Elftes Kapitel

Lange Jahre konnte sich Dorian Gray nicht von dem Einfluß dieses Buches befreien. Oder es wäre vielleicht zutreffender zu sagen, er versuchte nie, sich von ihm zu befreien. Er ließ sich aus Paris nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ sie verschiedenfarbig einbinden, auf daß sie zu seinen verschiedenen Stimmungen und zu den wechselnden Launen einer Natur paßten, über die er manchmal jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held des Buches, der junge Pariser, in dem die romantischen und die wissenschaftlichen Neigungen so seltsam gemengt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher Typus seiner selbst. Und in Wahrheit schien ihm das ganze Buch die Geschichte seines eigenen Lebens zu enthalten, die niedergeschrieben worden war, ehe er es gelebt hatte.


In einem Punkt war er glücklicher als der phantastische Romanheld. Er kannte nie – und hatte in Wahrheit nie einen Grund dazu – das fast groteske Grauen vor Spiegeln und glatten Metalloberflächen und stillen Wassern, das den jungen Pariser so früh im Leben überkam und das durch den plötzlichen Verfall einer Schönheit veranlaßt worden war, die einstmals so hervorragend gewesen sein mußte, Mit einer fast grausamen Freude – und vielleicht liegt in fast jeder Freude, wie sicher in jeder Lust, Grausamkeit – las er gern den letzten Teil des Buches mit seinem wahrhaft tragischen, wenn auch etwas übertrieben pathetischen Bericht über die Leiden und die Verzweiflung eines Menschen, der selber verloren hatte, was er an andern und an der Welt so sehr schätzte.


Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward und viele andre außer ihm so bezaubert hatte, schien ihn nie zu verlassen. Selbst solche, die die schlimmsten Dinge über ihn gehört hatten – und von Zeit zu Zeit schlichen seltsame Gerüchte über seine Lebensführung durch London und wurden zum Klubgespräch –, konnten nichts, was ihm zur Unehre gereichte, glauben, wenn sie ihn sahen, Er sah immer aus wie einer, der sich in der Welt fleckenlos bewahrt hatte. Männer, die unanständige Reden führten, verstummten, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat. Es lag etwas in der Reinheit seines Gesichtes, das sie zurechtwies. Seine bloße Anwesenheit schien ihnen die Erinnerung an die Unschuld zurückzurufen, die sie befleckt hatten. Sie wunderten sich, wie einer, der so reizend und anmutsvoll war wie er, der Befleckung einer Zeit hatte entgehn können, die schmutzig und sinnlich zugleich war.


Oft, wenn er nach einer geheimnisvollen längeren Abwesenheit, die sich öfter wiederholte und manchmal zu seltsamen Vermutungen unter denen, die seine Freunde waren oder sich dafür hielten, Veranlassung gab, nach Hause zurückkehrte, kletterte er ins Dachgeschoß hinauf, öffnete mit dem Schlüssel, den er jetzt immer bei sich trug, die Tür zu dem verschlossenen Zimmer und stand mit einem Spiegel in der Hand vor dem Porträt, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, und blickte bald auf das schlimme und gealterte Gesicht auf der Leinwand, bald auf das schöne, junge Antlitz, das ihm aus der glatten Fläche des Spiegels entgegenlachte. Die Stärke des Gegensatzes regte geradezu sein Lustgefühl an. Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit, gewann mehr und mehr Interesse an der Verderbnis seiner eigenen Seele. Er untersuchte mit peinlicher Sorgfalt und manchmal mit ungeheuerlichem und furchtbarem Entzücken die gräßlichen Linien, die die faltige Stirn verunstalteten oder um den dicken, sinnlichen Mund krochen, und fragte sich manchmal, welche Spuren die scheußlicheren wären, die der Sünde oder die des Alters.


Er legte seine weißen Hände neben die plumpen, aufgetriebenen Hände des Bildes und lächelte. Er machte sich über den mißgeschaffenen Körper und die verfallenden Glieder lustig.


Es gab freilich Augenblicke, wenn er schlaflos in seinem eigenen parfümduftenden Gemache oder in dem schmutzigen Zimmer der kleinen berüchtigten Kneipe in der Nähe der Docks lag, die er unter einem falschen Namen und in Verkleidung zu besuchen pflegte – wo er mit einem Mitleid, das um so schärfer war, als es rein egoistischen Ursprungs war, an das Verderben dachte, das er über seine Seele gebracht hatte. Aber solche Augenblicke waren selten. Die Neugier auf das Leben, die Lord Henry zuerst in ihm erweckt hatte, als sie im Garten ihres Freundes zusammensaßen, schien mit ihrer Befriedigung zu wachsen. Je mehr er kennen lernte, um so mehr verlangte es ihn, zu erfahren. Er hatte wahnsinnige Hungergelüste, die heißhungriger wurden, je mehr er sie fütterte.


Aber er war doch nicht wirklich liederlich geworden, wenigstens nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- oder zweimal in jedem Monat während des Winters und jeden Mittwoch abend während der Dauer der Saison öffnete er der Welt sein schönes Haus und hatte immer die berühmtesten Musiker, die seine Gäste mit ihrer wunderbaren Kunst entzückten. Seine kleinen Diners, bei deren Arrangement Lord Henry ihm immer half, waren ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Placierung der Eingeladenen bekannt, wie wegen des erlesenen Geschmacks, der sich in der Dekoration der Tafel mit ihren feinen symphonischen Arrangements exotischer Blumen, ihren gestickten Decken und dem antiken Gold- und Silbergeschirr zeigte.


Es gab tatsächlich viele, besonders unter den ganz jungen Leuten, die in Dorian Gray die richtige Verwirklichung eines Typus sahen, von dem sie in den Tagen von Eton oder Oxford oft geschwärmt hatten, eines Typus, der so etwas wie die wahre Bildung und Kultur des Gelehrten mit der Grazie und der Vornehmheit und den vollendeten Manieren eines Mannes von Welt vereinigen sollte, oder die sie wenigstens zu sehn sich einbildeten. Ihnen schien er einer aus der Schar derer zu sein, die Dante schildert, die da suchten, »sich vollkommen zu machen durch den Kultus der Schönheit«. Gleich Gautier war er einer, für den »die sichtbare Welt da war«.


Und gewiß war ihm das Leben die erste und größte der Künste, und auf das Leben schienen alle andern Künste nur eine Vorbereitung zu sein. Die Mode, durch die einen Augenblick lang Gemeingut aller wird, was in Wahrheit phantastisch und Laune eines einzelnen ist, und das Dandytum, das in seiner besonderen Art ein Versuch ist, eine völlig moderne Schönheit zu verkörpern, übten natürlich ihren Reiz auf ihn aus. Seine Art, sich zu kleiden, und die besondern Stile, die er von Zeit zu Zeit zur Schau trug, hatten ihren deutlichen Einfluß auf die jungen Stutzer von den Bällen in Mayfair und den Fenstern des Pall Mall Klub, die ihn in allem, was er tat, kopierten, und die den absichtslosen Reiz seiner anmutigen, wenn schon ihm nur halb ernsten Geckereien nachzuahmten suchten.


Denn er war zwar nur zu gern bereit, die Rolle zu übernehmen, die ihm fast unmittelbar, nachdem er volljährig geworden war, zuflog, und er fand tatsächlich einen besondern Genuß in dem Gedanken, er könne dem London seiner Zeit wahrhaft das werden, was der Verfasser des 'Satyricon' einst dem kaiserlichen Rom Neros gewesen war. aber im innersten Herzen verlangte es ihn doch, etwas mehr zu sein als ein bloßer arbiter elegantiarum und nicht bloß über das Tragen eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder das Halten eines Spazierstockes zu Rate gezogen zu werden. Er versuchte, einen neuen Plan der Lebensführung zu entwerfen, der seine philosophische Grundlage und geordnete Prinzipien haben und in der Vergeistigung der Sinne seine höchste Vollendung finden sollte.


Der Kultus der Sinne ist oft, und mit vielem Recht, in Verruf gebracht worden, da die Menschen einen natürlichen, instinktmäßigen Abscheu vor Leidenschaften und Triebempfindungen haben, die stärker als sie selbst scheinen und die sie, wie sie wissen, mit den weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein haben. Aber es kam Dorian Gray so vor, als wäre die wahre Natur der Sinne nie verstanden worden, und als wären sie nur darum wild und tierisch geblieben, weil die Welt versuchte, sie hungern zu lassen und dadurch zur Unterwerfung zu bringen, oder sie durch Qualen zu töten, anstatt dahin zu streben, sie zu Elementen einer neuen Geistigkeit zu machen, deren vorherrschendes Kennzeichen ein feiner Instinkt für die Schönheit war. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Geschichte zurückblickte, wurde er wie von einem Gefühl des Verlustes heimgesucht. Auf so viel war verzichtet worden und zu so kleinem Zweck! Es hatte wahnsinnige freiwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen der Selbstpeinigung und Selbstverleugnung, deren Ursprung Furcht und deren Ergebnis eine Erniedrigung war, unendlich viel schrecklicher als die eingebildete Erniedrigung, vor der sie sich in ihrer Unwissenheit retten wollten, da die Natur in ihrer wundervollen Ironie den Anachoreten hinaustrieb, damit er mit den wilden Tieren der Wüste zusammen sein Futter suche, und dem Eremiten die Tiere des Feldes zu Gefährten gab.


Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein neuer Hedonismus kommen, der dazu bestimmt war, das Leben zu erneuern und es vor dem groben, häßlichen Puritanismus zu erretten, der in unsern Tagen sein seltsames Wiedererwachen gefunden hatte. Gewiß, er würde dem Intellekt zu gehorchen haben; aber er würde nie eine Theorie oder ein System anerkennen, das das Opfer irgendeiner Art Gefühls- oder Trieberlebnisses verlangte. Sein Ziel war gerade die Erfahrung und das Erlebnis selbst, nicht die Früchte der Erfahrung, so süß oder so bitter sie auch wären. Von der Askese, die die Sinne tötet, würde dieser Hedonismus ebensowenig wissen wollen wie von der gewöhnlichen Liederlichkeit, die sie stumpf macht. Aber er sollte die Menschen lehren, sich auf die Momente eines Lebens zu konzentrieren, das selbst nur ein Moment ist.


Es gibt wenige unter uns, die nicht manchmal vor Tagesgrauen erwacht sind, entweder nach einer der traumlosen Nächte, die uns fast verliebt in den Tod machen, oder nach einer Nacht voller Entsetzen und Alpdruckslüste, die fürchterlicher sind als die Wirklichkeit selber und die von dem starken Leben triefen, das in allem Grotesken lauert und das der gotischen Kunst ihre unvertilgbare Lebenskraft gibt – denn diese Kunst, möchte man meinen, ist ganz besonders die Kunst derer, deren Geist von der Krankheit des Fiebertraums verwirrt worden ist. Langsam schieben sich weiße Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen zu zittern. In schwarzen verzerrten Formen kriechen lautlose Schatten in die Zimmerecken und bleiben da hocken. Draußen regen sich die Vögel im Laub, oder man hört die Schritte von Männern, die zur Arbeit gehn, oder das Seufzen und Heulen des Windes, der von den Bergen kommt und das schweigsame Haus umfährt, als ob er sich fürchtete, die Schläfer zu wecken, und doch es nicht lassen könnte, den Schlaf aus seiner purpurnen Höhle heraufzurufen. Schleier um Schleier aus dünner, dunkelfarbener Gaze hebt sich, und allmählich werden den Dingen die Formen und Farben wiedergegeben, und wir gewahren das Grauen des Tages, der die Welt in ihrem uralt-gleichen Bild wiederherstellt. Die bleichen Spiegel bekommen wieder ihr Scheinleben. Ausgelöscht stehen die Kerzen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, in dem wir gelesen, oder die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet haben oder den wir zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns verändert. Aus den unwirklichen Schatten der Nacht kommt das wirkliche Leben, wie wir es gekannt hatten, hervor. Wir müssen es wieder da aufnehmen, wo wir es gelassen hatten, und es überschleicht uns ein furchtbares Gefühl von der Notwendigkeit der Fortdauer der Energie in demselben ermüdenden Kreislauf stereotyper Gewohnheit, oder vielleicht ein wildes Verlangen, unsere Lider möchten sich eines Morgens einer Welt öffnen, die in den dunkeln Stunden zu unserer Lust neu geformt worden wäre, einer Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten und verwandelt wären oder andere Geheimnisse enthielten, einer Welt, in der die Vergangenheit einen kleinen oder gar keinen Platz hätte oder wenigstens nicht in der Bewußtseinsform der Pflicht oder der Reue weiter lebte, wo selbst das Gedächtnis an die Freude Bitterkeit birgt und die Erinnerung an die Lust den Schmerz im Gefolge hat.


Solche Welten zu schaffen, schien Dorian Gray die wahre Aufgabe oder eine der wahren Aufgaben des Lebens; und auf seiner Suche nach Erlebnissen der Sinne und starken Empfindungen, die zugleich neu und lustvoll wären und jenes Element der Seltsamkeit besäßen, das der Romantik so wesentlich ist, nahm er oft gewisse Denkungsarten an, von denen er wohl wußte, daß sie seiner Natur in Wahrheit fremd waren, gab sich ihren feinen Einflüssen hin und ließ sie dann, nachdem er sozusagen ihre Farbe getrunken und seine geistige Neugier befriedigt hatte, mit der seltsamen Gleichgültigkeit fallen, die mit einem wirklich glühenden Temperament nicht unvereinbar ist, die in Wahrheit sogar, nach manchem Psychologen unserer Zeit, oft eine Bedingung dafür ist.


Es ging einmal das Gerücht über ihn, er stehe im Begriff, katholisch zu werden; und gewiß hatte der katholische Kult immer eine große Anziehung für ihn. Das tägliche Meßopfer, das in Wahrheit ehrwürdiger und furchtbarer ist als alle Opfer der antiken Welt, ergriff ihn ebensosehr durch seine prachtvolle Unbekümmertheit um den Augenschein der Sinne wie durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der Menschentragödie, der es ein Symbol sein wollte. Er kniete gern auf das kalte Marmorpflaster nieder und beobachtete, wie der Priester in seiner feierlichen, mit Blumen bestickten Dalmatika langsam mit weißen Händen den Vorhang des Tabernakels beiseite schob oder die mit edeln Steinen geschmückte Monstranz, die die blasse Hostie enthielt – die zuzeiten, möchte man gern glauben, wirklich der panis coelestis ist, das Brot der Engel – gleich einer Laterne in die Höhe hob; oder wie er, angetan mit den Gewändern der Passion Christi, die Hostie in den Kelch tauchte und sich die Brust schlug um seiner Sünden willen. Die rauchenden Weihrauchfässer, die die ernsthaften Knaben, in Spitzen und Scharlach gekleidet, wie große, goldfarbene Blumen in der Luft schwangen, übten eine tiefe Bezauberung auf ihn aus. Wenn er hinausging, blickte er wohl neugierig auf die dunkeln Beichtstühle und hatte Lust, in dem Düster eines solchen zu sitzen und Männern und Frauen zu lauschen, wie sie durch das abgegriffene Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten.


Aber er verfiel nie dem Irrtum, irgendeinen Glauben oder ein System formell zu akzeptieren und dadurch die Entfaltung seines Geistes zu hemmen, gleichsam eine Herberge, die nur gut ist für den Aufenthalt einer Nacht oder für ein paar Stunden einer Nacht, in der keine Sterne am Himmel sind und der Mond im Werden ist, mit einem Haus zu verwechseln, in dem man sein Leben verbringt. Die Mystik, mit ihrer wunderbaren Macht, uns gemeine Dinge fremd und ungemein zu machen, und mit der tiefen Ketzerei, die immer in ihrem Gefolge zu sein scheint, ergriff ihn für ein halbes Jahr; und dann neigte er wieder ein anderes halbes Jahr zu den materialistischen Lehren der darwinistischen Bewegung in Deutschland und fand einen seltsamen Genuß darin, die Gedanken und Leidenschaften der Menschen bis zu einer perigleichen Zelle im Hirn oder einem weißen Nerv im Körper zurückzuverfolgen, und schwelgte in der Vorstellung von der völligen Abhängigkeit des Geistes von gewissen physischen Bedingungen, krankhaften oder gesunden, normalen oder pathologischen. Jedoch, wie vorhin von ihm gesagt wurde: eine Theorie vom Leben schien ihm irgend Bedeutung zu haben im Vergleich mit dem Leben selbst. Er war sich in aller Schärfe bewußt, wie unfruchtbar alle Spekulation des Geistes ist, wenn sie vom Tun und vom Versuche getrennt ist. Er wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre Geistesmysterien zu offenbaren haben.


Und so erforschte er zu einer Zeit die wohlriechenden Stoffe und die Geheimnisse ihrer Herstellung, destillierte schwer mit Düften beladene Öle und verbrannte wohlriechendes Gummi aus dem Orient. Er sah, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht ihr Gegenstück im Leben der Sinne hatte, und machte sich daran, ihre wahren Beziehungen zu entdecken und also herauszufinden, was im Weihrauch war, der einen mystisch machte, und in der Ambra, die einem die Leidenschaften erweckte, und in den Veilchen, die die Erinnerung an gestorbene Liebe heraufriefen, und im Moschus, der das Hirn verwirrte, und im Tschambak, der die Phantasie schmutzig machte; und oft versuchte er, eine wahrhafte Psychologie der Düfte auszuarbeiten und die verschiedenen Einwirkungen zu bestimmen: Einwirkungen süß duftender Wurzeln und wohlriechender, Blütenstaub tragender Blumen, aromatischer Balsame und dunkler, stark riechender Hölzer, des Baldrians, der zum Erbrechen reizt, von der es heißt, sie könne die Melancholie aus der Seele der Hovenia, die die Menschen toll macht, und der Abe, von der es heißt, sie könne die Melancholie aus der Seele jagen.


Zu einer andern Zeit widmete er sich gänzlich der Musik und in einem langen, verdunkelten Zimmer, dessen Decke in goldenen und roten Tönen gehalten war, und dessen Wände mit olivgrünem Lack überzogen waren, gab er manchmal absonderliche Konzerte, in denen tolle Zigeuner auf kleinen Zithern spielten, oder ernste, in gelbe Schals gehüllte Tunesier die gespannten Saiten ungewöhnlich großer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf Kupfertrommeln schlugen, und schmächtige Inder mit dem Turban auf dem Kopf auf scharlachroten Matten saßen und durch lange Pfeifen aus Rohr oder Messing bliesen und dadurch große Brillenschlangen und Klapperschlangen wirklich oder angeblich bezauberten. Die mißtönenden Intervalle und schrillen Dissonanzen barbarischer Musik sprachen manchmal erregend zu ihm, wenn Schuberts Lieblichkeit, Chopins schönes Leid und die mächtigen Harmonien des großen Beethoven machtlos in sein Ohr fielen. Er sammelte aus allen Weltteilen die seltsamsten Instrumente, die man finden konnte, entweder in den Gräbern toter Völker oder unter den wenigen wilden Stämmen, die die Berührung mit der europäischen Zivilisation überlebt haben, und nahm sie gern zur Hand und versuchte auf ihnen zu spielen. Er hatte die geheimnisvolle Juruparis der Indianer vom Rio Negro, die die Frauen nicht ansehn dürfen, und die selbst junge Männer nicht zu sehn bekommen, ehe sie gefastet und sich gegeißelt haben, und die irdenen Gefäße der Peruaner, die den schrillen Schrei der Vögel wiedergeben, und Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile hörte, und den wohllautenden grünen Jaspis, den man bei Cuzco findet und der einen seltsam süßen Ton von sich gibt. Er hatte bemalte, mit Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die rasselten, wenn man sie schüttelte, die langen Zinken der Mexikaner, in die der Spieler nicht bläst, sondern durch die er die Luft einzieht; das mißtönende Ture der Amazonenstämme, das die Wachen ertönen lassen, die den ganzen Tag in hohen Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine Entfernung von drei Seemeilen gehört werden kann; das Teponaztli, das zwei vibrierende Zungen aus Holz hat und mit Stöcken geschlagen wird, die mit einer Art elastischem Gummi eingeschmiert sind, der aus dem milchigen Saft von Pflanzen gewonnen wird; die Dotl-Glocken der Azteken, die in Büscheln wie Trauben aufgehängt werden; und eine große zylindrische Trommel, über die Häute großer Schlangen gespannt waren, gleich der, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez den mexikanischen Tempel besuchte, und von deren nagendem Ton er uns eine so lebhafte Schilderung hinterlassen hat. Der phantastische Charakter dieser Instrumente bezauberte ihn, und er fühlte einen seltsamen Genuß, wenn er daran dachte, daß die Kunst wie die Natur ihre Mißgeburten hat, Dinge von scheußlicher Gestalt und mit abscheulichen Stimmen. Aber nach einiger Zeit wurde er ihrer müde, saß in seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, lauschte hingerissen der Tannhäuser-Musik und erblickte in dem Vorspiel dieses großen Kunstwerks eine Darstellung der Tragödie seiner eigenen Seele.


Wieder ein anderes Mal warf er sich auf das Studium der Juwelen und erschien auf einem Kostümball als Anne de Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Gewand, das mit fünfhundertundsechzig Perlen besetzt war. Der Geschmack daran hielt ihn jahrelang fest, und, man kann sagen, verließ ihn nie. Er verbrachte oft den ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, zu ordnen und wieder in die Kästen zurückzulegen, wie zum Beispiel den olivgrünen Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, den Cymophan mit seinem dünnen Silberstrich, den pistazienfarbenen Chrysolith, rosenfarbene und Weingelbe Topase, Karfunkel mit Scharlachfeuer und zitternden Sternen mit je vier Strahlen, flammenrote Kaneelsteine, orangefarbene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren regelmäßig aufeinanderfolgenden Schichten von Rubinen und Saphiren. Er liebte das rote Gold des Sonnensteins und die perigleiche Weiße des Mondsteins und den gebrochenen Regenbogen des milchigen Opals. Er ließ sich von Amsterdam drei Smaragde von außergewöhnlicher Größe und Farbenfülle kommen und hatte einen Türkis de la vieille roche, der den Neid aller Kenner erregte.


Er kam auch auf wundervolle Geschichten über Edelsteine. In Alphonsos Clericalis Disciplina war eine Schlange mit Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen erwähnt, und in der Alexandersage hieß es vom Eroberer von Emathia, er habe im Jordantal Schlangen gefunden »mit Geschmeiden aus richtigen Smaragden, die auf ihren Rücken gewachsen waren«. Im Gehirn des Drachen, wird uns erzählt, sei ein Edelstein, und »dadurch, daß man ihm goldene Buchstaben und ein Scharlachgewand zeige«, könne das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt und erschlagen werden. Nach dem großen Alchimisten Pierre de Boniface sollte der Diamant einen Mann unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. Der Karneol besänftigte den Zorn, der Hyazinth rief den Schlaf hervor, und der Amethyst vertrieb die Dünste des Weins. Der Granat trieb Teufel aus, und der Hydrophyt beraubte den Mond der Farbe. Der Selenit nahm mit dem Mond zu und ab, und der Meloceus, der Diebe entdeckte, konnte nur durch Zickleinblut kraftlos gemacht werden. Leonardus Camillus hatte einen weißen Stein gesehn, der aus dem Hirn einer frisch getöteten Kröte genommen worden, und der ein sicheres Gegenmittel gegen Gift war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches fand, war ein Zauber, der die Pest heilen konnte. In den Nestern arabischer Vögel war der Aspilates, der nach Demokrit jeden, der ihn trug, vor Feuersgefahr schützte.


Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier mit einem großen Rubin in der Hand durch seine Stadt. Die Tore am Palast Johannes des Priesters waren »aus Sarder gemacht, in den das Horn der Hornviper hineinverarbeitet war, so daß niemand Gift ins Haus bringen konnte«. Über dem Giebel waren »zwei goldene Apfel, in denen zwei Karfunkel waren«, auf daß das Gold bei Tage erglänzen könnte und die Karfunkel bei Nacht. In Lodges seltsamem Roman »Eine Perle von Amerika« war mitgeteilt, daß man im Zimmer der Königin alle keuschen Damen der Welt erblicken konnte, »wie aus Silber ziseliert«, wenn man »durch fleckenlose Spiegel aus Chrysolithen, Karfunkeln, Saphiren und grünen Smaragden« blickte. Marco Pob hatte gesehn, wie die Bewohner Zipangus den Toten rosenfarbene Perlen in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle verliebt, die der Taucher dem König Perozes gebracht hatte, und hatte den Dieb erschlagen und sieben Monde über den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den großen Hinterhalt lockten – Prokop erzählt die Geschichte –, warf er die Perle weg, und sie wurde nie wiedergefunden, obwohl Kaiser Anastasius fünfhundert Pfund Goldstücke für sie aussetzte. Der König von Malabar hatte einem Venezianer einen Rosenkranz von dreihundertundvier Perlen gezeigt, eine für jeden Gott, den er anbetete.


Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders VI., Ludwig XII. von Frankreich besuchte, war, nach Brantôme, sein Pferd über und über voll goldener Blätter, und seine Mütze hatte zweifache Reihen Rubine, die ein starkes Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren.


Richard II. hatte ein Gewand, das auf dreißigtausend alte Mark geschätzt wurde und das mit Ballasrubinen bedeckt war. Nach der Schilderung Halls trug Heinrich VIII. auf seinem Wege zum Tower vor seiner Krönung »ein Panzerhemd aus getriebenem Gold, das Wams war bestickt mit Diamanten und andern reichen Steinen, und um den Hals trug er eine Kette aus großen Ballasrubinen«. Die Günstlinge Jakobs 1. trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard II. schenkte Piers Gaveston eine ganze Rüstung aus rotem Gold, die mit Hyazinthsteinen geschmückt war, eine Halskette aus goldenen Rosen, mit Türkisen besetzt, und eine mit Perlen übersäte Sturmhaube. Heinrich II. trug Handschuhe bis zum Ellbogen hinauf, die mit Juwelen besetzt waren, und hatte einen Falkenierhandschuh, mit zwölf Rubinen und zweiundfünfzig großen erlesenen Perlen verziert. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Herzogs von Burgund aus seinem Geschlecht, war mit birnenförmigen Perlen behängt und mit Saphiren besetzt.


Wie köstlich das Leben einmal gewesen war! Wie verschwenderisch in seiner Pracht und Zier! Vom Luxus der Toten auch nur zu lesen war wundervoll.


Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Stickereien und den gewirkten Tapeten zu, die in den frostigen Zimmern der nördlichen Völker an die Stelle der Freskogemälde getreten waren. Als er dieses Gebiet erforschte – und er hatte immer in außerordentlichem Maße die Gabe, für den Augenblick von allem, was er in Angriff nahm, völlig angezogen zu werden – wurde er fast niedergeschlagen, wenn er an die Vernichtung dachte, die die Zeit über schöne und wundervolle Dinge gebracht hatte. Er jedenfalls war dieser Vernichtung entronnen. Sommer folgte auf Sommer, und die gelben Jonquillen blühten und starben vielmals dahin, und abscheuliche Nächte wiederholten die Geschichte ihrer Schande, aber er war unverändert. Kein Winter entstellte sein Gesicht oder beschädigte seinen blumenhaften Flaum. Wie anders war es mit stofflichen Dingen! Wohin waren sie gegangen? Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf dem die Götter gegen die Giganten kämpften, das von braunen Mädchen Athene zur Freude gewirkt worden war? Wo war das große Velanum, das Nero über das Kolosseum in Rom gespannt hatte, das riesenhafte Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel abgebildet war und Apollo, der einen Wagen lenkt, den weiße Stuten ziehen, die an goldenen Zügeln gehalten werden? Ihn verlangte, die seltsamen Tischtücher zu sehn, die für den Sonnenpriester gewebt worden waren, und auf denen all die Leckerbissen und Speisen zur Schau gewirkt waren, die man für ein Festgelage brauchen konnte: das Totengewand des Königs Chilperich, mit seinen dreihundert goldenen Bienen; die phantastischen Gewänder, die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten, die mit »Löwen, Panthern, Bären, Hunden, Wäldern, Felsen, Jägern – wahrlich mit allem, was ein Maler in der Natur finden kann«, geziert waren; und den Rock, den Karl von Orleans einst trug, auf dessen Ärmel die Verse eines Liedes gestickt waren, das anfing: »Madame, je suis tout joyeux«, wobei die musikalische Begleitung der Worte in Goldfäden ausgeführt und jede Note – damals in eckiger Form – durch vier Perlen bezeichnet war. Er las von dem Zimmer, das im Palast zu Reims zur Benutzung für die Königin Johanna von Burgund hergerichtet worden war, und das mit »dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien geziert war, die das Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig Schmetterlingen, deren Flügel ebenso mit dem Wappen der Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold ausgeführt«. Katharina von Medici hatte ein Trauerbett, das für sie aus schwarzem Samt gemacht worden war, worauf Halbmonde und Sonnen gestickt waren. Die Bettvorhänge waren aus Damast und hatten Laubgewinde und Girlanden auf einem Grund von Gold und Silber gestickt, und vom Rand hingen Fransen mit Perlstickereien herab, und das Bett stand in einem Zimmer, in dem reihenweise die Wahlsprüche der Königin in schwarzem gerissenen Samt auf Silberstoff hingen. Ludwig XIV. hatte in seinem Gemach fünfzehn Fuß hohe goldgestickte Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis, des Königs von Polen, war aus Smyrna-Goldbrokat gemacht, auf dem in Türkisen Verse aus dem Koran gestickt waren. Seine Füße aus vergoldetem Silber waren schön ziseliert und verschwenderisch mit emaillierten und edelsteinfunkelnden Medaillons besetzt. Es stammte aus dem Türkenlager vor Wien, und das Banner Mohammeds war unter dem zitternden, goldstrotzenden Betthimmel aufgehängt.


Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten Proben zusammen zu bekommen, die er von Webarbeiten und Stickereien finden konnte. Er verschaffte sich Musseline aus Delhi, in die herrliche goldene Palmblätter geweht und auf die irisierende Käferflügel genäht waren; die Gazen aus Dacca, die, weil sie so durchscheinend sind, im Orient »gewebte Luft« oder »fließendes Wasser« oder »Abendtau« genannt werden; Stoffe aus Java mit seltsamen Figuren; feine gelbe chinesische Gardinen; Bücher, in gelbbraunen Atlas oder hellblaue Seide gebunden, in die Wappenlilien, Vögel und Abzeichen gewebt waren; Schleiergewebe mit ungarischen Spitzen; sizilianische Brokate und steife spanische Samte; georgische Arbeiten mit ihren vergoldeten Münzen und japanische Fukusas mit ihrem grüngetönten Gold und ihren Vögeln mit wunderbar ausgearbeitetem Gefieder. Er hatte ferner eine besondere Neigung für kirchliche Gewänder und für alle Gegenstände, die mit dem Ritus der Kirche in Zusammenhang standen. In den langen Kästen aus Zedernholz, die auf dem westlichen Korridor seines Hauses standen, hatte er manche seltenen und schönen Stücke angesammelt, Proben des wahrhaften Gewandes der Braut Christi, die Purpur und Edelsteine und feines Linnen tragen muß, um den bleichen, abgezehrten Leib darin zu bergen, der von dem Leiden, das sie selber aufsucht, erschöpft und von selbst auferlegter Qual verwundet ist. Er besaß einen üppigen Chorrock aus karmesinroter Seide und goldgewirktem Damast, der mit einem fortlaufenden Muster von goldenen Granatäpfeln geschmückt war, die sich über sechsblätterigen, regelmäßigen Blüten befanden, unter denen auf jeder Seite das Tannzapfenmuster in Staubperlen gestickt war. Die Goldstickereien waren in einzelne Fächer geteilt, die Szenen aus dem Leben der Jungfrau darstellten, und die Krönung der Jungfrau war in farbiger Seide auf die dazugehörige Kappe gestickt. Das war italienische Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus grünem Samt, mit herzförmigen Gruppen von Akanthusblättern bestickt, aus denen langstielige weiße Blüten herauswuchsen, die fein mit Silberfäden und bunten Kristallperlen bis ins einzelne ausgearbeitet waren. Die Spange trug den Kopf eines Seraphs aus Goldfäden in Hochstickerei gefertigt. Die Boten waren in einem fortlaufenden Muster aus roter und goldfarbener Seide gewebt und mit Medaillonbildern vieler Heiligen und Märtyrer, unter denen der heilige Sebastian war, bedeckt. Er hatte ferner Meßgewänder aus bernsteinfarbener Seide, aus blauer Seide und Goldbrokat, aus gelbem Seidendamast und Goldstoffen, auf denen sich Darstellungen der Passion und der Kreuzigung Christi befanden, und die mit Löwen und Pfauen und andern Emblemen bestickt waren; Dalmatiken aus weißem Atlas und rosenrotem Seidendamast, die mit Tulpen und Delphinen und Wappenlilien geziert waren; Altardecken aus karmesinrotem Samt und blauem Leinen; und viele Korporalia, Tücher, die zum Verdecken des Abendmahlskelches bestimmt waren, und Armbinden. In den mystischen Verrichtungen, zu denen diese Dinge bestimmt waren, lag etwas, das seine Phantasie anregte.


Denn diese Schätze und alles, was er in seinem reizenden Hause sammelte, waren für ihn Mittel zum Vergessen, und Beschäftigungen, durch die er eine Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm zuzeiten unerträglich schien. An der Wand des verlassenen verschlossenen Zimmers, in dem er in seiner Knabenheit so oft geweilt hatte, hatte er mit eigenen Händen das entsetzliche Porträt aufgehängt, dessen Züge in ihrer Veränderung ihm die wirkliche Erniedrigung seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang das rot und goldene Bahrtuch angebracht. Wochenlang ging er wohl nicht hinauf, vergaß das gräßliche Gemälde und hatte wieder sein leichtes Herz, seine wundervolle Fröhlichkeit, seine leidenschaftliche Hingabe an das Dasein an und für sich. Dann schlich er sich plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, besuchte scheußliche Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb da Tag um Tag, bis es ihn nicht mehr duldete. Nach seiner Rückkehr setzte er sich dann wohl vor das Bild, manchmal voller Ekel vor ihm und vor sich selbst, zu andern Zeiten aber mit dem Stolz des Individualismus, der den halben Zauber der Sünde ausmacht, und dann lächelte er wohl in geheimem Vergnügen über das häßliche Abbild, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich seine war.


Nach ein paar Jahren konnte er es nicht aufhalten, lange außerhalb Englands zu sein, und gab die Villa, die er in Trouville zusammen mit Lord Henry gehabt hatte, auf, und ebenso das kleine Haus mit den weißen Wänden in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht hatten. Er ertrug den Gedanken nicht, von dem Bilde getrennt zu sein, das so zu einem Teil seines Lebens geworden war, und fürchtete auch, während seiner Abwesenheit könnte jemand trotz der künstlichen Schlösser, die er an der Tür hatte anbringen lassen, Zutritt in das Zimmer erlangen. Er wußte ganz gut, daß das Bild niemandem etwas sagen würde. Allerdings hatte das Porträt unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit des Gesichts seine ausgeprägte Ähnlichkeit mit ihm behalten; aber was konnte man daraus entnehmen? Er würde über jeden lachen, der den Versuch machen wollte, ihn zu schmähen. Er hatte es nicht gemalt. Was bedeutete es ihm, wie schändlich und schmachvoll es aussah? Selbst wenn er jemandem die Wahrheit sagen wollte, wer würde sie glauben?


Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal auf dem Lande auf seiner großen Besitzung in Nottinghamshire war, die eleganten jungen Leute, die meistens seine Gesellschaft bildeten, bewirtete, und die Leute der Gegend durch den üppigen Luxus und den verschwenderischen Glanz seiner Lebenshaltung in Staunen setzte, verließ er wohl plötzlich seine Gäste und fuhr eilends in die Stadt zurück, um zu sehn, ob sich niemand an der Tür zu schaffen gemacht habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es gestohlen worden wäre? Der bloße Gedanke flößte ihm kaltes Entsetzen ein. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht hatte die Welt schon Verdacht geschöpft.


Denn ebenso wie er viele bezauberte, gab es nicht wenige, die Mißtrauen gegen ihn hatten. Es war sehr nahe daran gewesen, daß seine Aufnahme in einen Klub im Westend, auf die er kraft seiner Geburt und seiner Stellung in der Gesellschaft vollen Anspruch hatte, in geheimer Abstimmung abgelehnt worden wäre, und es hieß, daß einmal, als ein Freund ihn in das Rauchzimmer des Churchill Club mitgenommen hatte, der Herzog von Berwick und ein anderer Herr in auffallender Weise aufgestanden und hinausgegangen wären. Seltsame Erzählungen waren über ihn im Umlauf, nachdem er sein fünfundzwanzigstes Jahr überschritten hatte. Es wurde gemunkelt, er sei in einer elenden Spelunke in den entlegenen Teilen Whitechapels in einem Streit mit fremden Matrosen beobachtet worden, und er gehe mit Dieben und Falschmünzern um und kenne die Geheimnisse ihres Gewerbes. Sein auffallendes Verschwinden zu bestimmten Zeiten war bekannt, und wenn er dann wieder in der Gesellschaft erschien, flüsterte man miteinander in den Ecken oder ging mit einem gewissen Lachen an ihm vorüber, oder sah ihn mit kühlen, forschenden Blicken an, als wäre man entschlossen, hinter sein Geheimnis zu kommen.


Von solchen Dreistigkeiten und Versuchen der Geringschätzung nahm er natürlich keine Notiz, und in den Augen der meisten Leute war seine offene freundliche Art, sein entzückendes Knabenlächeln und die unendliche Grazie der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, wie sie das Gerede nannten, das über ihn umging. Man konnte indessen bemerken, daß einige von denen, die besonders intim mit ihm gewesen waren, ihn nach einiger Zeit zu meiden schienen. Frauen, die ihn glühend angebetet hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft getrotzt und sich über die Konvention hinweggesetzt hatten, sah man vor Scham oder Grauen erbleichen, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat.


Aber dieses Skandalgeflüster vermehrte für viele nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Sein großer Reichtum war ein gewisses Element der Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft, ist nie sehr geneigt, zum Nachteil derer etwas zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. Sie fühlt instinktiv, daß das Benehmen wichtiger ist als die Moral, und nach ihrer Meinung ist die höchste Ehrbarkeit von geringerer Bedeutung als der Besitz eines guten Küchenchefs. Und schließlich ist es in der Tat ein schwacher Trost, wenn man erfährt, daß der Mann, der einem ein schlechtes Diner oder miserablen Wein vorgesetzt hat, in seinem Privatleben tadellos dasteht. Selbst die Kardinaltugenden können nicht mit beinahe kalt gewordenen Entrees versöhnen, wie Lord Henry einmal in einem Gespräch über das Thema bemerkte; und es spricht sehr viel für seine Meinung. Denn die Regeln der guten Gesellschaft sind dieselben wie die Regeln der Kunst, oder sollten es wenigstens sein. Die Form ist ein ganz und gar wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft. Sie sollte die Würde einer Zeremonie und ebenso ihre Unwirklichkeit haben, und sollte die Unaufrichtigkeit eines romantischen Stückes mit dem Witz und der Schönheit verbinden, die diese Stücke zu unserem Entzücken machen. Ist Unaufrichtigkeit so etwas Schreckliches? Ich denke, nein. Sie ist nur eine Art, durch die wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.


In jedem Fall war dies die Meinung Dorian Grays. Er wunderte sich oft über die seichte Psychologie der Leute, die sich das Ich im Menschen als etwas Einfaches, Bleibendes, Verläßliches und Einheitliches vorstellen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit einem wahrhaften Gewimmel von einzelnen Leben und einem Gewimmel von Sinnesempfindungen, ein zusammengesetztes, vielgestaltetes Geschöpf, das seltsame Erbschaften in seinem Denken und seinen Trieben in sich trug und dessen Fleisch sogar von furchtbaren Krankheiten der Gestorbenen angesteckt war. Er ging gern durch die kalten Räume der kleinen Gemäldegalerie in seinem Landhause und betrachtete sich die verschiedenen Porträts derer, deren Blut in seinen Adern floß. Da war Philipp Herbert, den Francis Osborne in seinen »Memoiren über die Regierungen der Königin Elisabeth und des Königs Jakob« als einen schildert, »der am Hofe wegen seines schönen Gesichts beliebt war, das ihm nicht lange Gesellschaft leistete«. War es das Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? War ein seltsamer, giftführender Keim von Körper zu Körper gegangen, bis er in seinem angelangt war? War es eine dumpfe Erinnerung an diesen zerstörten Liebreiz gewesen, die damals, in Basil Hallwards Atelier, schuld war, daß er so plötzlich und fast ohne Ursache das wahnsinnige Gebet gesprochen hatte, das eine solche Veränderung über sein Leben gebracht hatte? Und hier stand in goldgesticktem, rotem Kamisol, juwelengeschmücktem Überrock und goldgesäumten Hals- und Ärmelkrausen Sir Antony Sherard mit den schwarz und silbernen Beinschienen. Was war das Vermächtnis, das er von diesem Mann hatte? Hatte der Geliebte der Giovanna von Neapel ihm ein Erbe der Sünde und Schmach vermacht? Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der Gestorbene nicht zu verwirklichen gewagt hatte? Und dort lächelte aus der verblichenen Leinwand Lady Elisabeth Devereux mit ihrer Gazehaube, ihrem perlenbesetzten Brustlatz und ihren rosenroten Schlitzärmeln. Eine Blume hielt sie in ihrer rechten Hand, und ihre Linke umfaßte einen emaillierten Halsschmuck aus weißen und roten Rosen. Auf einem Tisch ihr zur Seite lag eine Mandoline und ein Apfel. Große grüne Rosetten waren auf ihren kleinen spitzen Schuhen. Er wußte um ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man von ihren Liebhabern erzählte. Hatte er etwas von ihrem Naturell an sich? Diese ovalen Augen mit den schweren Lidern schienen seltsam auf ihn zu sehen.


Und wie war es mit George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen wunderlichen Schönheitspflästerchen? Wie schlimm er aussah! Das Gesicht war melancholisch und von dunkler Farbe, und die sinnlichen Lippen schienen verächtlich verzogen. Kostbare Spitzenkrausen fielen über die mageren gelben Hände, die so überladen mit Ringen waren. Er war ein Dandy des achtzehnten Jahrhunderts gewesen und in seiner Jugend der Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham, dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen, der auch einer der Zeugen der geheimen Eheschließung mit Frau Fitzberbert gewesen war? Wie stolz und schön er war mit seinen kastanienbraunen Locken und seiner herausfordernden Haltung! Was für Leidenschaften hatte er übermacht? Die Welt hatte ihn für schändlich gehalten. Er hatte die Orgien in Carlton House angeführt. Der Stern des Hosenbandordens blitzte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Porträt seiner Gemahlin, einer blassen Frau mit dünnen Lippen, die schwarz gekleidet war. Auch ihr Blut floß in ihm. Wie seltsam das alles schien! Und seine Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, weinbenetzten Lippen – er wußte, was er von ihr bekommen hatte. Er hatte von ihr seine Schönheit bekommen und seine Sucht nach der Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantingewand. Es war Weinlaub in ihrem Haar, und der purpurne Saft floß über das Glas, das sie hielt. Die Fleischtöne des Bildes waren verblichen, aber die Augen waren noch wundervoll in der Tiefe und dem Glanz ihrer Farbe. Sie schienen ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.


Aber man hatte Ahnen ebenso in der Literatur wie in seinem eigenen Geschlecht, Ahne, deren Typus und Naturell einem vielleicht oft näher steht, und sie sicher einen Einfluß ausübten, von dem man sich bestimmtere Rechenschaft geben konnte. Es gab Zeiten, wo es Dorian Gray vorkam, als sei die ganze Geschichte nichts als ein Bericht seines eigenen Lebens, nicht wie er es nach Taten und Umständen geführt hatte, sondern wie seine Phantasie es für ihn geschaffen hatte, wie es in seinem Hirn und seinen Trieben gewesen war. Er hatte das Gefühl, sie alle gekannt zu haben, diese seltsamen, furchtbaren Gestalten, die über die Bühne der Welt geschritten waren und die Sünde so wunderbar und das Böse so tief und fein gemacht hatten. Es kam ihm so vor, als wäre auf geheimnisvolle Weise ihr Leben sein eigenes gewesen.


Der Held des wunderbaren Romans, der auf sein Leben solchen Einfluß geübt hatte, hatte diese seltsame Phanasie auch gekannt. Im siebenten Kapitel erzählt er, wie er mit Lorbeer bekränzt, damit der Blitz ihn nicht treffen könne, als Tibersus in einem Garten zu Capri gesessen und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen habe, während Zwerge und Pfauen sich um ihn spreizten und der Flötenspieler den Weihrauchschwinger neckte; und wie er als Caligula mit den Stallknechten mit ihren grünen Schürzen in den Ställen gezecht und aus einem elfenbeinernen Futtertrog mit dem Pferd, das ein juwelengeschmücktes Stirnband trug, zusammen gegessen habe; und wie er als Domitian durch einen Korridor gewandelt sei, an dessen Wänden Marmorspiegel waren, in denen er mit verstörten Blicken auf den Reflex des Dolches sah, der sein Leben beenden sollte, krank an der Langenweile, dem furchtbaren taedium vitae, das die überkommt, denen das Leben nichts versagt; und wie er durch einen hellen Smaragd der blutigen Schlächterei im Zirkus zugesehn habe und dann in einer Sänfte aus Perlen und Purpur, die von silbergesprenkelten Maultieren gezogen wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen nach einem Hause von Gold gefahren sei und gehört habe, wie die Menschen ihm zuriefen: Nero Cäsar! als er vorbeifuhr; und wie er als Heliogabal sein Gesicht mit Farben bemalt habe und mit den Frauen am Rochen gesessen und den Mond aus Karthago geholt und ihn in mystischer Ehe der Sonne vermählt habe.


Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die beiden unmittelbar folgenden, in denen, wie in seltsamen Gobelins oder künstlerisch gearbeiteten Emaillen, die furchtbar-schönen Gestalten derer gemalt waren, die Laster und Blut und Müdigkeit zu Ungeheuern und Wahnsinnigen gemacht hatten: Filippo, der Herzog von Mailand, der sein Weib erschlug und ihre Lippen mit einem scharlachroten Gift bestrich, damit ihr Geliebter von dem Leichnam, den er im Schmerze liebkoste, den Tod küssen sollte; Pietro Barbi, der Venezianer, der als Paul der Zweite bekannt ist und der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte, dessen Tiara, die zweihunderttausend Gulden wert war, um den Preis einer furchtbaren Sünde gekauft worden; Gian Maria Visconti, der Hunde hatte, mit denen er auf lebende Menschen Jagd machte und dessen Leichnam nach seiner Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt wurde; der Borgia mit seinem weißen Pferd, neben dem der Brudermord ritt, und dessen Mantel vom Blute Perottos befleckt war; Pietro Riario, der Kardinal-Erzbischof von Florenz, Kind und Liebster von Sixtus IV., dessen Schönheit nur von seiner Ausschweifung erreicht wurde, und der Leonora von Aragonien in einem Pavillon empfing, der mit weißer und karmesinroter Seide ausgeschlagen und voller Nymphen und Kentauren war, und der einen Knaben vergoldete, damit er beim Gelage als Ganymedes oder Hylas dienen konnte; Ezzelin, dessen Melancholie nur durch das Schauspiel des Todes geheilt werden konnte, und der eine Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein – der Sohn des Satans, wie man raunte, und dazu einer, der seinen Vater im Spiel betrogen, als er mit ihm um seine Seele würfelte; Giambattista Cibo, der aus Spott den Namen Innozenz annahm und in dessen starr und stumpf gewordene Adern von einem jüdischen Arzt das Blut dreier Jünglinge gepumpt worden war; Sigismondo Malatesta, der Geliebte der Isotta und der Herr von Rimini, der in Rom im Bilde als Feind Gottes und der Menschen verbrannt wurde und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte und Ginevra d'Este aus einem smaragdenen Becher Gift zu trinken gab und der zu Ehren einer schändlichen Leidenschaft eine heidnische Kirche für christlichen Gottesdienst baute; Karl VI., der so wild für seines Bruders Weib erglüht war, daß ein Aussätziger ihm den Wahnsinn verkündet hatte, der über ihn kommen werde, und der, als sein Hirn krank und absonderlich geworden war, sich nur im Spiel mit sarazenischen Karten beruhigte, auf denen die Bilder von Liebe und Tod und Wahnsinn waren; und in seinem schmucken Koller und der juwelengeschmückten Mütze und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre bei seiner Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug und dessen Liebreiz so groß war, daß, als er sterbend in der gelben Piazza von Perugia lag, die ihn gehaßt hatten, das Einen nicht zurückhalten konnten, und Atalanta, die ihn verflucht hatte, ihn segnete.

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