte die Verteilerliste und stellte fest, daß der volle Name Ribble lautete und daß Ribble dem Research Department des Foreign Office angehörte. J. P. Ribble stand vor einem Rätsel. J. P. R. an die Adriatic Working Party (AWP): »Darf ich mir er­lauben, Sie auf eine offensichtliche Diskrepanz bezüglich der Daten hinzuweisen? Witchcraft Nr. 104 (Sowjetisch-französische Gespräche über gemeinsame Projekte im Flugzeugbau) trägt das Datum 21. April. Gemäß Ihrem Begleitschreiben erhielt Merlin diese Information direkt vom General Markow, einen Tag nach­dem die Verhandlungspartner sich über einen geheimen Noten­austausch geeinigt hatten. An diesem 21. April indessen war Markow laut Auskunft unserer Pariser Botschaft noch in Paris, und Merlin besuchte, wie aus Ihrem Bericht Nr. 109 hervorgeht, an diesem Tag eine Raketenforschungsanstalt in der Nähe von Leningrad . . .« — Das Schreiben führte nicht weniger als vier ähn­liche »Diskrepanzen« an, die zusammengenommen bedeutet hät­ten, daß Merlin in der Tat so frei beweglich war, wie sein wunder­barer Name besagte.

J. P. Ribble erhielt den bündigen Bescheid, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. In einem getrennten Schreiben an den Minister jedoch machte Alleline eine außerordentliche Er­öffnung, die ein völlig neues Licht auf den Charakter der Opera­tion Witchcraft warf.

»Streng geheim und persönlich. Wie besprochen. Merlin ist, wie Sie seit einiger Zeit wissen, nicht eine Einzelquelle, sondern eine Kombination verschiedener Quellen. Obwohl wir unser Mög­lichstes taten, diese Tatsache aus Sicherheitsgründen vor Ihren Lesern geheimzuhalten, macht es der bloße Umfang des Mate­rials zunehmend schwierig, die Wahrheit zu verbergen. Wäre es nicht an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, zumindest innerhalb gewisser Grenzen? Im gleichen Zusammenhang darf das Schatzamt getrost darauf hingewiesen werden, daß Merlins monatliches Honorar von zehntausend Schweizer Franken nebst einer gleichen Summe für Spesen und laufende Kosten kaum zu hoch gegriffen sind, wenn die Mittel in so viele Teile gehen.« Aber das Schreiben endete in einer härteren Tonart: »Wie dem auch sei, selbst wenn wir übereinkommen, die Tür so weit zu öffnen, so betrachte ich es doch als unerläßlich, daß die Kenntnis von der Existenz des Londoner Hauses und vom Zweck, dem es dient, auf ein absolutes Minimum beschränkt bleibt. Denn so­bald Merlins Pluralität unter unseren Lesern bekannt wird, dürfte sich der Londoner Teil der Operation noch heikler denn je ge­stalten.«

In völliger Ratlosigkeit as Smiley die Briefe immer wieder von neuem. Dann blickte er wie von einem jähen Einfall gepackt auf, sein Gesicht ein einziges Bild der Verwirrung. Seine Gedanken waren so weit weg, so intensiv und komplex, daß das Telefon im Zimmer mehrmals klingelte, ehe er reagierte. Er nahm den Hörer ab und blickte auf die Uhr; es war sechs Uhr abends, er hatte kaum eine Stunde gelesen.

»Mister Barraclough? Hier Lofthouse von der Finanzabteilung, Sir.«

Peter Guillam bediente sich der verabredeten Wendungen, um einen Notruf nach einer sofortigen Zusammenkunft loszulassen, und seine Stimme klang erschüttert.

Peter Guillam setzt die Jagd auf den »Maulwurf« fort

Das Archiv des Circus war vom Haupteingang aus nicht erreich­bar. Es war in einem Labyrinth schäbiger Räume und Zwischen­stockwerken an der Rückseite des Gebäudes untergebracht, und glich eher einem der Antiquariate, die in dieser Gegend wuchern, als dem organisierten Gedächtnis eines bedeutenden Amts. Der Weg führte durch eine unauffällige Tür in der Charing Cross Road, zwischen einem Rahmengeschäft und einem Tagescafe, dessen Betreten den Mitarbeitern verboten war. An dieser Tür hing ein Schild »Stadt- und Bezirks-Sprachenschule, Lehrerein­gang«, und ein zweites »C und L Vertriebs-A.G.« Wer hinein­wollte, drückte auf den einen oder den anderen Klingelknopf und wartete auf Alwyn, einen weibischen Marinesoldaten, der nur von seinen Wochenenden sprach. Bis etwa Mittwoch sprach er vom vergangenen Wochenende, danach vom kommenden. An diesem Morgen, einem Dienstag, drückte seine Stimmung ent­rüstete Besorgnis aus.

»Also, was sagen Sie denn zu dem Unwetter?« fragte er, während er Guillam über die Theke das Buch zum Unterschreiben zu­schob. »Als wäre man in einem Leuchtturm. Den ganzen Samstag, den ganzen Sonntag. Ich sagte zu meinem Freund: > Da sind wir mitten in London, und hör dir das an. < Soll ich das für Sie verwahren?«

»Da hätten Sie erst dort sein müssen, wo ich war«, sagte Guillam und legte den braunen Segeltuchsack in Alwyns wartende Hände. »Von wegen anhören, man konnte sich kaum aufrecht halten.« Nicht übertrieben freundlich sein, ermahnte er sich. »Und trotzdem liebe ich das Land«, vertraute Alwyn ihm an und verstaute den Sack in einem der offenen Fächer hinter der Theke. »Möchten Sie eine Nummer? Ich muß Ihnen eine geben, der Delphin würde mich umbringen, wenn sie dahinterkäme.«

»Ich vertraue Ihnen«, sagte Guillam. Er ging die vier Stufen hin­auf und stieß die Schwingtüren zum Leseraum auf. Darin sah es aus wie in einem improvisierten Hörsaal: ein Dutzend Arbeits­plätze, alle in einer Richtung, und eine überhöhte Fläche, wo die Archivarin saß. Guillam setzte sich an die Rückwand. Es war noch früh - zehn nach zehn auf seiner Uhr -, und außer ihm war nur Ben Thruxton von der Forschung da, der die meiste Zeit hier zubrachte. Vor langer Zeit war Ben, als lettischer Dissident ver­kleidet, mit Aufständischen durch die Straßen Moskaus gerannt und hatte »Tod den Unterdrückern« gebrüllt. Jetzt kauerte er über seinen Schriften wie ein alter Priester, weißhaarig und schweigend.

Als Guillam an das Pult der Archivarin trat, lächelte sie. Wenn in Brixton nichts los war, verbrachte Guillam häufig einen Tag im Archiv und suchte in den alten Fällen nach einem, der sich neu anheizen ließe. Sie war Sal, ein stämmiges, sportliches Mäd­chen, Leiterin eines Jugendclubs in Chiswick und Trägerin des schwarzen Judogürtels.

»Ein paar hübsche Hälse gebrochen am Wochenende?« fragte er und nahm sich einen Packen grüner Bestellzettel. Sal händigte ihm die Notizen aus, die sie für ihn in ihrem Stahl­schrank verwahrte. »Wie immer. Und Sie?«

»Tanten in Shropshire besucht, vielen Dank.«

»Die möcht ich auch mal sehen«, sagte Sal.

Er blieb an ihrem Pult stehen und füllte die Zettel für die beiden nächsten Titel auf seiner Liste aus. Er sah zu, wie sie die Zettel stempelte, die Kontrollabschnitte abtrennte und sie durch einen Schlitz in ihrem Pult warf. »Reihe D«, murmelte sie und gab ihm die Stammzettel zurück. »Die Nummern zwei-acht sind auf halbem Weg links, die drei-acht in der nächsten Nische hinten.« Er öffnete die Tür am rückwärtigen Ende des Saals und betrat die Haupthalle. In der Mitte brachte ein alter Lift, der aussah wie ein Förderkorb, Akten ins Innere des Circus. Zwei müde Stifte pullten ihn, ein dritter betätigte die Winde. Guillam wanderte langsam an den Regalen entlang und las die fluoreszierenden Nummernschilder.

»Lacon schwört, daß er über Testify überhaupt keine Akte habe«, hatte Smiley ihm in seiner üblichen bekümmerten Art gesagt. »Nur ein paar Dokumente über Prideaux' Rückführung, sonst nichts.« Und im gleichen Leichenbitterton: »Ich fürchte dem­nach, wir müssen uns auf irgendeinem Weg beschaffen, was sich in der Registratur des Circus befindet.«

»Beschaffen« hieß in Smileys Vokabular »klauen«. Ein Mädchen stand auf einer Leiter. Karl Allitson, der Ordner, füllte einen Waschkorb mit Akten für die Funker, Astrid, der Hauswart, reparierte einen Heizkörper. Die Regale waren aus Holz, tief wie Kojen und durch Sperrholzplatten senkrecht durch­teilt. Er wußte bereits, daß die Referenznummer für Testify vier-vier-acht-zwei E war, was bedeutete, Nische vierundzwanzig, vor der er jetzt stand. E stand für extinct und wurde nur für tote Operationen verwendet. Guillam zählte bis zum achten Fach von links. Testify sollte das zweite von links sein, aber es war nicht mit Sicherheit zu sagen, denn die Rücken trugen keine Signatur. Nachdem er seine Erkundung beendet hatte, zog er die beiden Akten heraus, die er angefordert hatte, und steckte die grünen Zettel in die dafür vorgesehenen Stahlklammern. »Viel ist bestimmt nicht da«, hatte Smiley gesagt, als wäre es mit dünnen Akten einfacher. »Aber etwas muß da sein, und wäre es nur um den Schein zu wahren.« Das war auch eine Eigenschaft, die Guillam in diesem Moment nicht an ihm schätzte: er sprach, als könnte man seinem Gedankengang folgen, als wäre man die ganze Zeit mit in seinem Kopf.

Er setzte sich und tat, als läse er, dachte jedoch die ganze Zeit an Camilla. Was sollte er mit ihr anfangen? Als sie heute früh in seinen Armen lag, hatte sie ihm erzählt, sie sei einmal verheiratet gewesen. Manchmal redete sie so, als hätte sie schon zwanzig Leben gelebt. Es sei ein Fehlgriff gewesen, also hätten sie's wieder aufgesteckt.

»Was ging denn schief?«

»Nichts. Wir paßten nicht zueinander.«

Guillam glaubte ihr nicht.

»Bist du geschieden?«

»Ich nehme es an.«

»Sei nicht so verdammt albern, du mußt doch wissen, ob du ge­schieden bist oder nicht!«

Seine Eltern hätten sich darum gekümmert, sagte sie; er sei Aus­länder.

»Schickt er dir Geld?«

»Warum sollte er? Er schuldet mir nichts.«

Dann wieder die Flöte, im Gästezimmer, lange fragende Noten im Halblicht, während Guillam Kaffee machte. Ist sie eine Komö­diantin oder ein Engel? Wenn er nur ihren Namen durch die Registratur laufen lassen könnte. In einer Stunde hatte sie eine Lektion bei Sand.

Mit einem grünen Zettel für eine vier-drei-Nummer in der Hand stellte er die beiden Akten an ihre Plätze zurück und postierte sich vor der Nische neben Testify. »Abfrage negativ«, dachte er.

Das Mädchen stand noch immer auf seiner Leiter. Allitson war verschwunden, aber der Waschkorb stand noch da. Der Heiz­körper hatte Astrid bereits erschöpft, er saß daneben und las die Sun. Auf dem grünen Zettel stand vier-drei-vier-drei, und er fand die Akte sofort, weil er sie bereits früher aufgesucht hatte. Sie hatte einen rosa Umschlag, genau wie Testify. Genau wie Testify war sie ziemlich abgegriffen. Er steckte den grünen Zettel in die Klammer. Er ging wieder den Gang entlang zurück, blickte sich nochmals nach Allitson und dem Mädchen um, dann griff er nach der Akte Testify und vertauschte sie blitzschnell mit der Akte, die er in der Hand hielt.

»Das wichtigste ist meines Erachtens, Peter« - so Smiley - »daß keine Lücke bleibt. Ich schlage daher vor, daß Sie sich eine ähn­liche Akte beschaffen, ich meine, eine äußerlich ähnliche, und sie dort einstellen, wo ...«

»Kapiert«, sagte Guillam.

Guillam hielt die Akte Testify ungezwungen in der rechten Hand, Titelseite nach innen, ging in den Lesesaal zurück und setzte sich wieder an seinen Tisch. Sal hob die Brauen und maulte irgend etwas. Guillam nickte ihr zu, daß alles in Ordnung sei, da er annahm, daß sie das habe fragen wollen, aber sie winkte ihn zu sich. Ein Moment der Panik. Die Akte mitnehmen, oder liegen­lassen? Was tue ich sonst immer? Er ließ sie auf dem Tisch liegen. »Juliet geht Kaffee holen«, flüsterte Sal. »Möchten Sie welchen?« Guillam legte einen Shilling auf die Theke.

Er blickte auf die Wanduhr, dann auf seine Armbanduhr. Herr­gott, hör doch auf, dauernd auf die verdammte Uhr zu sehen! Denk an Camilla, an ihre Unterrichtsstunde, die jetzt anfängt, denk an die Tanten, bei denen du das Wochenende nicht ver­bracht hast, denk an Alwyn, der nicht in deine Tasche schaut. Denk an alles, nur nicht an die Zeit. Noch achtzehn Warteminu­ten. »Peter, wenn Sie den geringsten Vorbehalt haben, Hände weg. Das ist das allerwichtigste.« Großartig, und wie soll ich wissen, ob ich Vorbehalte habe, wenn mein Magen das reinste Bienenhaus ist und mir der Schweiß wie heimlicher Regen unterm Hemd rinnt? Noch nie, das konnte er schwören, hatte es ihn so schlimm erwischt.

Er schlug die Akte Testify auf und versuchte zu lesen. Sie war nicht ganz so dünn, aber dick war sie auch nicht. Der er­ste Abschnitt handelte von dem, was nicht enthalten war: »Anlagen 1 bis 8 bei London Station, siehe auch pfs ellis Jim, prideaux Jim, hajek Wladimir, collins Sam, habold Max . . .« noch eine ganze Fußballmannschaft außerdem. »Interessenten wenden sich an H/London Station oder CR«, was heißen sollte, Chef des Circus und seine Mütter von Amts wegen. Nicht auf deine Armbanduhr schauen, schau auf die Wanduhr und rechne dir's selber aus, du Idiot. Acht Minuten. Komisch, Akten über den eigenen Vorgänger klauen. Komisch, Jim als Vorgänger zu haben, wenn man's recht bedenkt, und seine Sekretärin, die über ihn wachte, ohne jemals seinen Namen zu erwähnen. Die einzige lebendige Spur, die Guillam, abgesehen von dem Arbeitsnamen auf den Akten, je von ihm gefunden hatte, war der verbeulte Tennisschläger, der hinter dem Safe in seinem Zimmer gequetscht war, mit dem eingebrannten J. P. im Griff. Er zeigte ihn Ellen, einem zähen alten Besen, der Cy Vanhofer zum Zittern bringen konnte wie einen Schuljungen, und sie brach in Ströme von Tränen aus, wickelte den Schläger ein und schickte ihn mit dem nächsten Aktenkarren an den Delphin, mit einem persönlichen Schreiben und der dringenden Bitte, ihn Jimmy zurückzuerstatten, »wenn irgend menschenmöglich«. Wie ist Ihr Spiel zur Zeit, Jim, mit ein paar tschechischen Kugeln im Schulterknochen? Noch immer acht Minuten.

»Also, wenn es Ihnen möglich wäre«, sagte Smiley, »ich meine, wenn es nicht zu viele Umstände macht, bringen Sie Ihren Wagen in Ihre Werkstatt. Treffen Sie die Verabredung über Ihr privates Telefon, in der Hoffnung, daß Toby zuhört...« In der Hoffnung. Heilige Perlmutter. Und all sein Liebesgeflüster mit Camilla? Noch immer acht Minuten.

Die übrige Akte schien aus Telegrammen des Foreign Office zu bestehen, aus tschechischen Zeitungsausschnitten, Zeitfunkbe­richten von Radio Prag, Auszügen einer Verfahrensregelung für die Rückführung und Rehabilitation von »verbrannten« Agenten, Aufträgen an das Schatzamt und einen post mortem Allelines, worin er Control die Schuld an dem Fiasko gab. Lieber du als ich, George.

Guillam fing an, im Geist die Entfernung von seinem Tisch zur Hintertür zu messen, wo Alwyn an der Empfangstheke döste. Er schätzte sie auf fünf Schritt und beschloß, eine taktische Zwi­schenstation zu machen. Zwei Schritt von der Tür entfernt stand eine Kartentruhe wie ein großes gelbes Klavier. Sie war mit allem möglichen Nachschlagematerial gefüllt. Generalstabskarten, alten Exemplaren von Who's Who, alten Baedekern. Er klemmte sich einen Bleistift zwischen die Zähne, nahm die Akte Testify, schlen­derte zur Truhe, suchte ein Telefonbuch von Warschau heraus und fing an, Namen auf ein Blatt Papier zu schreiben. Meine Schrift! Es schrie in ihm: meine Schrift ist ganz zittrig, sie fährt über die ganze Seite, schau dir diese Zahlen an, als wäre ich betrunken! Wieso merkt das niemand? Das Mädchen Juliet kam mit einem Tablett herein und stellte eine Tasse auf seinen Tisch. Er warf ihr eine zerstreute Kußhand zu. Er suchte ein zweites Telefonbuch heraus, von Poznan, glaubte er, und legte es neben das erste. Als Alwyn hereinkam, blickte er nicht einmal auf. »Telefon, Sir«, flüsterte Alwyn.

»Ach, Mist«, sagte Guillam, ins Telefonbuch vertieft. »Wer denn?«

»Stadtgespräch, Sir. Rauher Bursche. Ich glaube die Werkstatt wegen Ihres Wagens. Sagt, er hat schlechte Nachrichten für Sie«, sagte Alwyn hocherfreut.

Guillam hielt die Akte Testify mit beiden Händen, verglich scheinbar etwas mit dem Telefonbuch. Er wandte Sal den Rücken und spürte, wie seine Knie gegen die Hosenbeine schlotterten. Der Bleistift steckte immer noch in seinem Mund. Alwyn ging voraus und hielt ihm die Tür, und er durchschritt sie eifrig lesend: wie ein verdammtes Greenhorn, dachte er. Er wartete, daß der Blitzstrahl ihn traf, daß Sal Mordio schrie, Ben, der Superspion, plötzlich zum Leben erwachte, aber nichts geschah. Er fühlte sich viel besser: Alwyn ist mein Verbündeter, ich vertraue ihm, wir sind gegen den Delphin verschworen, ich kann rausgehen. Die Schwingtür schloß sich, er ging die drei Stufen hinunter, und da stand wieder Alwyn und hielt die Tür der Telefonkabine auf. Der untere Teil war undurchsichtig, der obere Teil verglast. Er nahm den Hörer auf und legte die Akte neben seine Füße und hörte Mendel ihm mitteilen, er brauche ein neues Getriebe, der Spaß könne bis zu hundert Pfund kosten. Das hatten sie sich für die Personalabteilung ausgedacht, oder wer immer die Aufzeich­nung lesen würde, und Guillam hielt das Gespräch ungezwungen in Gang, bis Alwyn hinter seiner Theke verschwunden war, wo er mit gerecktem Hals lauschte. Es klappt, dachte er, es klappt, ich fliege, es klappt doch. Er hörte sich sagen: »Na, schön, aber fragen Sie zuerst beim Haupthändler nach, wie lange es dauert, bis sie das verdammte Ding beschaffen können. Haben Sie die Nummer?« Und gereizt: »Bleiben Sie am Apparat.« Er öffnete die Tür einen Spalt und drückte das Mundstück fest an sein Hinterteil, damit die nächsten Worte auf keinen Fall re­gistriert werden könnten. »Alwyn, werfen Sie mir den Sack mal rüber, ja?« Alwyn brachte ihn schneidig herbei, wie der Erste-Hilfe-Mann bei einem Fußballmatch. »In Ordnung, Mister Guil­lam, Sir? Soll ich ihn für Sie aufmachen?«

»Lassen Sie ihn nur hier fallen, danke.«

Der Sack lag auf dem Boden vor der Kabine. Jetzt bückte er sich, zog den Sack herein und öffnete den Reißverschluß. In der Mitte, zwischen seinen Hemden und einer Menge Zeitungen, steckten drei blinde Ordner, einer lederfarben, einer grün, einer rosa. Er nahm den rosa Ordner und sein Notizbuch heraus und steckte dafür die Akte Testify hinein. Er zog den Verschluß zu, richtete sich auf und las Mendel eine Telefonnummer vor, übrigens die richtige. Er hängte ein, gab Alwyn den Sack und ging mit dem Blindband zurück in den Lesesaal. Allitson führte sein Stück­chen auf, erst zog er am Waschkorb, dann versuchte er es mit Schieben.

»Peter, helfen Sie uns bitte, ich bring ihn nicht vom Fleck.«

»Sekunde.«

Er holte die Akte vier-drei wieder aus dem Fach, ersetzte sie durch den Blindband, stellte sie an ihren richtigen Platz in der Nische vier-drei und zog den grünen Zettel aus der Klammer. Gott thront im Himmel, und die erste Nacht war eine Wucht. Er hätte am liebsten laut gesungen: Gott thront im Himmel, und ich kann noch immer fliegen.

Er brachte den Zettel Sal, die ihn abzeichnete und auf einen Dorn spießte. Wie immer. Später am Tag würde sie nachsehen. War die Akte an ihrem Platz, dann würde sie den grünen Zettel und auch den Abschnitt in der Schachtel vernichten, und nicht einmal die kluge Sal würde sich erinnern, daß er sich vor Nische vier-vier aufgehalten hatte. Er wollte gerade ins Archiv zurück, um dem alten Allitson zu helfen, als er plötzlich direkt in die braunen un­freundlichen Augen Toby Esterhases blickte. »Peter«, sagte Toby in seinem nicht ganz perfekten Englisch. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber wir haben eine kleine Krise, und Percy Alleline möchte Sie dringend sprechen. Können Sie jetzt kommen? Das wäre sehr freundlich.« Und an der Tür, als Alwyn sie hinausließ: »Er möchte Ihre Meinung hören«, be­merkte er mit der Beflissenheit eines kleinen, aber kommenden Mannes. »Er möchte in einer Sache Ihre Meinung einholen.« In einem verzweifelten, aber erleuchteten Moment wandte Guil­lam sich an Alwyn. »Mittags fährt ein Bus nach Brixton. Rufen Sie doch bitte bei der Transportabteilung an, und bitten Sie, daß das Ding da für mich mit hinausgenommen wird, ja?«

»Wird gemacht, Sir«, sagte Alwyn. »Wird gemacht. Vorsicht, Stufe.«

Und sprich ein Gebet für mich, dachte Guillam.

Mit Percy Alleline als Circus-Direktor arbeitet Peter Guillam am Hochseil ohne Netz

»Unsere graue Eminenz«, nannte ihn Haydon. Die Portiers nann­ten ihn Schneewittchen wegen seines Haars. Toby Esterhase kleidete sich wie ein Dressman, aber sobald er die Schultern senkte und die winzigen Fäuste ballte, wurde er eindeutig zum Boxer. Guillam ging hinter ihm durch den Korridor des vierten Stocks, sah wieder den Kaffeeautomaten, hörte wieder Lauder Stricklands Stimme verkünden, daß er nicht zu sprechen sei, und dachte: »Herrgott, wir sind wieder drunten in Bern und auf der Flucht.« Er spielte schon mit dem Gedanken, es Toby laut zuzurufen, ver­warf den Vergleich jedoch als nicht opportun. Sooft er an Toby dachte, mußte er an die Schweiz vor zehn Jahren denken, als Toby noch ein simpler Beschatter gewesen war und sich mit seiner Fähigkeit, nebenbei die Ohren zu spitzen, immer mehr einen Namen machte. Guillam war aus Nordafrika zurück und im Wartestand, und so schickte der Circus die beiden zu einem Sondereinsatz nach Bern, wo sie im Haus belgischer Waffenhändler, die mit Schweizer Hilfe ihre Waren in uner­wünschte Richtungen verschickten, Meisen kleben sollten. Sie mieteten eine Villa neben dem Zielhaus, und in der nächsten Nacht stellte Toby einen Anschluß her und sorgte dafür, daß sie über ihr eigenes Telefon die Gespräche der Schweizer abhören konnten. Guillam war Boß und Kurier, zweimal täglich lieferte er die Bänder an die Außenstelle Bern, wobei er einen geparkten Wagen als Briefkasten benutzte. Mit gleicher Leichtigkeit bestach Toby den Briefträger, der ihm die Post der Belgier vor der Zustellung zur Durchsicht überließ, und die Putzfrau, die im Salon, wo gewöhnlich die Besprechungen stattfanden, ein Mikrophon in­stallierte. Zur Ablenkung gingen sie ins Chikito, wo Toby mit den jüngsten Mädchen tanzte. Gelegentlich brachte er eine von den Kleinen mit nach Hause, aber am nächsten Morgen war sie immer verschwunden, und Toby hatte alle Fenster geöffnet, um den Geruch loszuwerden.

So lebten sie drei Monate lang, und Guillam kannte Toby nicht besser als am ersten Tag. Er wußte nicht einmal, in welchem Land er geboren war. Er war ein Snob und wußte, wo man essen und sich zeigen mußte. Er wusch seine Sachen selber, und nachts trug er ein Netz über dem Schneewittchenhaar, und an dem Tag, als die Polizei in die Villa eindrang und Guillam über die rück­wärtige Mauer springen mußte, fand er Toby im Hotel Bellevue, wo er Patisserien mampfte und dem the dansant zusah. Toby hörte sich an, was Guillam zu sagen hatte, zahlte seine Zeche, gab zuerst dem Kapellmeister ein Trinkgeld, danach Franz, dem Chef­portier, dann führte er Guillam durch ein Gewirr von Korridoren und Treppenhäusern zu der unterirdischen Garage, wo er den Fluchtwagen und die Pässe versteckt hatte. Auch dort bat er gewissenhaft um die Rechnung. »Wer es je eilig hat, aus der Schweiz herauszukommen«, dachte Guillam, »der bezahle zu­erst seine Rechnungen.« Die Korridore waren endlos, mit Spiegel­wänden und Versailles-Kandelabern, so daß Guillam nicht einem Esterhase folgte, sondern einer ganzen Prozession. Dieses Bild stand ihm jetzt wieder vor Augen, obwohl das enge hölzerne Treppenhaus zu Allelines Büros schmutziggrün ge­strichen war und nur ein verbeulter Pergamentschirm die Kande­laber ersetzte.

»Zum Chef«, verkündete Toby großspurig dem jungen Portier, der sie mit lässigem Nicken durchwinkte. Im Vorzimmer saßen an vier grauen Schreibmaschinen die vier grauen Mütter in Twin­sets und Perlen. Sie nickten Guillam zu und übersahen Toby. Ein Schild an Allelines Tür besagte »Bitte nicht stören«. Daneben ein riesiger Schranksafe, neu. Guillam fragte sich, wie der Fußboden die Belastung aushalte. Obenauf Flaschen mit afrikanischem Sherry, Gläser, Teller. Mittwoch, fiel ihm ein: Zwangloses Lunch-Meeting in London Station.

»Ich möchte keine Telefonanrufe, sagen Sie's ihnen«, schrie Alle­line, als Toby die Tür öffnete.

»Der Chef nimmt keine Anrufe entgegen, bitte, meine Damen«, sagte Toby gewählt und hielt Guillam die Tür. »Wir haben eine Besprechung.«

Eine der Mütter sagte: »Wir haben es gehört.« Es war Kriegsrat.

Alleline saß am obersten Ende des Tisches in dem geschnitzten überdimensionalen Lehnstuhl, er las ein zweiseitiges Dokument und regte sich nicht, als Guillam eintrat. Er knurrte nur: »Setzen. Neben Paul. Nach dem Salzfaß«, und las mit gesammelter Aufmerksamkeit weiter.

Der Stuhl rechts von Alleline war leer, und Guillam wußte, daß er Haydon gehörte, denn an die Lehne war eine Rückenstütze gebunden. Links von Alleline saß Roy Bland, gleichfalls lesend, aber er blickte auf, als Guillam vorbeiging, und sagte »Guck mal, Peter«, und die vorstehenden blassen Augen folgten ihm dem Tisch entlang. Neben Roy saß Mo Delaware, das weibliche Pa­radepferd von London Station, mit scharf gewelltem Haar und braunem Tweed-Kostüm. Neben ihr Phil Porteous, der Personal­chef, ein reicher serviler Mensch mit einem großen Haus am Stadtrand. Als er Guillam sah, hörte er auf zu lesen, klappte ostentativ die Akte zu, legte die schlanken Hände darauf und feixte. »Nach dem Salzfaß heißt neben Paul Skordeno«, sagte Phil und feixte noch immer. »Danke. Ich seh's.«

Nach Porteous kamen Bills Russen, die er zuletzt bei »Herren« im vierten Stock gesehen hatte, Nick de Silsky und sein Busen­freund Kaspar. Sie konnten nicht lächeln, und soviel Guillam wußte, konnten sie auch nicht lesen, denn sie hatten als einzige keine Papiere vor sich liegen. Sie saßen da, hatten die vier dicken Hände auf dem Tisch liegen, als stünde jemand mit dem Gewehr hinter ihnen, und beobachteten ihn nur mit ihren vier braunen Augen.

Noch weiter bergab saß Paul Skordeno, angeblich Roy Blands Außenagent in den Satelliten-Netzen, es hieß aber auch, er arbeite zwischendurch für Bill. Paul war dünn und mies und vierzig, hatte ein narbiges braunes Gesicht und lange Arme. Guillam hatte ihn einmal bei einem Nahkampfkurs in der Nursery zum Partner gehabt, und sie hätten einander um ein Haar umgebracht. Guillam rückte seinen Stuhl ein Stück von ihm ab und setzte sich, Toby war also der nächste in der Reihe, wie die andere Hälfte eines Bewacherteams. Was zum Teufel glauben sie, daß ich tun werde? dachte Guillam: Einen wahnwitzigen Ausbruchsversuch unternehmen? Aller Augen waren auf Alleline gerichtet, der seine Pfeife stopfte, als Bill Haydon ihm die Schau stahl. Die Tür ging auf, und zunächst kam niemand herein. Dann hörte man ein lang­sames Schlurfen, und Bill erschien, eine Kaffeetasse in beiden Händen, obenauf die Untertasse. Er trug einen gestreiften Ordner unter den Arm geklemmt, und die Brille hatte er hochgeschoben, also mußte er vorher gelesen haben. Sie alle haben es gelesen, nur ich nicht, dachte Guillam, und ich weiß nicht, worum es geht. Er fragte sich, ob es das gleiche Dokument war, das Ester­hase und Roy am Vortag gemeinsam gelesen hatten, und entschied ohne jeden Anhaltspunkt, daß dem so sei; daß es gestern gerade eingetroffen sei; daß Toby es zu Roy gebracht und daß er die beiden in ihrer ersten Begeisterung gestört habe; falls Begeisterung das rechte Wort war.

Alleline hatte noch immer nicht aufgeblickt. Vom unteren Tisch­ende konnte Guillam nur das volle schwarze Haar und ein Paar breite tweedbedeckte Schultern sehen. Mo Delaware zupfte beim Lesen an ihrer Stirnlocke. Percy hat zwei Ehefrauen, erinnerte er sich, als Camilla aufs neue durch das Gewimmel seiner Ge­danken geisterte, und beide waren Alkoholikerinnen, was gar nicht so einfach sein mußte. Er hatte nur das Londoner Exemplar kennengelernt. Percy baute damals gerade die Liga seiner Ge­treuen auf und hatte in seinem weitläufigen holzgetäfelten Apart­ment in Buckingham Palace Mansions eine Cocktailparty ge­geben. Guillam kam zu spät und legte gerade in der Diele seinen Mantel ab, als eine blasse blonde Frau schüchtern auf ihn zu­schwebte und beide Hände ausstreckte. Er hielt sie für das Mäd­chen, das ihm den Mantel abnehmen wollte. »Ich bin Joy«, sagte sie mit dramatischer Stimme, es klang wie »Ich bin die Tugend«, oder »Ich bin die Enthaltsamkeit«. Sie wollte nicht seinen Mantel, sondern einen Kuß. Als er sich ihrem Wunsch beugte, atmete er die vereinte Süße von Je reviens und einer hohen Konzentration billigen Sherrys ein.

»Ja, junger Herr Guillam«, - so Alleline - »haben Sie jetzt endlich Zeit für mich oder stehen noch weitere Erledigungen in meinem Haus an?« Er blickte halbwegs auf, und Guillam sah zwei winzige pelzige Dreiecke auf den verwitterten Wangen. »Was treiben wir denn zur Zeit draußen auf dem flachen Land?« - er blätterte um - »außer den Dorfjungfrauen nachstellen, falls es in Brixton welche geben sollte, was ich ernsthaft bezweifle, wenn Sie mir diese Frivolität verzeihen wollen, Mo, und öffentliche Gelder für opulente Mahlzeiten verschwenden?«

Dieses Anrempeln war Allelines Kommunikationsmethode. Es konnte freundschaftlich oder feindselig sein, vorwurfsvoll oder gutheißend, aber im Endeffekt war es wie der erste Tropfen auf die gleiche Stelle.

»Ein paar Arabergrüppchen sehen recht vielversprechend aus. Cy Vanhofer hat einen Draht zu einem deutschen Diplomaten. Das wär' alles.«

»Araber«, wiederholte Alleline, schob den Ordner beiseite und zog eine rustikale Pfeife aus der Tasche. »Jeder Idiot kann einen Araber umdrehen, was, Bill? Ein ganzes arabisches Kabinett für eine halbe Krone kaufen, wenn's ihm Spaß macht.« Aus einer anderen Tasche nahm Alleline einen Tabaksbeutel, den er lässig auf den Tisch warf. »Wie ich höre, sind Sie ein Herz und eine Seele mit unserem unlängst verblichenen Bruder Tarr. Wie geht's ihm heutzutage?«

Eine Unmenge Gedanken schossen Guillam durch den Kopf, während er sich antworten hörte. Daß die Beobachtung seiner Wohnung erst gestern abend aufgenommen worden war, durfte als sicher gelten. Daß er übers Wochenende frei von Kontrolle war, wenn nicht Fawn, der Babysitter, zum Verräter geworden war, was ein harter Schlag gewesen wäre. Daß Roy Bland eine auffallende Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Dylan Thomas hatte; Roy hatte ihn immer an jemanden erinnert, er war nur nie dahinter gekommen, an wen; und daß Mo Delaware nur dank ihres männlichen Pfadfinderinnen-Habitus die Bezeichnung Frau erworben hatte. Ob Dylan Thomas wohl auch Roys ungewöhnlich helle blaue Augen hatte? Daß Toby Esterhase eine Zigarette aus seinem goldenen Etui nahm und daß Alleline im allgemeinen keine Zigaretten duldete, nur Pfeifen, also mußte Toby sich im Moment recht gut mit ihm stehen. Daß Bill Haydon seltsam jung aussah und daß die Circus-Gerüchte über sein Liebesleben vielleicht doch nicht so lachhaft waren: sie behaupteten, er sei doppelseitig begabt. Daß Paul Skordeno eine braune Handfläche auf den Tisch gelegt und den Daumen leicht in die Luft gereckt hatte, als wolle er die Schlagwirkung des Handrückens vergrößern. Er dachte auch an seinen Segeltuchsack: hatte Alwyn ihn dem Bus mitgegeben? Oder war er zum Lunch weggegangen und hatte den Sack einfach in der Garderobe gelassen, wo jeder be­förderungshungrige junge Portier die Nase hineinstecken konnte? Und Guillam fragte sich, nicht zum erstenmal, wie lange Toby wohl schon um das Archiv herumgestrichen sein mochte, ehe Guillam ihn gesehen hatte.

Er wählte einen scherzenden Tonfall: »Stimmt, Chef, Tarr und ich trinken jeden Nachmittag bei Fortnum zusammen Tee.« Alleline nuckelte an der kalten Pfeife, befühlte die Tabakfüllung. »Peter Guillam«, sagte er mit wohlüberlegter Ironie. »Es ist Ihnen vielleicht entgangen, aber ich bin ein ungemein versöhnlicher Charakter. Ja, ich triefe geradezu vor Menschenfreundlichkeit. Ich will weiter nichts, als den Inhalt Ihrer Unterredung mit Tarr. Ich fordere weder seinen Kopf noch irgendeinen anderen Teil seiner verdammten Anatomie, und ich will den Impuls zügeln, ihn mit eigenen Händen zu erwürgen. Oder Sie.« Er riß ein Streichholz an und entzündete die Pfeife; eine gewaltige Flamme schlug hoch. »Ich würde mich vielleicht sogar bereitfinden, Ihnen eine goldene Kette um den Hals zu hängen und Sie aus dem ver­haßten Brixton wieder in den Palast zu holen.«

»Wenn dem so ist, kann ich es gar nicht erwarten, bis er auf­taucht«, sagte Guillam.

»Und Tarr soll freies Geleit haben, bis ich ihn zu fassen kriege.«

»Ich will's ihm sagen. Er wird begeistert sein.« Eine dicke Rauchwolke rollte über den Tisch. »Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, junger Peter, üblen Nach­reden destruktiver und heimtückischer Art das Ohr zu leihen. Ich zahle Ihnen ehrliches Geld, und Sie fallen mir in den Rücken. Meiner Ansicht nach ein erbärmlicher Dank dafür, daß ich Sie am Leben erhalte. Gegen die dringenden Vorstellungen meiner Ratgeber, wie ich Ihnen sagen möchte.«

Alleline hatte sich eine neue Manieriertheit angewöhnt, eine, die Guillam oft bei eitlen Männern mittleren Alters beobachtete: Er packte eine Fleischtasche unter dem Kinn und massierte sie zwi­schen Daumen und Finger, in der Hoffnung, sie zu verkleinern. »Erzählen Sie uns doch noch etwas über Tarrs Lebensumstände«, sagte Alleline. »Etwas über seine Gemütsverfassung. Er hat eine Tochter, nicht wahr? Ein Töchterchen namens Danny. Spricht er manchmal von ihr?«

»Früher hat er's getan.«

»Ergötzen Sie uns mit ein paar Anekdoten über sie.«

»Ich kenne keine. Er hat sie sehr gern, mehr weiß ich nicht.«

»Wahnsinnig gern?« Die Stimme schwoll plötzlich vor Zorn.

»Was soll das Achselzucken bedeuten? Wie kommen sie plötz­lich dazu, mich mit einem Achselzucken abspeisen zu wollen? Ich spreche mit Ihnen über einen Verräter aus Ihrer eigenen ver­dammten Abteilung, ich bezichtige Sie, mit ihm hinter meinem Rücken zu konspirieren, bei einem idiotischen Spielchen mit­mischen zu wollen, wenn Sie nicht einmal wissen, wie hoch der Einsatz ist, und Sie zucken einfach die Achseln. Es gibt ein Ge­setz, Peter Guillam, gegen die Zusammenarbeit mit Feindagenten. Vielleicht wußten Sie das nicht. Ich habe gute Lust, Sie unter Anklage zu stellen.«

»Aber ich war nicht mit ihm zusammen«, sagte Guillam, und jetzt kam ihm auch der Zorn zu Hilfe. »Ich bin nicht derjenige, der hier sein Spielchen spielt. Das sind Sie. Also lassen Sie mich in Frieden.«

Im gleichen Augenblick spürte er die Entspannung in der Tisch­runde, wie ein fast unmerkliches Absinken in Langeweile, wie die allgemeine Erkenntnis, daß Alleline sein Pulver verschossen hatte und das Ziel unberührt geblieben war. Skordeno fummelte an einem Stückchen Elfenbein herum, einem Talisman, den er immer bei sich trug. Hand hatte seine Lektüre wieder aufge­nommen, Bill Haydon trank seinen Kaffee und fand ihn ab­scheulich, denn er schnitt eine Grimasse zu Mo Delaware und setzte die Tasse ab. Toby Esterhase hatte das Kinn in die Hand ge­stützt, die Brauen gehoben, und starrte auf die Glut-Attrappe im victorianischen Kamin. Nur die Russen wandten auch weiterhin kein Auge von ihm, wie zwei Terrier, die nicht glauben wollten, daß die Jagd abgeblasen war.

»Er hat also mit Ihnen über Danny geplaudert, wie? Und Ihnen gesagt, daß er sie liebe«, sagte Alleline, der sich wieder den Doku­menten zugewandt hatte. »Wer ist Dannys Mutter?«

»Eine Eurasierin.«

Jetzt ergriff Haydon zum erstenmal das Wort. »Unverkennbar Eurasierin, oder könnte sie auch aus einer näher gelegenen Gegend stammen?«

»Tarr findet offenbar, sie sehe völlig europäisch aus. Die Kleine auch, findet er.«

Alleline las vor: »Zwölf Jahre alt, langes blondes Haar, braune Augen, schlank. Ist das Danny?«

»Ich würde sagen, sie könnte es sein. Hört sich so an.«

Lange Zeit herrschte Schweigen, und nicht einmal Haydon machte Miene, es zu brechen.

»Wenn ich Ihnen also sagte«, fuhr Alleline schließlich fort und wählte seine Worte mit äußerster Vorsicht, »wenn ich Ihnen sagte, daß Danny und ihre Mutter vor drei Tagen mit dem direkten Flug aus Singapur am Flughafen London hätten landen sollen, so dürfte ich annehmen, daß Sie ebenso perplex wären wie wir.«

»Ja, das wäre ich.«

»Und Sie würden darüber schweigen, nachdem Sie dieses Haus verlassen haben. Kein Wort, nicht einmal zu ihren zwölf allerbe­sten Freunden?«

Aus geringer Entfernung kam Phil Porteous' Schnurren: »Die Quelle ist strengstens geheim, Peter. Für Sie mag es sich anhören wie eine gewöhnliche Flugauskunft. Aber es ist ultra-ultra-ge-heim.«

»Aha, in diesem Fall will ich versuchen, meine Klappe ultra-geschlossen zu halten«, sagte Guillam zu Porteous, und während Porteous rot wurde, grinste Bill Haydon aufs neue wie ein Schul­junge.

Alleline kam wieder zum Thema. »Und wie würden Sie diese In­formation beurteilen? Los, Peter«, wieder der herausfordernde Ton, »los, Sie waren sein Boß, sein Führer, Philosoph und Freund, wo um Gottes willen bleibt Ihre Psychologie? Warum kommt Tarr nach England?«

»Davon haben Sie kein Wort gesagt. Sie sagten, Tarrs Frau und ihre Tochter Danny seien vor drei Tagen in London erwartet wor­den. Vielleicht will sie Verwandte besuchen. Vielleicht hat sie einen neuen Freund. Wie soll ich das wissen?«

»Stellen Sie sich doch nicht dumm, Mann. Leuchtet es Ihnen nicht ein, daß man dort, wo Danny ist, vermutlich nicht sehr weit nach Tarr zu suchen braucht? Wenn er nicht schon hier ist, was ich beinahe glauben möchte, denn im allgemeinen kommt der Mann zuerst und läßt die Troßweiber später nachkommen. Pardon, Mo Delaware, ist mir so herausgerutscht.«

Zum zweitenmal gestattete Guillam sich einen kleinen Tempera­mentsausbruch. »Bisher hat es mir nicht eingeleuchtet, nein. Bis­her war Tarr ein Überläufer. Das wurde vor sechs Monaten offi­ziell festgelegt. Stimmt's, Phil, oder nicht? Tarr saß in Moskau, und alles, was er wußte, war als verraten zu betrachten. Stimmt's,

Phil? Man nahm das auch zum Anlaß, in Brixton die Lichter zu löschen und eine Portion unserer Arbeit London Station und den Rest Tobys Aufklärern zu übertragen. Was soll Tarr jetzt eigent­lich machen - wieder zu uns überlaufen?«

»Wieder überlaufen würde eine verdammt milde Bezeichnung sein, das kann ich Ihnen nur sagen«, erwiderte Alleline, ohne von den Papieren vor ihm aufzublicken. »Hören Sie zu, hören Sie gut zu, und merken Sie sich's. Denn ich zweifle nicht, daß Sie, genau wie meine übrigen Mitarbeiter, ein Gedächtnis haben wie ein Sieb, ihr Primadonnas seid alle gleich. Danny und ihre Mutter reisen mit gefälschten britischen Pässen unter dem Namen Poole. Die Pässe sind russische Fälschungen, und Tarr hat einen dritten von der gleichen Sorte, der wohlbekannte Mister Poole. Tarr ist be­reits in England, aber wir wissen nicht, wo. Er ist vor Danny und ihrer Mutter abgereist und hat eine andere Route genommen, unseren Nachforschungen zufolge eine schwarze. Seine Frau oder Freundin oder was immer«, er sagte das, als hätte er keins von beidem, »nochmals pardon, Mo, sollte ihm eine Woche später nach­kommen, was offenbar bis heute nicht der Fall war. Diese Infor­mation erreichte uns gestern, wir haben also noch eine Menge Kleinarbeit zu leisten. Tarr wies sie an - Danny und ihre Mutter -, falls es ihm aus irgendeinem Grund nicht möglich sein sollte, mit ihnen in Verbindung zu treten, so müßten sie sich auf Gnade und Ungnade einem gewissen Peter Guillam anvertrauen. Das sind Sie, wenn ich nicht irre.«

»Wenn sie vor drei Tagen fällig gewesen wären, was ist ihnen passiert?«

»Verspätet. Flugzeug verpaßt. Pläne geändert. Flugtickets ver­loren. Wie zum Teufel soll ich das wissen?«

»Oder aber, die Information ist falsch«, schlug Guillam vor. »Das ist sie nicht«, schnappte Alleline. Wut, Irreführung, Guillam klammerte sich an beide. »Na schön. Die Russen haben Tarr umgedreht. Sie haben seine Angehörigen herübergeschickt - Gott weiß, warum, ich hätte ge­dacht, sie legen sie auf Eis - und ihn dazu. Was ist daran so heiß? Was für eine Funktion kann er haben, wenn wir kein Wort von dem glauben, was er sagt?«

Dieses Mal, stellte er mit Erheiterung fest, beobachteten die Zu­hörer Alleline, der, so schien es Guillam, schwankte zwischen einer vernünftigen, aber indiskreten Antwort und einer, mit der er sich lächerlich machen würde.

»Egal, welche Funktion! Verwirrung stiften, Brunnen vergiften vielleicht. Etwas in dieser Art. Uns ein Bein stellen, kurz ehe wir durch's Ziel sind.« Seine Rundschreiben klingen genauso, dachte Guillam. Eine Metapher jagt die andere. »Aber merken Sie sich eins: Beim ersten Zeichen, noch vor dem ersten Anzeichen, beim ersten Pieps von ihm oder seiner Dame oder seinem Töchterlein, junger Peter Guillam, kommen Sie zu einem von uns Erwachse­nen. Zu irgendeinem, den Sie hier am Tisch sehen. Aber sonst zu keinem Menschen. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren. Weil es nämlich in diesem Laden mehr Kompetenzenüberschneidungen gibt, als Sie wissen können oder dürfen . . .« Plötzlich kam Bewegung in die Szene. Bland hatte die Hände in die Tasche gerammt, latschte durchs Zimmer und lehnte sich an die rückwärtige Tür. Alleline hatte die Pfeife frisch angezündet und löschte das Streichholz mit ausholender Armbewegung, wäh­rend er Guillam durch den Rauch finster anblickte. »Wem machen Sie zur Zeit den Hof, Peter, wer ist die Glückliche?« Porteous ließ ein Blatt Papier den Tisch entlangschlittern, das Peter unter­schreiben sollte. »Für Sie, Peter, bitte.« Paul Skordeno flüsterte seinem russischen Nachbarn etwas ins Ohr, und Esterhase stand unter der Tür und erteilte den Müttern unliebsame Anweisungen. Nur Mo Delawares schlichte braune Augen blieben unverwandt auf Guillam gerichtet.

»Lesen Sie es bitte vorher«, riet Porteous ölig. Guillam war be­reits halbwegs damit durch.

»Ich bestätige hiermit, daß ich heute vom Inhalt des Witchcraft-Report Nr. 1308, Quelle Merlin, in Kenntnis gesetzt wurde«, lautete der erste Absatz. »Ich verpflichte mich, über keinen Teil dieses Berichts zu anderen Mitgliedern der Dienststelle zu spre­chen oder die Existenz der Quelle Merlin zu erwähnen. Ich ver­pflichte mich ferner, alles zur Meldung zu bringen, was mir an möglicherweise mit diesem Material in Zusammenhang Stehendem zur Kenntnis gelangt.«

Die Tür war offengeblieben, und als Guillam unterschrieb, mar­schierte die zweite Garnitur von London Station auf, angeführt von den Müttern mit Tabletts voll Sandwiches. Diana Dolphin, Lauder Strickland, aufgeblasen bis zum Platzen, die Mädchen von der Verteilung, und ein sauertöpfisches altes Schlachtroß namens Haggard, Ben Thruxtons Vorgesetzter. Guillam ging langsam hinaus und zählte dabei die Häupter, denn er wußte, daß Smiley würde wissen wollen, wer dagewesen war. An der Tür gesellte sich zu seiner Überraschung Haydon zu ihm, der anscheinend zu dem Schluß gekommen war, daß die nun folgenden Festlich­keiten nichts für ihn seien.

»Ein Affentanz«, bemerkte Bill und winkte den Müttern salopp zu. »Percy wird von Tag zu Tag unerträglicher.«

»Scheint wirklich so«, sagte Guillam herzlich.

»Was macht eigentlich Smiley? Sehen Sie ihn öfter? Sie waren doch ziemlich mit ihm befreundet, oder?«

Guillams Welt, die bis zu diesem Moment wieder zu einer halb­wegs normalen Drehzahl zurückzukehren schien, erhielt einen heftigen Stoß. »Bedauere«, sagte er, »er ist gesperrt.«

»Machen Sie mir doch nicht weis, daß Sie ein Wort von diesem Unsinn glauben«, schnaubte Bill. Sie waren an der Treppe ange­langt. Haydon ging voran.

»Und Sie?« rief Guillam hinter ihm her. »Sehen Sie ihn Öfter?«

»Und Ann ist ihm ausgerückt«, sagte Bill und überhörte die Frage. »Abgehauen mit einem Matrosen oder Kellner oder dergleichen.« Die Tür zu seinem Büro stand weit auf, der Schreibtisch war mit Geheimakten übersät. »Stimmt das?«

»Das wußte ich nicht«, sagte Guillam. »Armer alter George.«

»Kaffee?«

»Ich glaube, ich muß gehen, vielen Dank.«

»Zum Tee mit Bruder Tarr?«

»Genau. Bei Fortnum. Wiedersehen.«

Im Archivtrakt war Alwyn wieder auf seinem Posten. »Sack schwimmt schon, Sir«, sagte er munter. »Sollte jetzt sogar schon in Brixton sein.«

»Mist!« sagte Guillam und schoß damit seine letzte Patrone ab. »Es war was drin, was ich gebraucht hätte.«

Eine empörende Erkenntnis überfiel ihn: sie schien so klar und so schrecklich naheliegend, daß er sich nur wundern konnte, wie­so er erst jetzt darauf kam. Sand war Camillas Ehemann. Sie führte ein Doppelleben. Nun sah er lauter Hinterlist und Betrug vor sich. Seine Freunde, seine Geliebten, selbst der Circus taten sich zu­sammen und bildeten neue endlose Formen der Intrige. Ein Satz von Mendel fiel ihm wieder ein, den dieser vorgestern abend bei einigen Glas Bier in einem düsteren Vorstadt-Pub von sich ge geben hatte:

»Kopf hoch, Peter. Jesus Christus hatte nur zwölf, wie du weißt, und einer von ihnen war ein Verräter.« Tarr, dachte er. Dieses Schwein Ricki Tarr.

Peter Guillam und George Smiley suchen einen alten Bekannten auf und Babysitter Fawn greift taktvoll in die Unterhaltung ein

Der Schlafraum war lang und niedrig, ein ehemaliges Dienstboten­zimmer im Dachgeschoß. Guillam stand an der Tür, Tarr saß be­wegungslos auf dem Bett, den Kopf an die schräge Decke zurück­gelehnt, die Hände mit gespreizten Fingern neben dem Körper. Über ihm war ein Dachfenster, und Guillam konnte von seinem Standort aus lange Strecken schwarzen Suffolk-Lands sehen und eine Reihe schwarzer Bäume, die sich vor dem Himmel abhob. Die einzige Glühbirne hing in einem schwarzeichenen Leuchter von der Decke, sie warf seltsam geometrische Muster auf die Ge­sichter, und wenn einer von ihnen sich bewegte, Tarr auf dem Bett oder Smiley auf dem hölzernen Küchenstuhl, so schienen sie durch ihre Bewegung das Licht ein Stück weit mitzunehmen, ehe es wie­der zur Ruhe kam.

Hätte Guillam Tarr für sich allein gehabt, so wäre er bestimmt rauh mit ihm umgesprungen. Seine Nerven waren in Hochspan­nung, auf der Herfahrt hatte er hundertvierzig erreicht und Smi­ley mußte ihn scharf zur Ordnung rufen. Hätte er Tarr für sich allein gehabt, er hätte die Wahrheit aus ihm herausgeprügelt und notfalls Fawn als Verstärkung geholt; am Steuer hatte er klar vor Augen gehabt, wie er die Tür des Hauses, wo Tarr sich aufhielt, öffnen und ihm zunächst ein paar kräftige Ohrfeigen versetzen würde, mit herzlichen Grüßen von Camilla und ihrem Ex-Gatten, dem trefflichen Doktor des Flötenspiels. Und vielleicht hatte Smiley in der gemeinsamen Spannung dieser Reise auf telepathi­schem Weg das gleiche Bild empfangen, denn das wenige, was er sagte, war deutlich dazu bestimmt, Guillam zu beschwichtigen. »Tarr hat uns nicht belogen, Peter. Nicht mit Worten. Er hat nur getan, was sämtliche Agenten auf der ganzen Welt tun; er hat uns nicht die ganze Geschichte erzählt. Andererseits ist er ganz ge­schickt gewesen.« Er war weit entfernt von Guillams übler Laune, ja, er schien sogar seltsam zuversichtlich; seine Gelöstheit ging so weit, daß er sich erlaubte, ein Bonmot von Steed-Asprey über die Kunst des Doppelspiels zu zitieren; irgend so etwas wie, daß man nicht nach Perfektion streben solle, sondern nach Vorteilen, was Guillam wiederum auf Camilla brachte. »Karla hat Uns in den inneren Kreis reingelassen«, verkündete Smiley, und Guillam machte einen schlechten Witz über den Kreisverkehr. Danach be­schränkte sich Smiley darauf, Anweisungen zu geben und den Außenspiegel im Auge zu behalten. Sie hatten sich am Crystal Palace getroffen, wo Mendel sie mit einem Lieferwagen abgeholt hatte. Sie fuhren nach Barnsbury, direkt in eine Karosseriewerk­statt am Ende einer Kopfsteingasse, in der es von Kindern wim­melte. Dort wurden sie mit gebändigtem Entzücken von einem alten Deutschen und dessen Sohn begrüßt, die dem Lieferwagen die Nummernschilder abgenommen hatten, fast noch ehe sie aus­gestiegen waren, und sie zu einem hochfrisierten Vauxhall führten, der bereits zu- Ausfahrt durch die rückwärtige Tür bereitstand. Mendel blieb zurück, und mit ihm die Testify-Akte, die Guillam in seinem Reisesack aus Brixton mitgebracht hatte; Smiley sagte: »Zur A 2«. Es herrschte wenig Verkehr, aber kurz vor Colchester gerieten sie hinter eine Schlange von Lastwagen, und Smiley mußte Guillam befehlen, sich einzureihen. Einmal trafen sie einen alten Mann, der mit dreißig auf dem Überholstreifen fuhr. Als sie ihn auf der falschen Seite überholten, riß er das Steuer jäh zu ihnen herum, er war betrunken oder krank oder einfach erschrocken. Und einmal stießen sie unversehens auf eine Nebelwand, sie mußte vom Himmel herabgefallen sein. Guillam fuhr mitten hindurch, wegen der Vereisung wagte er nicht zu bremsen. Hinter Colche­ster wählten sie Nebenstraßen.

Auf den Ortsschildern standen Namen wie Little Horkesley, Wormingford und Bures Green, dann hörten die Ortsschilder auf, und Guillam hatte das Gefühl, nirgendwo zu sein. »Jetzt links und am Pförtnerhaus nochmals nach links. Fahren Sie, soweit es geht, aber parken Sie nicht am Gitter.« Sie kamen zu einer Art Weiler, aber man sah keine Lichter, keine Leute, keinen Mond. Als sie ausstiegen, fiel die Kälte sie an, und Guillam roch einen Kricketplatz und Holzrauch und Weihnach­ten, alles zugleich; er glaubte, niemals an einem so ruhigen oder so kalten oder so abgelegenen Ort gewesen zu sein. Ein Kirchturm ragte vor ihnen auf, auf einer Seite lief ein weißer Zaun entlang, und oben auf dem Hügel stand ein Gebäude, das er für das Pfarr­haus hielt, ein niedriges, unregelmäßig angelegtes Haus, teilweise mit Stroh gedeckt, er konnte den Giebelrand gegen den Himmel ausmachen. Fawn erwartete sie: sobald sie standen, kam er zum Wagen und kletterte schweigend in den Rücksitz. »Mit Ricki geht's heute vie l besser, Sir«, meldete er. Er hatte offen­sichtlich in den letzten Tagen regelmäßig an Smiley Meldung ge­macht. Er war ein ausgeglichener, stiller Junge voller Diensteifer, aber die übrige Brixton-Meute schien ihn zu fürchten, Guillam wußte nicht, warum. »Nicht so nervös, entspannter würde ich sagen. Hat am Vormittag seine Partie Billard gespielt, spielt gern Billard , der Ricki, nachmittags haben wir für Miss Ailsa Tannen ausgegraben, damit sie sie zum Markt fahren konnte. Am Abend haben wir ein Kartenspielchen gemacht, und dann ging's früh zu Bett.«

»Ist er allein fortgewesen?« fragte Smiley. »Nein, Sir.«

»Hat er das Telefon benutzt?«

»Um Gottes willen, nein, Sir, nicht solange ich in der Nähe bin, und bestimmt auch nicht, solange Miss Ailsa da ist.« Ihr Atem hatte die Wagenfenster beschlagen, aber Smiley wollte nicht, daß der Motor lief, und daher arbeiteten auch Heizung und Entlüftung nicht.

»Hat er von seiner Tochter Danny gesprochen?«

»Am Wochenende die ganze Zeit. Jetzt hat sich's ein bißchen ge­legt. Ich meine, er hat sich die beiden sozusagen aus dem Gemüt geschlagen.«

»Er hat nicht davon gesprochen, sie wiederzusehen?«

»Nein, Sir.«

»Nichts über Vorbereitungen zu einem Treffen, wenn diese Ge­schichte hier vorüber ist?«

»Nein, Sir.«

»Oder daß er die beiden nach England holen will?«

»Nein, Sir.«

»Und daß er ihnen Papiere verschaffen will?«

»Nein, Sir.«

Guillam fiel gereizt ein: »Worüber hat er also gesprochen, Herr­gott noch mal?«

»Über die russische Dame, Sir. Irina. Er liest gern in ihrem Tage­buch. Er sagt, wenn der Maulwurf geschnappt wird, läßt er ihn vom Circus gegen Irina eintauschen. Dann verschaffen wir ihr ein hübsches Plätzchen, Sir, wie es Miss Ailsa hat, aber droben in Schottland, wo es noch hübscher ist. Er sagt, mich wird er auch nicht vergessen. Gibt mir einen feinen Job im Circus. Er redet mir zu, ich soll eine Fremdsprache lernen, dann hab' ich mehr Möglichkeiten.«

Der gleichmäßigen Stimme von hinten, aus dem Dunkeln, war nicht anzuhören, was Fawn von diesem Rat hielt. »Wo ist er jetzt?«

»Im Bett, Sir.«

»Schließen Sie die Türen leise.«

Ailsa Brimley wartete in der Vorhalle auf sie: eine grauhaarige Sechzigerin mit festem, gescheitem Gesicht. Sie war früher beim Circus, hatte Smiley gesagt, eine von Lord Landsburys Codiere­rinnen während des Krieges, jetzt im Ruhestand, aber noch immer großartig. Sie trug ein adrettes braunes Kostüm. Sie schüttelte Guillam die Hand, sagte »Angenehm«, verriegelte die Tür, und als er wieder nach ihr schaute, war sie verschwunden. Smiley ging die Treppe hinauf voran. Fawn sollte auf dem unteren Absatz war­ten, falls er gebraucht würde.

»Ich bin's, Smiley«, sagte er und klopfte an Tarrs Tür. »Ich möchte ein bißchen mit Ihnen plaudern.«

Tarr öffnete sofort. Er mußte sie kommen gehört und hinter der Tür gewartet haben. Er öffnete sie mit der linken Hand, in der rechten hielt er den Revolver, und er blickte an Smiley vorbei in den Korridor.

»Ist nur Guillam«, sagte Smiley. »Eben,« sagte Tarr. »Babies können beißen.« Sie traten ein. Er trug Trainingshosen und eine Art billigen ma­laiischen Überwurf. Kreuzwortkarten lagen über den ganzen Fuß­boden verstreut, in der Luft hing der Geruch nach einem Curry-­Gericht, das er sich auf einem Kocher zubereitet hatte. »Tut mir leid, Sie zu belästigen«, sagte Smiley mit einer Miene aufrichtigen Bedauerns. »Aber ich muß Sie nochmals fragen, was Sie mit die­sen Schweizer Notpässen angefangen haben, die Sie nach Hong­kong mitkriegten.«

»Warum?« sagte Tarr schließlich.

Seine flotte Art war dahin. Das Gesicht zeigte Gefängnisblässe, er hatte abgenommen, und während er auf dem Bett saß, den Re­volver auf dem Kissen neben sich, forschten seine Augen fieber­haft in den Zügen der beiden Männer, sein Mißtrauen war gren­zenlos.

Smiley sagte: »Hören Sie zu. Ich möchte Ihre Geschichte gern glauben. Nach wie vor. Sobald wir das wissen, respektieren wir Ihr Privatleben. Aber wir müssen es wissen. Es ist ungemein wich­tig. Ihre ganze Zukunft steht und fällt damit.« Und noch eine ganze Menge außerdem, dachte Guillam und beobachtete schweigend; ein ganzes Bündel labyrinthischer Berechnungen hing an einem Faden, wenn Guillam Smiley überhaupt kannte.

»Ich hab' schon gesagt, ich verbrannte sie. Die Nummern störten mich. Ich schätzte, daß sie aufgeflogen waren. Hätte mir genauso­gut ein Schild um den Hals hängen können: >Tarr, Ricki Tarr, steckbrieflich gesucht<, wie diese Pässe benutzen.« Smileys Fragen kamen furchtbar langsam. Selbst Guillam konnte sie in der tiefen Stille der Nacht kaum noch erwarten. »Womit verbrannten Sie die Pässe?«

»Das dürfte doch wohl egal sein?«

Aber Smiley schien keine Lust zu haben, die Gründe für seine Fragen zu erläutern, er ließ einfach das Schweigen seine Wirkung tun und war offenbar überzeugt, daß sie nicht ausbleiben werde. Guillam hatte ganze Verhöre so führen sehen: ein ausgeklügelter Katechismus, unter vielen Schichten von Routinefragen versteckt, ermüdende Pausen, während jede Antwort in Langschrift fest­gehalten wurde und das Hirn des Verdächtigen sich bei der einzi­gen Frage des Inquisitors mit tausend weiteren quälte, und von Tag zu Tag vermochte er weniger an seiner Geschichte festzuhal­ten.

»Als Sie Ihren britischen Paß auf den Namen Poole kauften«,

fragte Smiley nach einem weiteren Jahrhundert, »haben Sie da noch mehr Pässe von der gleichen Quelle gekauft?«

»Warum sollte ich?«

Aber Smiley geruhte nicht zu antworten.

»Warum sollte ich?« wiederholte Tarr. »Ich bin schließlich kein Sammler, Hergott noch mal, ich wollte bloß raus von dort unten.«

»Und Ihr Kind schützen«, warf Smiley mit verständnisvollem Lächeln ein. »Und auch dessen Mutter, wenn irgend möglich. Be­stimmt haben Sie sich den Kopf zerbrochen, wie Sie's anstellen könnten«, sagte er in anerkennendem Ton. »Schließlich konnten Sie die beiden nicht gut diesem jagdeifrigen Franzosen ausliefern, wie?«

Smiley wartete und schien inzwischen die Karten zu betrachten, las die Wörter in der Senkrechten und in der Waagrechten. Sie waren nichts Besonderes: irgendwelche zufälligen Wörter. Eines war falsch geschrieben, wie Guillam feststellte. Was tut er bloß die ganze Zeit dort droben, fragte sich Guillam, in dieser stinken­den Wanzenburg von Hotel? Welchen verstohlenen Spuren ist er im Geist nachgeschlichen, zwischen Ketchup-Flaschen und Hand­lungsreisenden eingesperrt?

»Na schön«, sagte Tarr mürrisch, »ich habe also Pässe für Danny und ihre Mutter gekriegt. Mrs. Poole, Miss Danny Poole. Und was tun wir jetzt: uns weinend an den Busen sinken?« Wieder wurde das Schweigen zum Ankläger. »Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?« fragte Smiley im Tonfall eines enttäuschten Vaters. »Wir sind keine Unmenschen. Wir wollen die beiden nicht ins Unglück stürzen. Warum haben Sie es uns nicht gesagt? Vielleicht hätten wir Ihnen sogar helfen können«, und wandte sich wieder der Betrachtung der Karten zu. Tarr mußte mehrere Päckchen benutzt haben, sie lagen in Mengen auf dem Kokosteppich. »Warum haben Sie es uns nicht gesagt?« wiederholte er. »Es ist kein Verbrechen, für die Menschen zu sor­gen, die man liebt.«

Wenn sie einen lassen, überlegte Guillam und dachte dabei an Camilla.

Um Tarr die Antwort zu erleichtern, machte Smiley selber ein paar hilfreiche Vorschläge. »Vielleicht, weil Sie in die Spesenkasse gegriffen haben, um diese britischen Pässe zu bezahlen? Haben Sie es uns deshalb nicht sagen wollen? Du lieber Gott, kein Mensch schert sich hier um Geld. Sie haben uns wertvolle Infor­mationen geliefert. Warum sollten wir um ein paar tausend Dollar markten?« Und die Zeit tröpfelte weiter, und niemand nutzte sie. »Oder vielleicht«, schlug Smiley vor, »weil Sie sich geschämt ha­ben?«

Guillam straffte sich, seine eigenen Probleme waren vergessen. »Ich meine, Sie haben sich vielleicht ganz einfach geschämt. Es war schließlich nicht sehr ritterlich, Danny und ihre Mutter mit un­gültigen Pässen diesem sogenannten Franzosen auszuliefern, der so eifrig hinter Mr. Poole her war? Während Sie selber sich davon­machten und als VIP reisten? Ein gräßlicher Gedanke«, bestätigte Smiley, als hätte Tarr, nicht er, diese Erklärung vorgebracht.

»Gräßlich, wenn man sich vorstellt, wie weit Karla gehen würde, um sich Ihres Schweigens zu versichern. Oder Ihrer Dienste.« Der Schweiß auf Tarrs Gesicht wurde plötzlich unerträglich. El war einfach zu viel, es sah aus wie Ströme von Tränen. Die Kar­ten interessierten Smiley jetzt nicht mehr, sein Auge ruhte auf einem anderen Zeitvertreib. Es war ein Spielzeug, bestehend aus zwei Stahlstäben, wie die Griffe einer Zange. Der Trick bestand darin, daß man eine Stahlkugel zwischen ihnen entlangrollen ließ. Je weiter die Kugel rollte, um so mehr Punkte bekam man, wenn die Kugel in ein Loch darunter fiel.

»Ein weiterer Grund, warum Sie es uns nicht erzählen wollten, war wohl der, daß Sie sie verbrannt haben. Ich meine, Sie ver­brannten die britischen Pässe, nicht die schweizerischen.« Sieh dich vor, George, dachte Guillam und schob sich behutsam einen Schritt näher heran, um den freien Raum zwischen ihnen zu verkleinern. Sieh dich bloß vor.

»Sie wußten, daß Poole aufgeflogen war, also verbrannten Sie die Poole-Pässe, die Sie für Danny und ihre Mutter gekauft hatten. Ihren eigenen aber behielten Sie, weil Ihnen nichts anderes übrig­blieb. Dann buchten Sie die Reise für die beiden auf den Namen Poole, um jedermann zu überzeugen, daß Sie die Poole-Pässe noch immer für verwendbar hielten. Mit jedermann meine ich Karlas Observanten, ja? Sie haben die Schweizer Notpässe aufgetakelt, einen für Danny, einen für ihre Mutter, im Vertrauen darauf, daß die Nummern nicht nachgeprüft würden, und machten dann eine zweite Reservierung, diesesmal nicht in aller Öffentlichkeit. Eine Reservierung für einen früheren Zeitpunkt als die der Damen Poole. Wie war's damit? Die beiden würden in Ostasien bleiben, aber an einem anderen Ort, zum Beispiel in Djakarta: irgendwo, wo Sie Freunde haben.«

Sogar von seinem neuen Standplatz aus brauchte Guillam zu lange. Tarrs Hände schlossen sich um Smileys Kehle, der Stuhl kippte um, und Tarr stürzte ebenfalls. Aus dem Haufen suchte Guillam sich Tarrs Arm heraus und verdrehte ihn auf dem Rücken, wobei er ihn beinah gebrochen hätte. Aus dem Nichts erschien Fawn, nahm die Pistole vom Kopfkissen und ging wieder zu Tarr, als wolle er ihm helfen. Dann zog Smiley seinen Anzug zurecht, und Tarr saß wieder auf dem Bett und betupfte sich den Mund mit einem Taschentuch.

Smiley sagte: »Ich weiß nicht, wo sie sind. Soviel ich weiß, ist ihnen nichts geschehen. Sie glauben mir doch, nicht?« Tarr starrte ihn an und wartete. Seine Augen waren weiß und voll Zorn, aber über Smiley hatte sich eine An Ruhe gesenkt, und Guillam vermutete, daß er die erhoffte Bestätigung erhalten hatte. »Sie sollten sich verdammt noch mal lieber um Ihre eigene Frau kümmern und meine in Ruhe lassen«, flüsterte Tarr hinter vor­gehaltener Hand. Mit einem Aufschrei stürzte Guillam auf ihn zu, aber Smiley hielt ihn zurück.

»Solange Sie nicht versuchen, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen«, fuhr Smiley fort, »ist es wahrscheinlich besser, wenn ich es nicht weiß. Es sei denn, Sie möchten, daß ich irgend etwas für sie tue. Geld oder Schutz oder irgendeine Hilfe?« Tarr schüttelte den Kopf. Er hatte Blut im Mund, eine ganze Menge, und Guillam war klar, daß Fawn in geschlagen haben mußte, aber er hatte es nicht gesehen.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte Smiley. »Eine Woche vielleicht. Weniger, wenn ich es machen kann. Versuchen Sie, nicht dauernd dran zu denken.«

Als sie dann gingen, grinste Tarr wieder, woraus Guillam schloß, daß der Besuch oder sein Ausfall gegen Smiley oder der Schlag ins Gesicht ihm gutgetan hatten.

»Diese Fußball-Tippscheine«, sagte Smiley gelassen zu Fawn, als sie ins Auto kletterten: »Sie geben sie doch nicht zur Post, oder?«

»Nein, Sir.«

»Wir können nur hoffen und beten, daß er keinen Treffer hat«, be­merkte Smiley in einer höchst ungewöhnlichen Anwandlung von Scherzhaftigkeit, und alles lachte.

Das Gedächtnis spielt einem erschöpften, überladenen Gehirn seltsame Streiche. Während Guillam fuhr und ein Teil seines be­wußten Denkens auf die Straße gerichtet war und der andere sich mit zunehmend abstruseren Vermutungen über Camilla herum­schlug, zogen Bilder aus diesem und anderen langen Tagen unkon­trolliert durch seinen Kopf. Tage schieren Entsetzens in Marokko, als seine Agenten einer um den anderen ausfielen, und er bei jedem Schritt, der auf der Treppe hörbar wurde, ans Fenster stürzte und auf die Straße spähte; müßige Tage in Brixton, als er diese arm­selige Welt draußen vorbeigleiten sah und sich fragte, wann er wohl wieder zu ihr gehören werde. Und plötzlich lag der schrift­liche Bericht wieder vor ihm auf dem Schreibtisch: auf Blaupause abgezogen, weil er überspielt worden war, Quelle unbekannt und wahrscheinlich unzuverlässig, und jedes Wort stand in fußhohen Lettern vor ihm:

Nach Aussage eines kürzlich aus Lubianka entlasse­nen Gefangenen hat die Zentrale Moskau im ver­gangenen Juli im Hinrichtungsblock eine geheime Exekution durchgeführt. Die Opfer waren drei ihrer eigenen Funktionäre. Eines war eine Frau. Alle drei wurden durch Genickschuß liquidiert. »Er trug den Stempel >international<«, sagte Guillam dumpf. Sie hatten auf einem Platz neben dem Rasthaus geparkt, das mit bunten Glühbirnen behängt war. »Irgendwer von London Station hatte daraufgekritzelt: Kann jemand die Toten identifizieren?« Im farbenfrohen Schein der Lichter sah Guillam, wie Smileys Ge­sicht sich vor Abscheu verzog.

»Ja«, bestätigte er schließlich. »Ja, die Frau war natürlich Irina, nicht wahr? Der eine war Iwlow und der andere war Boris, ihr Mann, nehme ich an.« Seine Stimme war ganz sachlich geblieben. »Tarr darf es nicht erfahren«, fuhr er energischer fort, als schüt­telte er seine Müdigkeit ab. »Es ist wichtig, daß er nichts davon ahnt. Gott weiß, was er tun oder nicht tun würde, wenn er wüßte, daß Irina tot ist.« Eine Weile blieben beide regungslos sitzen, viel­leicht fehlte beiden, wenn auch aus verschiedenen Gründen, die Kraft oder der Mut.

»Ich sollte telefonieren«, sagte Smiley, machte aber keinerlei Ver­such, auszusteigen. »George?«

»Ich muß telefonieren«, murmelte er. »An Lacon.«

»Dann telefonieren Sie doch.« Guillam langte über ihn hinweg und öffnete die Tür.

Smiley kletterte aus dem Wagen, marschierte ein Stück über den geteerten Platz, dann schien er es sich anders überlegt zu haben und kam zurück.

»Kommen Sie, wir essen etwas«, rief er im gleichen zerstreuten Tonfall durchs Fenster. »Ich glaube, nicht einmal Tobys Leute würden uns hierher folgen.«

Es war früher ein Restaurant gewesen und jetzt ein Fernfahrer-

Cafe mit Resten vergangener Pracht. Die Speisekarte war in rotes Leder gebunden und voller Fettflecke. Der Junge, der sie brachte, schlief beinahe.

»Coq au vin soll angeblich eine sichere Sache sein«, sagte Smiley voll Galgenhumor, als er aus der Telefonzelle in der Ecke zurück­kam. Und mit ruhigerer Stimme, die nicht weit trug und kein Echo auslöste: »Sagen Sie, wieviel wissen Sie über Karla?«

»Ungefähr soviel, wie ich über Witchcraft und die Quelle Merlin und all das weiß, was sonst noch auf dem Papier stand, das ich für Porteous unterzeichnet habe.«

»Aha, das ist zufällig eine ausgezeichnete Antwort. Sie war ver­mutlich als Vorwurf gedacht, aber zufällig war die Analogie äu­ßerst treffend.« Der Junge erschien wieder, er schwang eine Fla­sche Burgunder wie eine Gymnastikkeule. »Lassen Sie sie bitte ein bißchen zu Atem kommen.« Der Junge starrte Smiley an wie einen Irren. »Machen Sie sie auf, und lassen Sie sie auf dem Tisch stehen«, sagte Guillam kurz.

Smiley erzählte nicht die ganze Geschichte. Später stellte Guil­lam verschiedene Lücken fest. Aber es genügte, um seine Lebens­geister aus den Niederungen zu befreien, in denen sie sich ver­fangen hatten.

Bei karger Kost berichtet George Smiley von seinem Versuch, Mr. Gerstmann das Leben zu retten

»Es gehört zum Beruf der Agentenführer, daß sie sich selber in Legenden verwandeln«, begann Smiley, fast als hielte er einen Vor­trag vor Kursteilnehmern in der Nursery. »Sie tun dies zunächst, um ihre Agenten zu beeindrucken. Später probieren sie es bei ihren Kollegen und machen sich damit, nach meiner persönlichen Erfahrung, nur lächerlich. Manche gehen sogar so weit, daß sie es selber glauben. Das sind die Scharlatane, man muß sie so schnell wie möglich abstoßen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Dennoch, Legenden wurden geschaffen, und eine von ihnen war Karla. Sogar sein Alter war ein Geheimnis. Höchstwahrscheinlich war Karla nicht sein richtiger Name. Jahrzehnte seines Lebens lagen völlig im dunkeln und würden es wohl auch immer bleiben, denn die Leute, mit denen er arbeitete, hatten die Eigen­heit, plötzlich zu sterben oder wie Gräber zu schweigen. »Es heißt, sein Vater sei in der Ochrana gewesen und später in der Tscheka aufgetaucht. Das mag stimmen, aber ich glaube es nicht. Andere Quellen wollen wissen, daß er als Küchenjunge in einem Panzerzug gegen die japanischen Besatzungstruppen im Osten gearbeitet habe. Angeblich hat er seine Technik von Berg gelernt - soll genau gesagt sein Lieblingsjünger gewesen sein -, was ungefähr so ist, als studierte ein junger Musiker bei.. ach, nehmen Sie irgendeinen großen Komponisten. Für mich begann seine Karriere im Jahr sechsunddreißig in Spanien, denn dafür haben wir Beweise. Er trat damals als weißrussischer Journalist bei den Franco-Leuten auf und rekrutierte eine Mannschaft deut­scher Agenten. Es war eine höchst schwierige Operation und be­merkenswert für einen so jungen Mann. Dann begegnen wir ihm wieder bei der sowjetischen Gegenoffensive auf Smolensk im Herbst einundvierzig, als Abwehroffizier unter Konew. Er hatte die Aufgabe, Partisanennetze hinter den deutschen Linien zu füh­ren. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er, daß sein Funker umge­dreht worden war und Botschaften an den Feind funkte. Er drehte ihn wieder zurück und veranstaltete von da an ein Funkfeuer­werk, das ein heilloses Durcheinander stiftete.«

Auch dies sei ein Teil der Legende, sagte Smiley: Es sei Karlas Verdienst gewesen, daß die Deutschen bei Yelnia ihre eigene Front unter Beschuß nahmen.

»Und zwischen diesen beiden Auftritten«, fuhr er fort, »also zwi­schen sechsunddreißig und zweiundvierzig, besuchte Karla Eng­land, wir nehmen an, für ein halbes Jahr. Aber noch heute wissen wir nicht - das heißt, weiß ich nicht -, unter welchem Namen und welcher Tarnung. Was nicht heißen muß, daß Gerald es nicht weiß. Aber Gerald wird es uns kaum erzählen, jedenfalls nicht ab­sichtlich.«

Smiley hatte noch nie so mit Guillam gesprochen. Er hielt nichts von Vertraulichkeiten oder langen Vorträgen; Guillam kannte ihn als einen bei aller Eitelkeit sehr schüchternen Menschen, der sich wenig von einem Meinungsaustausch versprach. »'48 wurde Karla, der seinem Land stets loyal gedient hatte, ns Gefängnis geschickt und anschließend nach Sibirien. Das Ganze hatte nichts mit seiner Person zu tun. Er gehörte nur zufällig zu einer der roten Abwehrgruppen, die der einen oder anderen Säu­berungsaktion zum Opfer fielen.«

Und mit Sicherheit sei er, fuhr Smiley fort, nach Stalins Tod und seiner Rehabilitierung nach Amerika gegangen, denn als die in­dischen Behörden ihn im Sommer '55 unter dem vagen Vorwand eines Verstoßes gegen die Einwanderungsbestimmungen festge­nommen hatten, war er gerade aus Kalifornien gelandet. Der Circus-Klatsch brachte ihn später mit den großen Hochverrats-Skandalen in England und den Vereinigten Staaten in Verbindung. Smiley wußte es besser: »Karla war wieder in Ungnade gefallen. Moskau lechzte nach seinem Blut, und wir dachten, wir könnten ihn jetzt auf unsere Seite bringen. Deshalb flog ich nach Delhi. Um mich mit ihm zu unterhalten.«

Er schwieg eine Weile, als der müde Junge herübergeschlurft kam und sich erkundigte, ob alles nach Wunsch sei. Smiley bejahte die Frage pflichtschuldigst.

»Die Geschichte meiner Begegnung mit Karla«, fuhr er fort, »ist typisch für die Stimmung der damaligen Zeit. In den fünfziger Jahren war die Moskauer Zentrale am Boden zerstört. Ranghohe Beamte wurden aus unerfindlichen Gründen erschossen oder aus­gemerzt, und bei den unteren Chargen wütete der Massenwahn­sinn. In der Folge liefen die im Ausland stationierten Beamten der Zentrale scharenweise über. Aus der ganzen Welt, Singapur, Nairobi, Stockholm, Canberra, Washington und was weiß ich sonst noch, bekamen wir den gleichen stetigen Zulauf von den Außenstellen geschickt: nicht direkt die großen Fische, aber die Kuriere, Fahrer, Chiffreure, Stenotypistinnen. Irgendwie mußten wir reagieren - ich glaube, niemand macht sich je klar, in welchem Maß die Industrie selber ihre Inflation anheizt -, und im Hand­umdrehen wurde ich eine Art Handlungsreisender, flog an einem Tag in eine Metropole, am nächsten zu einem gottverlassenen Grenzkaff und einmal sogar zu einem Schiff auf hoher See, um Abschlüsse mit abtrünnigen Russen zu machen. Um die Spreu vom Weizen zu scheiden, die Bedingungen festzulegen, für Des­information und eventuelle Verwendung zu sorgen.« Guillam beobachtete ihn unablässig, aber selbst unter dem gnaden­losen Neonlicht verrieten Smileys Züge nichts als leicht bemühte Konzentration. »Wir hielten für Leute, deren Geschichten Hand und Fuß hatten, sozusagen drei Arten von Verträgen bereit. Hatte der Klient nichts Interessantes zu bieten, so verhökerten wir ihn an ein anderes Land und Schwamm drüber. Auf Vorrat kaufen, nennt man das wohl, so wie es die Skalpjäger heute machen. Oder wir spielten ihn wieder nach Rußland zurück: Vorausgesetzt, daß sein Verrat dort noch nicht bekannt war. Und wenn einer Glück hatte, dann nahmen wir ihn; holten alles aus ihm heraus, was er wußte, und setzten ihn neu ein. Im allgemeinen entschied London dar­über. Nicht ich. Aber bedenken Sie eins: Damals war Karla - oder Gerstmann, wie er sich nannte - nur einer von vielen Klienten. Ich habe seine Geschichte von rückwärts erzählt. Es sollte keine Geheimnistuerei sein, Sie müssen sich vielmehr jetzt, bei allem, was zwischen uns vorging oder besser gesagt nicht vorging, stets vor Augen halten, daß ich und alle anderen im Circus lediglich wußten: ein Mann, der sich Gerstmann nannte, installierte eine Richtfunk-Brücke zwischen Rudnew, dem Chef der illegalen Netze in der Moskauer Zentrale, und einem von der Zentrale ge­steuerten Apparat, der mangels Kommunikationsmittel brachlag. Sonst nichts. Gerstmann hatte über die kanadische Grenze einen Sender eingeschmuggelt und drei Wochen in San Francisco ver­bracht, um den neuen Sendetechniker einzuarbeiten. So lautete die Vermutung, und sie wurde durch eine Reihe von Testsendungen bestätigt.«

Für diese Testsendungen zwischen Moskau und Kalifornien, er­klärte Smiley, sei ein vereinbarter Code benutzt worden. »Dann, eines schönen Tages, gab Moskau einen direkten Befehl durch...«

»Auch nach dem vereinbarten Code?«

»Genau. Das ist der springende Punkt. Dank einer kleinen Fahr­lässigkeit von Rudnews Codierern waren wir um eine Nasen­länge voraus. Unsere Funker haben ihren Code geknackt, und so kamen wir an unsere Information. Gerstmann sollte San Francisco verlassen und sich in Delhi mit dem Tass-Korrespondenten tref­fen, einem Talentsucher, der auf eine heiße chinesische Spur ge­stoßen sei und sofortige Anleitung nötig habe. Warum er dazu von San Francisco nach Delhi mußte, und warum es ausgerechnet Karla sein mußte - davon später. Wichtig ist nur: Als Gerstmann sich am Treffpunkt in Delhi einstellte, händigte der Tass-Mann ihm ein Flugticket aus und bestellte ihm, er müsse unverzüglich zurück nach Moskau. Keine Fragen. Der Befehl kam von Rudnew persönlich. Er war mit Rudnews Arbeitsnamen unterzeichnet und selbst für russische Maßstäbe äußerst barsch.« Woraufhin der Tass-Mann das Weite suchte, und Gerstmann stand da mit einer Menge Fragen und achtundzwanzig Stunden Zeit bis zum Abflug.

»Er blieb aber nicht lange so stehen, denn die indischen Behörden nahmen ihn auf unser Ersuchen hin fest und transportierten ihn ins Gefängnis von Delhi. Soviel ich mich erinnere, hatten wir den Indern einen Anteil am Produkt versprochen. Ich glaube je­denfalls, so war's«, bemerkte er, verstummte und blickte abwe­send durch den rauchigen Raum, wie jemand, der durch das Ver­sagen seines Gedächtnisses zutiefst betroffen ist. »Oder vielleicht haben wir auch gesagt, sie könnten ihn haben, wenn wir mit ihm fertig seien. Ach, du liebe Zeit.«

»Ist ja egal«, sagte Guillam.

»Es war das einzige Mal in Karlas Leben, wie gesagt, daß der Circus ihm voraus war«, fuhr Smiley fort, nachdem er einen Schluck Wein getrunken und ein saures Gesicht geschnitten hatte. »Er konnte es nicht wissen, aber das Netz in San Francisco, das er gerade eingerichtet hatte, war am Tag seines Abflugs nach Delhi mit Haut und Haaren aufgerollt worden. Die Stöpsler hatten alles mitgehört, Control verkaufte die Geschichte, sobald er sie von den Funkern bekam, an die Amerikaner, die vereinbarungs­gemäß Karla unbehelligt ließen, aber das übrige kalifornische Netz Rudnews zerschlugen. Gerstmann flog ahnungslos nach Delhi, und er hatte noch immer keine blasse Ahnung, als ich ins Gefängnis von Delhi kam, um ihm eine Versicherungspolice zu verkaufen, wie Control es nannte. Karlas Wahl war sehr einfach. Nach dem Stand der Dinge war nicht daran zu zweifeln, daß Gerstmanns Kopf in Moskau auf dem Block lag, da Saschtazy dort alles tat, um ihm das Auffliegen des kalifornischen Netzes anzu­lasten. Die Affäre hatte in den Staaten großen Wirbel gemacht, und Moskau war über diese Publicity sehr erbost. Ich hatte die amerikanischen Pressefotos von der Festnahme bei mir; sogar ein Foto des Sendegeräts, das Karla eingeschmuggelt hatte, und der Signalpläne, die er vor seinem Abflug in einem Versteck depo­nierte. Sie wissen, wie kribbelig wir alle werden, wenn etwas in die Presse gelangt.«

Guillam wußte es; und in jähem Schreck dachte er an die Akte Testify, die er zu Beginn dieses Abends an Mendel weitergege­ben hatte.

»Kurzum, Karla war das sprichwörtliche Waisenkind des Kalten Krieges. Er hatte seine Heimat verlassen, um eine Sache im Aus­land zu erledigen. Die Sache war geplatzt, aber er konnte nicht zurück: die Heimat war feindseliger als die Fremde. Wir konnten nicht dafür sorgen, daß er ständig eingesperrt blieb, also war es Karla anheimgestellt, unseren Schutz zu erbitten. Ich glaube, ich habe nie einen idealeren Fall für einen Frontwechsel gesehen. Ich mußte ihn nur davon überzeugen, daß das Netz in San Francisco im Gefängnis saß, mußte ihm die Pressefotos und Zeitungsaus­schnitte aus meiner Brieftasche vor die Nase halten, ihm ein wenig von den unfreundlichen Machenschaften Brüderchen Rudnews in Moskau erzählen, daraufhin an die ziemlich überar­beiteten Inquisitoren in Sarratt telegrafieren, und mit ein bißchen Glück könnte ich am Wochenende wieder in London sein. Ich glaube sogar, ich hatte Karten für das >Sadlers Wells<. Ann schwärmte in diesem Jahr fürs Ballett.«

Ja, auch davon hatte Guillam gehört. Ein zwanzigjähriger walli­sischer Apoll, der Wunderknabe der Saison. London hatte mo­natelang über die beiden gelästert.

Die Hitze im Gefängnis war mörderisch, fuhr Smiley fort. In der Mitte der Zelle stand ein Eisentisch, Vieh-Halteringe waren ringsum in die Wände eingelassen. »Sie führten ihn in Hand­schellen herein, was albern schien, denn er war so schmächtig; ich bat sie, ihm die Handfesseln zu lösen, und als er die Hände frei hatte, legte er sie vor sich auf den Tisch und sah zu, wie das Blut zurückströmte. Es mußte schmerzhaft gewesen sein, aber er äußerste sich nicht dazu. Er war seit einer Woche hier und trug einen Kattunkittel. Rot. Ich habe vergessen, was das Rot bedeu­tete. Irgendeine Einstufung.« Er trank einen Schluck Wein, ver­zog wieder das Gesicht, dann wechselte sein Ausdruck, als die Erinnerungen sich erneut zu Wort meldeten. »Also, auf den ersten Blick machte er wenig Eindruck auf mich. Ich hätte schwerlich in dem kleinen Burschen vor mir den schlauen Fuchs aus dem Brief der armen Irina erkannt. Wahrscheinlich stimmt es auch, daß meine Nervenenden ein bißchen abgestumpft waren von den vielen ähnlichen Begegnungen in den letzten Monaten, den Reisen und den - nun ja, den Vorgängen zu Hause.« In den vielen Jahren, die Guillam ihn nun kannte, hatte Smiley nie annähernd so deutlich auf Anns Untreue angespielt. »Aus irgendeinem Grund hat es ganz schön weh getan.« Seine Augen waren geöffnet, aber sein Blick richtete sich auf eine innere Welt. Die Haut der braunen Wangen war gestrafft wie unter der Anspannung seines Gedächtnisses; aber nichts vermochte Guillam über die Einsamkeit hinwegzutäuschen, die dieses eine Geständnis enthüllt hatte. »Ich habe eine Theorie, die leider ziemlich un­moralisch sein dürfte«, fuhr Smiley lockerer fort. »Jeder von uns verfügt über ein bestimmtes Maß an Mitleid. Und wenn wir unsere Gefühle an jede streunende Katze verschwenden, stoßen wir nie zum Kern der Dinge vor. Was halten Sie davon?«

»Wie hat Karla ausgesehen?« fragte Guillam und tat Smileys Frage als reine Rhetorik ab.

»Onkelhaft. Bescheiden und onkelhaft. Er hätte sich gut als Prie­ster gemacht: die armselige, gnomische Sorte, die man in kleinen italienischen Städtchen sehen kann. Kleiner, drahtiger Bursche mit silbrigem Haar und hellbraunen Augen, ganz verrunzelt. Oder als Schullehrer, er hätte Schullehrer sein können: hart, was immer das bedeuten mag, und gescheit, im Rahmen seiner Er­fahrung: aber trotzdem Kleinformat. Einen weiteren ersten Ein­druck machte er nicht, außer daß sein Blick fest war und sich vom Beginn unseres Gesprächs an auf mich heftete. Wenn man es Gespräch nennen kann - denn er sprach kein Wort. Nicht ein einziges, solange wir beisammen waren, nicht eine Silbe. Außerdem war es brüllend heiß, und ich war von den vielen Reisen l völlig kaputt.«

Weniger aus Hunger, als um der Form Genüge zu tun, machte Smiley sich über seinen Teller her. Er aß lustlos ein paar Bissen, ehe er seine Erzählung wieder aufnahm. »So», murmelte er, »jetzt muß sich die Köchin nicht kränken. Offen gestanden war ich gegen Gerstmann ein bißchen voreingenommen. Wir alle haben unsere Vorurteile, und meines richtet sich gegen Radioleute. Sie sind nach meiner Erfahrung eine lästige Bande, schlechte Außen­arbeiter, meist überzogen und aufs peinlichste unzuverlässig, wenn es darauf ankommt. Gerstmann war für mich auch nur einer aus diesem Clan. Vielleicht suche ich auch nur nach Ent­schuldigungen dafür, daß ich ihn mit weniger . . .«, er zögerte, »weniger Sorgfalt, weniger Behutsamkeit behandelte, als man rückblickend für nötig erachtet.« Plötzlich wurde er wieder sicherer. »Dabei bin ich keineswegs überzeugt, daß ich mich überhaupt entschuldigen muß«, sagte er.

Hier spürte Guillam eine Aufwallung ungewöhnlichen Zorns, die sich durch ein geisterhaftes Lächeln um Smileys blasse Lippen ausdrückte. »Hol's der Teufel«, murmelte Smiley. Guillam wartete verdutzt.

»Ich erinnere mich auch, daß ich dachte, die nur sieben Tage im Gefängnis haben ihn ganz schön geschafft. Seine Haut hatte schon dieses staubige Weiß. Und er schwitzte überhaupt nicht. Ich um so mehr. Ich sagte also mein Sprüchlein auf, wie bereits ein Dutzendmal in diesem Jahr, nur daß natürlich nicht daran zu denken war, ihn als unseren Agenten nach Rußland zurückzu­spielen. »Sie haben die Alternative. Es liegt nur bei Ihnen. Ent­weder Sie kommen in den Westen, dann verschaffen wir Ihnen innerhalb vernünftiger Grenzen ein angenehmes Leben. Nach der Befragung, bei der mit Ihrer Mitarbeit gerechnet wird, kön­nen wir Ihnen zu einem neuen Start verhelfen, einem neuen Na­men, Zurückgezogenheit, hinlänglich Geld. Oder Sie können heimkehren, dann werden Sie vermutlich erschossen oder in ein Lager verschickt. Im vergangenen Monat waren Bykow, Schur und Muranow an der Reihe. Warum sagen Sie mir eigentlich nicht, wie Sie wirklich heißen?« Etwas in dieser Art. Dann lehnte ich mich zurück, wischte mir den Schweiß ab und wartete, daß er sagen würde >ja, vielen Dank<. Aber das tat er nicht. Er tat über­haupt nichts. Er sagte kein Wort. Er saß nur da, steif und klein, unter dem großen Ventilator, der nicht funktionierte, und blickte mich mit seinen braunen, beinah lustigen Augen an. Seine Hände lagen vor ihm auf dem Tisch. Sie waren voller Schwielen. Ich erinnere mich, daß ich dachte, ich muß ihn fragen, wo er so hart gearbeitet hat. Er hatte sie mit den Handfläschen nach oben auf dem Tisch liegen, die Finger ein bißchen geknickt - so -, als wären sie noch immer gefesselt.«

Der Junge, der glaubte, Smiley wolle mit dieser Geste einen Wunsch andeuten, kam angetrabt, und Smiley versicherte ihm, daß alles bestens sei und der Wein geradezu einmalig, er frage sich wahrhaftig, wo sie ihn herhätten; bis der Junge sich feixend entfernte und seine Serviette auf den Nebentisch klatschen ließ. »Ich glaube, genau in diesem Augenblick beschlich mich ein un­gewöhnlich starkes Gefühl des Unbehagens. Die Hitze machte mir sehr zu schaffen. Der Mief war fürchterlich, und ich weiß noch, daß ich auf das Tropf-Tropf der Schweißperlen lauschte, die von meiner Stirn auf den Eisentisch fielen. Es lag nicht nur an seinem Schweigen; seine völlige körperliche Unbewegtheit fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Gewiß, ich war schon Überläu­fern begegnet, die sich Zeit ließen, ehe sie sprachen. Für einen Menschen, der auf Verschwiegenheit sogar seinen besten Freun­den gegenüber gedrillt ist, kann es eine schmerzhafte Umstellung bedeuten, wenn er plötzlich den Mund auftun und seinen Feinden Geheimnisse ausliefern soll. Es kam mir auch in den Sinn, daß die Gefängnisleute es als ein Gebot der Höflichkeit erachtet haben mochten, ihn schon ein bißchen mürbe für mich zu machen, ehe sie ihn mir vorführten. Sie schworen zwar, das sei nicht der Fall, aber man weiß das nie. Also schrieb ich sein Schweigen zunächst dem Schock zu. Aber diese Unbewegtheit, diese inten­sive, lauernde Unbewegtheit war etwas ganz anderes. Zumal, da in meinem eigenen Inneren alles in Aufruhr war: Ann, mein eigenes Herzklopfen, die Auswirkungen der Hitze und des Rei­sens . . .«

»Das kann ich verstehen«, sagte Guillam ruhig. »Wirklich? Sitzen ist eine sehr beredte Sache, das kann ihnen jeder Schauspieler sagen. Wir sitzen je nach unserem Charakter. Wir recken und spreizen uns, wir ruhen wie Boxer zwischen zwei Runden, wir rutschten herum, hocken auf der Kante, schla­gen die Beine über und wieder zurück, verlieren die Geduld, ver­lieren die Ausdauer. Gerstmann tat nichts von allem. Seine Hal­tung war endgültig und unbeirrbar, seine kleine eckige Gestalt glich einem Felsenkap; er hätte den ganzen Tag so dasitzen kön­nen, ohne eine Muskel zu bewegen. Während ich -« Smiley brach in ein linkisches, verlegenes Lachen aus und probierte aufs neue den Wein, der indessen nicht besser geworden war. »Wäh­rend ich dachte, wenn ich nur irgend etwas vor mir hätte, Papiere, | ein Buch, einen Bericht. Ich glaube, ich bin ein ruheloser Mensch; schusselig, unbeständig. Jedenfalls damals glaubte ich es. Ich fand, daß es mir an philosophischer Gelassenheit fehle. Überhaupt an Philosophie, wenn Sie wollen. Meine Arbeit hatte mir weit mehr zugesetzt, als mir bis dahin klargeworden war. Nun aber, in dieser stinkenden Zelle, fühlte ich mich wirklich deprimiert. Mir war, als hätte man mir die ganze Verantwortung für den Kalten Krieg aufgebürdet. Was natürlich Blech war, ich war einfach erschöpft und ein bißchen krank.« Er trank wieder. »Glauben Sie mir«, drängte er nochmals und ärgerte sich über sich selbst, »niemand braucht sich für das zu entschuldigen, was ich getan habe.«

»Was haben Sie denn getan?« fragte Guillam lachend. »Also, da trat nun diese große Pause ein«, fuhr Smiley fort. »Kaum von Gerstmanns Seite, denn er war ja nur eine einzige große Pause; vielmehr von meiner Seite. Ich hatte meinen Spruch aufgesagt, hatte die Fotos vorgezeigt - denen er überhaupt keine Beachtung schenkte, er schien mir auch so aufs Wort zu glauben, daß das San-Francisco-Netz aufgerollt war - und nahm diesen und jenen Teil nochmals auf, variierte ein bißchen und dann saß ich auf dem trockenen. Nun weiß jeder Narr, was passiert, wenn es einmal so weit ist. Man steht auf und geht: >Es liegt ganz bei Ihnen<, sagt man. >Wir sprechen uns morgen wieder<; irgend et­was. >Gehen Sie und überlegen Sie eine Stunde. < Also, ehe ich selber wußte, was ich tat, hatte ich angefangen, von Ann zu spre­chen.« Guillams unterdrückten Ausruf fegte er vom Tisch. »Nein, nicht über meine Ann, mit keinem Wort. Über seine Ann. Ich nahm an, er habe eine. Ich hatte mich, gewiß recht beiläufig, gefragt, woran würde ein Mann in seiner Lage denken, woran würde ich in seiner Lage denken? Und meine Antwort war höchst subjektiv: an seine Frau. Nennt man das Projektion oder Substitution? Ich hasse diese Ausdrücke, aber ich bin überzeugt, daß einer von ihnen hier zutrifft. Ich habe mein eigenes Pro­blem ihm unterstellt, darauf läuft's hinaus, und, wie mir jetzt klar ist, ein Verhör mit mir selber angestellt - er sagte nichts, können Sie sich das vorstellen? - Allerdings ging ich dabei von gewissen äußeren Anhaltspunkten aus. Er sah aus wie ein ver­heirateter Mann; er sah aus wie die Hälfte eines Ganzen; er sah zu komplett aus, für jemand, der ganz allein im Leben steht. Außerdem wurde er im Gerstmann-Paß als verheiratet bezeichnet; und wir alle haben die Angewohnheit, unsere falschen Lebens­läufe oder angenommenen Identitäten der Wirklichkeit zumin­dest parallel laufen zu lassen.« Wieder verfiel Smiley in Nach­denken. »Ich habe mir das oft gedacht. Ich trug es sogar Control vor: wir sollten die Tarnungen der Gegenseite ernster nehmen, sagte ich. Je mehr Identitäten jemand hat, um so mehr zeigt sich in ihnen die Person, die darunter steckt. Der Fünfzigjährige, der von seinem Alter fünf Jahre abzwackt. Der Verheiratete, der sich als Junggeselle ausgibt; der Vaterlose, der sich zwei Kinder zu­legt . . . oder der Fragesteller, der sich selber in das Leben eines Mannes hineinprojiziert, von dem er keine Antwort bekommt. Wenige Menschen können ihre eigentlichen Neigungen verleug­nen, wenn sie sich eine andere Persönlichkeit andichten.« Wiederum verlor er sich in seinen Gedanken, und Guillam war­tete geduldig, bis er zurückkäme. Denn während Smiley sich auf Karla konzentrierte - oder auch nicht -, konzentrierte Guillam sich auf Smiley und wäre ihm über die längsten Strecken, auf den verwinkeltsten Pfaden gefolgt, um mit ihm Schritt zu halten und die Geschichte bis zum Schluß zu hören.

»Außerdem wußte ich aus den amerikanischen Observanten-Berichten, daß Gerstmann Kettenraucher war: Camels. Ich ließ ein paar Päckchen besorgen, und ich weiß noch, wie seltsam es mir vorkam, als ich dem Wärter Geld gab. Wissen Sie, ich hatte den Eindruck, Gerstmann sehe in der Aushändigung des Geldes von mir an den Inder etwas Symbolisches. Ich trug damals einen Geldgürtel. Ich mußte herumgrapschen und einen Geldschein aus einem Bündel ziehen. Unter Gerstmanns Blick fühlte ich mich wie ein fünftklassiger imperialistischer Unterdrücker.« Er lächelte. »Und das bin ich ganz gewiß nicht. Bill schon eher.

Auch Percy. Aber nicht ich.« Dann nahm er die Erzählung von neuem auf: »Ich fragte ihn also nach Mrs. Gerstmann.« - Er rief den Jungen herbei und sagte, nur um ihn aus dem Weg zu schicken: »Bringen Sie uns bitte Wasser. Eine Karaffe und zwei Gläser. Vielen Dank.«

»Ich fragte ihn, wo sie sich aufhalte. Eine Frage, die ich in be­zug auf Ann liebend gern beantwortet wüßte. Keine Antwort, die Augen starr. Im Vergleich zu ihm wirkten die beiden Wärter rechts und links von ihm und ihre Augen lebhaft. Sie müsse ein neues Leben anfangen, sagte ich; eine andere Möglichkeit gebe es nicht. Ob er keinen verläßlichen Freund habe, der sich um sie kümmern könne? Vielleicht könnten wir es ermöglichen, uns heimlich mit ihr in Verbindung zu setzen? Ich wies ihn darauf hin, daß Mrs. Gerstmann mit seiner Rückkehr nach Moskau nicht im geringsten gedient wäre. Ich hörte mich selber spre­chen, immer weiter, ich konnte nicht mehr aufhören. Vielleicht wollte ich auch nicht. Ich hatte ernsthaft daran gedacht, mich von Ann zu trennen, ich hielt den Augenblick für gekommen. Eine Rückkehr sei reine Don Quichotterie, sagte ich, ohne jeden praktischen Wert für seine Frau, ganz im Gegenteil. Sie würde geächtet werden; im günstigsten Fall würde man ihr erlauben, ihn vor seiner Erschießung noch kurz zu sehen. Wenn er da­gegen mit uns gemeinsame Sache machte, könnten wir sie viel­leicht austauschen; erinnern Sie sich, wir hatten damals große Vorräte, und einiges davon ging als Tauschware nach Rußland zurück; warum um alles in der Welt wir es allerdings zu diesem Zweck hätten verwenden sollen, geht über meinen Verstand. Bestimmt, sagte ich, würde sie ihn lieber sicher und gesund im Westen wissen als erschossen oder in Sibirien dem Hungertod ausgeliefert. Ich ritt auf dem Thema herum: sein Gesichts­ausdruck ermutigte mich dazu. Ich hätte schwören können, daß ich zu ihm durchdringen würde, daß ich den Sprung in seiner Rüstung entdeckt hatte: während ich in Wirklichkeit - in Wirk­lichkeit nur ihm zeigte, wo meine Rüstung einen Sprung hatte. Und als ich Sibirien erwähnte, hatte ich eine wunde Stelle be­rührt. Ich spürte es wie einen Klumpen in meiner eigenen Kehle, ich spürte Gerstmanns Zurückschaudern. Wirklich kein Wunder«, kommentierte Smiley säuerlich: »schließlich war er noch vor kurzem ein Sträfling gewesen. Endlich kam auch der Wärter mit den Zigaretten, einem ganzen Arm voll, und ließ sie auf den Eisentisch klatschen. Ich zählte das Wechselgeld, gab ihm eine Belohnung, und fing dabei wiederum Gerstmanns Blick auf; ich bildete mir ein, Belustigung darin zu lesen, aber ich wußte, daß ich bereits nicht mehr in der Lage war, das zu be­urteilen. Ich stellte fest, daß der Wärter mein Trinkgeld liegen­gelassen hatte; vermutlich haßte er die Engländer. Ich riß ein Päckchen auf und bot Gerstmann eine Zigarette an. >Na los<, sagte ich, >Sie sind doch Kettenraucher, das ist allgemein bekannt. Und Camels sind Ihre Lieblingsmarke. < Meine Stimme klang an­gespannt und albern, aber ich konnte es nicht ändern. Gerstmann stand auf und bedeutete den Wärtern höflich, daß er in seine Zelle zurückgebracht werden wolle.«

Bedächtig schob Smiley den halb leeren Teller zurück, auf dem sich weiße Fettflocken gebildet hatten wie Winterfrost. »Ehe er die Zelle verließ, überlegte er es sich anders; er nahm ein Päckchen Zigaretten und das Feuerzeug vom Tisch, mein Feuer­zeug, ein Geschenk von Ann. >Für George in Liebe von Ann.< Normalerweise wäre es mir nicht im Traum eingefallen, ihn das Feuerzeug nehmen zu lassen; aber diese Situation war nicht nor­mal. Ich fand es sogar durchaus angemessen, daß er ihr Feuer­zeug nahm. Ich empfand es, Gott verzeih mir, als Ausdruck unserer Gemeinsamkeit. Er ließ das Feuerzeug und die Zigaretten in die Tasche seines roten Kittels fallen und hielt dann die Hände für die Fesseln hin. Ich sagte: > Zünden Sie sich gleich eine an, wenn Sie wollen.< Ich sagte zu den Wärtern: >Bitte lassen Sie ihn eine Zigarette anzünden.< Aber er machte keine Bewegung. >Es ist beabsichtigt, Sie morgen in die Maschine nach Moskau zu set­zen, falls wir zu keiner Einigung gelangen<, fügte ich hinzu. Er überhörte es. Ich sah zu, wie der Wärter ihn hinausführte, dann kehrte ich in mein Hotel zurück, irgendwer fuhr mich hin, ich könnte bis heute nicht sagen, wer. Ich wußte nicht mehr, was ich empfand. Ich war verwirrter und kränker, als ich mir selber ein­gestehen wollte. Ich aß spärlich, trank zu viel und hatte hohes Fieber. Ich lag auf meinem Bett, schwitzte und träumte von Gerstmann. Ich wünschte mir sehnlichst, er möge bleiben. In meinem Fieberwahn hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, ihn zurückzuhalten, sein Leben neu zu gestalten, ihm wenn möglich zusammen mit seiner Frau eine Idylle zu schaffen. Ihn frei zu machen, ihn ein für allemal aus dem Krieg hereinzuholen. Ich wünschte mir verzweifelt, daß er nicht zurückgehen würde. Wieder blickte er mit dem Ausdruck der Selbstironie auf. »Was ich hier sage, Peter, bedeutet folgendes: Smiley, nicht Gerstmann hat in dieser Nacht seine Krisis durchgemacht.«

»Sie waren krank«, sagte Guillam wieder.

»Sagen wir, müde. Krank oder müde, in jener ganzen Nacht zwischen Aspirin und Chinin und zähen Traumvorstellungen VOM der wiedererstandenen Gerstmannschen Ehe, kehrte ein Bild immer wieder. Gerstmann, auf der Fensterbrüstung, starrt mit seinen regungslosen braunen Augen hinunter auf die Straße und ich rede auf ihn ein, unaufhörlich: >Bleib, nicht springen, bleib. < Wobei mir natürlich nicht klar war, daß es um meine eigene Unsicherheit ging, nicht um die seine. Am frühen Morgen be­kam ich vom Arzt eine Spritze, die das Fieber senken sollte. Ich hätte den Fall aufgeben sollen, um einen Ersatzmann telegra­fieren. Ich hätte noch warten sollen, ehe ich wieder ins Gefängnis ging, aber ich hatte nur noch Gerstmann im Sinn: ich mußte hören, wie er sich entschieden hatte. Schon um acht ließ ich mich zum Zellenblock führen. Er saß stocksteif auf einer Bank; zum erstenmal sah ich den Soldaten in ihm und wußte, daß er genau wie ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Er war unrasiert und durch den silbernen Flaum auf den Wangen sah er aus wie ein alter Mann. Auf anderen Bänken schliefen Inder, und mit seinem roten Kittel und dem silbrigen Teint wirkte er zwischen ihnen sehr weiß. Er hielt Anns Feuerzeug in der Hand; das Zigarettenpäckchen lag neben ihm auf der Bank - unberührt. Ich schloß daraus, daß er die Nacht und die verschmähten Zigaretten benutzt hatte, um zu prüfen, ob er dem Gefängnis und den Ver­hören und dem Tod ins Auge blicken könne. Ein Blick in sein Gesicht sagte mir, daß er die Prüfung bestanden hatte. Ich drang nicht in ihn«, sagte Smiley und fuhr in einem Zug fort. »Er hätte sich keinen blauen Dunst vormachen lassen. Seine Maschine flog am späteren Vormittag ab; ich hatte noch zwei Stunden Zeit. Ich bin der schlechteste Advokat der Welt, aber in diesen zwei Stun­den versuchte ich alle Gründe anzuführen, die gegen diesen Flug nach Moskau sprachen. Verstehen Sie, ich glaubte, in seinem Gesicht etwas erblickt zu haben, was dem bloßen Dogma haus­hoch überlegen war; und ich begriff nicht, daß das nur meine eigene Reflektion war. Ich hatte mir eingeredet, Gerstmann sei im Grunde normalen menschlichen Argumenten zugänglich, wenn sie von einem Mann seines Alters und Berufs und, nun ja, seiner eigenen Ausdauer kämen. Ich versprach ihm nicht Reichtum und Frauen und billige Butter, es war klar, daß er dafür keine Ver­wendung hatte. Ich besaß nun wenigstens genügend Verstand, um das Thema Ehefrau beiseite zu lassen. Ich hielt ihm keine Reden über die Freiheit, was immer das bedeuten mag, oder über den ehrlichen guten Willen des Westens: außerdem war das damals nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Geschichte aufzutischen, und ich selber befand mich in keiner eindeutigen ideologischen Position. Ich versuchte es mit der Kameradschaft. >Sehen Sie<, sagte ich, >wir beide werden alt, und wir beide haben unser Leben damit zugebracht, in den Systemen des anderen die schwachen Stellen zu suchen. Ich durchschaue die Werte des Ostens ebenso, wie Sie die des Westens durchschauen. Wir haben bestimmt beide bis zum Überdruß die technischen Siege dieses elenden Krieges ausgekostet. Aber jetzt wollen Ihre eigenen Leute Sie abschießen. Finden Sie es nicht an der Zeit, zuzugeben, daß Ihre Seite genauso wenig wert ist wie die meine? In unserem Metier<, sagte ich zu ihm, >bekommen wir doch immer nur das Negative zu sehen. In diesem Sinn hat keiner von uns beiden mehr ein Ziel. Als wir jung waren, verschrieben wir uns beide großen Idealen<, wieder spürte ich, daß etwas in ihm vorging, Sibirien, ich hatte einen Nerv getroffen, >aber das ist vorbei. Ja?< Ich drängte ihn, mir nur dieses eine zu beantworten: kam es ihm nicht in den Sinn, daß er und ich auf verschiedenen Wegen sehr wohl zum gleichen Schluß über das Leben gekommen sein konn­ten? Selbst wenn meine Schlüsse nach seinem Denken reaktionär sein mochten, waren nicht unsere Werke identisch? Glaubte er zum Beispiel nicht auch, daß die Politik im allgemeinen be­deutungslos war? Daß für ihn im Leben jetzt nur noch das Besondere wichtig war? Daß die großen Pläne in den Händen der Politiker nichts anderes hervorbringen als neue Formen des alten Elends? Und daß daher sein Leben, die Rettung seines Lebens vor einem der vielen sinnlosen Erschießungskommandos, wich­tiger war - moralisch, ethisch wichtiger -, als das Pflichtgefühl oder die Treue oder der Ehrenstandpunkt oder, was immer es sein mochte, das ihn zur Selbstzerstörung zwang? Kam es ihm nicht in den Sinn, nach all den vielen Reisen seines Lebens, die Integrität eines Systems in Frage zu stellen, das kaltblütig vorhatte, ihn für Missetaten zu erschießen, die er niemals begangen hatte? Ich bat ihn — ja, ich flehte ihn wohl buchstäblich an — wir waren auf der Fahrt zum Flugplatz und er hatte bis jetzt noch immer kein einziges Wort an mich gerichtet -, ich bat ihn, zu überlegen, ob er wirklich glaube; ob der ursprünglich ehrliche Glaube an das System, dem er gedient hatte, ihm in diesem Augenblick noch möglich sei.«

Nun saß Smiley eine ganze Weile schweigend da. »Ich hatte meine ganze Psychologie in den Wind geschlagen; meine berufliche Technik ebenfalls. Sie können sich vorstellen, was Control sagte. Dennoch, mein Bericht erheiterte ihn; er hörte gern von den Schwächen des Menschen. Besonders von den meinen, aus bestimmten Gründen.« Er hatte seine sachliche Art wiedergewonnen. »Das war's also. Als die Maschine bereit­stand, ging ich mit ihm an Bord und flog ein Stück mit: damals gab's noch nicht lauter Jetflüge. Er entglitt mir, und ich hatte keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Das Reden hatte ich aufge­geben, aber ich war da, falls er es sich anders überlegen sollte. Das tat er nicht. Er würde lieber sterben als mir geben, was ich wollte; er würde lieber sterben als das politische System verleug­nen, dem er sich verschworen hatte. Das letzte, was ich meines Wissens bis heute von ihm sah, war sein ausdrucksloses Gesicht im Rahmen des Kabinenfensters, das mir nachsah, als ich die; Gangway hinunterschritt. Ein paar sehr russisch aussehende Bur­schen waren zugestiegen und saßen nun hinter ihm, und es hatte wirklich keinen Sinn, daß ich noch länger blieb. Ich flog nach Hause, und Control sagte: >Ich hoffe zu Gott, daß sie ihn abknallen<, und labte mich mit einer Tasse Tee. Dieses widerliche chinesische Kraut, das er immer trinkt, Zitronenjasmin oder so, er läßt es im Kramladen um die Ecke holen. Ich meine, er ließ. Dann schickte er mich zwangsweise für drei Monate in Urlaub. >Ich mag es, wenn Sie zweifeln<, sagte er. >Daran sehe ich, wo Sie stehen. Aber machen Sie keinen Kult daraus, Sie werden sonst zur Nervensäge. < Es war eine Warnung. Ich beherzigte sie. Er sagte auch, ich solle aufhören, mir dauernd wegen der Amerikaner Gedanken zu machen; er versicherte mir, daß er selber kaum jemals an sie denke.«

Guillam blickte ihn an und wartete auf die Lösung. »Aber wie erklären Sie es sich?« fragte er. »Dachte Karla jemals wirklich daran zu bleiben?«

»Ich bin überzeugt, daß es ihm nicht im Traum einfiel«, sagte Smiley angewidert. »Ich habe mich wie ein armer Irrer benom­men. Der Archetypus eines knieweichen westlichen Liberalen. Aber ich möchte trotz allem lieber nach meiner Fasson den Nar­ren spielen, als nach der seinen. Ich bin überzeugt«, wiederholte er, »daß ihn weder meine Argumente noch seine prekäre Lage gegenüber der Moskauer Zentrale letztlich auch nur im gering­sten beeinflußten. Vermutlich hat er während dieser Nacht einen Plan ausgearbeitet, wie er nach seiner Rückkehr nun seinerseits Rudnew abschießen könnte. Rudnew wurde übrigens wirklich einen Monat später erschossen. Karla bekam Rudnews Job und machte sich daran, seine alten Agenten wieder zu aktivieren. Unter ihnen zweifellos auch Gerald. Komisch, wenn man bedenkt, daß er vielleicht die ganze Zeit über mich angesehen und dabei an Gerald gedacht hat. Vermutlich haben die beiden sich später darüber halb totgelacht.«

Die Episode habe eine weitere Folge gezeitigt, sagte Smiley. Seit seinem Abenteuer in San Francisco habe Karla nie wieder einen Geheimsender angefaßt. Kam für ihn nicht mehr in Frage. Er strich es ein für allemal von seiner Liste: »Botschaftsverbindungen sind etwas anderes. Aber seine Außenagenten müssen die Finger davon lassen. Und Anns Feuerzeug hat er noch immer.«

»Ihr Feuerzeug«, berichtigte Guillam.

»Ja. Ja, meines. Natürlich. Sagen Sie«, fuhr er fort, als der Kellner mit dem Geld abgezogen war, »hat Tarr sich auf irgend jemanden besonders bezogen, als er diese unschöne Anspielung auf Ann machte?«

»Hat er leider. Ja.«

»Das Gerücht ist also schon so konkret?« erkundigte sich Smiley.

»Und bereits überallhin gedrungen? Sogar bis zu Tarr?«

»Ja.«

»Und was besagt es, ganz genau?«

»Daß Bill Haydon ein Verhältnis mit Ann Smiley hatte«, sagte Guillam und spürte, wie ihn jene Kälte überkam, die sein Schutz­mantel war, wenn er schlechte Nachrichten für jemanden hatte: Sie sind hochgegangen; Sie sind geschaßt; Sie liegen im Sterben.

»Ah; Aha. Ja. Vielen Dank.« Verlegenes Schweigen.

»Und gab es, gibt es eine Mrs. Gerstmann?« fragte Guillam. »Karla war früher einmal mit einem Mädchen in Leningrad ver­heiratet, einer Studentin. Sie beging Selbstmord, als er nach Sibi­rien deportiert wurde.«

»Karla ist demnach gegen alles gefeit«, sagte Guillam schließlich. »Er ist nicht zu kaufen, er ist nicht zu schlagen.« Sie gingen zum Wagen zurück.

»Eigentlich ziemlich teuer, im Verhältnis«, gestand Smiley. »Glauben Sie, der Kellner hat mich beschummelt?« Aber Guillam war nicht in der Stimmung, über den Preis misera­bler Mahlzeiten in England zu plaudern. Als er wieder hinter dem Steuer saß, wurde der Tag für ihn aufs neue zum Alptraum, ein trüber Wirbel aus nebelhaft erfaßten Gefahren und argwöhnischen Gedanken.

»Und wer ist nun Quelle Merlin?« fragte er. »Woher könnte Alle­line diese Information haben, wenn nicht von den Russen selbst?«

»Oh, er hatte sie natürlich von den Russen.«

»Aber um Gottes willen, wenn die Russen Tarr ausschickten . . .«

»Haben sie nicht. Und Tarr hat auch nicht die britischen Pässe benutzt, nicht wahr? Die Russen haben es mißverstanden. Was Alleline in die Hände bekam, war der Beweis, daß Tarr sie über­tölpelt hat. Das ist die wichtige Botschaft, die dieser Sturm im Wasserglas uns zugetragen hat.«

»Was zum Teufel meinte Percy dann mit >Verwirrung stiften

»Und auf Gerald«, pflichtete Smiley bei.

Wieder fuhren sie schweigend dahin, und die Kluft zwischen ihnen schien plötzlich unüberbrückbar zu sein.

»Hören Sie: Ich bin selber noch nicht ganz dahintergekommen, Peter«, sagte Smiley ruhig. »Aber fast. Karla hat den Circus völlig durcheinandergebracht; soviel habe ich begriffen, und Sie auch. Und er hat noch einen letzten gekonnten Knoten geschlungen, und ich kann ihn nicht aufkriegen. Aber ich bin entschlossen. Und wenn ich Ihnen mal was sagen soll: Karla ist nicht gegen alles gefeit, denn er ist ein Fanatiker. Und wenn's nach mir geht, dann kommt der Tag, an dem dieser Mangel an Mäßigung ihn zu Fall bringen wird.«

Es regnete, als sie die Station Stratford erreichten; ein Grüppchen Fußgänger kuschelte sich unter dem Schutzdach zusammen. »Peter, ich möchte, daß Sie von jetzt an ein bißchen kurztreten.«

»Drei Monate Zwangsurlaub?«

»Ziehen Sie für eine Weile die Ruder ein.«

Als Guillam die Tür des Beifahrersitzes hinter Smiley schloß, drängte es ihn plötzlich, ihm gute Nacht oder sogar viel Glück zu wünschen. Er beugte sich über den Sitz, kurbelte das Fenster herunter und holte Atem, um ihm nachzurufen. Aber Smiley war verschwunden. Guillam hatte niemals einen Menschen gekannt, der so schnell in der Menge untertauchen konnte.


Während des Rests derselben Nacht brannte ununterbrochen das Licht im Dachfenster von Mr. Barracloughs Mansarde im Hotel Islay. Ohne sich umzuziehen oder zu rasieren, blieb George Smiley über den Schreibtisch des Majors gebeugt, las, verglich, merkte an, stellte Querbezüge her, alles mit einer Gründlich­keit, die ihn, wenn er sich selber hätte beobachten können, bestimmt an Controls letzte Tage im fünften Stock des Circus erinnert hätte. Dann nahm er eine Umgruppierung vor, er zog Guillams Urlaubstabellen und Krankenlisten für das vergangene Jahr heran und legte sie neben die offizielle Aufstellung der Rei­sen des Kulturattaches Alexei Alexandrowitsch Poljakow, seine Aufenthalte in Moskau, seine Aufenthalte außerhalb Londons, soweit sie dem Foreign Office durch die Sonderabteilung und die Einreisebehörden gemeldet worden waren. Er verglich sie wiederum mit den Daten, an denen Merlin anscheinend seine Informationen lieferte, und zerlegte, ohne eigentlich zu wissen, warum er das tat, die Witchcraft-Berichte in solche, die zur Zeit ihres Eintreffens nachweisbar aktuell waren, und in solche, die bereits einen oder zwei Monate früher gesammelt sein konnten, sei es von Merlin oder denen, die ihn kontrollierten, um Leer­zeiten zu überbrücken: Analysen, Charakterstudien prominenter Regierungsmitglieder, Histörchen aus dem Kreml, die zu einem beliebigen Zeitpunkt aufgelesen und für Durststrecken verwahrt lein mochten. Nachdem er die aktuellen Berichte in einer Liste zusammengefaßt hatte, notierte er ihre Daten in einer eigenen Spalte und warf den Rest beiseite. In diesem Stadium hätte man seine Stimmung am besten mit der eines Wissenschaftlers ver­gleichen können, der instinktiv spürt, daß er kurz vor einer Ent­deckung steht und in jedem Augenblick die logische Verknüp­fung erwartet. Später nannte er es in einem Gespräch mit Mendel »alles in eine Teströhre füllen und abwarten, ob es explodiert«. Was ihn am meisten fasziniert habe, sagte er, sei die Bemerkung gewesen, die Guillam über Allelines düstere Warnung von wegen »Verwirrung stiften« gemacht hatte, in anderen Worten, er suchte nach dem »letzten gekonnten Knoten«, den Karla geschlungen hatte, um den ganz bestimmten Verdacht entkräften zu können, den Irinas Tagebuch geweckt hatte.

Zunächst stieß er auf ein paar seltsame Funde. Zum einen, daß jedesmal, wenn Merlin einen seiner neun aktuellen Berichte geliefert hatte, entweder Poljakow in London gewesen war oder Toby Esterhase eine Spritztour ins Ausland gemacht hatte. Zum anderen, daß während der wichtigen Zeit, die auf Tarrs Aben­teuer in Hongkong folgte, Poljakow zu dringenden Kulturge­sprächen in Moskau gewesen war; und daß bald darauf Merlin mit einer seiner spektakulärsten und aktuellsten Informationen über die »ideologische Durchdringung« der Vereinigten Staaten herausrückte, einschließlich einer Wertung der Ermittlungen des Circus über die wichtigsten amerikanischen Aufklärungsziele. Als er nochmals die Probe machte, entdeckte er, daß auch die Umkehrung stimmte: daß die Berichte, die er mangels engen Be­zugs zu jüngsten Ereignissen verworfen hatte, fast immer zur Verteilung gelangten, während Poljakow in Moskau oder auf Urlaub war. Und dann hatte er's.

Keine schlagartige Enthüllung, keine jähe Erleuchtung, kein »Heureka« und keine Anrufe bei Guillam oder Lacon: »Smiley ist der Beste.« Einfach nur, daß hier, in den Berichten, die er ge­prüft, und in den Notizen, die er zusammengetragen hatte, die Bestätigung einer Theorie lag, der er schon oft nahegekommen war, ohne ihr jedoch einen Namen gegeben zu haben; einer Theorie, für die an diesem Tag Smiley und Guillam und Ricki Tarr, jeder von seinem Blickpunkt aus, den Beweis vor Augen gehabt hatten: daß zwischen dem Maulwurf Gerald und der Quelle Merlin eine nicht mehr wegzuleugnende Verbindung be­stand; daß Merlins sprichwörtliche Beweglichkeit ihm erlaubte, sowohl Karlas wie auch Allelines Werkzeug zu sein. Oder sollte er besser sagen, überlegte Smiley- während er sich ein Handtuch umwarf und frohgemut in den Korridor hinaustänzelte, um sich zur Feier des Tages ein Bad zu genehmigen — Karlas Agent? Daß dieser ganzen Verschwörung ein verblüffend einfacher Mechanis­mus zugrunde lag, dessen Symmetrie für ihn die reine Wonne war. Es war sogar mit Händen zu greifen: hier in London, ein Haus, vom Schatzamt bezahlt, die ganzen sechzigtausend Pfund; und gewiß oft von den unglücklichen Steuerzahlern, die täglich daran vorbeigingen, mit begehrlichen Blicken bedacht - nie wür­den sie sich etwas Derartiges leisten können, und doch hatten sie es, ohne ihr Wissen, bar bezahlt.

Seit vielen Monaten hatte er sich nicht mehr so erleichtert gefühlt wie jetzt, als er sich die gestohlene Akte über die Operation Testify vornahm.

Bill Roach sieht verbotene Dinge und ist ent­geistert

Eins mußte man Matron lassen: Sie hatte sich schon die ganze Woche über wegen Roach Sorgen gemacht, seit sie ihn allein im Waschraum entdeckt hatte, zehn Minuten, nachdem der ganze übrige Schlafsaal zum Frühstück hinuntergegangen war. Er hatte, noch immer im Pyjama, über ein Waschbecken gebeugt dage­standen und sich verbissen die Zähne gebürstet, Als sie ihn aus­fragte, mied er ihren Blick. »Es ist sein elender Vater«, hatte sie zu Thursgood gesagt: »Er macht ihn wieder mal fertig.« Und am Freitag: »Sie müssen seiner Mutter schreiben und ihr sagen, daß es ihn erwischt hat.«

Aber nicht einmal Matron hätte trotz all ihres mütterlichen Scharf­blicks auf blankes Entsetzen diagnostiziert.

Was konnte er nur tun, er, ein Kind? Hier lag seine Schuld. Hier lag der Anfang des Fadens, der direkt zurückführte zum Unglück seiner Eltern. Hier lag der Fluch, der seinen gebeugten Schultern bei Tag und Nacht die Verantwortung für die Erhaltung des Friedens auf der Welt aufbürdete. Roach, der Beobachter - der »beste Beobachter im ganzen Stall«, um Jim Prideaux' treulich bewahrte Worte zu gebrauchen - hatte am Ende allzu gut be­obachtet. Er hätte alles dafür gegeben, sein Geld, den Leder­rahmen mit den Fotos seiner Eltern, alles, was ihm in der Welt Wert verlieh, wenn er sich dafür von der Erkenntnis hätte los­kaufen können, die ihn seit Sonntagabend quälte. Er hatte Signale gegeben. Sonntagnacht, eine Stunde, nachdem die Lichter gelöscht worden waren, war er geräuschvoll aufs Klo gegangen, hatte sich den Finger in den Hals gesteckt, hatte ge­würgt und sich schließlich übergeben. Die Schlafsaal-Aufsicht, die hätte wachen und Alarm schlagen sollen - »Matron, Roach ist krank« - verschlief jedoch die ganze Scharade. Roach kletterte hundeelend wieder in sein Bett. Am nächsten Nachmittag hatte er von der Telefonzelle neben dem Lehrerzimmer aus irgendeine Nummer gewählt und sinnloses Zeug in die Muschel geflüstert, in der Hoffnung, daß einer der Lehrer es hören und ihn für ver­rückt erklären würde. Niemand achtete auf ihn. Er hatte ver­sucht, Wirklichkeit und Träume zu vermischen, und gehofft, alles, was er erlebt hatte, könne zu einem Phantasiegebilde wer­den; aber allmorgendlich, wenn er an der Senke vorbeikam, sah er wieder Jims bucklige Gestalt im Mondlicht über den Spaten gebeugt; er sah den schwarzen Schatten des Gesichts unter der Krempe seines alten Huts und hörte Jim beim Graben vor An­strengung grunzen.

Roach hätte gar nicht dort sein dürfen. Auch das war seine Schuld: sein Wissen war durch Sünde erworben. Nach einer Cellostunde am anderen Ende des Dorfs war er absichtlich langsam zur Schule zurückgekehrt, um zur Abendandacht zu spät zu kommen und Mrs. Thursgoods mißbilligendem Auge zu entgehen. Die ganze Schule lobte Gott, alle, außer ihm und Jim: er hörte sie das Tedeum singen, als er an der Kirche vorüberkam. Er hatte den längeren Weg gewählt, um an der Senke vorbeizukommen, wo Jims Licht brannte. Von seinem gewohnten Platz aus be­obachtete Roach, wie Jims Schatten sich langsam über die Fenster­gardine bewegte. Er geht früh schlafen, dachte er beifällig, als das Licht plötzlich erlosch; denn Jim war nach seiner Ansicht in letzter Zeit zu viel weg gewesen, er war nach dem Rugby im Alvis weggefahren und erst zurückgekommen, wenn Roach bereits schlief. Dann öffnete sich die Tür des Wohnwagens und schloß sich wieder, und Jim stand an der Gemüsemiete mit einem Spaten in der Hand, und Roach fragte sich in großer Verwunde­rung, wonach er dort im Dunkeln wohl graben mochte. Nach Gemüse für sein Abendessen? Eine Weile stand Jim völlig still und lauschte auf das Tedeum; dann blickte er langsam in die Runde und direkt auf Roach, der vor den schwarzen Erdhocken nicht zu sehen war. Roach überlegte sogar, ob er ihn anrufen solle; aber er hatte ein zu schlechtes Gewissen, weil er die Andacht geschwänzt hatte.

Dann fing Jim an, Maß zu nehmen. So wenigstens schien es Roach. Anstatt zu graben war er an einer Ecke des Beets nieder­gekniet und hatte den Spaten auf die Erde gelegt, als wolle er damit etwas anvisieren, was Roach nicht sehen konnte: zum Bei­spiel den Kirchturm. Daraufhin schritt Jim rasch dorthin, wo das platt des Spatens lag, markierte mit der Ferse die Stelle, hob den Spaten auf und führte schnell mehrere Stiche, Roach zählte zwölf; dann trat er zurück und nahm wieder Maß. Aus der Kirche hörte man nichts; dann Gebete. Jim bückte sich hastig und hob ein Paket aus der Erde, das er sofort unter seinem Dufflecoat ver­barg. Sekunden später, und viel schneller, als menschenmöglich schien, fiel die Tür des Wohnwagens wiederum zu, das Licht ging wieder an, und Bill Roach schlich im kühnsten Augenblick seines Lebens auf Zehenspitzen hinunter in die Senke, bis drei Schritt vor dem dürftig verhangenen Fenster, wo er noch hoch genug stand, um hineinschauen zu können. Jim stand am Tisch. Auf der Koje hinter ihm lag ein Stapel Schul­hefte, eine Wodkaflasche und ein leeres Glas. Er mußte alles dorthin geworfen haben, um Platz zu schaffen. Er hielt ein Feder­messer in der Hand, benutzte es aber nicht. Jim hätte nie eine Schnur durchschnitten, wenn es zu vermeiden war. Das Päck­chen war dreißig Zentimeter lang und aus gelbem Material wie ein Tabaksbeutel. Er öffnete es und zog etwas heraus, das wie ein englischer Schraubenschlüssel aussah, der in Rupfen gewickelt war. Aber wer würde einen »Engländer« vergraben, selbst wenn er ihn für den besten Wagen brauchte, den England je fabriziert hat? Die Schrauben oder Bolzen waren in einem eigenen gelben Umschlag; er schüttete sie auf den Tisch und prüfte jedes einzelne Stück. Keine Schrauben: Gewinde. Auch keine Gewinde, aber jetzt waren sie unter Bills Blickfeld gerutscht. Und auch kein »Engländer«, kein Schraubenschlüssel, nichts, aber schon absolut nichts für den Wagen.

Roach war Hals über Kopf hinaufgerannt. Er lief zwischen den Erdhocken durch auf den Fahrweg zu, aber langsamer, als er je gelaufen war; lief durch Sand und tiefes Wasser und saugendes Gras, schlang die Nachtluft hinunter und schluchzte sie wieder hinaus, lief mit Schlagseite wie Jim, hinkte bald auf dem einen Bein, bald auf dem anderen, und warf den Kopf nach vorn, um Tempo zu gewinnen. Er wußte nicht, worauf er zulief. Er hatte sein Bewußtsein hinter sich gelassen; auf den schwarzen Revolver und die Wildlederriemen gebannt; auf die Schrauben und Muttern, aus denen Kugeln geworden waren, als Jim sie methodisch in die Kammer fädelte und sein gefurchtes Gesicht sich dem Lampen­licht zukehrte, bleich und ein wenig blinzelnd in dem hellen Schein.

George Smiley begegnet einem der zahlreichen, unerfreulichen Cousins seiner schönen Frau

»Ich darf nicht zitiert werden, George«, warnte der Minister in seiner schleppenden Sprechweise. »Keine schriftlichen Notizen, kein Wort zuviel l. Ich muß auf meine Wähler Rücksicht nehmen. Sie brauchen das nicht, und Oliver Lacon auch nicht oder, Oliver?«

»Ich weiß«, sagte Smiley. »Bedauere sehr.«

»Sie würden es noch mehr bedauern, wenn Sie meinen Wahlkreis hätten«, erwiderte der Minister.

Wie vorauszusehen war, hatte bereits die Frage, wo sie sich treffen sollten, einen albernen Streit ausgelöst. Smiley hatte Lacon klargemacht, daß es unklug wäre, sich in seinem Büro in White­hall zu treffen, da sich dort ständig Leute aus dem Circus herum­trieben, von Boten, die Depeschentaschen ablieferten, bis zu Percy Alleline höchstpersönlich, der vorbeischaute, um über Irland zu sprechen. Der Minister seinerseits lehnte sowohl das Hotel Islay wie die Bywater Street ab, mit der willkürlichen Behauptung, beide seien unsicher. Er war unlängst im Fernsehen aufgetreten und stolz darauf, daß die Leute ihn erkannten. So entschieden sie sich nach einigem Hin- und Hertelefonieren für Mendels ziemlich alleinstehenden Tudor-Wohnsitz in Mitcham, wo er und sein blankpoliertes Auto auffielen wie ein Paar weiße Raben, und nun saßen sie, Lacon, Smiley und der Minister, in dem schmucken Vorderzimmer mit den dichten Netzgardinen und der Platte mit frischen Lachsbrötchen auf dem Tisch, während ihr Gastgeber oben stand und den Zugang bewachte. Auf dem Fahrweg versuchten Kinder, den Chauffeur auszuhorchen, wem das Auto gehörte.

Hinter dem Kopf des Ministers stand eine Reihe Bücher über Bienen. Sie waren Mendels Leidenschaft, wie Smiley wußte; er bezeichnete alle Bienen, die nicht aus Surrey stammten, als »exotisch«. Der Minister war ein noch junger Mann, sein dunk­ler Kiefer sah aus, als sei er ihm bei einer unziemlichen Keilerei ausgerenkt worden. Er hatte einen Kahlkopf, der ihm ein un­gerechtfertigt reifes Aussehen verlieh, und den gräßlich schlep­penden Tonfall eines Eton-Boys. »Also, welche Anregungen liegen vor?« Er beherrschte auch die Kunst autoritärer Dialog­führung. »Nun, ich würde vorschlagen, daß Sie als erstes alle Verhandlungen einstellen, die in letzter Zeit mit den Amerikanern gelaufen sind. Ich denke an den geheimen Anhang ohne Titel, der in Ihrem Safe verwahrt ist«, sagte Smiley, »der sich mit der mög­lichen weiteren Verwertung von Witchcraft-Material befaßt.«

»Nie davon gehört«, sagte der Minister.

»Ich verstehe natürlich völlig die Beweggründe. Es ist immer verlockend, an die Creme dieses enormen amerikanischen Appa­rates heranzukommen, und mir ist klar, was dafür spricht, ihnen dafür Witchcraft abzutreten.«

»Was spricht also dagegen?« fragte der Minister, als spräche er mit seinem Börsenmakler.

»Wenn der Maulwurf Gerald existiert«, begann Smiley. Von al­len ihren Vettern, hatte Ann einmal stolz gesagt, habe nur Miles Sercombe nicht einen einzigen versöhnlichen Charakterzug. Zum erstenmal glaubte Smiley, daß sie recht hatte. Er kam sich nicht nur idiotisch vor, sondern auch unlogisch. »Wenn der Maulwurf existiert, worüber wir uns einig sein dürften . . . « Er wartete, aber niemand verneinte. »Wenn Gerald existiert«, wiederholte er, »so wird nicht nur der Circus vom Amerikageschäft profi­tieren, sondern auch die Moskauer Zentrale, denn sie werden von Maulwurf Gerald alles bekommen, was Sie den Amerikanern abkaufen.«

Verdrießlich ließ der Minister die flache Hand auf den Tisch klatschen, auf dessen Politur ein feuchter Abdruck zurückblieb. »Herrgott, ich verstehe kein Wort«, erklärte er. »Dieses Witchcraft-Zeug ist verdammt fabelhaft! Vor einem Monat war's die große Sensation. Jetzt verkriechen wir uns in unsere Höhlen und sagen, die Russen brauen es laufend für uns zusammen. Was zum Teufel geht eigentlich vor?«

»Ich glaube offen gestanden nicht, daß es ganz so widersinnig ist, wie es klingt. Schließlich haben wir selber gelegentlich das eine oder andere russische Netz geführt, und obwohl ich pro domo spreche, darf ich sagen, nicht einmal schlecht. Wir haben das beste Material geliefert, das wir uns leisten konnten. Raketen, Kriegs­planung. Sie haben selber mitgemacht« - dies zu Lacon, der flüch­tig Zustimmung nickte, »wir haben ihnen Agenten hinüberge­schickt, die wir entbehren konnten, räumten ihnen gute Verbin­dungen ein, sicherten ihren Kurierdienst, hielten die Luft frei für Signale, so daß wie sie abhören konnten. Diesen Preis zahlten wir dafür, daß wir die Gegenseite führen konnten, daß wir - wie drückten Sie sich aus? — erfuhren, wie sie ihre Kommissare in­struierten. Ich bin überzeugt, Karla würde das gleiche für uns tun, wenn er unsere Netze leitete. Er würde noch mehr tun, nicht wahr, wenn er auch den amerikanischen Markt anpeilen könnte.« Er brach ab und blickte Lacon an. »Viel, viel mehr. Eine ameri­kanische Verbindung, ich meine, eine fette, amerikanische Ge­winnbeteiligung würde den Maulwurf Gerald direkt auf Platz eins versetzen. Natürlich indirekt auch den Circus. Als Russe würde man den Engländern praktisch alles geben, was sie wollen, wenn man . . ., wenn man sich dafür die Amerikaner kaufen könnte.«

»Danke«, sagte Lacon.

Der Minister ging, nachdem er sich ein paar Sandwiches für die Rückfahrt mitgenommen und versäumt hatte, sich von Mendel zu verabschieden, vermutlich, weil Mendel nicht seinem Wahl­kreis angehörte. Lacon blieb.

»Sie baten mich, alles über Prideaux ausfindig zu machen«, er­klärte Lacon schließlich. »Ich habe festgestellt, daß wir doch einige Unterlagen besitzen.«

Er habe zufällig einige Akten über die interne Sicherheit im Circus durchgeblättert, erläuterte er, »einfach um auf meinem Schreib­tisch Ordnung zu machen«. Dabei sei er auf einige alte positive Untersuchungsberichte gestoßen. Einer davon habe sich auf Prideaux bezogen.

»Er war komplett sicherheitsüberprüft worden. Nicht ein Schat­ten zu entdecken. Allerdings«, er senkte die Stimme, was Smiley veranlaßte, aufzublicken, »eins könnte Sie vielleicht trotzdem interessieren. Ein winzig kleines Munkeln über seine Zeit in Ox­ford. Aber in diesem Alter hat jeder das Recht, ein bißchen rosig angehaucht zu sein.«

»Durchaus.«

Das Schweigen stellte sich erneut ein, es wurde nur von Mendels gedämpften Schritten droben unterbrochen. »Prideaux und Haydon waren damals sehr eng miteinander be­freundet, wissen Sie«, bekannte Lacon. »Es war mir entgangen.«

Er hatte es plötzlich schrecklich eilig, wegzukommen. Er tauchte in seine Mappe, holte einen großen neutralen Umschlag hervor, drückte ihn Smiley in die Hand und kehrte in die erhabeneren Ge­filde Whitehalls zurück; und Mr. Barraclough vom Hotel Islay zu seiner Lektüre der Operation Testify.

Sam Collins, ein alter Hase, plaudert aus der alten Schule

Es war um die Mittagszeit am folgenden Tag. Smiley hatte gelesen und ein bißchen geschlafen, wieder gelesen und ein Bad genom­men, und als er jetzt die Stufen des hübschen Londoner Hauses hinaufstieg, war er guter Laune, denn er mochte Sam. Das Haus war in georgianischem Stil aus braunen Ziegeln erbaut und stand ganz in der Nähe des Grosvenor Square. Es hatte fünf Türstufen und eine schalenförmig eingelassene Messingklingel. Die schwarze Tür war von Säulen flankiert. Er drückte auf die Klingel und hätte ebensogut die Tür aufgedrückt haben können, denn sie öffnete sich sofort. Er betrat einen runden Vorplatz mit einer weiteren Tür im Hintergrund, und die beiden breitschultri­gen Männer in Schwarz hätten Wachen in der Westminster Abbey sein können. Über einem Marmorkamin bäumten sich Pferde, es hätte ein Stubbs sein können. Der eine Mann war ihm behilflich, als er den Mantel auszog. Der andere führte ihn zu einem Steh­pult, wo er sich eintrug.

»Hebden«, murmelte Smiley, während er schrieb; Sam würde sich an diesen Arbeitsnamen erinnern. »Adrian Hebden.«

Der Mann, der seinen Mantel hatte, wiederholte den Namen in ein Haustelefon. »Mr. Hebden, Mr. Adrian Hebden.«

»Wenn Sie bitte einen Augenblick warten wollen, Sir«, sagte der Mann neben dem Stehpult. Man hörte keine Musik, und Smiley fand, sie gehörte eigentlich hierher; ebenso ein Springbrunnen.

»Ich bin nämlich ein Bekannter von Mr. Collins«, sagte Smiley.

»Wenn Mr. Collins zu sprechen ist. Vielleicht erwartet er mich sogar.«

Der Mann am Telefon murmelte »danke« und hängte auf. Er führ­te Smiley zur Innentür und drückte sie auf. Nicht das geringste Geräusch war zu hören, nicht einmal ein Schaben auf dem Seiden­teppich.

»Mr. Collins ist hier, Sir«, flüsterte er respektvoll. »Die Getränke gehen auf Kosten des Hauses.«

Die drei Empfangsräume gingen ineinander über; sie waren durch Säulen und Bogen optisch abgeteilt und mit Mahagony getäfelt.

In jedem Raum stand ein Tisch. Der dritte war zwanzig Meter ent­fernt. Die Beleuchtung erhellte nichtssagende Stilleben in gewal­tigen Goldrahmen und die grünen Flanellbezüge der Tische. Die Gardinen waren zugezogen, die Tische etwa zu einem Drittel besetzt, jeder mit vier bis fünf Spielern, alles Männer, aber man hörte nichts als das Klicken der Kugel im Rad und das Klicken der Chips, wenn sie verteilt wurden, und das sehr leise Flüstern der Croupiers. »Adrian Hebden«, sagte Sam Collins mit einem Zwin­kern in der Stimme. »Lange nicht gesehen.«

»Hallo, Sam«, sagte Smiley, und sie schüttelten sich die Hände. »Kommen Sie mit in meine Höhle«, sagte Sam und nickte dem einzigen anderen Mann zu, der herumstand, einem sehr dicken Mann mit zu hohem Blutdruck und einem zerschlagenen Gesicht. Der dicke Mann nickte zurück.

»Gefällt's Ihnen?« erkundigte sich Sam, als sie einen mit roter Seide bespannten Korridor durchschritten. »Sehr eindrucksvoll«, sagte Smiley höflich.

»Genau«, sagte Sam. »Eindrucksvoll. Genau das ist es.« Er trug einen Smoking. Sein Büro war in Plüsch gehalten, der Schreibtisch hatte eine Marmorplatte und Klauenfüße, aber der Raum selber war klein und keineswegs gut belüftet, eher wie eine Requisiten­kammer im Theater, dachte Smiley, voller alter Versatzstücke. »Später kann ich mich vielleicht sogar mit eigenem Geld beteiligen, in einem Jahr oder so. Sind harte Jungs, aber sehr auf Draht, muß man sagen.«

»Bestimmt«, sagte Smiley. »Wie wir, in den alten Tagen.«

»Genau.«

Er war gepflegt und trat unbefangen auf, und er hatte ein gepfleg­tes schwarzes Schnurrbärtchen. Smiley konnte ihn sich ohne dieses Bärtchen nicht vorstellen. Er war um die fünfzig. Er hatte viele Jahre im Fernen Osten verbracht, wo sie einmal gemeinsam eine Blitzaktion gegen einen chinesischen Geheimsender durchgeführt hatten. Haut und Haar fingen an, grau zu werden, aber im übrigen sah er noch immer aus wie fünfunddreißig. Er konnte grinsen wie ein Schuljunge, seine Kameradschaftlichkeit war aufrichtig. Er hielt beide Hände über dem Tisch wie beim Kartenspiel und blickte Smiley mit einem Besitzerstolz an, als wäre er sein Vater oder sein Sohn oder beides.

»Wenn unser Freund über fünf kommt«, sagte er und lächelte noch immer, »geben Sie Laut, Harry, ja? Im übrigen halten Sie die Klappe, ich versuche gerade, einen Ölscheich rumzukriegen.« Er sprach in einen Apparat auf seinem Schreibtisch. »Wo ist er jetzt?«

»Drei plus«, sagte die schnarrende Stimme. Smiley vermutete, sie gehöre dem lädierten Mann mit dem Überdruck. »Dann kann er noch acht verlieren«, sagte Sam milde. Halten Sie ihn am Tisch, das ist wichtig. Machen Sie einen Helden aus ihm.« Er schaltete ab und grinste. Smiley grinste zurück. »Wirklich, ein großartiges Leben«, versicherte Sam. »Auf jeden Fall besser, als Waschmaschinen verkaufen. Bißchen komisch na­türlich, sich um zehn Uhr früh in den Smoking zu schmeißen. Er­innert mich an diplomatische Tarnung.« Smiley lachte. »Geht so­gar ehrlich zu, ob Sie's glauben oder nicht«, ergänzte Sam, ohne eine Miene zu verziehen. »Man muß nur gut rechnen können.«

»Das können Sie bestimmt«, sagte Smiley wiederum äußerst höf­lich.

»Möchten Sie Musik hören?«

Es war Tonband-Musik und kam aus der Decke. Sam drehte so laut auf, wie sie es ertragen konnten.

»Also, was kann ich für Sie tun?« fragte Sam und grinste noch breiter.

»Ich möchte mit Ihnen über die Nacht sprechen, in der die Schüsse auf Jim Prideaux fielen. Sie waren Offizier vom Dienst.« Es ent­stand eine lange Pause. Sam rauchte braune Zigaretten, die wie Zigarren rochen. Er zündete eine an, ließ das Ende Feuer fangen und sah dann zu, wie die Flamme verglühte. »Schreiben Sie Ihre Memoiren, alter Junge?« fragte Sam. »Wir rollen den Fall erneut auf.«

»Wer ist wir, alter Junge?«

»Ich, meine Wenigkeit und Ihr sehr Ergebener, wobei Lacon schiebt und der Minister zieht.«

»Macht verdirbt den Charakter, aber irgendwer muß regieren, und in diesem Fall wird Bruder Lacon sich widerwillig an die Spitze schieben.«

»Es hat sich nichts geändert«, sagte Smiley.

Sam zog nachdenklich an seiner Zigarette. Die Musik ging in Sätze von Noel Coward über.

»Ein alter Traum von mir«, sagte Sam Collins durch den Rauch. »Eines schönen Tages spaziert Percy Alleline mit einem schäbi­gen braunen Köfferchen durch diese Tür und bittet um ein Spiel­chen. Er setzt alle Geheimstimmen auf Rot und verliert.«

»Die Akte ist geflöht«, sagte Smiley. »Jetzt muß ich bei den Leu­ten rumgehen und fragen, woran sie sich erinnern. So gut wie keine Unterlagen greifbar.«

»Überrascht mich nicht«, sagte Sam. Übers Telefon bestellte er Sandwiches. »Lebe davon«, erklärte er. »Sandwiches und Kana­pees. Gehört zur Pfründe.«

Er goß Kaffee ein, als das rote Lämpchen zwischen ihnen auf dem Schreibtisch aufleuchtete.

»Unser Freund ist patt«, sagte die schnarrende Stimme. »Dann zählen Sie mit«, sagte Sam und schaltete ab. Sam erzählte schlicht, aber exakt, wie ein guter Soldat den Her­gang einer Schlacht rekapituliert, nicht um nochmals zu gewin­nen oder zu verlieren, sondern einfach zur Erinnerung. Er sei ge­rade aus dem Ausland zurückgekommen, sagte er, von einem Dreijahres-Kontrakt in Vientiane. Er hatte sich bei der Personal­abteilung zurückgemeldet, alles mit dem Delphin ins reine ge­bracht, und da niemand Pläne für ihn zu haben schien, überlegte er, ob er nicht einen Monat Urlaub in Südfrankreich machen sollte, als Mac Fadean, der alte Portier, der praktisch Controls Kam­merdiener war, ihn im Korridor aufgriff und in Controls Büro schleppte.

»Das war an welchem Tag genau?« sagte Smiley.

»Am 19. Oktober.«

»Donnerstag.«

»Donnerstag. Ich hatte vor, am Montag nach Nizza zu fliegen. Sie waren in Berlin. Ich wollte Sie zu einem Glas einladen, aber die Mütter sagten, Sie seien occupe, und als ich bei der Reisestelle nachfragte, hieß es, Sie seien nach Berlin geflogen.«

»Ja, das stimmt«, sagte Smiley nur. »Control hat mich hinge­schickt.«

Um mich aus dem Weg zu räumen, hätte er hinzufügen können: sogar damals hatte er dieses Gefühl gehabt.

»Ich habe überall nach Bill herumgeschnüffelt, aber Bill war eben­falls Fehlanzeige. Control hatte ihn irgendwohin aufs Land ge­schickt«, sagte Sam und mied Smileys Blick.

»Zur Schmetterlings-Hatz«, murmelte Smiley, »aber er ist wieder­gekommen.«

Hier schickte Sam einen scharfen, fragenden Blick in Smileys Rich­tung, aber er berührte das Thema von Bill Haydons Reise nicht mehr.

»Das ganze Haus war wie ausgestorben. Um ein Haar hätte ich die erste Maschine zurück nach Vientiane genommen.«

»Es war wirklich so gut wie tot«, gestand Smiley und dachte: aus­genommen Witchcraft.

Und Control, sagte Sam, sah aus, als habe er Malaria. Er war von einem Meer von Akten umgeben, seine Haut war gelb, und beim Sprechen unterbrach er sich ständig, um sich mit dem Taschen­tuch die Stirn zu wischen. Er hielt sich kaum mit dem üblichen Tamtam auf, sagte Sam. Er beglückwünschte ihn nicht zu den drei erfolgreichen Jahren im Außendienst und machte nicht einmal eine hinterhältige Anspielung auf sein Privatleben, das damals ziemlich unruhig war; er sagte nur, daß es ihm recht wäre, wenn Sam an Stelle von Mary Masterman den Wochenend-Dienst über­nähme, ob Sam es einrichten könne?

»Klar kann ich's einrichten«, sagte ich. »Wenn Sie wollen, daß ich den O.v.D. mache, dann mach' ich ihn.« Er sagte, den Rest der Geschichte werde er mir Sonnabend erzählen. Inzwischen dürfe ich niemandem etwas sagen. Kein Wort zu irgendwem im Hause, auch nicht darüber, worum er mich vorhin gebeten habe. Er brauche einen tüchtigen Mann, der die Telefonzentrale bedienen könne, falls eine Krise ausbräche, aber es mußte jemand von einem Außenposten sein oder jemand wie ich, der lange vom Haupt­büro weggewesen sei. Und es mußte ein alter Hase sein.« Also ging Sam zu Mary Masterman und jammerte ihr vor, daß er den Mieter nicht aus seiner Wohnung herauskriegen könne, ehe er am Montag seinen Urlaub antrete; wie wär's, wenn sie ihn ihren Dienst übernehmen ließe, dann könne er das Hotel sparen? Sam trat am Sonnabend um neun Uhr früh an, mit seiner Zahnbürste und sechs Dosen Bier in einer Aktenmappe, auf der noch Hotel­etiketten mit Palmen klebten. Geoff Agate sollte ihn am Sonntag ablösen.

Nochmals hielt Sam sich darüber auf, wie tot das Haus war. Früher war der Sonnabend gewesen wie jeder andere Tag, sagte er. Die meisten Abteilungen hatten über das ganze Wochenende einen Notdienst eingerichtet, manche sogar eine besondere Nacht­schicht, und wenn man die Runde im Haus machte, hatte man das Gefühl, daß in diesem Laden einiges los war. Aber an diesem Sonnabend vormittag hätte das Haus evakuiert sein können; was es, wie er später erfuhr, auch tatsächlich gewesen war -, aber auf Controls Befehl. Ein paar Funker werkten im zweiten Stock, die Sende- und Codierräume liefen auf Hochtouren, aber die Jungens dort arbeiteten ohnehin zu jeder Tages- und Nachtzeit. Im übri­gen, sagte Sam, herrschte das große Schweigen. Er saß herum und wartete auf Controls Anruf, aber nichts kam. Er schlug eine wei­tere Stunde damit tot, daß er sich die Portiers vornahm, die er als den faulsten Haufen im ganzen Circus bezeichnete. Er prüfte ihre Anwesenheitslisten und fand zwei Stenotypistinnen und einen diensthabenden Beamten eingetragen, die jedoch nicht da waren, also setzte er den ersten Wachmann, einen Neuen namens Mel­lows, auf die Meldeliste. Schließlich ging er hinauf, um nachzu­sehen, ob Control da sei.

»Er saß ganz allein oben, nur Mac Fadean war bei ihm. Die Mütter nicht, Sie nicht, nur der alte Mac, der mit Jasmintee und Sympathie herumhuschte. Zu viel?«

»Nein, bitte erzählen Sie weiter. So viele Einzelheiten, wie sie noch zusammenbringen.«

»Dann ließ Control einen weiteren Schleier fallen. Einen halben Schleier. Irgend jemand erledige etwas für ihn, sagte er. Es sei von größter Wichtigkeit für den Geheimdienst. Das sagte er mehr­mals: den Geheimdienst. Nicht für Whitehall oder das Pfund Sterling oder die Fischpreise, sondern für uns. Auch wenn alles vorüber sei, dürfe ich keinen Ton verlauten lassen. Auch nicht zu Ihnen. Oder zu Bill oder Bland oder sonst wem.«

»Und Alleline?«

»Percy hat er überhaupt nicht erwähnt.«

»Nein«, pflichtete Smiley bei »Das konnte er in diesem Stadium wohl kaum mehr.«

»Ich sollte ihn für den Rest der Nacht als Einsatzleiter betrachten. Ich selber sollte als Schaltstelle zwischen Control und allem, was sonstwo im Haus vorgehen mochte, tätig sein. Wenn irgend etwas hereinkomme, ein Signal, ein Anruf, wie unwichtig es auch immer erschiene, dann sollte ich warten, bis die Luft rein sei, dann hinauf­flitzen und es Control übermitteln. Niemand dürfe wissen, jetzt oder später, daß Control der Mann am Abzug gewesen war. Auf keinen Fall sollte ich ihn anrufen oder ihm eine Notiz zukommen lassen; sogar die Hausleitungen waren tabu. Ehrlich, George«, sagte Sam und nahm sich ein Sandwich.

»Oh, ich glaube Ihnen«, sagte Smiley, und es kam ihm von Her­zen. Sollten Telegramme abzuschicken sein, so müsse Sam eben­falls den Mittler machen. Er müsse vor dem Abend nicht mit viel Betrieb rechnen. Den Portiers und solchen Leuten, wie Control sich ausdrückte, gegenüber, sollte Sam das verdammtest Mögliche tun, um sich natürlich zu geben und beschäftigt zu wirken. Als die Seance vorüber war, kehrte Sam ins Wachzimmer zurück, ließ sich eine Abendzeitung holen, öffnete eine Bierdose, suchte sich eine Amtsleitung und fing an, sein Hemd zu verwetten. In Kempton fand ein Hindernisrennen statt, was er seit Jahren nicht mehr verfolgt hatte. Am frühen Abend machte er einen zweiten Rund­gang und testete die Alarmschwellen im Fußboden der Registra­tur. Drei von fünfzehn funktionierten nicht, und inzwischen hat­ten die Portiers ihn aufrichtig liebengelernt. Er kochte sich ein Ei, und als er es gegessen hatte, trottete er hinauf, um dem alten Mac ein Pfund abzuknöpfen und ihm ein Bier zu bringen. »Er hatte mich beauftragt, das Geld für ihn auf irgendeinen alten Klepper mit drei linken Beinen zu setzen. Ich plauderte zehn Minuten mit ihm, dann ging ich wieder hinunter in meinen Bau, schrieb ein paar Briefe, sah mir einen miesen Film an und legte mich in die Falle. Der erste Anruf kam in dem Augenblick, als ich am Einschlafen war. Genau elf Uhr zwanzig. Während der näch­sten zehn Stunden hörten die Telefone nicht mehr auf zu klingeln. Ich dachte schon, die Schaltanlagen würden mir ins Gesicht ex­plodieren.«

»Arcadi ist fünf minus«, sagte eine Stimme über die Sprechanlage. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Sam mit seinem gewohnten Grin­sen und ließ Smiley mit der Musik allein, um droben die Sache in Ordnung zu bringen.

Smiley sah zu, wie Sams braune Zigarre langsam im Aschenbe­cher verbrannte. Er wartete, Sam kam nicht zurück, er fragte sich, ob er sie ausdrücken sollte. Rauchen im Dienst ist verboten, dachte er; Hausordnung. »Erledigt«, sagte Sam.

Der erste Anruf kam von dem im Hause wohnenden Sekretär des Foreign Office über die direkte Leitung, sagte Sam. Das Foreign Office hatte sozusagen beim Großen Preis von Whitehall mit einer gerümpften Nasenlänge gewonnen.

»Der Reuter-Chef in London hatte ihm gerade telefonisch von einer Schießerei in Prag Mitteilung gemacht. Ein britischer Spion sei von russischen Sicherheitskräften erschossen worden, die Jagd nach seinem Komplizen sei in vollem Gang, ob das Foreign Office interessiert sei! Der Sekretär gab es zur Information an uns weiter. Ich sagte, es klinge nach einer Ente und legte auf, als Mike Meakin von den Funkern herunterkam, um mir zu sagen, daß über der Tschechoslowakei der Teufel los sei. Die Hälfte sei verschlüsselt, aber die andere Hälfte im Klartext. Er fange dauernd verstümmelte Geschichten über eine Schießerei in der Nähe von Brunn auf. Prag oder Brunn? fragte ich. Oder beides? Nur Brunn. Ich sagte, bleiben Sie dran, und da gingen auch schon alle fünf Summer. Als ich gerade hinausgehen wollte, kam nochmals der Sekretär auf der direkten Leitung. Reuter habe die Meldung berichtigt, sagte er: nicht Prag, sondern Brunn. Ich schloß die Tür, und es war, als hätte man ein Wespennest hinter sich gelassen. Control stand an seinem Schreibtisch, als ich das Büro betrat. Er hatte mich herauf­kommen hören. Hat Alleline übrigens diese Treppe mit Läufern belegen lassen?«

»Nein«, sagte Smiley. Er war völlig teilnahmslos. >George ist wie ein Lurch<, hatte Ann einmal in seiner Gegenwart zu Haydon ge­sagt. »Er senkt seine Körpertemperatur, bis sie mit der Temperatur seiner Umwelt übereinstimmt. Dann verschwendet er keine An­passungsenergie.«

»Sie wissen, wie schnell er war, wenn er einen ansah. Er schaute auf meine Hände, ob ich ein Telegramm für ihn hätte, und ich wünschte, ich hätte irgend etwas zwischen den Fingern gehabt, aber sie waren leer! >Ich fürchte, es ist eine kleine Panik ausgebrochen<, sagte ich. Ich setzte ihn kurz ins Bild, er sah auf seine Uhr, vermutlich rechnete er aus, was jetzt hätte geschehen sollen, wenn alles geklappt hätte. Ich sagte: >Kann ich bitte Instruktionen haben?< Er setzte sich, ich konnte ihn nicht sehr gut sehen, er hatte nur die niedrige grüne Schreiblampe brennen. Ich wiederholte: >Ich brauche Instruktionen. Soll ich ableugnen? Kann ich irgend jemanden hinzuziehen?< Keine Antwort. Wissen Sie, es gab kei­nen Menschen, den ich hätte hinzuziehen können, aber das wußte ich damals nicht. >Ich muß Instruktionen haben.< Wir hörten drunten Schritte, und ich wußte, daß die Radiojungens mich such­ten. >Möchten Sie hinunterkommen und die Sache selber übernehmen?< fragte ich. Ich ging um den Schreibtisch herum, stieg über die Akten, die alle an verschiedenen Stellen aufgeschlagen waren; man konnte meinen, er stelle eine Enzyklopädie zusam­men. Einige mußten aus der Zeit von vor dem Krieg stammen. Er saß so da.«

Sam schloß die Finger, legte die Spitzen an die Stirn und starrte auf den Schreibtisch. Die andere Hand lag auf der Platte und hielt Controls imaginäre Taschenuhr. »>Sagen Sie Mac Fadean, er soll mir ein Taxi besorgen, dann schaffen Sie mir Smiley herbei. < >Und dieses Unternehmen?< fragte ich. Ich mußte die halbe Nacht auf eine Antwort warten. >Ist abzuleugnen<, sagte er. >Beide Män­ner hatten ausländische Pässe. In diesem Stadium kann kein Mensch wissen, daß sie Engländer sind.< >Es wird nur von einem Mann gesprochen<, sagte ich. Dann sagte ich: >Smiley ist in Berlin.< Jedenfalls glaube ich, daß ich das sagte. Daraufhin wieder zwei Minuten Schweigen. >Jeder andere tut's auch. Es ist egal. < Er hätte mir leid tun sollen, aber in diesem Moment brachte ich wohl nicht viel Sympathie für ihn auf. Ich stand da mit dem Schwarzen Peter in der Hand und wußte nicht, was eigentlich los war. Mac Fadean war nicht zu finden, also dachte ich, Control soll sich sein Taxi sel­ber besorgen, und als ich wieder die Treppe runter war, muß ich ausgesehen haben wie Lord Kitchener. Der alte Schraubendampfer vom Abhördienst schwenkte Berichte vor meiner Nase wie Fähn­chen, ein paar Portiers brüllten mir entgegen, der Radiojunge hatte ein Bündel Meldungen in der Hand, die Telefone klingelten, nicht nur meine eigenen, sondern ein halbes Dutzend der direkten Lei­tungen von der vierten Etage. Ich ging zunächst ins Wachzimmer und schaltete sämtliche Leitungen ab, während ich versuchte, Hal­tung zu gewinnen. Die Abhör-Hexe - wie heißt dieses Weib gleich wieder- sie hat immer mit dem Delphin Golf gespielt?«

»Purcell. Molly Purcell.«

»Ja, die war's. Ihre Geschichte war wenigstens eindeutig, Radio Prag kündigte innerhalb der nächsten halben Stunde einen Sonder­bericht an. Das war vor einer Viertelstunde gewesen. Der Bericht würde einen Akt gröblicher Provokation durch eine westliche Macht betreffen, eine Verletzung der tschechoslowakischen Souve­ränität und einen Schlag ins Gesicht aller freiheitsliebenden Völ­ker. Davon abgesehen«, sagte Sam trocken, »nichts wie Jubel, Trubel, Heiterkeit. Ich klingelte natürlich in Bywater Street an, dann signalisierte ich nach Berlin, sie sollten Sie aufstöbern und spätestens gestern zurückschicken. Ich gab Mellows die wichtig­sten Telefonnummern und schickte ihn weg, er solle sich draußen ein Telefon suchen und alles zusammentrommeln, was er von den hohen Herrschaften an die Strippe bekäme. Percy war übers Wochenende in Schottland und zum Abendessen ausgegangen. Seine Köchin gab Mellows eine Nummer, er läutete dort an und sprach zu Percys Gastgeber. Percy war soeben gegangen.«

»Verzeihung«, unterbrach Smiley. »Wozu haben Sie Bywater Street angerufen?« Er hielt seine Oberlippe zwischen Finger und Daumen und zog sie nach vorn wie eine Mißbildung, während er in die mittlere Entfernung starrte. »Für den Fall, daß Sie früher aus Berlin zurückgekommen wären«, sagte Sam. »Und war ich zurückgekommen?«

»Nein.«

»Mit wem haben Sie dann gesprochen?«

»Mit Ann.«

Smiley sagte: »Ann ist zur Zeit verreist. Könnten Sie mir wieder­holen, wie dieses Gespräch verlaufen ist?«

»Ich fragte nach Ihnen, und sie sagte, Sie seien in Berlin.«

»Und das war alles?«

»Es war eine Krise, George«, sagte Sam in warnendem Ton. »Und?«

»Ich fragte sie, ob sie zufällig wisse, wo Bill Haydon sei. Es war dringend. Soviel ich wußte, hatte er Urlaub, aber ich dachte, viel­leicht ist er bei ihr. Irgend jemand hat mir mal gesagt, er sei ihr Vetter.« Er fügte hinzu: »Außerdem geht er bei Ihnen ein und aus, wie ich hörte.«

»Ja, das stimmt. Was hat sie gesagt?«

»Warf mir ein pikiertes >Nein< hin und legte auf. Tut mir leid, George, Krieg ist Krieg.«

»Wie klang sie?« fragte Smiley, nachdem er das geflügelte Wort eine Weile in der Luft hatte hängenlassen. »Hab' ich schon gesagt: pikiert.«

Roy Bland war in Leeds, um an der Universität nach Talenten zu schürfen, sagte Sam, war also nicht verfügbar.

Zwischen den einzelnen Anrufen machten sie Sam die Hölle heiß. Ganz, als wäre er auf Kuba eingefallen. Das Militär brüllte etwas von tschechischen Panzerbewegungen an der österreichischen Grenze, die Funker konnten nicht einmal ihre eigenen Gedanken hören, so groß war der Funksalat rings um Brunn, und im Foreign Office bekam der diensthabende Beamte gleichzeitig hysterische Anfälle und gelbes Fieber. Zuerst Lacon und nach ihm der Mini­ster bellten vor den Türen, und um halb eins kam der tschechische Sonderbericht mit zwanzig Minuten Verspätung, aber deshalb noch genauso schlecht. Ein britischer Spion namens Jim Ellis, der mit falschen tschechischen Papieren reiste und von einem tschechi­schen Konterrevolutionär unterstützt wurde, habe versucht, einen nicht genannten tschechischen General in den Wäldern um Brunn zu entführen und über die österreichische Grenze zu schmuggeln. Ellis sei von Schüssen getroffen worden, aber sie sagten nicht ge­tötet, weitere Verhaftungen standen unmittelbar bevor. Ich suchte Ellis im Verzeichnis der Arbeitsnamen auf und fand Jim Prideaux. Und ich dachte, genau wie Control gedacht haben mußte: Wenn Jim tot ist und tschechische Papiere hatte, wieso wissen sie dann, daß er Engländer ist? Dann kam Bill Haydon an, weiß wie ein Laken. Hatte die Geschichte am Fernschreiber in seinem Club aufgeschnappt. Er machte stracks kehrt und kam in den Circus.«

»Um welche Zeit war das genau?« fragte Smiley mit leichtem Stirnrunzeln. »Es muß ziemlich spät gewesen sein.« Sam sah aus, als hätte er es ihm von Herzen gern erspart. »Ein Uhr fünfzehn«, sagte er.

»Was ziemlich spät ist, nicht wahr, um im Club Fernschreiben zu lesen?«

»Kann ich nicht sagen, alter Junge.«

»Bill ist im Savile, nicht wahr?«

»Weiß nicht«, sagte Sam bockig. Er trank einen Schluck Kaffee. »Aber Bill war eine Wucht, das kann ich Ihnen sagen. Ich habe immer gefunden, daß er ein überkandidelter Bursche ist. Aber nicht in dieser Nacht, glauben Sie mir. Ja, er war erschüttert. Wäre jeder andere auch gewesen. Er kam an und wußte weiter nichts, als daß es eine mordsmäßige Schießerei gegeben hatte. Aber als ich ihm sagte, daß Jim getroffen wurde, starrte er mich an wie ein Ver­rückter. Ich hab' gedacht, er geht auf mich los. >Getroffen? Wie getroffen? Tödlich?< Ich schob ihm die Meldungen hin, und er las jede einzelne durch . . .«

»Hätte er es nicht schon aus dem Fernschreiben wissen müssen?« fragte Smiley leise. »Ich dachte, um diese Zeit sei es bereits allge­mein bekannt gewesen: Ellis niedergeschossen. Das war doch der Knüller, oder?«

»Kommt vermutlich drauf an, welche Meldung er zu sehen kriegte«, sagte Sam und tat den Einwand mit einem Achselzucken ab. »Also, er übernahm die Telefonzentrale, und bis zum Morgen hatte er das wenige zusammengeklaubt, was zu haben war, und fast so etwas wie Ruhe wiederhergestellt. Er sagte den Leuten im Foreign Office, sie sollten abwarten und Tee trinken, er stöberte Toby Esterhase auf und wies ihn an, ein tschechisches Agenten­paar zu kassieren, Studenten an der London School of Econo­mics. Bill hatte sie bisher ungeschoren gelassen, er plante, sie um­zudrehen und zurückzuspielen. Tobys Aufklärer zogen ihnen eins über und sperrten sie in Sarratt ein. Dann rief Bill den tsche­chischen Agentenführer in London an und brüllte wie ein Feld­webel: Wenn Jim Prideaux auch nur ein Haar gekrümmt werde, drohte er, werde er den Tschechen so bloßstellen, daß er zum Ge­spött der ganzen Zunft würde. Das könne er seinen Brotgebern bestellen. Auf mich wirkte das Ganze wie ein Verkehrsunfall, bei dem Bill der einzige Arzt war. Er rief eine Presseverbindung an und erzählte seinem Mann dort unter dem Siegel der Verschwie­genheit, Ellis sei ein tschechischer Söldner unter amerikanischem Vertrag: er könne die Story ohne Quellenangabe verwenden. Sie schaffte tatsächlich noch die Spätausgabe. Sobald er konnte, lief er in Jims Zimmer, um sich zu überzeugen, daß dort nichts liegen­geblieben war, wo ein Journalist hätte einhaken können, falls ein Journalist clever genug wäre, den Zusammenhang herzustellen zwischen Ellis und Prideaux. Ich nehme an, er hat gründlich rei­nen Tisch gemacht. Angehörige, alles.

»Er hatte keine Angehörigen«, sagte Smiley. »Außer vielleicht Bill«, fügte er fast unhörbar hinzu.

Sam beendete seinen Bericht. »Um acht Uhr traf Percy Alleline ein, er hatte bei der Air Force eine Sondermaschine lockerge­macht. Er grinste übers ganze Gesicht. Was ich in Anbetracht von Bills Stimmung nicht sehr schlau von ihm fand. Er wollte wissen, warum ich Dienst machte, und ich verpaßte ihm den gleichen Schmus wie Mary Masterman: aufs Wort. Er benutzte mein Tele­fon, um eine Verabredung mit dem Minister zu treffen, und hing noch dran, als Roy Bland ankam, stinkwütend und halb besoffen, und wissen wollte, wer zum Teufel von seinem Tischchen ge­fressen habe, und bezichtigte praktisch mich. Ich sagte: »Herrgott, Mann, und unser alter Jim? Sie könnten ihn bedauern, wenn Sie schon mal dabei sind«, aber Roy ist ein hungriger Knabe und liebt die Lebenden mehr als die Toten. Ich übergab ihm die Tele­fonzentrale mit herzlichen Grüßen, ging hinüber ins Savoy zum Frühstück und las die Sonntagsblätter. Die meisten beschränkten sich auf eine Wiedergabe der tschechischen Berichte und ein müdes Dementi aus dem Foreign Office.«

Schließlich sagte Smiley: »Und danach gingen Sie nach Südfrank­reich?«

»Für zwei zauberhafte Monate.«

»Hat irgend jemand Ihnen nochmals Fragen gestellt — über Con­trol zum Beispiel?«

»Erst als ich wieder zurückkam. Sie waren inzwischen gegangen worden, Control lag krank im Spital.« Sams Stimme wurde ein wenig tiefer. »Er hat doch nichts Dummes angestellt, oder?«

»Nein, er ist nur gestorben.«

»Percy spielte den Obermacher. Er ließ mich rufen und wollte wissen, warum ich für die Masterman Dienst gemacht hatte und in welcher Verbindung ich mit Control stand. Ich blieb bei mei­ner Geschichte, und Percy nannte mich einen Lügner.«

»Also deshalb hat man Sie geschaßt: Lügen?«

»Alkoholismus, alter Junge. Die Portiers haben sich ein bißchen schadlos gehalten. Zählten fünf Bierdosen im Papierkorb des O.v.D. und meldeten es dem Personalbüro. Es gibt eine eiserne Regel: keinen Alkohol innerhalb des Hauses. Nach der üblichen Zeit befand ein Disziplinarausschuß mich für schuldig, und ich flog im hohen Bogen. Wie war's bei Ihnen?«

»Ach, ganz ähnlich. Ich vermochte sie offenbar nicht zu überzeu­gen, daß ich mit der Sache nichts zu tun hatte.«

»Wenn Sie mal einen aus dem Weg haben wollen«, sagte Sam, als er Smiley in aller Stille durch eine Seitentür in ein hübsches Gäßchen hinausließ, »Anruf genügt.« Smiley war in Gedanken ver­sunken. »Und wenn Sie jemals ein Spielchen machen möchten, bringen Sie ein paar von Anns smarten Freunden her.«

»Sam, hören Sie zu. Bill war in jener Nacht mit Ann im Bett. Nein, hören Sie zu. Sie haben angerufen, sie sagte, Bill sei nicht dort.

Sobald sie aufgelegt hatte, warf sie Bill aus dem Bett und eine halbe Stunde später tauchte er im Circus auf und wußte bereits, daß es in der Tschechoslowakei eine Schießerei gegeben hatte. Wenn Sie mir die Geschichte in kurzen Worten erzählen würden - auf einer Postkarte - würden Sie es so fassen?«

»Ungefähr.«

»Aber Sie haben Ann bei Ihrem Anruf nichts von der Tschecho­slowakei gesagt. . .«

»Er hat auf dem Weg zum Circus bei seinem Club reingeschaut.«

»Wenn geöffnet war. Gut: Aber warum wußte er dann nicht, daß Jim Prideaux getroffen worden war?«

Im Tageslicht sah Sam schlichtweg alt aus, obwohl er noch immer grinste. Er schien etwas sagen zu wollen, besann sich aber anders. Er wirkte zornig, dann enttäuscht, dann wurde sein Gesicht wie­der ausdruckslos. »Also, bis dann«, sagte er. »Passen Sie auf sich auf«, und zog sich in die ewige Nacht seines selbstgewählten Ar­beitsfelds zurück.

Max, der Aufklärer, berichtet, wie Jim Prideaux ihn auf eine Reise mitnahm

Als Smiley an diesem Morgen das Islay verlassen hatte, um sich zum Grosvenor Square zu begeben, waren die Straßen in grelles Sonnenlicht gebadet, und der Himmel war blau gewesen. Als er jetzt in seinem gemieteten Rover an den unfreundlichen Fassaden der Edgware Road entlangfuhr, hatte der Wind sich gelegt, der Himmel war von Regenwolken schwarz verhangen, und von der Sonne war nur noch ein rötlicher Widerschein auf dem Straßen­belag zurückgeblieben. Er parkte in der St. John's Wood Road, im Vorhof eines neuen Wohnturms mit verglaster Eingangshalle, be­nutzte aber diesen Eingang nicht. Vorbei an einer großen Skulp­tur, die ihm eine Art kosmischen Kuddelmuddels darzustellen schien, schritt er im eisigen Nieselregen zu einer abwärts führen­den Außentreppe mit der Aufschrift: »Nur Ausgang.« Der erste Treppenabsatz war gefliest und mit einem Geländer aus afrikani­schem Teakholz versehen. Danach endete die Großzügigkeit des Erbauers. Rauhputz ersetzte den früheren Luxus, und ein schaler Abfallgeruch erfüllte die Luft. Er bewegte sich mehr vorsichtig als verstohlen, aber als er die Eisentür erreicht hatte, hielt er inne, ehe er mit beiden Händen die lange Klinke anfaßte, riß sich zu­sammen wie zu einem schweren Gang. Die Tür Öffnete sich ein paar Zentimeter weit und prallte dann gegen ein Hindernis, wor­auf ein zorniger Ausruf folgte, der ein vielfaches Echo auslöste wie ein Schrei in einem Hallenbad.

»He, können Sie nicht aufpassen?« Smiley schlüpfte durch den Spalt. Die Tür hatte die Stoßstange eines funkelnden Wagens ge­rammt, aber Smiley beachtete den Wagen nicht. Am anderen Ende der Garage spritzten zwei Männer in Overalls einen Rolls-Royce an. Beide blickten in seine Richtung.

»Warum nicht kommen andere Tür?« fragte die gleiche ärgerliche Stimme. »Sie Mieter hier? Warum nicht benutzen Mieterlift? Diese Treppe für Feuer.«

Es war nicht festzustellen, welcher der Männer sprach, aber er sprach mit einem stark slawischen Akzent. Die Beleuchtung war hinter ihnen. Der kleinere Mann hielt den Schlauch.

Smiley trat vor, wobei er darauf achtete, beide Hände außerhalb der Taschen zu halten. Der Mann mit dem Schlauch machte sich wieder an die Arbeit, aber der größere beobachtete ihn durch das Halbdunkel. Er trug einen weißen Overall und hatte den Kragen hochgeschlagen, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Das schwarze Haar war zurückgestrichen und voll. »Nein, ich bin kein Mieter«, gestand Smiley. »Ich möchte nur fragen, ob ich vielleicht einen Abstellplatz mieten könnte. Mein Name ist Carmichael«, erklärte er lauter. »Ich habe eine Woh­nung in dieser Straße gekauft.«

Er machte eine Handbewegung, als wolle er eine Visitenkarte zücken; als könne ein solcher Ausweis ihm förderlicher sein, als sei­ne unbedeutende Erscheinung. «Ich zahle im voraus«, versprach er. »Ich könnte einen entsprechenden Vertrag unterschreiben, oder was immer. Ich möchte, daß alles völlig korrekt ist. Ich kann Referenzen angeben, eine Garantie hinterlegen, alles was zumut­bar ist. Es muß nur korrekt sein. Es ist ein Rover. Ein neuer. Ich möchte nichts hinter dem Rücken der Verwaltung tun, es kommt nichts dabei heraus, sage ich immer. Aber alles Zumutbare soll mir recht sein. Ich hätte ihn heruntergefahren, aber ich wollte nicht vorgreifen. Und außerdem, ich weiß, es klingt albern, aber die Rampe war mir unsympathisch. Sie ist noch so neu.« Während dieser ausgedehnten Darlegung seiner Absichten, die in wirrer Bemühtheit vorgebracht wurden, war Smiley im Strahl einer hellen Lampe stehengeblieben, die über ihm von einem Bal­ken hing: eine flehende, ziemlich unerfreuliche Erscheinung, wie man wohl denken mochte, und über den freien Raum hinweg deutlich sichtbar. Die Pose tat ihre Wirkung. Der Mann im weißen Overall schritt auf ein Glashäuschen zu, das zwischen zwei Eisen­pfeilern stand, und machte Smiley mit dem schmalen Kopf ein Zeichen, ihm zu folgen. Im Gehen zog er die Handschuhe ab. Lederhandschuhe, handgenäht und sehr elegant. »Nächstes Mal Sie aufpassen, wie Tür aufmachen«, warnte er mit derselben lauten Stimme. »Sie Lift benutzen, ja, oder sonst zahlen ein paar Pfund vielleicht. Mit Lift kein Problem.«

»Max, ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte Smiley, sobald sie in dem Häuschen waren. »Allein. Nicht hier.« Max war breit und kräftig, er hatte ein blasses Knabengesicht, aber die Haut war faltig wie bei einem alten Mann. Er war hübsch, und die braunen Augen waren sehr ruhig. Seine ganze Person strahlte tödliche Ruhe aus.

»Jetzt? Sie wollen jetzt sprechen?«

»Im Wagen. Ich hab ihn draußen. Wenn Sie die Rampe rauf gehen, können Sie direkt einsteigen.«

Max legte die Hände um den Mund und brüllte durch die Garage. Er war einen halben Kopf größer als Smiley und hatte die Stimme eines Feldwebels. Smiley verstand nicht, was er schrie. Wahr­scheinlich etwas auf tschechisch. Es kam keine Antwort, aber Max knöpfte bereits seinen Overall auf. »Wegen Jim Prideaux«, sagte Smiley. »Klar.«

Sie fuhren nach Hampstead, wo sie in dem funkelnden Rover sitzen blieben und den Kindern zusahen, die das Eis auf dem Teich zerbrachen. Der Regen hatte endlich aufgehört, vielleicht weil es zu kalt war.

Über der Erde trug Max einen blauen Anzug und ein blaues Hemd. Auch die Krawatte war blau, aber sorgfältig von den bei­den anderen Tönen abgesetzt: er hatte lang gesucht, bis er diese Nuance gefunden hatte. Er trug mehrere Ringe und Pilotenstiefel mit Reißverschluß an der Seite.

»Ich gehöre nicht mehr dazu. Hat man's Ihnen gesagt?« fragte Smiley. Max zuckte die Achseln. »Ich dachte, man würde es Ihnen sagen«, sagte Smiley.

Max saß kerzengerade; er lehnte sich nicht an, dazu war er zu stolz. Er blickte Smiley nicht an. Seine braunen Augen waren starr auf den Teich und auf die Kinder gerichtet, die im Schilf tollten und schlitterten.

»Mir erzählt man nichts«, sagte er.

»Ich bin geschaßt worden«, sagte Smiley. »Wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie Sie.«

Max schien sich ein wenig zu recken, dann entspannte er sich wie­der. »Tut mir leid, George. Was machen Sie jetzt: Geld stehlen?«

»Ich möchte nicht, daß sie's erfahren, Max.«

»Sie privat, ich privat«, sagte Max und bot Smiley aus einem gol­denen Etui eine Zigarette an, die Smiley ablehnte. »Ich möchte hören, was passiert ist«, fuhr Smiley fort. »Ich wollte es in Erfahrung bringen, bevor sie mich geschaßt haben, aber ich hatte keine Zeit mehr.«

»Sind Sie deshalb geschaßt worden?«

»Vielleicht.«

»Sie wissen nicht viel, was?« sagte Max, und sein Blick war lässig auf die Kinder gerichtet.

Smiley sprach sehr einfach und beobachtete Max dabei die ganze Zeit, falls er nicht verstehen sollte. Sie hätten deutsch sprechen können, aber Max tat das nicht gern, wie Smiley wußte. Also sprach er englisch und beobachtete Max' Gesicht. »Ich weiß überhaupt nichts, Max. Ich hatte überhaupt nichts da­mit zu tun. Ich war in Berlin, als es passierte, ich wußte nichts von der Planung oder den Zusammenhängen. Sie haben mir tele­grafiert, aber als ich nach London zurückkam, war es zu spät.«

»Planung«, wiederholte Max. »Das war vielleicht Planung.« Kiefer und Wangen wurden plötzlich ein Meer von Runzeln, und seine Augen verengten sich - eine Grimasse oder ein Lächeln. »Und jetzt haben Sie eine Menge Zeit, wie, George? Herrje, das nenn' ich Planung.«

»Jim hatte eine Sonderaufgabe durchzuführen. Er hat Sie ange­fordert.«

»Klar. Jim wollte Max als Babysitter.«

»Wie hat er Sie gekriegt? Ist er in Acton aufgetaucht und hat zu Toby Esterhase gesagt >Toby, ich möchte Max haben<. Wie hat er Sie gekriegt?«

Max' Hände lagen auf seinen Knien. Sie waren gepflegt und schlank, bis auf die breiten Knöchel. Jetzt, als der Name Ester­hase fiel, drehte er die Handflächen leicht nach innen und machte einen Käfig daraus, als hätte er einen Schmetterling gefangen. »Was zum Teufel?« fragte Max. »Also, was ist passiert?«

»War privat«, sagte Max. »Jim privat, ich privat. Genau wie jetzt.«

»Na«, sagte Smiley. »Bitte.«

Max sprach, als hätte es sich um irgendeinen Verdruß gehandelt: Familie oder Geschäft oder Liebe. Es war ein Montagabend Mitte Oktober, ja, der sechzehnte. Eine tote Zeit, er war seit Wochen nicht im Ausland gewesen und hatte genug. Den ganzen Tag hindurch hatte er ein Haus in Bloomsbury ausgekundschaftet, wo angeblich ein paar chinesische Studenten wohnten; die Auf­klärer erwogen, einen Einbruch in ihre Zimmer zu inszenieren.

Er wollte schon zur Laundry nach Acton zurückkehren, um seinen Bericht zu schreiben, als Jim ihn nach der Methode »Zu­fallstreffen« unterwegs auflas und bis zum Crystal Palace fuhr, wo sie im Auto sitzenblieben und redeten, genau wie jetzt, nur daß sie tschechisch sprachen.

Jim sagte, es laufe eine Sondersache, so groß, so geheim, daß kein Mensch im Circus, auch nicht Toby Esterhase, wissen dürfe, daß sie stattfinde. Komme von der obersten Spitze und sei haarig. Ob Max interessiert sei?

»Ich sage: >Klar, Jim. Max interessiert.< Dann fragen er mich, Urlaub nehmen. Geh zu Toby und sag Toby, meine Mutter krank, ich brauch ein paar Tage Urlaub. Ich hab keine Mutter nicht. >Klar<, sag ich, >ich nehm Urlaub. Für wie lange, bitte, Jim?<« Die ganze Sache sollte nicht länger als das Wochenende dauern, sagte Jim. Am Sonnabend sollten sie drinnen sein und am Sonntag wieder draußen. Dann fragte er Max, ob er zur Zeit irgendwelche gültigen Papiere habe: am besten als Österreicher, kleiner Ge­schäftsmann, mit passendem Führerschein. Falls Max in Acton nichts bereitliegen habe, würde Jim in Brixton etwas zusammen­stellen lassen.

»>Klar<, sage ich. >Ich habe Hartmann, Rudi, aus Linz, Sudeten-Auswanderer.<«

Also erzählte Max Toby eine Geschichte von Schwierigkeiten mit einem Mädchen in Bradford, und Toby hielt Max zehn Minuten lang einen Vortrag über die Sexualmoral der Engländer; und am Donnerstag trafen Jim und Max sich in einem »sicheren Haus«, das die Skalpjäger damals hatten, einer alten Bruchbude in Lam­beth. Jim hatte die Schlüssel mitgebracht. Ein Drei-Tage-Werk, wiederholte Jim, eine Geheimkonferenz in der Nähe von Brunn. Jim hatte eine große Landkarte, die sie studierten. Jim wollte mit einem tschechischen Paß reisen, Max würde als Österreicher gehen. Bis Brunn würden sie getrennt reisen. Jim würde von Paris nach Prag fliegen, dann Eisenbahn bis Brunn. Er sagte nicht, welche Papiere er selber bei sich haben würde, aber Max nahm an, tschechische, denn er hatte sie ihn schon öfter benutzen sehen. Max war Hartmann, Rudi, Handelsreisender in Glas und Kera­mik. Er sollte mit dem Lieferwagen bei Mikulow über die öster­reichische Grenze, dann nordwärts nach Brunn und sich die Zeit So einteilen, daß er um sechs Uhr dreißig am Samstagabend zum Treffpunkt in einer Seitenstraße in der Nähe des Fußball­platzes sei. Um sieben Uhr würde dort ein großes Match be­ginnen. Sie vereinbarten die Zeiten, Ausweich-Treffs und be­sprachen alle Eventualitäten; und außerdem, sagte Max, kannte jeder die Handschrift des anderen. Sobald sie Brunn verlassen hätten, würden sie auf der Straße nach Bilovice bis Krtiny fahren, dann ostwärts nach Racice abzweigen. Irgendwo auf der Straße nach Racice würden sie an einem auf der linken Seite geparkten schwarzen Wagen vorbeikommen, vermutlich einem Fiat. Die ersten beiden Zahlen des Nummernschildes würden neun neun sein. Der Fahrer würde eine Zeitung lesen. Sie würden neben dem Wagen halten, Max würde hinübergehen und fragen, ob ihm etwas fehle. Der Mann würde antworten, sein Arzt habe ihm verboten, mehr als drei Stunden hintereinander zu fahren. Max würde sagen, ja, lange Fahrten gingen aufs Herz. Der Fahrer würde ihnen dann zeigen, wo sie den Lieferwagen abstellen könn­ten und sie in seinem eigenen Wagen zu dem Treffen mitnehmen. »Wen haben Sie treffen wollen, Max? Hat Jim Ihnen das auch gesagt?«

Nein, Jim hatte weiter nichts gesagt.

Bis Brunn, sagte Max, ging alles ziemlich wie geplant. Als er von Mikulow wegfuhr, folgten ihm eine Zeitlang zwei zivile Motor­radfahrer, aber das schrieb er seinen österreichischen Nummern­schildern zu und ließ sich nicht stören. Er kam bequem bis nach­mittags nach Brunn, und der Ordnung halber nahm er ein Zimmer im Hotel und trank im Restaurant ein paar Tassen Kaffee. Irgend­ein Hanswurst machte sich an ihn heran, und Max erzählte ihm von den vielerlei Unbilden im Glaswarenhandel und daß ihm sein Mädel in Linz mit einem Amerikaner durchgegangen sei. Jim schaffte das erste Treffen nicht, kam aber zum Ausweich­-Treff eine Stunde danach. Max dachte zuerst, der Zug habe Ver­spätung gehabt, aber Jim sagte »Langsam fahren«, und da wußte Max, daß etwas schiefgegangen war.

Folgendermaßen würde es ablaufen, sagte Jim. Der Plan sei ge­ändert worden. Max sollte sich raushalten. Er sollte Jim kurz vor dem Treffpunkt absetzen und dann bis Montag früh in Brunn warten. Er dürfe mit keiner der Kontaktstellen des Circus Ver­bindung aufnehmen: mit niemandem von Aggravate, mit nieman­dem von Plato, und am allerwenigsten mit der Außenstelle in Prag. Sollte Jim am Montag bis acht Uhr früh nicht im Hotel aufgetaucht sein, so müsse Max zusehen, wie er allein heraus­komme. Wenn Jim auftauchte, so bestehe Max' Aufgabe darin, Control eine Botschaft von Jim zu überbringen: die Botschaft könne sehr einfach sein, vielleicht nur ein einziges Wort. In Lon­don solle er nur zu Control persönlich gehen, über den alten MacFadean eine Verabredung treffen, und Control die Botschaft übermitteln, sei das klar? Für den Fall, daß Jim nicht zurück­kommen würde, sollte Max einfach sein früheres Leben wieder aufnehmen und alles ableugnen, inner- und außerhalb des Circus. »Hat Jim gesagt, warum der Plan geändert wurde?«

»Jim hat sich Sorgen gemacht.«

»Es war also etwas passiert, als er auf dem Weg zu dem Treffen mit Ihnen war?«

»Vielleicht. Ich sage Jim: > Hören Sie Jim, ich komme mit. Sie Sorgen, ich Babysitter, ich fahre für Sie, schieße für Sie, was zum Teufel? < Jim wird verdammt wütend. Okay?«

»Okay«, sagte Smiley.

Sie fuhren die Straße nach Racice und fanden den unbeleuchteten Wagen, einen Fiat, vor einem Feldweg geparkt, neun neun auf den Nummernschildern, schwarz. Max hielt den Lieferwagen an und ließ Jim aussteigen. Als Jim auf den Fiat zuging, öffnete der Fahrer die Tür einen Spalt, um die Innenbeleuchtung anzuschal­ten. Über dem Steuerrad lag eine aufgeschlagene Zeitung. »Konnten Sie sein Gesicht sehen?«

»War im Schatten.«

Max wartete, vermutlich tauschten sie Losungsworte aus, Jim stieg ein, und das Auto fuhr über den Feldweg davon, noch im­mer ohne Licht. Max kehrte nach Brunn zurück. Er saß gerade bei einem Schnaps im Restaurant, als die ganze Stadt zu dröhnen begann. Er dachte zuerst, es komme aus dem Fußballstadion, dann begriff er, daß es Lastwagen waren, ein ganzer Konvoi, der die Straße hinunterraste. Er fragte die Kellnerin, was los sei, und sie sagte, es habe eine Schießerei in den Wäldern gegeben, Konter­revolutionäre hätten sie angezettelt. Max ging hinaus zum Liefer­wagen, stellte das Radio an und hörte die Sondermeldung aus Prag. Damals hörte er zum erstenmal etwas von einem General. Er nahm an, daß überall Absperrungen seien, und außerdem hatte er von Jim Anweisung, bis Montag früh im Hotel zu bleiben.

»Vielleicht schickt Jim mir Botschaft. Vielleicht kommt irgendwer vom Widerstand zu mir.«

»Mit diesem einen Wort«, sagte Smiley ruhig.

»Klar.«

»Er hat nicht gesagt, was für eine Art Wort es sein würde?«

»Sie verrückt«, sagte Max. Es konnte eine Feststellung oder eine Frage sein.

»Ein tschechisches Wort oder ein englisches Wort oder ein deut­sches Wort?«

Niemand kam, sagte Max. Auf die verrückte Frage ging er nicht ein.

Am Montag verbrannte er den Paß, mit dem er eingereist war, wechselte die Nummernschilder an seinem Lieferwagen und be­nutzte seine westdeutschen Fluchtpapiere. Anstatt direkt nach Süden fuhr er nach Südwesten, ließ den Lieferwagen in einem Straßengraben und überquerte die Grenze im Bus bis Freistadt, der sicherste Übergang, den er kannte. In Freistadt genehmigte er sich ein Glas und verbrachte die Nacht mit einem Mädchen, weil er ganz durcheinander und ärgerlich war und wieder zu Atem kommen wollte. Dienstagnacht traf er in London ein und trotz Jims Befehl dachte er, er sollte doch versuchen, Control zu errei­chen: »Das war ganz verdammt schwierig«, kommentierte er. Er versuchte es per Telefon, kam aber nicht über die Mütter hin­aus. MacFadean war nicht da. Er dachte an Schreiben, aber da fiel ihm ein, daß Jim gesagt hatte, niemand sonst im Circus dürfe etwas erfahren. Er beschloß, Schreiben sei zu gefährlich. Gerüchte in Acton wollten wissen, daß Control krank sei. Er versuchte, das Krankenhaus ausfindig zu machen, aber vergebens. »Hatten Sie den Eindruck, daß die Leute in Acton wußten, wo Sie gewesen waren?«

»Frage ich mich auch.«

Er fragte sich noch immer, als die Personalabteilung ihn kommen ließ und seinen Rudi-Hartmann-Paß sehen wollte. Er sagte, er habe ihn verloren, was schließlich der Wahrheit sehr nahekam. Warum er den Verlust nicht gemeldet habe: Wußte er nicht. Wann hatte er ihn verloren? Wußte er nicht. Wann hatte er Jim Prideaux zum letztenmal gesehen? Erinnerte er sich nicht. Sie schickten ihn zur Nursery nach Sarratt, aber Max fühlte sich in Form und war wütend, und nach ein paar Tagen hatten die Inquisitoren entweder genug von ihm, oder jemand pfiff sie zurück.

»Ich geh wieder zurück nach Acton. Toby Esterhase gibt mir hundert Pfund, sagt, ich soll mich zum Teufel scheren.«

Schrille Beifallsrufe stiegen vom Ufer des Teichs auf. Zwei Buben hatten eine große Eisscholle versenkt und jetzt blubberte das Wasser durch das Loch.

»Max, was ist mit Jim passiert?«

»Was zum Teufel?«

»Sie kriegen solche Dinge zu hören. Es kommt unter den Emi­granten herum. Was ist mit ihm passiert? Wer hat ihn geflickt, wie haben sie ihn zurückgekauft?«

»Emigranten reden nicht mehr mit Max.«

»Aber Sie haben etwas gehört, nicht wahr?« Dieses Mal erzählten es ihm die weißen Hände. Smiley sah, wie die Finger sich spreizten, fünf an der einen Hand, drei an der anderen, und er fühlte die Übelkeit aufsteigen, noch ehe Max sprach:

»Sie haben also Jim von hinten angeschossen. Vielleicht ist Jim davongerannt, was zum Teufel? Sie haben Jim ins Gefängnis ge­steckt. Das ist nicht gut für Jim. Auch für meine Freunde. Nicht gut.« Er fing an, aufzuzählen. »Pribyl«, begann er und berührte seinen Daumen. »Bukowa, Mirek, von Pribyls Frau und Bruder.« Er nahm einen Finger. »Auch Pribyls Frau.« Ein zweiter Finger, ein dritter: »Kolin Jiri, seine Schwester auch, meistens tot. Das war Netz Aggravate.« Er nahm die andere Hand. »Nach Netz Aggravate kommt Netz Plato. Kommt Rechtsanwalt Rapotin, kommt Oberst Landkron und die Stenotypistinnen Eva Kriegiowa und Hanka Bilowa. Auch meistens tot. Verdammt hoher Preis, George«, er hielt die sauberen Finger nah an Smileys Gesicht, »verdammt hoher Preis für einen einzigen Engländer mit Schuß im Rücken.« Er geriet außer sich. »Was geht Sie's an, George? Circus nicht gut für Tschecho. Alliierte nicht gut für Tschecho. Kein Reicher holt keinen Armen aus dem Gefängnis! Soll ich Ihnen eine Fabelgeschichte erzählen? Wie sagt man, bitte?«

»Märchen«, sagte Smiley.

»Okay, also, ich will keine verdammten Märchen mehr hören, wie die Engländer müssen die Tschechen befreien!«

»Vielleicht war es gar nicht Jim«, sagte Smiley nach langem Schweigen. »Vielleicht hat jemand anderer die Netze hochgehen lassen. Nicht Jim.«

Max öffnete bereits die Tür. »Was zum Teufel?« fragte er. »Max«, sagte Smiley.

»Keine Angst, George. Ich hab keinen, an den ich Sie verkaufen könnte. Okay?«

»Okay.«

Smiley blieb im Auto sitzen und sah zu, wie Max einem Taxi winkte. Mit einer kurzen Handbewegung, als riefe er einen Kellner herbei. Ohne einen Blick auf den Fahrer gab er die Adresse an. Dann fuhr er ab, wiederum saß er sehr aufrecht und starrte vor sich hin wie eine königliche Hoheit, die der Menge nicht achtet. Als das Taxi verschwunden war, erhob sich Inspektor Mendel langsam von der Bank, faltete seine Zeitung zusammen und ging zu dem Rover hinüber.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Die Luft ist rein. Ihr Gewissen ist rein.«

Smiley, der dessen nicht ganz so sicher war, händigte Mendel die Schlüssel des Wagens aus, dann ging er zu Fuß zur Bushaltestelle, zuerst über die Straße und dann nach Westen.

George Smiley trifft sich mit einem Sport­journalisten und stößt abermals auf Toby Esterhases Handschrift

Sein Ziel war die Fleet Street, ein Kellerlokal voller Weinfässer. In anderen Stadtvierteln mochte man halb vier Uhr ein bißchen spät für den vormittäglichen Aperitif finden, aber als Smiley sachte die Tür aufdrückte, drehten sich ein Dutzend schattenhafter Gestalten um und beäugten ihn von der Theke her. Und an einem Ecktisch saß, so unbeachtet wie die künstlichen Gewölbebogen oder die imitierten Musketen an der Wand, Jerry Westerby vor einem großen rosa Gin.

»Alter Knabe«, sagte Jerry Westerby schüchtern, und seine Stim­me schien aus dem Boden heraufzukommen. »Das darf doch nicht wahr sein. He, Jimmy!« Die Hand, die er auf Smileys Arm legte, während er mit der anderen Erfrischungen herbeiwinkte, war riesig und mit Muskeln gepolstert, denn Jerry war früher einmal Tormann einer Kricketmannschaft gewesen. Im Gegensatz zu den sonstigen Torwarten war er groß und füllig, aber seine Schultern waren noch immer vorgebeugt wie in Fanghaltung. Er hatte einen Schöpf sandig grauen Haars und ein rotes Gesicht, und er trug die Krawatte eines berühmten Sportclubs über einem cremefarbenen Seidenhemd. Smileys Anblick entzückte ihn sichtlich, denn er strahlte vor Freude.

»Das darf doch nicht wahr sein«, wiederholte er. »Alles was recht ist. Was treiben Sie denn immer?« — und zog ihn mit Gewalt auf den Platz neben ihm. »Sonne aufn Pelz brennen lassen, an die Decke spucken? Heh« - im Moment die dringendste Frage — »Was darf's denn sein?« Smiley bestellte eine Bloody Mary.

»Es ist nicht nur reiner Zufall, Jerry«, gestand Smiley. Es ent­stand eine kurze Pause, die Jerry plötzlich schnell zu über­brücken trachtete.

»Und was macht der Dämon Weib? Alles in Ordnung? Ist die Sache. Eine der fabelhaftesten Ehen, hab' ich immer gesagt.« Jerry Westerby hatte selber mehrere Ehen geschlossen, aber nur an den wenigsten hatte er seine Freude gehabt. »Schlage Ihnen ein Geschäft vor, George«, erbot er sich und ließ eine der mächtigen Schultern in seine Richtung rollen. »Ich zieh zu Ann und spucke an die Decke, Sie übernehmen meinen Job und schreiben über's Damen-Pingpong. Wie wär' das? Tolles Ding.«

»Cheers«, sagte Smiley jovial.

»Hab' in letzter Zeit nicht viel von den Jungen und Mädchen zu sehen gekriegt«, gestand Jerry unbeholfen und errötete wieder­um grundlos. »Weihnachtskarte vom alten Toby voriges Jahr, das ist so ungefähr mein Anteil. Haben mich wohl auch abge­schrieben. Kann's ihnen nicht verübeln.« Er schnippte an den Rand seines Glases. »Zuviel von dem Zeug da, daran liegt's. Sie glauben, ich kann nicht dichthalten. Keinen Mumm mehr.«

»Das glauben sie bestimmt nicht«, sagte Smiley, und das Schwei­gen ergriff wiederum von ihnen Besitz.

»Zuviel Feuerwasser, nicht gut für roten Krieger«, zitierte Jerry feierlich. Es war einer ihrer alten Indianer-Witze gewesen, er­innerte Smiley sich, und das Herz wurde ihm schwer. »Hugh«, sagte er.

»Hugh«, sagte Jerry, und sie tranken.

»Ich habe Ihren Brief sofort verbrannt, nachdem ich ihn gelesen hatte«, sagte Smiley mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Falls Sie sich Gedanken machen sollten. Ich habe zu niemandem ein Wort gesagt. Er kam ohnehin zu spät. Es war alles schon vorbei.« Hier wurde Jerrys lebhafte Gesichtsfarbe zu einem dunklen Scharlachrot.

»Also lag es nicht an dem Brief, den Sie mir schrieben, daß man Sie kaltgestellt hat«, fuhr Smiley im gleichen freundlichen Ton fort, »falls Sie das geglaubt haben sollten. Und außerdem haben Sie ihn doch persönlich eingeworfen.«

»Sehr anständig von Ihnen«, murmelte Jerry. »Vielen Dank. Hätte ihn nicht schreiben sollen. Aus der Schule geplaudert.«

»Unsinn«, sagte Smiley und bestellte zwei weitere. »Sie haben es für die Sache getan.«

Smiley hatte das Gefühl, Lacon sprechen zu hören. Aber wer mit Jerry Westerby sprechen wollte, mußte sich ausdrücken wie seine Zeitung: kurze Sätze, eingängige Meinungen. Jerry stieß den Atem und Schwaden von Zigarettenrauch aus. »Letzter Job, ach, ist Jahre her«, erinnerte er sich mit neugewon­nener Munterkeit. »Länger. Kleines Päckchen in Budapest de­ponieren. Wirklich nichts dabei. Telefonzelle. Oberer Rand. Nur hochgelangt. Hingelegt. Kinderspiel. Glaub' nicht, daß ich's ver­masselt hab' oder so. Hab' zuerst brav alles erledigt. Sicherheits­signale. >Leerung jederzeit. Bitte sich zu bedienen.< So, wie sie es uns beigebracht haben, ja? Ihr Junges müßt's schließlich wissen, oder? Ihr seid die weisen Eulen. Sein Teil beitragen, darauf kommt's an. Mehr kann man nicht tun. Eins kommt zum anderen. Ergibt das Muster.«

»Sie werden bald wieder auf Sie zurückkommen«, sagte Smiley tröstend. »Wahrscheinlich sollen Sie nur ein bißchen ausruhen. Das machen sie gern so, wissen Sie.«

»Hoffentlich«, sagte Jerry mit loyalem, aber unsicherem Lächeln. Sein Glas zitterte leicht, als er trank.

»War das die Reise, die Sie gemacht haben, kurz ehe Sie mir den Brief schrieben,« fragte Smiley.

»Klar. Genau die gleiche Reise, Budapest, dann Prag.«

»Und in Prag haben Sie diese Geschichte gehört? Auf die Sie sich in Ihrem Brief bezogen haben?«

An der Theke prophezeite ein blühender Mann in schwarzem Anzug den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Landes. Er gebe uns noch drei Monate, sagte er, dann Sense. »Komischer Kauz, Toby Esterhase«, sagte Jerry. »Aber gut«, sagte Smiley.

»Mein Gott, alter Knabe, erste Güte. Brillant, sage ich. Aber komisch, wissen Sie. Hugh!«

Sie tranken wieder, und Jerry Westerby hielt sich den gereckten Zeigefinger wie eine Apachenfeder hinter den Kopf.

»Der Haken ist«, sagte der blühende Mann an der Theke über sein Glas hinweg, »wir werden nicht mal merken, daß es passiert ist.«

Sie beschlossen, unverzüglich essen zu gehen, da Jerry seine Story für die morgige Ausgabe in Satz geben mußte: der Schläger von Bromwich Albion hatte einen Skandal verursacht. Sie gingen in ein Curry-Lokal, wo man bereitwillig Bier zur Teestunde be­kam, und sie machten aus, falls sie jemandem begegnen sollten, würde Jerry George als seinen Bankmanager vorstellen, eine Idee, die ihn während seiner herzhaften Mahlzeit immer wieder be­lustigte. Die Musikkulisse bezeichnete Jerry als den Hochzeits­flug des Moskitos, und manchmal drohte sie, die schwächeren Töne seiner heiseren Stimme wegzuschwemmen; was vermutlich nicht schadete. Denn während Smiley sich tapfer bemühte, Be­geisterung für das Currygericht zu zeigen, war Jerry nach seinem anfänglichen Zögern in eine ganz andere Geschichte eingestiegen, bei der es um einen gewissen Jim Ellis ging: in die Geschichte, die der liebe alte Toby Esterhase ihn nicht hatte in die Zeitung bringen lassen.

Jerry Westerby gehörte einer äußerst seltenen Spezies an, er war der ideale Zeuge! Er hatte keine Phantasie, keine boshafte Ader, keine persönliche Meinung. Nur: die Sache war komisch. Er konnte sie sich nicht aus dem Kopf schlagen, und dabei fiel ihm ein, er hatte seitdem nicht mehr mit Toby gesprochen. »Nur diese Karte da: Fröhliche Weihnachten, Toby. Foto der Leadenhall Street im Schnee.« Er starrte völlig perplex auf den elektrischen Ventilator. »Ist doch nichts Besonderes an der Lea­denhall Street, wie, alter Knabe? Kein konspiratives Haus oder Treffpunkt oder sonstwas, oder?«

»Nicht daß ich wüßte«, sagte Smiley lachend. »Konnte mir nicht vorstellen, warum er die Leadenhall Street als Weihnachtskarte benutzte. Verdammt seltsam, finden Sie nicht?« Vielleicht habe er bloß ein Foto von London im Schnee schicken wollen, schlug Smiley vor; schließlich war Toby in mancher Hin­sicht ein bißchen ungewöhnlich.

»Komische Art, Grüße zu schicken, muß schon sagen. Hat mir immer eine Kiste Scotch geschickt, pünktlich wie die Uhr.« Jerry runzelte die Stirn und trank aus seinem Krug. »Geht mir nicht um den Scotch«, erklärte er mit jener Ratlosigkeit, die häufig sein inneres Sehvermögen störte. »Kann mir meinen Scotch jederzeit selber kaufen. Nur, wenn man draußen ist, schreibt man allem eine Bedeutung zu, deshalb sind Geschenke wichtig, verstehen Sie, was ich meine?«

Es war vor einem Jahr, ja, im Dezember. Das Restaurant Sport in Prag, sagte Jerry Westerby, gehöre nicht zu den Stammlokalen der Journalisten aus dem Westen. Die meisten lungerten im Cosmo oder im International herum, redeten nur leise und steckten immer zusammen, weil sie nervös waren. Aber Jerrys Lokal war das Sport, und seit er einmal Holotek, den Torwart, nach dem gewonnenen Match gegen die Tataren mitgebracht hatte, stand Jerry unter dem persönlichen Schutz des Barmanns namens Stanislaus oder Stan:

»Stan ist ein wahrer Fürst. Tut genau, was ihm verdammt noch mal Spaß macht. Kommt einem plötzlich vor, als wäre die Tschecho­slowakei ein freies Land.«

Restaurant, erklärte er, bedeute Bar. Während Bar in der Tsche­choslowakei Nachtclub bedeute, was komisch sei. Smiley stimmte zu, daß es verwirrend sein mußte.

Wie dem auch sei, Jerry hielt immer die Ohren offen, wenn er dort war, es war trotz allem ein tschechisches Lokal, und schon ein paarmal hatte er Toby von dort das fehlende Steinchen mit­bringen oder ihn auf irgend jemandens Fährte setzen können. »Auch wenn's bloß um Währungsgeschäfte ging, den schwarzen Markt. Alles Wasser auf die Mühle, meinte Toby. Kleinvieh macht auch Mist - das jedenfalls sagte Toby.« Sehr richtig, pflichtete Smiley bei. So funktioniere es. »Toby war die weise Eule, was?«

»Klar.«

»Ich habe früher immer direkt für Roy Bland gearbeitet, wissen Sie. Dann fiel Roy die Treppe hinauf, und Toby übernahm mich.

Bißchen beunruhigend, solche Veränderungen. Cheers.«

»Wie lange hatten Sie schon für Toby gearbeitet, als Sie diese Reise unternahmen?«

»Paar Jahre, mehr nicht.«

Sie schwiegen eine Weile, das Essen kam, die Krüge wurden frisch gefüllt, und Jerry Westerby würzte sich mit seiner riesigen Hand das schärfste Currygericht der Speisekarte nach und goß feuerrote Soße über das Ganze. Die Soße, sagte er, gebe dem Gericht Aroma. »Der alte Khan hält sie eigens für mich«, erklärte er nebenbei. »Verwahrt sie im Atomkeller.« Also damals, fuhr er fort, in jener Nacht in Stans Bar sei dieser Junge mit dem Salatschüssel-Haarschnitt und dem hübschen Mädchen am Arm dagewesen.

»Und ich dachte: aufgepaßt Jerry-Boy, das da ist ein Kommißhaar­schnitt. Stimmt's?«

»Stimmt«, echote Smiley und dachte, in mancher Hinsicht war Jerry selber ein bißchen wie eine Eule.

Es stellte sich heraus, daß der Junge Stans Neffe und sehr stolz auf sein Englisch war: »Toll, was die Leute einem erzählen, wenn sie bloß mit ihren Sprachkenntnissen prahlen können.« Der Junge war auf Urlaub vom Militär und hatte sich in dieses Mädchen verliebt, er hatte noch acht Tage vor sich und hätte die ganze Welt umarmen mögen, einschließlich Jerry. Ja, Jerry sogar ganz be­sonders, denn Jerry zahlte den Sprit.

»Wir sitzen also alle kunterbunt um den große Tisch in der Ecke, Studenten, hübsche Mädchen, alles mögliche. Der alte Stan war hinter seiner Theke hervorgekommen, und ein Bursche spielte recht ordentlich auf einer Quetschkommode. Jede Menge Ge­mütlichkeit, jede Menge Sprit, jede Menge Krach.« Der Krach war besonders wichtig, erklärte Jerry, weil er dadurch mit dem Jungen schwatzen konnte, ohne daß irgend jemand auf­paßte.

Der Junge saß neben Jerry, er hatte ihn von Anfang an ins Herz geschlossen. Er hatte einen Arm um das Mädchen gelegt und den anderen um Jerry.

»Einer von den Bengels, die einen anfassen können, ohne daß man das Gruseln kriegt. Mag's im allgemeinen nicht, wenn mich einer anfaßt. Die Griechen tun's. Kann's persönlich nicht leiden.« Smiley sagte, er könne es auch nicht leiden.

»Weil ich grad dran denke, das Mädchen sah ein bißchen aus wie Ann«, überlegte Jerry. »Klasse, verstehen Sie, was ich meine? Garbo-Augen, jede Menge gewisses Etwas.« Und während alle munter sangen und tranken und Ringküssen spielten, fragte dieser Junge auf einmal Jerry, ob er die Wahrheit über Jim Ellis wissen wolle.

»Hab' getan, als hätt' ich nie von ihm gehört«, sagte Jerry zu Smiley. »Schrecklich gern<, sage ich. »Wer ist denn dieser Jim Ellis ?< Und der Junge schaut mich an, als wäre ich plemplem und sagt: >Ein englischer Spion.< Nur hat's niemand gehört, sie schrien alle durcheinander und sangen gepfefferte Lieder. Der Kopf des Mädchens lag auf seiner Schulter, aber sie war schon halb hin­über und im siebenten Himmel, also redete er seelenruhig weiter und war stolz auf sein Englisch, verstehn Sie?«

»Versteh schon«, sagte Smiley.

»>Englischer Spion<. Plärrt mir direkt ins Ohr. >Hat im Krieg mit tschechischen Partisanen gekämpft. Kommt hierher unter dem Namen Hajek und wird von der russischen Geheimpolizei erschossen.< Aber ich hab' bloß die Achseln gezuckt und gesagt:

>Das erste, das ich höre, alter Junge. < Nur nicht drängen, wissen Sie. Auf keinen Fall drängen. Macht sie kopfscheu.«

»Da haben Sie vollkommen recht«, sagte Smiley aus vollem Her­zen und beantwortete ein Weilchen geduldig weitere Fragen nach Ann, und wie es sei, wenn man liebte, einen anderen Menschen wirklich und ein ganzes Leben lang liebte.


»Ich leiste gerade meinen Militärdienst ab«, begann der Junge in Jerry Westerbys Bericht. »Ich muß, andernfalls darf ich nicht studieren.« Im Oktober hatte er an einer Grundausbildungsübung in den Wäldern bei Brunn teilgenommen. In diesen Wäldern wimmelte es ständig von Soldaten; im Sommer war das ganze Areal einen Monat lang für die Öffentlichkeit gesperrt gewesen. Es war eine langweilige Infanterieübung, die zwei Wochen dauern sollte, aber am dritten Tag wurde sie ohne Angabe von Gründen abgeblasen und die Truppen wurden in die Stadt zurückbeordert. Der Befehl lautete: Sofort packen und zurück in die Kasernen. Bis zum Abend mußte der Wald geräumt sein. »Nach wenigen Stunden schwirrte es nur so von blödsinnigen Gerüchten«, fuhr Jerry fort. »Einer sagte, die ballistische For­schungsanstalt in Tisnow sei explodiert. Ein anderer sagte, die Übungsbataillone hätten gemeutert und schossen auf die russi­schen Soldaten. Neuer Aufstand in Prag, die Russen haben die Regierung übernommen, die Deutschen greifen an, Gott weiß was ist passiert. Sie wissen, wie Soldaten sind. Überall gleich, die Soldaten. Latrinengerüchte.« Das Thema Militär brachte Wester­by auf verschiedene Bekannte aus seiner eigenen Soldatenzeit, und er fragte nach Leuten, die Smiley flüchtig gekannt und wieder vergessen hatte. Endlich kamen sie zur Sache. »Sie brachen das Lager ab, beluden die Lastwagen und saßen herum und warteten, daß der Konvoi sich in Bewegung setzte. Sie waren eine halbe Stunde gefahren, als es hieß, das Ganze halt, und dem Konvoi befohlen wurde, die Straße freizumachen. Die Wagen mußten sich zwischen die Bäume verdrücken. Blieben im Dreck stecken, in Gräben, alles mögliche. Offenbar heilloses Durcheinander.« Es seien die Russen gewesen, sagte Westerby. Sie kamen aus Richtung Brunn und hatten's furchtbar eilig, und alles, was tschechisch war, mußte die Bahn freimachen oder die Folgen tragen.

»Zuerst brauste eine Motorradstaffel mit aufgeblendeten Schein­werfern daher, und die Fahrer brüllten sie an. Dann ein Stabsauto und Zivilisten, der Junge schätzte, im ganzen sechs Zivilisten. Dann zwei Lastwagenladungen Spezialtruppen, bis an die Zähne bewaffnet und in Tarnanzügen. Schließlich ein Wagen voller Spür­hunde. Alles unter höllischem Getöse. Langweile ich Sie, alter Knabe?«

Westerby tupfte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht und blinzelte, wie jemand, der gerade wieder zu sich kommt. Der Schweiß war auch durch das Hemd gedrungen; er sah aus, als hätte er unter der Dusche gestanden. Da Curry nicht zu Smileys Lieblingsgerichten zählte, bestellte er zwei weitere Krüge Bier, um den Geschmack hinunterzuspülen. »Das war also der erste Teil der Geschichte. Tschechische Truppen raus, russische Truppen rein. Kapiert?«

Smiley sagte, ja, er glaube, er sei soweit ganz gut mitgekommen. Als sie wieder zurück in Brunn waren, erfuhr der Junge jedoch, daß seine Einheit noch längst nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen sollte. Ihr Konvoi wurde mit einem zweiten gekoppelt, und in der folgenden Nacht rasten sie acht bis zehn Stunden lang ohne bekanntes Ziel in der Gegend herum. Sie fuhren nach Westen bis Trebic, hielten und warteten, während die Nachrichtenabteilung eine lange Sendung durchgab, dann ging es in südöstlicher Rich­tung zurück, fast bis Znojmo an der österreichischen Grenze, und während des Fahrens wurde wie irre gehupt; niemand wußte, wer die Route befohlen hatte, niemand wollte irgend etwas erklären. Einmal bekamen sie Befehl, die Bajonette aufzupflanzen, ein anderes Mal schlugen sie ein Lager auf und packten alsbald ihren Kram wieder zusammen und zischten ab. Da und dort begegneten sie anderen Einheiten: Bei Breclav Feldpolizei, Pan­zer, die immer rundum fuhren, einmal zwei Kanonen auf Selbstfahr-Lafetten über eigens verlegte Gleise. Überall die gleiche Geschichte: kopfloses, sinnloses Getümmel. Die älteren Hasen sagten, es sei eine Strafe der Russen dafür, daß man Tscheche sei. Als sie wieder zurück in Brunn waren, hörte der Junge eine ganz andere Erklärung. Die Russen waren hinter einem englischen Spion namens Hajek her. Er hatte die Forschungsanlage aus­spionieren wollen und versucht, einen General zu entführen, und die Russen hatten ihn erschossen.

»Also fragte der Junge«, sagte Jerry, »der freche kleine Teufel fragte seinen Unteroffizier: >Wenn Hajek schon erschossen ist, warum müssen wir dann in der Gegend rumbrausen und einen Mordswirbel machen?< Und der Unteroffizier belehrt ihn: >Weil wir hier beim Militär sind.< Auch überall die gleiche Marke, wie?«

Sehr ruhig fragte Smiley: »Wir sprechen da von zwei Nächten, Jerry. In welcher Nacht sind die Russen in den Wald eingedrun­gen?

Jerry Westerbys Gesicht verzog sich vor Betroffenheit. »Genau das wollte der Junge mir sagen, George. Genau das wollte er mir in Stans Bar stecken. Worum's bei all den Gerüchten ging. Die Russen sind am Freitag eingedrungen. Aber Hajek haben sie erst am Sonnabend erschossen. Also sagten die Schlaumeier: ganz klar, die Russen haben Hajek aufgelauert. Wußten, daß er kom­men würde. Wußten alles. Hinterhalt. Üble Geschichte, was? Schlecht für unseren guten Ruf, Sie verstehen, was ich meine. Schlecht für großen Häuptling. Schlecht für ganzen Stamm. Hugh.«

»Hugh«, sagte Smiley in sein Bierglas.

»Toby hat es auch so aufgefaßt. Wir haben es genau gleich beur­teilt, bloß verschieden reagiert.«

»Sie haben also Toby alles erzählt«, sagte Smiley beiläufig, wäh­rend er Jerry eine große Schüssel Bohnen reichte. »Sie mußten ihn ohnehin aufsuchen und ihm sagen, daß Sie das Päckchen für ihn in Budapest abgeliefert hätten, also haben Sie ihm die Hajek-Story auch gleich erzählt.«

Ja, genau so war's, sagte Jerry. Das war's auch, was ihm keine Ruhe gelassen hatte, was ihm komisch vorkam, was ihn veranlaßt hatte, George zu schreiben. »Der alte Toby sagte, es sei Blech. Wird ganz befehlshaberisch und unangenehm. War zuerst ganz weg, schlägt mich auf den Rücken und Westerby ist der Beste. Dann geht er zurück in den Laden, und am nächsten Morgen fährt er das schwere Geschütz auf. Dringende Zusammenkunft, fährt mich im Wagen immer rund um den Park und brüllt Mord und Brand. Sagt, ich war damals so besoffen, daß ich Phantasie und Tatsachen nicht auseinanderhalten konnte. In dieser Tonart. Hat mich ein bißchen gefuchst.«

»Ich nehme an, Sie fragten sich, mit wem er inzwischen gespro­chen haben mochte«, sagte Smiley mitfühlend. »Was hat er genau gesagt?« fragte er, keineswegs eindringlich, sondern nur so, als wolle er alles kristallklar vor sich sehen.

»Hat gesagt, es war höchstwahrscheinlich eine abgekartete Sache. Der Junge war ein Provokateur. Irreführung, damit der Circus hinter seinem eigenen Schwanz herjagen sollte. Reißt mir die Oh­ren ab, weil ich halbgare Gerüchte ausgestreut hätte. Ich sage zu ihm. >Alter Junge<, sage ich, >Toby, ich hab' nur berichtet, alter Junge. Kein Anlaß, daß Ihnen der Kragen platzt. Gestern war ich noch Ihr bestes Stück. Ist doch sinnlos, auf den Boten zu schie­ßen. Wenn die Geschichte Ihnen nicht mehr gefällt, das ist Ihre Sache.« Will mir überhaupt nicht zuhören, verstehen Sie? Völlig unlogisch, habe ich mir gedacht. Ein Bursche wie der. Ist im einen Moment heiß und im nächsten kalt. War nicht seine beste Leistung, verstehen Sie, was ich meine?«

Mit der linken Hand rieb Jerry sich die Schläfe wie ein Schul­junge, der vorgibt, nachzudenken. »Okie dokie«, sagte ich. >Schwamm drüber. Ich schreib's für das Blättchen. Nicht den Teil über die Russen, die zuerst hingekommen sind. Den anderen Teil. Schmutzige Arbeit im Wald, diese Art Schmus.< Ich sag zu ihm: >Wenn's für den Circus nicht gut genug ist, für's Blättchen genügt's.< Da geht er schon wieder die Wand hoch. Am nächsten Tag klingelt so ein Uhu unseren Alten an. Halten Sie diesen Pa­vian Westerby von der Ellis-Story fern. Steckt ihm die Nase in die D-Vorschrift: formelle Warnung. >Alle weiteren Hinweise auf Jim Ellis alias Hajek gegen das nationale Interesse, also Hände weg.< Zurück zum Damen-Pingpong. Cheers.«

»Aber da hatten Sie mir bereits geschrieben«, erinnerte Smiley ihn. Jerry Westerby wurde feuerrot. »Tut mir schrecklich leid«, sagte er. »Bin richtig fremdenfeindlich und mißtrauisch geworden. Kommt davon, wenn man draußen ist: man traut seinen besten Freunden nicht mehr.«

Er versuchte es nochmals: »Hab' halt gedacht, der alte Toby ist ein bißchen durchgedreht. Hätt' ich nicht tun sollen, wie? Gegen die Regeln.« Trotz seiner Verlegenheit brachte er ein mühsames Grinsen zustande. »Dann hör' ich hintenrum, daß die Firma Sie an die Luft gesetzt hat, und ich komm' mir noch verdammt blö­der vor. Kein einsamer Jäger, wie, alter Knabe? Nein . . .?« Die Frage blieb ungestellt; aber vielleicht nicht unbeantwortet.

Als sie gingen, faßte Smiley freundlich Jerrys Arm. »Falls Toby sich mit Ihnen in Verbindung setzen sollte, dann sa­gen Sie ihm besser nicht, daß wir uns heute getroffen haben. Er ist schon in Ordnung, aber er hat die fixe Idee, alle könnten sich gegen ihn verschwören.«

»Fiele mir nicht im Traum ein, alter Knabe.«

»Und falls er sich wirklich in den nächsten Tagen melden sollte«, fuhr Smiley fort - eine sehr entfernte Möglichkeit, besagte sein Tonfall - »können Sie mir einen Wink zukommen lassen. Dann kann ich Ihnen den Rücken stärken. Rufen Sie übrigens nicht mich an, wählen Sie diese Nummer.«

Plötzlich war Jerry Westerby in Eile; die Story über den Albion-Schläger konnte nicht mehr warten. Aber als er Smileys Karte entgegennahm, fragte er mit einem seltsamen, verlegenen Blick an Smiley vorbei: »Doch nichts Unschönes im Gang, wie, alter Knabe? Keine faulen Sachen im engen Kreis?« Das Grinsen war furchterregend: »Stamm ist nicht auf dem Kriegspfad oder so?«

Smiley lachte und legte eine Hand leicht auf Jerrys gewaltige, ein wenig hochgezogene Schulter. »Jederzeit«, sagte Westerby. »Werde dran denken.«

»Hab' gedacht, Sie wären's gewesen, verstehn Sie: der den Alten angerufen hat.«

»Ich war's aber nicht.«

»Vielleicht war's Alleline.«

»Nehme ich an.«

»Jederzeit«, sagte Westerby nochmals. »Tut mir leid, ja? Grüßen Sie Ann.« Er zögerte.

»Na los, Jerry, raus damit«, sagte Smiley.

»Toby hat eine häßliche Geschichte über sie und Bill, das Groß­hirn. Hab' ihm gesagt, er soll sich's in seinen dreckigen Schlund stecken. Ist doch nichts dran, wie?«

»Vielen Dank, Jerry. Wiedersehn, Hugh.«

»Hab' gewußt, daß nichts dran ist«, sagte Jerry aufrichtig er­freut, hob wieder den Zeigefinger zur Indianerfeder und trabte zurück in seine Jagdgründe.

Worin sich junge Liebe überraschend in Erinnerung bringt

Als Smiley in dieser Nacht allein in seinem Bett im Islay lag und nicht schlafen konnte, nahm er sich noch einmal die Akte vor, die Lacon ihm in Mendels Haus gegeben hatte. Sie stammte aus den späten fünfziger Jahren, als der Circus genau wie andere Whitehall-Dienststellen unter dem Druck der Konkurrenz die Zuverlässigkeit seiner Mitarbeiter genau unter die Lupe hatte neh­men müssen. Bei den meisten Einträgen handelte es sich um Routineüberprüfungen: Abgehörte Telefongespräche, Überwachungsberichte, endlose Interviews mit Universitätslehrern, Freunden und Bürgern. Ein Dokument jedoch hielt Smiley fest wie ein Magnet; er konnte sich nicht mehr davon trennen. Es war ein Brief, im Index schlicht als »Haydon an Fanshaw, 3. Februar 1937« aufgeführt. Genauer gesagt war es ein handschriftlicher Brief des Studenten Bill Haydon an seinen Tutor Fanshaw, einen Talentsucher des Circus, worin der junge Jim Prideaux als mög­licher Kandidat auf eine Anwerbung für den britischen Geheim­dienst vorgestellt wurde. Eine geschraubte explication de texte war vorangestellt. Die Optimates seien »ein elitärer Christ Church Club, hauptsächlich ehemalige Eton-Schüler«, schrieb der un­bekannte Verfasser. Fanshaw (P.R. de T. Fanshaw, Ehrenlegion, O.B.E.* [* Officer of the Order of the British Empire] Personalakte soundso), war sein Gründer, Haydon (un­zählige Referenzen) war in dem betreffenden Jahr seine Prima­donna gewesen. Die politische Couleur der Optimates, denen schon Haydons Vater seinerzeit angehört hatte, war unverhohlen konservativ. Fanshaw, inzwischen längst gestorben, kämpfte lei­denschaftlich für das Empire, und »die Optimates waren seine pri­vate Truppenreserve für das Große Spiel«, wie der Vorspann aus­führte. Seltsamerweise erinnerte sich Smiley aus seiner eigenen Studienzeit undeutlich an Fanshaw: Ein dünner, emsiger Mann mit randloser Brille, Neville-Chamberlain-Regenschirm und un­natürlich geröteten Backen, als zahnte er noch immer. Steed Asprey nannte ihn den Tantenonkel.


»Mein lieber Fan, könnten Sie sich entschließen, einige Erkundi­gungen über den jungen Herrn einzuziehen, dessen Name auf ein­liegendem Stück Menschenhaut geschrieben steht? (Überflüssige Anmerkung der Inquisitoren: Prideaux.) Vermutlich kennen Sie Jim - wenn Sie ihn überhaupt kennen - als Athletikus von einigen Graden. Was Sie indes nicht wissen, aber wissen sollten, ist fol­gendes: Er ist kein mieser kleiner Linguist oder sonst ein kom­pletter Idiot. . .« (hier folgte ein biographischer Überblick von erstaunlicher Genauigkeit:. . . Lycee Lakanal in Paris, für Eton angemeldet, aber nie hingegangen, Jesuitenschule in Prag, zwei Semester Straßburg, Eltern Bankgeschäft auf dem Balkan, Klein­adel, leben getrennt. . .)

»Daher die innige Vertrautheit unseres Jims mit fremden Gebie­ten und sein elternloses Aussehen, das ich unwiderstehlich finde. Übrigens: wenn er auch aus sämtlichen Bestandteilen Europas zusammengesetzt ist, täuschen Sie sich nicht: die komplette Mi­schung ist aus unserem Schrot und Korn und uns treu ergeben. Zur Zeit ist er ein bißchen aus dem Tritt, er hat nämlich soeben entdeckt, daß es außerhalb des Spielfelds auch noch eine Welt gibt, und diese Welt bin ich.

Aber zuerst sollen Sie erfahren, wie ich ihn kennenlernte. Wie Sie wissen, entspricht es meinen Gewohnheiten (und Ihrer Anweisung), von Zeit zu Zeit arabische Tracht anzulegen und hinunter zu den Bazaren zu gehen, wo ich mich zu den großen Ungewaschenen setze und den Worten ihrer Propheten lausche, auf daß ich sie besser fertigmachen könne, wenn es soweit ist. Der Juju-Mann en vogue dieses Abends war direkt von Mütterchen Rußlands Busen herbeigeeilt: ein gewisser Professor Chlebnikow, zur Zeit an der Sowjetischen Botschaft in London, ein fideler, recht mitreißender kleiner Bursche, der außer dem üblichen Un­sinn auch ein paar ganz witzige Dinge von sich gab. Der genannte Bazar war ein Debattierclub, genannt die Volksfreunde, unsere Konkurrenz, mein lieber Fan, und Ihnen bereits von einigen mei­ner früheren Streifzüge her bekannt. Nach der Predigt wurde brutal proletarischer Kaffee gereicht, dazu ein grauenhaft demo­kratisches Brötchen, und ich bemerkte diesen großen Burschen, der allein ganz hinten im Saal saß und offenbar zu schüchtern war, um sich zu den anderen zu gesellen. Sein Gesicht war mir vom Kricketplatz her bekannt, und es stellte sich heraus, daß wir ge­meinsam in der College-Mannschaft gespielt hatten, ohne je ein Wort zu wechseln. Ich weiß nicht recht, wie ich ihn beschreiben soll. Er hat Persönlichkeit, Fan. Ich bin jetzt ganz ernst.« Hier wurde die Schrift, bisher verkrampft und stelzig, breiter, als der Schreiber auf Touren kam:

»Er hat die alles beherrschende Gelassenheit. Hartköpfig, im wah­ren Sinn des Wortes. Einer von den Stillen im Lande, die ihr Team führen, ohne daß man es merkt. Fan, Sie wissen, wie schwer es mir fällt, zu handeln. Sie müssen mich ständig daran erinnern, mei­nen Verstand daran erinnern, daß ich mich den Gefahren des Lebens stellen muß, wenn ich seine Geheimnisse ergründen will. Jim dagegen handelt aus dem Instinkt... er ist funktionell. . . Er ist meine andere Hälfte, gemeinsam würden wir einen fabel­haften Menschen ergeben, außer daß keiner von uns singen kann. Und Fan, kennen Sie das Gefühl, daß man einfach losziehen und einen neuen Menschen finden muß, oder die eigene Welt geht zum Teufel?«

Die Schrift wurde wieder stetiger.

»>Yavas Lagloo<, sage ich, was russisch sein und etwa heißen soll, >Komm in meine Liebeslaube< oder so ähnlich, und er sagt >Oh, hallo<, was er vermutlich auch zum Erzengel Gabriel gesagt hätte, wenn der zufällig des Weges gekommen wäre. >Wo klemmt's ?< sage ich.

>Nirgends <, sagt er, nachdem er ungefähr eine Stunde lang nach­gedacht hatte.

>Was tun Sie dann hier? Wenn's nirgends klemmt, was suchen Sie dann hier?<

Da grinste er mich breit und freundlich an, und wir hopsen rüber zum großen Chlebnikow, schütteln eine Weile seine kleine Hand und vertrollen uns dann in meine Wohnung. Wo wir trinken. Und trinken. Und Fan, er trank alles, was er fassen kriegte. Oder viel­leicht ich, ich weiß es nicht mehr. Und wie's Tag wird, wissen Sie, was wir taten? Ich will's Ihnen sagen, Fan. Wir spazierten feier­lich hinunter zu den Sportplätzen, ich setz mich mit einer Stopp­uhr auf eine Bank, Big Jim steigt in seinen Trainingsanzug und reißt zwanzig Runden herunter. Zwanzig. Ich war völlig er­schöpft.

Wir können jederzeit zu Ihnen kommen, er wünscht sich nichts Besseres als meine Gesellschaft oder die meiner gottlosen, gött­lichen Freunde. Kurz, er hat mich zu seinem Mephisto ernannt, und ich fühle mich sehr gebauchkitzelt. Nebenbei gesagt, er ist Jungfrau, ungefähr einsachtzig groß, und von derselben Firma hergestellt, die die Hünengräber fabriziert hat. Keine Angst!« Danach gab die Akte wieder nichts mehr her. Smiley richtete sich auf, blätterte hastig die Seiten um und suchte ungeduldig nach etwas Handfestem. Die Tutoren beider Männer versichern (nach zwanzig Jahren), es sei undenkbar, daß die Beziehung zwischen den beiden >mehr als rein freundschaftlicher Natur< gewesen sei . . . Haydons Zeugenaussage wurde nie angefordert. . . Jims Tu­tor bezeichnet ihn als >intellektuellen Vielfraß nach langem Hungern< und weist jede Andeutung zurück, daß Jim etwa >rot an­gehaucht war. Die Gegenüberstellung in Sarratt beginnt mit langatmigen Entschuldigungen, vor allem auf Grund von Jims großartigen Leistungen während des Kriegs. Jims Antworten bringen nach den Manieriertheiten von Haydons Brief frischen Wind in die Lektüre. Ein Vertreter der Konkurrenz ist anwesend, ergreift aber kaum das Wort. Nein, Jim hatte Chlebnikow nie wiedergesehen, auch niemanden, der sich als dessen Abgesandter ausgab; nein, mit Ausnahme dieses einen Mals hat er nie mit ihm gesprochen. Nein, er hatte damals keine weiteren Kontakte mit Kommunisten oder Russen gehabt, er konnte sich an keinen Namen eines Mitglieds der Volksfreunde erinnern. Frage: (Alleline) >Was Ihnen wohl keine schlaflosen Nächte be­reitet, wie?< Antwort: >Ehrlich gesagt, nein.< (Lachen)


Ja, er war Mitglied bei den Volksfreunden gewesen, genau wie er Mitglied des Theaterclubs am College gewesen war, der philate­listischen Gesellschaft, der Gesellschaft für moderne Sprachen, der Union und der Historischen Gesellschaft, der Ethischen Ge­sellschaft und der Rudolf Steiner-Arbeitsgruppe . . . Auf diese Weise konnte man interessante Vorträge hören und Leute ken­nenlernen; besonders dieses. Nein, er hatte nie linke Literatur ver­teilt, allerdings kurze Zeit Soviet Weekly gelesen . . . Nein, er hatte niemals Beiträge an irgendeine politische Partei entrichtet, weder in Oxford noch später, er hatte sogar nie von seinem Wahl­recht Gebrauch gemacht. . . Daß er sich in Oxford so vielen Clubs anschloß, hatte vor allem einen Grund: Nach einer wechselvollen Schulzeit im Ausland hatte er keine gleichaltrigen englischen Ka­meraden von früher . . .

Hier sind die Inquisitoren bereits ausnahmslos auf Jims Seite; alle machen gemeinsam Front gegen die Konkurrenz und ihre bürokratische Einmischung.

Frage: (Alleline) »Nur interessehalber, hätten Sie etwas da­gegen, mir zu sagen, wo Sie bei Ihren vielen Auslands­aufenthalten Kricketspielen gelernt haben?« (Lachen) Antwort: »Wissen Sie, ich hatte einen Onkel mit einem Kricket­platz in der Nähe von Paris. Ausgesprochener Kricket­fan. Mit Netz und allen Schikanen. Wenn ich in den Ferien dort war, mußte ich nonstop mit ihm spielen.« (Anmerkung der Inquisitoren: Comte Henri de Sainte-Yvonne, Dez. 1942, Personalakte. AF64 - 7.) Ende des Interviews. Ver­treter der Konkurrenz möchte Haydon als Zeugen vorführen las­sen, aber Haydon ist im Ausland und verhindert. Termin auf un­bestimmte Zeit verschoben . . .

Smiley war schon fast eingeschlafen, als er die letzte Eintragung las, die achtlos eingefügt worden war, längst nachdem Jims Sicher­heitsüberprüfung durch die Konkurrenz formell abgeschlossen war. Es war ein Zeitungsausschnitt vom Juni 1938, eine Bespre­chung von Haydons damaliger Ein-Mann-Ausstellung, und der Titel lautete »Realismus oder Surrealismus? Oxforder Perspek­tiven.« Nachdem der Kritiker Bill Haydons Gemäldeausstellung in Grund und Boden verrissen hatte, endete er mit folgender lau­niger Bemerkung:

»Wie uns zu Ohren kam, hat der treffliche Mr. James Prideaux sich sogar zeitweise von seinem Kricket losgerissen, um beim Hängen der Leinwände behilflich zu sein. Wir meinen zwar, daß er besser daran getan hätte, in der Banbury Road zu bleiben. Da indessen seine Rolle als Förderer der schönen Künste das einzig Echte an der ganzen Veranstaltung war, sollten wir vielleicht nicht allzusehr lästern . . .«

Smiley döste, in seinem Hirn drängten sich, wohlgeordnet, Zwei­fel, Argwohn und Gewißheiten. Er dachte an Ann und empfand große Zärtlichkeit für sie, sehnte sich danach, ihre Schwachheit mit seiner eigenen zu beschützen. Wie ein junger Mann flüsterte er ihren Namen und stellte sich vor, daß ihr schönes Gesicht sich im Halbdunkel über ihn beuge, während Mrs. Pope Graham durchs Schlüsselloch ihren Bannfluch zeterte. Er dachte an Tarr und Irina und grübelte nutzlos über Liebe und Treue; er dachte an Jim Prideaux und was wohl der Morgen bereithalten würde. Er fühlte in aller Bescheidenheit, daß ein Sieg bevorstand. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt, lange auf den Meeren gekreuzt; morgen, wenn er Glück hatte, würde er vielleicht Land erblicken: eine friedliche kleine verlassene Insel zum Beispiel. Eine, von der Karla nie gehört hatte. Gerade groß genug für ihn und Ann. Er schlief ein.

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