SIEBENTES KAPITEL

Wochen sind vergangen - Peperl hat sich abgefunden - Palatschinken haben keine Knochen - Alles hat sich verändert, besonders die Resi - Kapellmeister Palffy gibt Klavierstunden - Frau Körner macht sich Vorwürfe - Anni Habersetzer kriegt Watschen - Ein Wochenende, schön wie nichts auf der Welt!

Wochen sind seit jenem ersten Tag und jener ersten Nacht in der fremden Welt unter fremden Menschen ins Land gegangen. Wochen, in denen jeder Augenblick, jeder Zufall und jede Begegnung Gefahr und Entdeckung mit sich bringen konnten. Wochen mit sehr viel Herzklopfen und manchem postlagernden Brief, der neue dringende Auskünfte heischte.

Es ist alles gut abgelaufen. Ein bißchen Glück war wohl auch dabei. Luise hat das Kochen »wieder« gelernt. Die Lehrerinnen in München haben sich einigermaßen damit abgefunden, daß die kleine Körner aus den Ferien weniger fleißig, ordentlich und aufmerksam, dafür aber um so lebhafter und »schlagfertiger« zurückgekehrt ist.

Und ihre Wiener Kolleginnen haben rein gar nichts dagegen, daß die Tochter des Kapellmeisters Palffy neuerdings besser aufpaßt und besser multiplizieren kann. Erst gestern hat Fräulein Gstettner im Lehrerzimmer zu Fräulein Bruckbaur ziemlich geschwollen gesagt: »Die Entwicklung Luises zu beobachten, liebe Kollegin, ist für jedes pädagogische Auge ein lehrreiches Erlebnis. Wie sich hier aus Überschwang des Temperaments still wirkende, beherrschte Kraft herausgebildet hat, aus Übermut Heiterkeit und aus naschhaftem Wissensdurst ein stetiger, ins kleinste gehender Bildungswille - also, liebe Kollegin, das ist einzigartig! Und vergessen Sie eines nicht, diese Verwandlung, diese Metamorphose eines Charakters in eine höhere, gebändigte Form geschah völlig aus sich heraus, ohne jeden erzieherischen Druck von außen!«

Fräulein Bruckbaur hat gewaltig genickt und erwidert: »Diese Selbstentfaltung des Charakters, dieser Eigenwille zur Form zeigt sich auch im Wandel von Luises Schrift! Ich sag’ ja immer, daß Schrift und Charakter.« Aber wir wollen es uns schenken, anzuhören, was Fräulein Bruckbaur immer sagt!

Vernehmen wir lieber, in rückhaltloser Anerkennung, daß Peperl, der Hund des Hofrats Strobl, seit einiger Zeit den alten Brauch wieder aufgenommen hat, dem kleinen Mädchen am Tisch des Herrn Kapellmeisters grüß Gott zu sagen. Er hat sich, obwohl es über seinen Hundeverstand geht, damit abgefunden, daß das Luiserl nicht mehr wie das Luiserl riecht. Bei den Menschen ist so vieles möglich, warum nicht auch das? Außerdem, neuerdings ißt die liebe Kleine nicht mehr so oft Palatschinken, statt dessen mit großem Vergnügen Fleischernes. Wenn man nun bedenkt, daß Palatschinken keine Knochen haben, Koteletts hingegen in erfreulicher Häufigkeit, so kann man doppelt verstehen, daß das Tier seine Zurückhaltung überwunden hat.


Wenn Luises Lehrerinnen schon finden, daß sich Luise in erstaunlicher Weise gewandelt hat - was sollten sie erst zu Resi sagen, wenn sie Resi, die Haushälterin, näher kennten? Denn Resi, das steht außer Frage, ist tatsächlich ein völlig anderer Mensch geworden. Sie war vielleicht gar nicht von Grund auf betrügerisch, schlampert und faul? Sondern nur weil das scharfe Auge fehlte, das alles überwacht und sieht?

Seit Lotte im Haus ist und sanft, doch unabwendbar alles prüft, alles entdeckt, alles weiß, was man über Küche und Keller wissen kann, hat sich Resi zu einer »ersten Kraft« entwickelt.

Lotte hat den Vater überredet, das Wirtschaftsgeld nicht länger der Resi, sondern ihr auszuhändigen. Und es ist einigermaßen komisch, wenn Resi anklopft und ins Kinderzimmer tritt, um sich von dem neunjährigen Kind, das ernst am Pult sitzt und seine Schulaufgaben macht, Geld geben zu lassen. Sie berichtet gehorsam, was sie einkaufen muß, was sie zum Abendbrot auftischen will und was sonst im Haushalt nötig ist.

Lotte überschlägt rasch die Kosten, nimmt Geld aus dem Pult, zählt es Resi hin, schreibt den Betrag in ein Heft, und abends wird dann am Küchentisch gewissenhaft abgerechnet.

Sogar dem Vater ist es aufgefallen, daß der Haushalt früher mehr gekostet hat, daß jetzt, obwohl er weniger Geld gibt, regelmäßig Blumen auf dem Tisch stehen, auch drüben im Atelier am Ring, und daß es in der Rotenturmstraße richtig heimelig geworden ist. (So, als wäre eine Frau im Haus, hat er neulich gedacht! Und über diesen Gedanken war er nicht schlecht erschrocken!)

Daß er jetzt öfter und länger in der Rotenturmstraße sitzt, ist nun wieder Fräulein Irene Gerlach, der Pralinendame, aufgefallen. Und sie hat den Herrn Kapellmeister deswegen gewissermaßen zur Rede gestellt. Sehr vorsichtig natürlich, denn Künstler sind empfindlich!

»Ja, weißt«, hat er gesagt, »neulich komm’ ich doch dazu, wie das Luiserl am Klavier sitzt und stillvergnügt auf den Tasten klimpert. Und dazu singt sie ein kleines Liedchen, einfach herzig! Wo sie doch früher nicht ans Klavier gegangen war’, und wenn man sie hingeprügelt hätt’!«

»Und?« hat Fräulein Gerlach gefragt und die Brauen bis an den Haaransatz hinaufgezogen.

»Und?« Der Herr Palffy hat verlegen gelacht. »Seitdem geb’ ich ihr Klavierstunden. Es macht ihr höllischen Spaß. Mir übrigens auch.«

Fräulein Gerlach hat sehr verächtlich geblickt. Denn sie ist eine geistig hochstehende Persönlichkeit. Dann hat sie spitz erklärt: »Ich dachte, du wärst Komponist und nicht Klavierlehrer für kleine Mädchen.«

Früher hätte das dem Künstler Ludwig Palffy niemand mitten ins

Gesicht sagen dürfen! Heute hat er wie ein Schulbub gelacht und gerufen: »Aber ich hab’ ja noch nie im Leben soviel komponiert wie gerade jetzt! Und noch nie so etwas Gutes!«

»Was wird’s denn werden?«

»Eine Kinderoper«, hat er geantwortet.

In den Augen der Lehrerinnen hat sich also Luise verändert. In den Augen des Kindes haben sich Resi und Peperl verändert. In den Augen des Vaters hat sich die Rotenturmstraße verändert. So etwas von Veränderei!

Und in München hat sich natürlich auch allerhand verändert. - Als die Mutter gemerkt hat, daß Lottchen nicht mehr so häuslich und in der Schule nicht mehr so fleißig ist, dafür aber quirliger und lustiger als früher, da ist sie in sich gegangen und hat zu sich selber also gesprochen: »Luiselotte, du hast aus einem fügsamen kleinen Wesen eine Haushälterin gemacht, aber kein Kind! Kaum war sie ein paar Wochen mit Gleichaltrigen beisammen, im Gebirge, an einem See - schon ist sie geworden, was sie immer hätte sein sollen: ein lustiges, von deinen Sorgen wenig beschwertes kleines Mädchen! Du bist viel zu egoistisch gewesen, pfui! Freu dich, daß Lottchen heiter und glücklich ist! Mag sie getrost beim Abwaschen einen Teller zerschmettern! Mag sie sogar von der Lehrerin einen Brief heimbringen: >Lottes Aufmerksamkeit, Ordnungsliebe und Fleiß lassen neuerdings leider bedenklich zu wünschen übrig. Die Mitschülerin Anni Habersetzer hat von ihr gestern schon wieder vier heftige Ohrfeigen erhalten<. Eine Mutter hat - und hätte sie noch so viele Sorgen - vor allem die Pflicht, ihr Kind davor zu bewahren, daß es zu früh aus dem Paradies der Kindheit vertrieben wird!«


So und ähnlich hat Frau Körner ernst zu sich selber gesprochen, und eines Tages schließlich auch zu Fräulein Linnekogel, Lottes Klassenlehrerin. »Mein Kind«, hat sie gesagt, »soll ein Kind sein, kein zu klein geratener Erwachsener! Es ist mir lieber, sie wird ein fröhlicher, leidenschaftlicher Racker, als daß sie um jeden Preis Ihre beste Schülerin bleibt!«

»Aber früher hat Lotte doch beides recht gut zu vereinbaren gewußt«, hat Fräulein Linnekogel, leicht pikiert, erklärt.

»Warum sie das jetzt nicht mehr kann, weiß ich nicht. Als berufstätige Frau weiß man überhaupt zu wenig von seinem Kind. Irgendwie muß es mit den Sommerferien zusammenhängen. Aber eines weiß und sehe ich: Daß sie’s nicht mehr kann! Und das ist entscheidend!«

Fräulein Linnekogel hat energisch an ihrer Brille gerückt. »Mir, als der Erzieherin und Lehrerin Ihrer Tochter, sind leider andere Ziele gesetzt. Ich muß und werde versuchen, die innere Harmonie

des Kindes wiederherzustellen!«

»Finden Sie wirklich, daß ein bißchen Unaufmerksamkeit in der Rechenstunde und ein paar Tintenkleckse im Schreibheft - «

»Ein gutes Beispiel, Frau Körner! Das Schreibheft! Gerade


Lottes Schrift zeigt, wie sehr das Kind die, ich möchte sagen, seelische Balance verloren hat. Aber lassen wir die Schrift beiseite! Finden Sie es in Ordnung, daß Lotte neuerdings Mitschülerinnen prügelt?«

»Mitschülerinnen?« Frau Körner hat die Endung absichtlich sehr betont. »Meines Wissens hat sie nur die Anni Habersetzer geschlagen.«

»Nur?«

»Und diese Anni Habersetzer hat die Ohrfeigen redlich verdient! Von irgendwem muß sie sie ja schließlich kriegen!«

»Aber, Frau Körner!«

»Ein großes, gefräßiges Ding, das seine Gehässigkeit heimlich an den Kleinsten der Klasse auszulassen pflegt, sollte von der Lehrerin nicht noch in Schutz genommen werden.«

»Wie, bitte? Wirklich? Davon weiß ich ja gar nichts!«

»Dann fragen Sie nur die arme kleine Ilse Merck! Vielleicht erzählt die Ihnen einiges!«

»Und warum hat mir Lotte nichts gesagt, als ich sie bestraft habe?«

Da hat sich Frau Körner ein wenig in die Brust geworfen und geantwortet: »Dazu fehlt es ihr wohl an der, um mit Ihnen zu sprechen, seelischen Balance!« Und dann ist sie in den Verlag gesaust. Um zurechtzukommen, hat sie ein Taxi nehmen müssen. Zwei Mark dreißig. Ach, das liebe Geld!

Am Samstagmittag hat Mutti plötzlich den Rucksack gepackt und gesagt: »Zieh die festen Schuhe an! Wir fahren nach Garmisch und kommen erst morgen abend zurück!«

Luise hat ein bißchen ängstlich gefragt: »Mutti - wird das nicht zu teuer?«

Der Frau Körner hat es einen kleinen Stich gegeben. Dann hat sie gelacht. »Wenn das Geld nicht reicht, verkauf ich dich unterwegs!«

Das Kind hat vor Wonne getanzt. »Fein! Wenn du dann das Geld hast, lauf ich den Leuten wieder weg! Und wenn du mich drei- bis viermal verkauft hast, haben wir so viel, daß du einen Monat nicht zu arbeiten brauchst!«

»So teuer bist du?«

»Dreitausend Mark und elf Pfennige! Und die Mundharmonika nehm’ ich auch mit!«

Das wurde ein Wochenende - wie lauter Himbeeren mit Schlagsahne! Von Garmisch wanderten sie über Grainau an den Baadersee. Dann an den Eibsee. Mit Mundharmonika und lautem Gesang. Dann ging’s durch hohe Wälder bergab. Über Stock und Stein. Walderdbeeren fanden sie. Und schöne, geheimnisvolle Blumen. Lilienhaften Türkenbund und vielblütigen lilafarbenen Enzian. Und Moos mit kleinen spitzen Helmen auf dem Kopf. Und winzige Alpenveilchen, die so süß dufteten, daß man’s gar nicht fassen konnte!

Abends gerieten sie in ein Dorf namens Gries. Dort nahmen sie ein Zimmer mit einem Bett. Und als sie, in der Gaststube aus dem Rucksack futternd, mächtig geabendbrotet hatten, schliefen sie zusammen in dem Bett! Draußen auf den Wiesen geigten die Grillen

eine kleine Nachtmusik.

Am Sonntagmorgen zogen sie weiter. Nach Ehrwald. Und Lermoos. Die Zugspitze glänzte silberweiß. Die Bauern kamen in ihren Trachten aus der Kirche. Kühe standen auf der Dorfstraße, als hielten sie einen Kaffeeklatsch.

Übers Törl ging’s dann. Das war ein Gekraxel, sakra, sakra! Neben einer Pferdeweide, inmitten Millionen Wiesenblumen, gab’s gekochte Eier und Käsebrote. Und als Nachtisch einen kleinen Mittagsschlaf im Gras.


Später stiegen sie zwischen Himbeersträuchern und gaukelnden Schmetterlingen zum Eibsee hinunter. Kuhglocken läuteten den Nachmittag ein. Die Zugspitzbahn sahen sie in den Himmel

kriechen. Der See lag winzig im Talkessel.

»Als ob der liebe Gott bloß mal so hingespuckt hätte«, sagte Luise versonnen.

Im Eibsee wurde natürlich gebadet. Auf der Hotelterrasse spendierte Mutti Kaffee und Kuchen.

Und dann wurde es höchste Zeit, nach Garmisch zurückzumarschieren.

Vergnügt und braungebrannt saßen sie im Zug. Und der nette Herr gegenüber wollte unter gar keinen Umständen glauben, daß das junge Mädchen neben Luise die Mutti und noch dazu eine berufstätige Frau sei!

Zu Hause fielen sie wie die Plumpsäcke in ihre Betten. Das letzte, was das Kind sagte, war: »Mutti, heute war es so schön - so schön wie nichts auf der Welt!« Die Mutti lag noch eine Weile wach. So viel leicht erreichbares Glück hatte sie bis jetzt ihrem kleinen Mädchen vorenthalten! Nun, es war noch nicht zu spät. Noch ließ sich alles nachholen!

Dann schlief auch Frau Körner ein. Auf ihrem Gesicht träumte ein Lächeln. Es huschte über ihre Wangen wie der Wind übern Eibsee.

Das Kind hatte sich verändert. Und nun begann sich also auch die Mutter zu verändern.

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