Kapitel 2


Am nächsten Morgen schulterten die drei ihre Rucksäcke, packten ihre Wanderstöcke und führten das Lastpony, das Obbo ihnen zur Verfügung stellte, aus dem Hof des Wolfswinkel hinaus auf den Waldweg. Der Wirt stand am Tor und winkte ihnen nach, rief ihnen die besten Wünsche hinterher und empfahl: »Gebt acht, wenn ihr anderswo Bier trinkt. Nicht jeder achtet wie ich auf die Reinheit des Gesöffs.«

Im Licht der aufgehenden Sonne bogen sie um die Wegkehre. Obbo und sein Wirtshaus blieben hinter den Bäumen zurück. Allein die Rauchfahne, die aus dem Kamin stieg, war noch eine Weile länger zu sehen. Sie wandten sich nach Norden, denn es hieß, die Drachenheide liege nördlich der Nibelungenfeste, obgleich auch Mütterchen Mitternacht den genauen Weg nicht kannte. Der Händler, der ihr die Geschichte erzählt hatte, war selbst nicht gewiß gewesen, wo nach der Höhle des Drachen zu suchen sei. Allein der Hinweis, das Untier habe auf einer Klippe am Rhein gehaust, gab ihnen die Gewißheit, daß sie den Ort nicht verfehlen konnten. Alles, was sie tun mußten, war dem Verlauf des Ufers zu folgen.

Mütterchen und Löwenzahn gingen voran, Alberich folgte ihnen mißmutig in drei Schritten Abstand. Noch immer mißfiel ihm der Gedanke, den Hohlen Berg zu verlassen, und mehr noch verabscheute er die Tatsache, daß die anderen längst mit seiner Rückkehr gerechnet hatten. Als er in der Morgendämmerung zum Wolfswinkel gekommen war, gerüstet und mit gepacktem Bündel, hatten Mütterchen und der Riese schon bereitgestanden. Beide hatten breit gegrinst, als Alberich zur Tür hereinkam. Erst wollte er beleidigt umkehren, doch die anderen überzeugten ihn, daß seine Entscheidung die einzig richtige war. Oh, wie er es haßte, etwas Vorhersehbares zu tun (obwohl er doch, genaugenommen, niemals etwa anderes tat).

Die alte Räuberin und der Krieger erzählten sich Geschichten - Löwenzahn auf seine langsame, lallende Weise -, und Alberich beäugte mißgünstig, daß die beiden offenbar Freundschaft geschlossen hatten. Soviel Mühe Alberich sich auch geben mochte, er traute dem Hunnen nicht über den Weg; wobei er sich eingestand, daß die Mühe, die er sich gab, nicht allzu groß war.

Das Pony trottete an einer Leine, die Mütterchen in der Hand hielt, und so befand es sich auf einer Höhe mit dem Zwerg. Es schnaubte gelegentlich, fast als wollte es Alberich in ein Gespräch verwickeln, aber er war recht dankbar, daß er die Sprache der Tiere nicht verstand. Was, im Namen des Ältesten Alben, hätte ihm ein Pony schon erzählen können?

Sie folgten dem Waldweg durch wechselndes Gehölz, mal entlang hoher Eichenreihen, dann wieder durch die Düsternis schattiger Nadelhaine. Stets waren sie dabei nicht weit vom Ufer entfernt. Der Fluß strömte lautstark in seinem Bett jenseits der Stämme, zehn, zwanzig Schritte zu ihrer Linken. Sie gingen am Ostufer des Rheins, denn es gab weit und breit keinen Überweg, außer einer Fähre unterhalb der Nibelungenburg auf der Halbinsel. Aber es war gleichgültig, auf welcher Seite sie gingen, denn sie wußten nicht, auf welcher die Klippe des Drachen lag.

Nach vier Stunden machten sie ihre erste Rast, saßen im Halbkreis beisammen und berieten ihr Vorgehen. Sie kamen überein, daß es wenig Mühe kosten konnte, ein Bad im Drachenblut zu nehmen, denn die Bestie selbst war tot, und wer sollte ihnen den Wunsch verwehren? Sie aßen ein wenig von der Wegzehrung, die Obbo ihnen eingepackt hatte, dann setzten sie ihre Reise fort.

Am Abend, die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden, stöhnte Alberich: »Nicht mehr lange, und ich schlafe im Gehen ein.«

Löwenzahn nickte. »Es ist Zeit, unser Nachtlager aufzuschlagen.«

»Laßt uns ein wenig abseits der Straße haltmachen«, riet Mütterchen. »Wer weiß, welches Gesindel sich in der Dunkelheit herumtreibt.«

»Hunnen vielleicht«, sagte Alberich giftig. »Oder Räuber.«

»Unser Zwerg wird sie mit seiner Prahlerei schon in die Flucht schlagen«, flüsterte Mütterchen Löwenzahn zu.

Alberich hatte es sehr wohl vernommen, denn seine Ohren waren scharf, aber er verzichtete auf eine offene Antwort. Statt dessen murmelte er einmal mehr etwas Unverständliches in seinen Bart.

Später, an einem kleinen Lagerfeuer, hockten sie unterm Sternenhimmel und lauschten eine Weile schweigend auf das Wispern der Strömung und die leisen Seufzer des Windes im Geäst. Aus dem Unterholz erklang dann und wann der Schrei eines Nachttieres. Das Pony stand nah beim Feuer und schlief, ohne sich niederzulegen. Löwenzahn stopfte sich einen Maiskuchen nach dem anderen in den Mund, sein Schmatzen war ohrenbetäubend.

Schließlich, als alle schon einzunicken drohten, stimmte Mütterchen Mitternacht mit rauher Kehle ein Räuberlied an:


In des düstren Waldes Tiefen,

Im Gebüsche tief versteckt,

Schlummert Rohland, bis der Bande

Lauter Jubelruf ihn weckt.


Und der löwenkühne Räuber

Hört die Bande und erwacht;

Alles lauscht auf seine Pläne,

Die die Raub- und Mordgier macht.


Vivat! Unser Hauptmann lebe!

Jubelt die verwegne Schar,

Tapfer laßt uns ihn beschützen,

Ihn nicht lassen in Gefahr.


Laßt uns rauben, morden, brennen!

Tönt es. Alles rief: Es sei!

Doppelt gab das Echo wieder

Dieser Räuber Feldgeschrei.


Laßt uns nicht des Greises schonen

Nicht des Säuglings an der Brust!

In der Mutter Händeringen

Laßt uns finden unsre Lust.


Schrecklich, wütend und verheerend

Hauste die Tyrannenbrut.

Ach, es tränkte alle Fluren

Der gefallnen Opfer Blut.


Kirchen, sowie stille Klöster

Wurden - was man kaum geglaubt -

Von der Räuber frechen Händen

Ganz entweiht, zerstört, beraubt.


In Palästen wie in Hütten,

Zeigte sich der Raubsucht Spur,

Räuber Rohland war ein Schrecken,

Abscheu jeder Kreatur.


Nach dem letzten Vers brach Mütterchen in heftiges Gelächter aus, das in einen wilden Hustenanfall überging. Löwenzahn und Alberich sahen sich verwundert an, dann schmunzelte der Riese.

»Bist eine feine Sängerin, Mütterchen. Mir scheint, du vermißt das Räuberleben.«

»Darauf kannst du wetten«, erwiderte sie krächzend und zog ihre Decke enger um die knorrigen Schultern. »Ach, was das für Zeiten waren, als die Reichen vor Mütterchen Mitternacht erbebten und der Kampfschrei der meinen die Wälder zum Lodern brachte. Nichts geht über das Räuberdasein und die -«

Alberich unterbrach sie mit einem lauten Hüsteln. »Du hast das Ende deines Liedes vergessen, Mütterchen. Warum verschweigst du uns, wie es Räuber Rohland an den Kragen ging?«

»Weil’s keine Rolle spielt«, gab sie barsch zurück.

»Dann laß mich die letzten Strophen für dich singen«, sagte Alberich, und zu Löwenzahns und Mütterchens Überraschung sang er mit klarer, schöner Stimme:


Gute Obrigkeiten dachten

Auf geschickte Pläne nun,

Einhalt diesem Räuberwesen,

Dieser Mörderbrut zu tun.


Und es wurden wackre Truppen

Sie zu fangen ausgesandt.

Aber keiner von der Bande

Kam in dieser Helden Hand.


Endlich drangen tapfre Recken

Tief in einem stillen Tal

Auf die Räuber ein, es fielen

Hundert Krieger an der Zahl.


Bald auch fiel die Räuberrotte

In dem wilden Kampfgewühl.

Rohland mit zehn Schandgesellen

Ward gesetzt ein ander Ziel:


Tief im Kerker und in Ketten

Warteten der Strafe sie,

Die schon bald sie dann erlitten.

Mensch, vergiß dies Beispiel nie!


Als Alberich geendet hatte, rief Mütterchen aus: »Papperlapapp! Nichts sagt das aus über die Herrlichkeit der Räuberei, über die Schönheit des freien Lebens in den Wäldern, über die Freude, von anderen zu nehmen und sich selbst daran zu berauschen.«

Löwenzahn zwinkerte Alberich zu. »Mir scheint, wir sollten unsere Reisegefährten sorgsamer wählen.«

Mütterchen kicherte. »Ich bin alt geworden, viel zu alt, um eine gute Räuberin zu sein. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, ein Schwertstreich hätte mich in der Blüte der Jugend niedergestreckt, auf dem Höhepunkt meiner Kraft.«

»Zumindest bliebe uns dein Gejammer erspart«, brummte der Zwerg.

»Mit dir nehme ich es dreimal auf, mein Freund«, entgegnete sie, aber es klang nicht feindselig.

Er lachte auf. »Warst nicht du es, die mir zur Unverwundbarkeit verhelfen wollte?«

»Ein Fehler, ohne Zweifel.«

Sodann legten sie sich frohgemut nieder und schliefen bis zum Morgen.

Sonnenstrahlen glitzerten durchs Blätterdach, als Alberich erwachte. Mütterchen kehrte gerade mit dem Pony vom Fluß zurück, wo sie das Tier hatte trinken lassen.

»Wir sollten ihm einen Namen geben«, sagte sie.

»Dem Pony?«

»Dem Lagerfeuer, Dummkopf. Natürlich dem Pony.«

»Sicherlich hat es schon einen von Obbo bekommen.«

»Er hat ihn uns nicht genannt.«

Alberich seufzte. »Was schlägst du also vor?«

Löwenzahn reckte sich und gähnte. »Wie wär’s mit Siegfried?«

»Sehr passend, wirklich«, gab Alberich zurück.

»Ich dachte an Rohland«, sagte Mütterchen.

»Wie dein Räuber?«

»Ein Mann von Ehre.«

»Wie dies Pony.«

Löwenzahn trat vor das Tier und tätschelte ihm die Mähne. »Was sagst du dazu?«

Mütterchen lächelte. »Es ist einverstanden.«

Alberich warf ihr einen schrägen Blick zu. »Woher willst du das wissen?«

»Ich verstehe, was es sagt.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Aber ja doch«, antwortete sie stolz. »Wenn du dein Leben lang in den Wäldern haust, lernst du solche Dinge.«

»Ich hause mein Leben lang in den Bergen«, knurrte Alberich, »und ich verstehe nicht, was die Steine sich zu sagen haben.«

Mütterchen seufzte betont. »Weil sie nicht reden können, Zwergenhirn. Aber Tiere sprechen. Und manchmal, nur manchmal, kann ich die Bedeutung verstehen. Keinen Wortlaut, aber ich weiß, was sie mir sagen wollen.«

»Und das Pony sagte ›Nenn mich Rohland‹?«

»So ungefähr.«

Löwenzahn schulterte seinen Rucksack und zog die Riemen straff. »Laß ihr doch ihren Willen, Zwergling. Welche Bedeutung hat es, ob das Pony einen Namen hat oder nicht?«

Ehe Alberich sich über die neuerliche Anrede »Zwergling« erregen konnte, stieß das Pony ein empörtes Schnauben aus. Ob es verstanden hatte, was Löwenzahn gesagt hatte, oder ob es ein Zufall war, blieb ungewiß. Mütterchen zumindest schien sicher zu sein, daß die Bemerkung des Riesen das Tier verärgert hatte, und sie schalt ihn heftig für seine Leichtfertigkeit.

Sie brachen auf und folgten weiterhin dem Weg nach Norden. Schon nach kurzer Zeit schlängelte er sich linker Hand bis ans Ufer heran, so daß auf der einen Seite der Rhein floß, die andere von dunklem Gehölz beschattet wurde.

Alle hingen ihren Gedanken nach, bis Löwenzahn sagte: »Habt ihr je von den Nordmännern gehört, die sich vor dem Kampf ihre Bärte anzünden?«

»Wieso sollte jemand das tun?« fragte Alberich zweifelnd und faßte sich gleich an seinen eigenen Bart. Er war sein ganzer Stolz, über viele Jahrzehnte gehegt und gepflegt.

»Um dem Feind Furcht einzujagen«, erklärte der Riese voller Bewunderung. »Mit brennenden Gesichtern stürmen sie auf ihre Gegner ein, und jeder hält sie für Kreaturen aus Hels schwarzen Schlünden.«

»Du bist ein Hunne und glaubst an Hel?« fragte Mütterchen erstaunt.

»Ich sagte dir doch, meine Mutter war eine Frau wie du, aus diesem Land. Sie zog mich auf, nicht mein Vater, und ihr Glaube ist es, dem ich folge. Keinem anderen, auch nicht dem des Christenheilands. Kein Platz ist in seiner Predigt für Krieger wie uns.«

Dem stimmten alle zu. Nach einer Weile fragte Löwenzahn:

»Sag, Alberich, was hat es mit dieser Tarnkappe auf sich, die dein war? Ich hörte nur, daß sie ihren Träger unsichtbar macht.«

Alberich verzog das Gesicht. Der Gedanke an den Diebstahl schmerzte ihn noch immer. »Sie ist ein Teil der alten Zwergenmagie, aus einer Zeit, als die Zwerge noch ein Volk des Nebels waren. Mit dem Nebel dampften sie am Morgen aus Wiesen und Tälern, und in Nebel vermochten sie sich zu verwandeln, wenn Feinde drohten, oder einfach wenn ihnen danach war. Lange schon hat mein Volk diese Fähigkeit verloren, aber die Tarnkappe stammt noch aus jenen alten Tagen. Sie vermag ihren Träger für die Augen anderer in feinen Dunst zu verwandeln, macht ihn vollkommen unsichtbar.« Er schnaubte zornig. »Und nun fiel sie in die Hände des Xanteners, eines Menschen! Durch meine Schuld, noch dazu!« Er wandte den Blick ab, aus Furcht, die anderen könnten die Tränen sehen, die in seinen Augen blitzten. Seine Niederlage hatte den Verlust eines der größten Schätze des alten Zwergenreiches mit sich gebracht. Verluste wie dieser trugen die Schuld, daß die Erinnerung an die Zwerge mehr und mehr aus der Welt verschwand. Irgendwann würden sie völlig vergessen sein, nichts als ein Schemen in der Geschichte, der Stoff von Legenden und Ammenmärchen.

»Gräme dich nicht«, sagte Mütterchen mitfühlend, reichte Löwenzahn die Zügel des Ponys und legte eine Hand auf Alberichs Schulter. »Es ist nicht deine Schuld, daß der Zauber vergeht.«

Der Zwerg starrte betrübt zu Boden. »Kommende Generationen werden Alberich verspotten als denjenigen, der die Magie der Zwerge an einen Menschen verlor. Und sie werden recht haben mit ihrem Urteil.«

»Nein«, widersprach Mütterchen, »denn eure Magie ist lange schon dahin. Die Tarnkappe war nichts als ein Schatten eurer einstigen Macht. Aber es heißt, hoch oben im Norden ist der alte Zauber noch immer lebendig, in den Tiefen der eisigen Berge, wo dein Volk noch immer so mächtig ist wie früher.«

»Eines Tages werde ich dorthin gehen«, sagte Alberich kummervoll.

»Tu das, mein Freund. Aber erst erfülle deine Pflicht. Hüte den Hort des Nibelung. Und stärke dich mit der Kraft des Drachenblutes.«

Alberich sah zu ihr auf. »Ich danke dir, Freundin Mütterchen. Ich danke dir von tiefstem Herzen.«

Sie lächelte ihn an, und selbst Löwenzahn schwieg und trauerte im stillen. Trauerte um das versunkene Zwergengeschlecht vom Rhein.



Gegen Abend zog ein Gewitter auf. Im Osten über den Bergen erlosch das Licht, nur ein fahles Glimmen lag noch um die Bergkuppen und windgebeugten Wipfel der Wälder. Der Himmel wurde so dunkel, als hätte das Tageslicht ganz unverhofft seine ewige Schlacht gegen das Nachtschwarz verloren. Stürme jagten die Hänge herab und fuhren knirschend ins Gehölz. Das Wasser des Rheins schlug hohe Wogen und wurde weit über das Ufer gepeitscht.

Die Gefährten suchten Schutz im dichten Tann, zwischen stechenden Nadelhölzern, die auch den letzten Rest von Licht aussperrten. Rohland, das Pony, litt von allen am meisten, denn es mußte bei seiner Größe die meisten Stiche und Kratzer ertragen. Zudem ängstigte es sich vor all dem Donnern und Blitzen fast zu Tode. Mütterchen hatte ihre dürren Arme um Rohlands Hals gelegt und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr. Die anderen aber zweifelten, ob das Tier die Worte bei diesem Lärm überhaupt hören, geschweige denn verstehen konnte.

Die Blitze zuckten immer häufiger, und das Donnern wurde zeitweise so laut, daß sie sich die Ohren zuhielten. Über die Himmelssplitter, die sie durch die Zweige erkennen konnten, zogen riesigen Wolkenburgen, und immer wieder sah es aus, als jagten Wesen hoch oben durch die Dunkelheit. Da waren Formen, die ähnelten Pferden und Reitern, und Löwenzahn murmelte ehrfürchtig:

»Die Wilde Jagd! Es ist die Wilde Jagd! Wodan führt seine Jäger an.«

Sie rückten enger aneinander. Mit göttlicher Willkür war nicht zu scherzen, das wußte ein jeder, und falls es wirklich Wodan war, der seine Jäger im wilden Himmelsritt über die Berge führte, dann war es angebracht, sich zu verstecken.

Plötzlich rief Mütterchen: »Seht doch, dort draußen!«

Zwerg und Riese folgten ihrem ausgestreckten Arm, der hinaus auf den Weg wies.

Eine Gestalt, kaum mehr als eine Silhouette, stemmte sich gebeugt gegen den Sturm. Sie war in einen bodenlangen grauen Mantel gehüllt und hatte eine spitze Kapuze über den Kopf geschlagen. Der Schein eines Blitzes zuckte über das Gesicht des Mannes. Ein schwarzes Band bedeckte sein linkes, blindes Auge. Ein buschiger Halsschmuck aus schwarzen Rabenfedern flatterte lautstark im Wind. Sie alle erbebten bei diesem Anblick.

Es war Wodan, der einäugige Gott, der oberste der Götter selbst, daran konnte es keinen Zweifel geben. Kein Mensch würde bei diesem Sturm seinen Weg fortsetzen, erst recht nicht, wenn die Wilde Jagd über den Himmel zog. Die Rabenfedern taten ein übriges, die Gefährten zu überzeugen, denn Raben waren des Gottes liebste Tiere.

Gebannt sahen sie der Gestalt nach, wie sie mühevoll gegen den Sturm ankämpfte und sich langsam nach Norden bewegte, auf demselben Weg, den auch sie nehmen würden. Wenig später war sie hinter den Bäumen verschwunden.

Der Schreck saß ihnen allen tief in den Knochen. Keiner rührte sich oder sagte ein Wort, bis wenig später der Sturm auf einen Schlag verebbte, und die Wilde Jagd vom Himmel verschwand. Noch immer herrschte Dämmerlicht, diffus und seltsam unwirklich, aber allmählich faßten die Freunde neuen Mut.

Mütterchen war die erste, die hinaus auf den Weg trat. Sie zog Rohland am Zügel mit sich. Das Pony schien höchst erfreut, dem stacheligen Gestrüpp entrinnen zu können, denn es wieherte vergnügt. Alberich war der nächste, der ins Freie kletterte, dann erst folgte Löwenzahn der Grausame. Unsicher blickte er den Weg entlang, ob der finstere Gott auf sie lauerte; doch die Gestalt, so sie denn wirklich dagewesen war, blieb verschwunden.

Mürrisch und wortkarg setzten sie ihren Weg fort. Sie zogen es vor, nicht mehr über die Erscheinung zu sprechen. Die Begegnung mit dem Gott mochte ein böses Omen sein, und sie zurück in ihre Erinnerung zu rufen würde die Sache nur noch schlimmer machen. Am besten war es wohl, den Vorfall gänzlich zu vergessen.

Sie wanderten bis lange nach Sonnenuntergang, dann erst suchten sie sich einen Platz für die Nacht. Diesmal, so entschieden sie, wollten sie nacheinander Wache halten, und die Reihe nahm ihren Anfang bei Alberich. Düster starrte er hinaus in die Dunkelheit, lauschte auf Löwenzahns Schnarchen, beobachtete im Feuerschein Mütterchens Gesicht und fand, daß sie im Schlaf noch älter aussah. Erstaunlich, wie wenig Mühe ihr der lange Marsch bereitete. Alberich war viel länger auf der Welt als sie, aber sie war nur ein Mensch, und dafür geradezu unglaublich rüstig. Er war froh, sie zur Freundin zu haben.

Nach einer Weile weckte er Löwenzahn und legte sich selbst zur Ruhe. Er träumte vom Hort und vom Rabengott, und immer wieder loderten Flammen durch seinen Schlaf. Einmal erwachte er und fragte sich, ob sie das alles nicht zu leichtnahmen. Doch bevor er noch eine Antwort finden konnte, war er abermals eingeschlafen, und am Morgen hatte er seine Zweifel verdrängt.



Am dritten Tag fanden sie den Sterbenden.

Mütterchen sagte gerade: »Mein Vorrat an Pfeifenkraut geht dem Ende entgegen.« Sie hatte viel geraucht, seit sie aufgebrochen waren, viel mehr als üblich. »Ich frage mich, wann wir zum nächsten Gasthaus kommen.«

Plötzlich deutete Löwenzahn mit dem Finger ans Ufer und sagte: »Da liegt jemand.«

Sogleich eilten sie vorwärts. Das Land fiel hier als schmaler Kiesstrand zum Wasser hin ab, und dort, inmitten eines Wirrwarrs aus Wasserpflanzen, war ein Mann angeschwemmt worden. Seine Kleidung war zerrissen, beinahe bis zur Nacktheit, und seine Augen blinzelten blicklos zur Sonne empor. Um seinen Hals hing an einem Lederband ein mächtiges Horn. Er war dunkelhaarig, noch jung, und obgleich das Wasser sein Blut abgewaschen hatten, entdeckten sie doch auf den ersten Blick die furchtbare Wunde, die seine linke Schulter gespalten hatte. Die Verletzung mußte von einer Axt oder einem Breitschwert stammen.

»Er lebt noch«, stellte Mütterchen fest, die sich als erste über ihn beugte.

»Nicht mehr lange, so wie’s aussieht«, bemerkte Löwenzahn trocken.

»Helft mir, ihn aus dem Wasser zu ziehen.« Mütterchen zerrte an seinen Armen. Ein Stöhnen entfuhr den bebenden Lippen des Mannes.

Löwenzahn drängte Mütterchen und Alberich beiseite und hob den Mann auf wie ein kleines Kind, quer über beide Arme. Dann ging er zurück zum Wegrand und legte den Sterbenden ins weiche Gras.

Alberich beäugte das alles mit zweifelnden Blicken.



Der Mann war des Todes, das war leicht zu erkennen, und jeder Augenblick, den sie hier zubrachten, war verschwendete Zeit. Trotzdem öffnete Alberich seinen Wasserschlauch und wollte ihn dem Mann an die Lippen führen. Mütterchen aber stieß ihn beiseite.

»Wasser hat er wahrlich genug bekommen, Dummkopf. Wer weiß, wie lange er im Wasser gelegen hat.«

Mit beleidigter Miene steckte Alberich den Schlauch wieder weg und verlegte sich fortan auf leises Gebrummel. Mit gerümpfter Nase sah er zu, wie Mütterchen auf die Brust des Mannes preßte, als könne sie so das Wasser aus seinen Lungen pumpen. Pure Zeitverschwendung.

Der Sterbende öffnete plötzlich den Mund und formte ein Wort. Keiner verstand, was er sagen wollte. Noch einmal versuchte er es, und diesmal hörten es alle.

»... Drache...«

Sogleich beugten sich die drei über ihn und sprachen wirr auf ihn ein. In dem Durcheinander war nichts mehr zu verstehen, bis Mütterchen zornig ausrief:

»Seid still, verdammt! Laßt ihn doch sprechen!«

Alberich und Löwenzahn verstummten schuldbewußt und lauschten.

»Drache«, keuchte der Mann zum zweiten Mal und starrte immer noch geradewegs in die Sonne. Seine Lider zitterten. »Nicht weit...«

Sie horchten angestrengter, aber jetzt schwieg der Mann, und es dauerte nur wenige Augenblicke, da schnappte er zum letztenmal nach Luft und starb.

Die drei sahen sich über seine Leiche hinweg an.

»Hättest du ihn nicht ein wenig länger am Leben halten können?« knurrte Alberich vorwurfsvoll in Mütterchens Richtung.

Die Räuberin funkelte ihn wütend an. »Ich bin kein Medicus. Ich verstehe mehr vom Töten als vom Heilen.«

»Das haben wir gesehen«, klagte Alberich. »So wie du auf seine Brust gedrückt hast, konnte er ja nicht -«

»He!« keifte sie zurück. »Halt dich zurück, Alberich Horthüter.«

Löwenzahn hatte dem Toten derweil das Horn abgenommen. Neugierig betrachtete er es von allen Seiten. Dann setzte er das spitze Ende an die Lippen und stieß hinein. Wasser spritzte aus der vorderen Öffnung - genau in Alberichs Gesicht -, gefolgt von einem kümmerlichen Mißton.

»Gib mal her!« fauchte der Zwerg, der sich mit solchen Dingen auskannte.

»Unser Horthüter ist ein rechter Spielmann«, bemerkte Löwenzahn eingeschnappt, reichte Alberich aber das Horn.

Der blickte mit einem Auge hinein, schüttelte das verbliebende Wasser hinaus und führte es dann zum Mund.

Ein Ton, der selbst die Götter aus ihrem Schlaf reißen mußte, quoll zäh aus dem Horn. Plötzlich wanden sich Mütterchen und Löwenzahn mit schmerzverzerrten Gesichtern am Boden, ihre Hände auf die Ohren gepreßt.

Alberich ließ erstaunt von dem Horn ab und starrte sie an. »So schlimm war es nun auch nicht.«

Mütterchens Augen waren blutunterlaufen, als sie ihn in maßloser Verwirrung anstarrte. Da erst begriff er, daß sie echten, körperlichen Schmerz empfunden hatte. Der Klang des Horns tat weh.

»Tu das nie wieder...«, stöhnte sie.

»Bei allen Göttern«, stieß Löwenzahn hervor, »was war das?«

Alberich sah verwundert seine Gefährten an, dann das Horn, und schon setzte er es erneut an die Lippen, um seine Wirkung noch einmal zu erproben, als Mütterchen es ihm mit einer blitzschnellen Bewegung aus der Hand schlug. Es landete auf der weißen Brust des Toten.

»Hör auf damit!« schrie sie ihn an. »Es ist wie ein Messerstich ins Ohr.«

»Ein Messerstich?« stammelte Alberich verstört.

»Ein magisches Horn«, sagte Löwenzahn und nahm es ehrfürchtig in beide Hände. »Sein Klang kann töten.«

Alberich runzelte zweifelnd die Stirn. »Davon habe ich nichts bemerkt.«

»Du hast es ja auch benutzt«, nörgelte Mütterchen und hielt sich den Schädel. »Solcherlei Magie wirkt nie auf den, der sie anwendet. Nur auf andere.«

»Vielleicht war es nur ein schräger Ton...«, schlug der Zwerg mit schwacher Stimme vor.

»Ein schräger Ton?« fragte Mütterchen und lachte bitter. »Nicht einmal du könntest so schräg spielen, daß man Schmerzen verspürt. Nicht solche Schmerzen.«

»Wir sollten es mitnehmen«, sagte Löwenzahn und strich sachte über die Oberfläche des Horns. Es war so lang wie Alberichs Arm, gekrümmt und von gelblich-weißer Farbe.

»Von welchem Tier soll das stammen?« fragte er verwundert.

Alberich funkelte ihn an. »Von einem Hornochsen, vielleicht.«

Die Bemerkung ging fehl, denn Löwenzahns Aufmerksamkeit war gänzlich auf das Instrument gerichtet.

»Es sieht nicht aus wie ein gewöhnliches Horn«, sagte er. »Es ist zu glatt, fast wie...« Er zögerte.

»Wie was?« wollte Alberich wissen.

»Wie ein Zahn.«

»Ein Zahn

Löwenzahn nickte. »Die Wände sind auch dicker als bei einem üblichen Horn. Jemand hat sich sehr viel Mühe gegeben, es auszuhöhlen.«

Alberich hatte erhebliche Zweifel an dieser Vermutung. »Was für eine Bestie soll solche Zähne haben?«

Mütterchen Mitternacht trat neben den Krieger und ließ ihre Finger über das Horn gleiten. »Darauf brauchst du doch nicht wirklich eine Antwort, oder?«

Alberich sog scharf die Luft ein. »Meint ihr, jemand macht sich an unserem Drachen zu schaffen?«

»Ich fürchte, dieser Jemand wird deine Meinung, daß es unser Drache ist, nicht teilen.« Mütterchen nahm das Horn aus Löwenzahns Pranken, stieg über den Toten hinweg und hielt es Alberich hin.

»Nimm du es, wenn du wirklich damit umgehen kannst. Wer weiß, wofür es noch gut ist. Aber versprich mir, niemals, niemals wieder hineinzustoßen, ohne uns zu warnen!«

Alberich brummte einen tonlosen Fluch, dann nahm er das Horn und hängte es sich an dem Lederband um den Hals. Er deutete auf den Toten. »Was machen wir mit ihm?«

»Willst du ihn begraben?« fragte Mütterchen.

Alberich grinste. »Ich dachte dabei an den Stärksten von uns dreien, den grausamsten und furchtlosesten Recken, den die Welt -«

»Ja, ja«, knurrte Löwenzahn. »Ich begrabe ihn, wenn ihr unbedingt wollt.«

Mütterchen schüttelte den Kopf. »Dazu bleibt keine Zeit. Die Räuberhorden werden schon zum Hohlen Berg ziehen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Da nahm der Riese den Leichnam wieder auf und trug ihn tiefer ins Unterholz. Er faltete die Hände des Toten auf dessen Brust, dann legte er ein paar Äste und Blattwedel über ihn. »Das ist das Würdevollste, was wir für dich tun können«, raunte er ihm zu, dann ging er zurück zu den anderen.

Als sie ihren Weg fortsetzten, sagte Alberich: »Wir sollten ein wenig achtsamer sein. Wer weiß, ob derjenige, der den armen Kerl erschlagen hat, nicht ganz in unserer Nähe lauert.«

Sie kamen überein, sich noch näher am Waldrand zu halten, obgleich allen klar war, daß ihnen die Bäume nur von einer Seite her Schutz boten, während sie von vorne, von hinten und vor allem vom anderen Ufer aus deutlich zu sehen sein mußten.

»Habt ihr auch verstanden, daß er ›nicht weit‹ sagte?« fragte Mütterchen nach einer Weile.

»Ja«, bestätigte Löwenzahn. »Hat er damit den Drachen gemeint?«

»Das scheint mir naheliegend«, meinte Mütterchen Mitternacht.

»Naheliegend, naheliegend«, äffte der Zwerg sie nach. »Naheliegend ist auch, daß wir aus dem Hinterhalt überfallen und niedergemacht werden.«

Wütend wandte die Räuberin sich zu ihm um. »Wäre ich noch Wegelagerer, würde ich das in der Tat tun«, zischte sie giftig. »Dein goldener Helm und die goldene Brünne sind ja weithin zu erkennen.«

Alberich faßte sich empört an den Helm. »Das ist Albengold, die Rüstung meiner Ahnen. Wie kannst du glauben, ich würde ohne sie in den Kampf ziehen?«

»Etwas weniger Auffälliges bekäme uns wahrscheinlich besser.«

»Ihr Menschen habt keinen Sinn für Tradition.«

»Tradition, die mich tötet, bedeutet mir allerdings wenig.«

Wieder entspann sich ein heftiger Zank zwischen den beiden. Alberich wollte nicht von seiner Überzeugung weichen. In der Schlacht würde Mütterchen schon sehen, welch erbärmlichen Schutz ihr Waldläuferwams ihr bieten würde. Wenigstens der Hunne war in dieser Hinsicht verständiger. Sein Fell- und Schuppenpanzer sah äußerst wirkungsvoll aus.

Löwenzahn hörte dem Gezänk der beiden stumm zu, und nur dann und wann verzog sich sein breites Gesicht in einem Anflug von Heiterkeit oder Schadenfreude.

Ein halber Tag verging, während sie weiter dem Uferweg folgten. Die Vögel zwitscherten im Geäst, und gelegentlich paddelte eine Entensippe den Strom hinab. Ein tiefer Friede lag über der Landschaft, weit und breit war kein Mensch zu sehen.

»Ist euch schon aufgefallen, daß es keine Boote auf dem Rhein gibt?« fragte Löwenzahn mit einemmal.

Mütterchen und Alberich ließen von ihren Sticheleien ab und sahen ihn an.

»Du hast recht«, sagte die Räuberin verwundert. Seit Anbeginn ihre Reise war ihnen kein einziges Fischerboot begegnet. Auch Flößer, die Holz flußabwärts in die baumlosen Länder brachten, waren nirgends zu sehen. »Es ist fast, als fürchteten sie sich vor etwas.«

»Vor dem Fluß?« fragte der Krieger stumpfsinnig.

Mütterchen hob die Schultern. »Oder vor etwas an seinem Ufer.«

»Was kann das sein? Der Drache ist doch tot«, sagte Löwenzahn.

»Ich habe das üble Gefühl, wir werden es noch in Erfahrung bringen.«

Alberich blieb stehen. »Dann laßt uns endlich den Weg verlassen und durch die Wälder ziehen.«

»Das wird Zeit kosten«, gab Mütterchen zu bedenken.

»Alles andere mag unser Leben kosten«, entgegnete Alberich schnippisch.

Die Räuberin zuckte mit den Achseln. »Es ist dein Hort.«

Löwenzahn mischte sich ein. »Und unser aller Leben.«

Damit war es beschlossene Sache. Sie schlugen sich vom Weg nach rechts, fünfzig, sechzig Schritt weit in die Wälder. Das Gelände stieg sanft bergan, und die Berge, die den Rhein rechts und links flankierten, rückten näher ans Flußbett. Der Boden wurde steiniger und steiler, und immer wieder mußten sie kleineren Schluchten und Spalten ausweichen. Felsnadeln wuchsen aus dem Waldboden empor, und vor allem das Pony hatte oft unter dem zerfurchten Grund zu leiden.

Es dämmerte bereits, als sie von einer Lichtung aus einen merkwürdigen Felskamm erblickten. Er erstreckte sich in einem weiten Bogen von den Bergen zu ihrer Rechten bis zum Ufer und versperrte ihnen somit den Weg. Seine steilen Hänge waren noch mehr als tausend Schritte entfernt, aber selbst aus der Entfernung wirkten die zerklüfteten Spitzen bedrohlich und angsteinflößend. Alles in allem mußten sie an die zweihundert Mannslängen hoch sein, fast ein kleines, Gebirge. Dabei waren die schroffen Felsgipfel auffallend regelmäßig angeordnet, eine nahezu vollkommene Reihe aus scharfen schwarzen Spitzen. Ihnen allen kam bei diesem Anblick der gleiche Gedanke: Es sah aus wie -

»Der Rücken eines Drachen!« stieß Löwenzahn aus.

»So groß?« Alberich stockte der Atem.

»Es sind nur Felsen«, beruhigte sie Mütterchen. »Ich kenne sie, ich war früher schon hier. Es stimmt, sie sehen aus wie die Zacken auf dem Rücken eines Lindwurms, aber tatsächlich gibt es dort nichts, das wir fürchten müßten.«

Alberich hatte Zweifel. »Wie lange ist es her, daß du hier warst? Hundert Jahre?«

»Hundert Jahre?« rief sie empört. »Für wie alt hältst du mich, Zwerg?«

Tatsächlich hatte er übersehen, daß hohes Alter bei Menschen - anders als bei Zwergen - nichts ist, mit dem man prahlt. Zudem hatte er nicht bedacht, daß das Große Volk keineswegs so lange lebte wie die steinalten Zwerge.

»Neunzig, vielleicht?« schränkte er kleinlaut ein.

Mütterchen hielt es für unter ihrer Würde, darauf zu antworten, und wandte sich statt dessen wieder dem seltsamen Felskamm zu. »Laßt uns weitergehen. Und stellt euch nicht an wie Hasenfüße.«

»Wohlan denn!« seufzte Löwenzahn und setzte seine Muskelmassen in Bewegung.

Auch Alberich folgte. Gemeinsam tauchten sie wieder unter das Blätterdach der Baumkronen, und die unheilvollen Felsspitzen verschwanden aus ihrem Blickfeld. Trotzdem war ihnen allen nicht wohl zumute, nicht einmal Mütterchen, die sich hier auskannte.

»Einst versteckte sich meine Bande in diesen Felsen vor Verfolgern«, erzählte sie, und die Besinnung auf Vergangenes ließ ihre Augen leuchten. »Ich führte meine Leute in eine Höhle, wo unsere Feinde uns nicht finden konnten. Nachdem sie vorübergezogen waren, stürmten wir hinaus und überfielen sie von hinten. Keiner von ihnen hat überlebt.«

»Wie ehrenvoll«, bemerkte Alberich bissig.

»Wir waren Räuber, mein Freund«, entgegnete Mütterchen ruhig. Die Erinnerung stimmte sie sanftmütig. An einem neuerlichen Wortgeplänkel lag ihr nichts. »Aber ich sage euch, diese Felsen eignen sich besser als Versteck als jeder andere Ort, den ich kenne.«

»Und zum Hinterhalt«, sagte Löwenzahn.

Bald schon wurde der Boden noch unwegsamer, und sie standen vor der Entscheidung, die Felswände hinaufzuklettern und das Pony zurückzulassen oder aber einen Pfad zu suchen, der, so es hier wirklich Wegelagerer gab, von diesen überwacht wurde.

Mütterchens Fürsprache war es zu verdanken, daß sie sich für die zweite Möglichkeit entschieden, denn die Räuberin achtete das Tier mehr und mehr als gleichwertiges Mitglied ihrer Gruppe. Mochten die anderen darüber lachen und schimpfen, sie aber stand zu Rohland, als sei er ihr teuerster Freund.

Sie wandten sich nach Westen in Richtung des Flußufers, und tatsächlich stießen sie schon bald auf einen Hohlweg, der sich zwischen hohen Felswänden und vornübergebeugten Bäumen hinauf zu den Gipfeln schlängelte.

»Es ist ein Fehler«, murmelte Alberich immer wieder zu sich selbst, »ein schlimmer Fehler.«

Zu ihrer Überraschung aber stellte sich ihnen niemand in den Weg, der Landstrich schien vollkommen menschenleer. Der Pfad endete in einem höhergelegenen Waldstück, wo sie ihren Weg aufgrund des besseren Geländes frei wählen konnten. Sie schlugen sich links ins Unterholz - sie wollten das Schicksal nicht gar zu offen herausfordern - und stiegen im Verborgenen weiter nach oben.

Plötzlich hielt Alberich inne, kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt zu den Felstürmen empor.

»Seht, da sind Männer!« flüsterte er.

Ihre Blicke folgten seiner ausgestreckten Hand, und tatsächlich, da waren sie. Mindestens ein halbes Dutzend Krieger, auf dem oberen Felskamm verteilt. Gegen das Glutrot der untergehenden Sonne waren sie nicht mehr als schwarze Scherenschnitte, mit mächtigen Helmen und Brustharnischen, gestützt auf Hellebarden und Schwerter. Ihre weiten Umhänge flatterten im Abendwind, der flüsternd um die Felsklüfte strich.

»Da sind noch mehr«, sagte Löwenzahn leise und zeigte nach rechts und links. Die gesamte Felsenkette wurde von einer langen Reihe von Kriegern bewacht. Von den unteren Hängen aus waren sie nicht zu erkennen gewesen, nur ein paar weitere Erhebungen in der Schroffheit der Felsen; jetzt aber, von nahem, gab es keinen Zweifel, daß das gesamte Gelände streng bewacht wurde.

So leise wie möglich schlichen die Gefährten näher. Mütterchen schärfte dem Pony flüsternd ein, keinen Ton von sich zu geben, und Rohland hielt sich daran. Sogar seine Hufe verursachten kaum einen Laut. Alberich mußte sich eingestehen, daß Mütterchens Einfluß auf das Tier erstaunlich war.

Die Felswände der oberen Gipfel stiegen steil wie Burgmauern nach oben. Strickleitern und natürliche Treppenformationen erlaubten den Kriegern, auf ihre Aussichtsposten zu steigen. Sie würden eine Weile brauchen, um wieder nach unten zu klettern. Das mochte es den Gefährten ermöglichen, unbescholten über den Paß zu gelangen.

»Fällt euch etwas auf?« raunte Alberich plötzlich. Er besaß, trotz seines Alters, von allen die schärfsten Augen.

Die beiden anderen blieben stehen. Angestrengt blickten sie auf zu den Umrissen der Wächter.

»Was soll uns auffallen?« fragte Mütterchen unwirsch. Sie wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden und hatte keinen Sinn fürs Rätselraten.

Alberich grinste. »Sie blicken in die andere Richtung«, sagte er.

Noch einmal blinzelten Löwenzahn und Mütterchen nach oben. Sie sahen nichts als schwarze Formen, ohne Tiefe, ohne Gesicht.

»Tun sie das?« fragte Löwenzahn schwerfällig.

»Ja, Schwachkopf«, gab Alberich zurück, stolz auf seine Entdeckung. »Sie bewachen die andere Seite der Felsen, nicht diese hier.«

»Das kann zweierlei bedeuten«, folgerte Mütterchen schnell. »Entweder befinden wir uns bereits mitten in dem Gebiet, das sie vor Gegnern beschützen wollen; dann aber hätten wir bereits vorher auf Wächter stoßen müssen, die Reisende aus der anderen Richtung abwehren.«

»Und die zweite Möglichkeit?« wollte Löwenzahn wissen.

»Sie wachen über die andere Seite der Felsen, weil sich dort etwas befindet, daß ihnen nicht entkommen soll.«

Löwenzahns Augen weiteten sich. »Der Drache?«

»Ist doch tot«, schnaubte Alberich leise.

»Was sonst?«

Mütterchen seufzte. »Ich fürchte, das werden wir bald herausfinden, ob wir wollen oder nicht. Was immer es ist, es befindet sich auf unserem Weg. Wir können die Felsen nicht im Osten umgehen, das würde Tage dauern. Und den Rhein zu durchschwimmen traut sich wohl keiner von uns zu.«

»Ich kann gar nicht schwimmen«, gestand der Krieger kleinlaut.

Alberich stieß scharf die Luft durch die Nase aus. »Das hat auch keiner von dir angenommen.«

»Wie meinst du das, Zwergling?«

»Nenn mich nicht Zwergling!«

»Und du mich nicht Schwachkopf!«

»Hört schon auf«, rief Mütterchen. »Laßt uns jetzt endlich weitergehen.«

Das taten sie, doch schon wenig später, inmitten eines Labyrinths aus moosüberwucherten Felsnadeln, ließ Alberich sie abermals anhalten. »Ich weiß jetzt, warum sie keinen Wert darauf legen, schnell genug von dort oben herabzusteigen.«

»Verrat es uns«, verlangte Mütterchen gereizt.

Alberich fand Spaß daran, die beiden hinzuhalten. »Einige von ihnen haben sicher Armbrüste«, sagte er. »Aber das kann nicht alles sein.«

»Sondern?«

Er bedeutete ihnen, ihm zu einer Stelle zu folgen, von der aus sie einen der Wächter zehn Schritte hoch über sich stehen sahen. Die unerwartete Nähe zu einem der Krieger ließ Mütterchen und Löwenzahn aufschrecken. Sie waren fast an dem Mann vorbeigeschlichen und sahen ihn jetzt schräg von vorne. Die Abendsonne tauchte ihn in glühendes Blutrot. Er bemerkte sie nicht, starrte statt dessen auf etwas, das jenseits der Felsen liegen mußte.

Vor seiner Brust baumelte ein Horn, das genauso aussah wie jenes, das sie bei dem Toten gefunden hatten.

Nachdem sie sich wieder zurückgezogen hatten, blickte Mütterchen den Zwerg mit ehrlichem Erstaunen an. »Wie konntest du das von hinten sehen?«

»Konnte ich nicht«, gab er zu. »Aber ich habe es mir gedacht. Was sonst kann diese Männer so selbstsicher machen, daß sie es nicht für nötig erachten, sich hier unten am Weg zu postieren? Mit den Hörnern können sie jeden Wanderer mühelos aufhalten, ohne ihm selbst entgegenzutreten.«

»Aber wenn einer von ihnen ins Horn bläst, müssen die anderen ebenfalls davon betroffen sein. Nur der Benutzer ist geschützt.«

»Allerdings«, erwiderte Alberich. »Vorausgesetzt, sie können ihn hören.«

Löwenzahn sah ihn verständnislos an. »Was soll das nun wieder heißen?«

Alberich wollte antworten, aber Mütterchen kam ihm zuvor: »Natürlich, das ist es. Sie können es nicht hören! Sie haben sich etwas in die Ohren gestopft.«

»Was für Wächter sollen das denn sein?« wunderte sich Löwenzahn. »Wachtposten, die sich die Ohren zustopfen?«

»Deshalb sind es so viele«, sagte Alberich. »Damit ihren Augen nichts entgeht. Verdammt, wenn wir nur sehen könnten, was auf der anderen Seite ist!«

Mütterchen hatte an seiner Schlußfolgerung Zweifel. »Ich weiß nicht«, meinte sie. »Sollten sie nicht, um ganz sicherzugehen, ein paar Späher durch die Felsen streifen lassen? Ich an ihrer Stelle würde das tun.«

»Ach, was«, entgegnete Alberich...

Und wurde im selben Augenblick fast von einem gewaltigen Schwerthieb gespalten. Nur Löwenzahn, der den Schlag hatte kommen sehen, war es zu verdanken, daß der Zwerg mit dem Leben davonkam. Der Riese riß seinen Bihänder von der Schulter und parierte klirrend die heranrasende Klinge. Funken ergossen sich über Alberichs Haupt.

Unbeholfen taumelte der Zwerg beiseite. Auch Mütterchen riß ihre Waffe aus der Scheide, um Löwenzahn zur Seite zu stehen. Der aber hatte ihre Hilfe gar nicht mehr nötig, denn ehe die Räuberin heran war, hatte er die Parade bereits in einen geschickten Stoß verwandelt, der die Spitze des Bihänders genau in den Sehschlitz seines Gegners trieb. Solche Wucht hatte die Attacke des Riesen, daß die Schwertspitze an der Rückseite des Helmes wieder herausfuhr. Der Angreifer hing zappelnd wie eine Puppe an Löwenzahns Klinge und war augenblicklich tot. Der Riese ließ den Leichnam vom Schwert gleiten und strich die Klinge an der Kleidung des zuckenden Toten sauber.

Atemlos und mit geschärften Sinnen standen die Gefährten um den toten Wachtposten, der so unvermittelt zwischen den Felsen aufgetaucht war. Er hatte kein Horn dabei, nur das Schwert und eine kleine, handliche Armbrust. Mütterchen hatte mit ihrer Vermutung rechtbehalten.

»Wo kam der denn her?« fragte Alberich verdattert. »Und was ist das für ein Wappen auf seinem Wams?« Mit zittrigem Zeigefinger deutete er auf ein weißes Dreieck, das auf der Spitze stand und mit allerlei Widerhaken besetzt war.

»Die Wächter auf den Felsen tragen das gleiche«, sagte Mütterchen.

Löwenzahn kratzte sich das verlauste Haar am Hinterkopf. »Sieht aus wie ein Drachenkopf.«

»Natürlich ist es ein Drachenkopf«, entgegnete die Räuberin schroff. Sie versuchte zu lächeln, aber es wirkte fahrig. »Ich schätze, Freund Zwerg, du verdankst Löwenzahn dein Leben.«

Alberich nickte grießgrämig. »Danke«, sagte er knapp.

Der Riese grinste und schwang sein Schwert über die Schulter. »Das war keine große Sache«, gab er zurück, »und nur ein kleines Leben.«

»Was, verflucht, willst du damit -« fuhr Alberich auf, aber Mütterchen brachte ihn mit einem abrupten Wink zum Schweigen.

»Die Kerle oben auf den Felsen mögen uns nicht hören können«, sagte sie scharf, »aber dieser hier konnte es. Und wer weiß, wie viele von denen sich noch hier herumtreiben. Wir müssen weiter.«

Im Schatten der Felsnadeln, eng an den Stein gepreßt, setzten sie ihren Weg vorsichtig fort. Mütterchen hatte Rohlands Hufe mit Moos und Gras umwickelt, was das Klappern seiner Schritte dämpfte. Das Pony ließ alles brav über sich ergehen. Mütterchen erwähnte, daß Rohland ihr mit Abstand angenehmster Weggefährte sei. Alberich verzog beleidigt das Gesicht, aber Löwenzahn grinste nur.

Als sich das Gewirr der Felswände lichtete und der Boden allmählich abschüssig wurde, blickten sie sich noch einmal nach ihren Gegnern um. Dabei wagten sie sich gerade soweit ins Licht, daß sie haarscharf um eine Ecke herum einen der Männer beobachten konnten. Zu ihrem Glück starrte der Wächter über sie hinweg.

Alberich legte eine Hand auf das Horn vor seiner Brust. »Wir sollten uns etwas suchen, um uns bei Gefahr die Ohren zu verstopfen.«

Mütterchens Stimme klang neidisch. »Du zumindest bist sicher. Wahrscheinlich mußt du nur hineinstoßen und den Klang der anderen Hörner übertönen.«

»Wer weiß?« gab Alberich zweifelnd zurück. »Ich bin nicht versessen darauf, zu erfahren, was geschieht, wenn sich die Magie zweier Hörner in feindlicher Absicht kreuzt. Lang und grauenvoll sind die Geschichten von Zauberschlachten und dem, was aus ihnen entstanden ist.«

»Du fürchtest, die Magie könne sich verselbstständgen?«

»Ich verstehe nicht viel mehr von solcher Zauberei als du, aber ich weiß, was Zwergenzauber bewirken können. Und wer weiß, ob es mit Drachenmagie nicht ganz ähnlich ist.«

Beunruhigt formten sie sich daraufhin kleine Lehm- und Erdklumpen, wagten jedoch nicht, sie bereits in die Ohren zu stecken, aus Furcht, die Feinde könnten ihnen unbemerkt näher kommen.

Als sie endlich hinter der letzten Felsnadel den Hang hinabschauten, begriffen sie, was die Wächter auf den Gipfeln so selbstsicher und überlegen machte. Es gab keine Bäume auf der anderen Seite des Felskamms, nur eine abschüssige Wiese aus wogendem Gras, die weithin gut zu überblicken war. Jeder, der hier herauf- oder hinunterlief, mußte sofort von den Posten bemerkt werden.

»Und nun?« fragte Alberich verdrossen. Sechshundert Schritt weiter westlich strömte der Rhein im Licht des Sonnenuntergangs wie ein Lavastrom durch die Lande. Sein Verlauf wurde von der anbrechenden Nacht verschleiert.

»Wir warten bis zur Dunkelheit«, schlug Mütterchen vor.

»Bevor es Nacht wird, werden die Kerle von ihren Aussichtsposten steigen«, prophezeite Löwenzahn.

»Wenn wir nur wüßten, was sie bewachen«, sagte Mütterchen nachdenklich. »Könnt ihr jenseits der Wiese etwas erkennen? Alberich, du hast die besten Augen...«

Angestrengt starrte er über das Gras hinweg. Es war ein weitläufiger Hang, und sein Ende verschwand in neuerlichem Waldland. Im Dämmerlicht gab es nichts Außergewöhnliches zu entdecken.

Da zischte Löwenzahn: »Dort oben, da ist etwas!«

Anders als seine beiden Gefährten hatten der Riese seinen Blick nach Osten gewandt, nicht hinab ins Tal, sondern weiter hinauf in die Felsen.

Dort ragte, als düsterer Schemen vor dem Abendhimmel, ein hoher Turm auf, bedrohlich wie der Bergfried der mächtigsten Burg. Dieser aber stand für sich allein, umgeben von einer hohen, zinnenbewehrten Mauer.

Das Merkwürdigste war die Menschenschlange, die sich schweigend vom Waldrand bis zum offenen Tor der Felsenfestung erstreckte. Unablässig reichten die Männer und Frauen etwas von einem zum anderen - Eimer, wie es schien. Alberichs erster Gedanke war, daß es innerhalb der Festung brannte, und Löschwasser aus dem Tal zum Turm getragen wurde. Doch der rote Schein, der um die Mauern lag, stammte allein von der untergehenden Sonne. Von einem Feuer war weit und breit nichts zu sehen.

Noch eine weitere Beobachtung wollte nicht zum Bild einer Löschkette passen: Die Menschenschlange wurde von berittenen Kriegern bewacht, die schwerbewaffnet und mit klatschenden Peitschen Obacht gaben, daß nirgends eine Lücke entstand. Mindestens drei Dutzend Krieger patrouillierten an der Kette entlang den Hang auf und ab. Immer wieder ließen sie die Lederriemen auf ihre emsigen Opfer herabknallen.

»Deshalb bewachen sie nur die eine Seite der Felsen«, erkannte Mütterchen erschrocken. »Sie geben acht, daß keiner ihrer Sklaven über den Felskamm entkommt. Wanderer aber, die wie wir von der anderen Seite kommen, werden abgefangen und versklavt.«

»Dann war der Mann, den wir fanden, sicher einer, der ihnen entkam«, flüsterte Alberich.

»Er muß einem der Krieger das Horn gestohlen haben.«

Löwenzahn löste seinen Blick von den Arbeitern. »Darum ist der Fluß so leer. Die Krieger versklaven die Flößer.« Anders als Alberich und Mütterchen wirkte der Riese keineswegs entsetzt.

Vielleicht liegt es am Hunnenblut in Löwenzahns Adern, dachte Alberich geringschätzig. Für seinesgleichen waren Sklaven nichts Ungewöhnliches. Dann aber fiel ihm sein eigenes Volk ein, das in den Mienen und Schmieden des Hohlen Berges den Hort geschaffen hatte. War nicht er selbst ein Kind der Sklaverei? Schlimmer noch: Er ergab sich freiwillig seiner Rolle als letzter Sklave der Nibelungen. Treuer Horthüter? Von wegen. Er fügte sich ohne Peitsche in sein Schicksal, kämpfte gar darum, es aufrechtzuerhalten.

Vielleicht hätte er in diesem Moment den Sinn seiner Reise neu überdacht, vielleicht wäre er gar zu dem Schluß gekommen, daß dies der rechte Zeitpunkt war, um kehrtzumachen - wäre nicht plötzlich etwas geschehen, das ihn aus seinen Grübeleien riß.

Hinter ihnen sagte eine Stimme: »Rührt euch nicht von der Stelle!«

Sie wirbelten trotzdem herum - und blickten geradewegs auf acht Drachenkrieger, die Schwerter und Armbrüste auf sie gerichtet hatten. Einer hatte die Zügel des unglücklichen Ponys ergriffen und zog es grob hinter die Reihe der Kämpfer. Die Drachenschädel auf ihren Wappen unterschieden sich deutlich in der Vollendung ihrer Ausführung. Es sah aus, als hätte sie jeder eigenhändig nach einer gemeinsamen Vorlage gezeichnet. Daß kein echter Künstler mit der Herstellung beauftragt worden war, war ein Hinweis darauf, daß das Wappen in aller Eile entstanden war, wahrscheinlich erst nach dem Tod des Untiers.

Löwenzahn stieß einen zornigen Schrei aus und wollte schon den Bihänder schwingen, aber Mütterchen hielt ihn zurück. »Laß ab, Freund, sie sind uns überlegen.«

Die acht Männer trugen Helme, durch deren Sehschlitze nur ihre Augenpartie zu erkennen war. Einer besaß einen schwarzen Helmbusch. Er schien der Anführer der Gruppe zu sein, denn er zeigte auf Alberich und fragte: »Wo habt ihr das her?«

Die Anrede »das« machte Alberich außerordentlich wütend, bis er begriff, daß nicht er, sondern das Horn vor seiner Brust gemeint war. Er ergriff es langsam mit beiden Händen und fragte scheinheilig: »Das hier?«

Der Drachenkrieger nickte. Dabei klirrte sein Helmrand auf den Stahlkragen des Brustpanzers. »Woher hast du es?« fragte er noch einmal. Offenbar nahm er an, daß die drei die Wirkung des Hornes nicht kannten, denn er verlangte nicht, daß sie es herausgaben. Noch nicht.

Alberichs Gedanken überschlugen sich. Er wußte, er gefährdete seine Freunde, aber welche Wahl blieb ihm schon?

Blitzschnell riß er das Horn an die Lippen und stieß mit aller Kraft hinein.

Die Wirkung war spektakulär.

Kaum ertönte der Klang des Hornes, da ließen die Krieger ihre Waffen fallen und schlugen die Hände vor die Ohren - die Schwierigkeit war, daß sie Helme trugen. Die Männer wälzten sich schreiend am Boden, klammerten die Finger um die Helme, unfähig, sie herabzureißen.

Mütterchen und Löwenzahn erging es nicht besser. Auch sie lagen im Gras, schrien und krümmten sich in Agonie.

Alberich nahm das Horn von den Lippen und wollte sich zu Mütterchen herabbeugen, wollte sie auf die Beine ziehen, um gemeinsam mit ihr dem gefallenen Riesen aufzuhelfen. Im selben Augenblick aber zischte etwas an seinem Gesicht vorbei und bohrte sich zwei Schritte neben ihm ins Gras. Ein Armbrustbolzen!

Es gelang ihm gerade noch, die drei Wächter auf den Felsen wahrzunehmen, die auf die Vorgänge am Boden aufmerksam geworden waren. Dann zuckten schon die nächsten Bolzen heran. Einer schlug nur einen Fingerbreit neben Mütterchens Kopf in den Boden, ein anderer verfehlte Alberichs Schulter.

Er hatte keine Wahl. Er mußte fliehen und die Gefährten zurücklassen. Die beiden waren wehrlos, man würde ihnen - hoffentlich - nichts antun. Er aber war so gut wie tot, wenn sie ihn fingen. Falls ihn nicht schon vorher ihre Bolzen durchbohrten.

Hakenschlagend floh Alberich den Hang hinunter. Zahllose Geschosse gruben sich rings um ihn ins Gras. Zum ersten Mal kam ihm seine geringe Größe zugute. Die Wächter hatten sichtliche Schwierigkeiten, ihr kleines, wendiges Ziel zu treffen.

Eine Stahlspitze schrammte an seiner Schulter vorüber, harmlos aber schmerzhaft. Alberich fluchte, rannte jedoch weiter. Das Horn wippte am Lederband auf und ab, die goldene Geißel an seinem Gürtel klimperte wie ein Glockenspiel.

Er hatte etwa die Hälfte der Wiese hinter sich gebracht, als der Pfeilhagel aufhörte. Im Laufen sah er sich um und erkannte den Grund: Eine Horde von Kriegern, acht oder neun, hatte seine Verfolgung aufgenommen. Es waren nicht die Männer von den Felsen, denn sie hatten keine Hörner dabei. Von der fernen Sklavenkette lösten sich mehrere Reiter und gaben ihren Pferden die Sporen. Aus dem Augenwinkel sah Alberich mindestens drei von ihnen, die im Galopp auf ihn zupreschten.

Seine kurzen Beine schmerzten vor Anstrengung, sie waren das Rennen nicht gewohnt. Unter Mühen erreichte er den Waldrand. Die letzten Sonnenstrahlen vermochten das Gebüsch nicht zu durchdringen, zwischen den Bäumen herrschte Dunkelheit. Wenn er seine Gegner ins Unterholz locken und dann noch einmal das Horn benutzen würde...

Vor ihm teilten sich Büsche und Äste. Zwei Krieger sprangen auf ihn zu. Sie mußten im Wald auf Patrouille gewesen sein. Einer holte mit einer schartigen Axt aus, doch Alberich war schneller. Er ließ die Goldgeißel wirbeln und setzte gleichzeitig unter dem Hieb des Feindes hinweg. Die Axt sauste über ihn hinweg, die Bänder der Geißel schlangen sich um die Beine des Mannes. Alberich riß die Waffe mit einem Ruck nach hinten. Sein Gegner verlor den Halt und stürzte. Der zweite Krieger lernte aus dem Fehler seines Kameraden; statt den Zwerg zu unterschätzen und blindlings auf ihn einzuschlagen, nahm er sorgfältig eine Kampfstellung ein. Seine Augen hinter dem Sehschlitz blickten abwartend, lauerten auf eine Blöße. Damit aber gab er Alberich Zeit, das Horn zu ergreifen. Ein kurzer Stoß hinein, und schon lag der Krieger am Boden.

Es geht zu leicht, dachte Alberich unheilschwanger. Magie forderte oft einen Preis, und fraglos war der Zauber eines Drachen keine Ausnahme. Plötzlich fürchtete er sich vor dem Horn.

Bevor die Männer von der Wiese ihn erreichen konnten, setzte er sich erneut in Bewegung. So schnell er konnte hetzte er weiter, betete zu den Albenvätern, daß keine weiteren Krieger im Unterholz lauerten.

Aber seine Ahnen waren launische Wesen, und es schien ihnen zu gefallen, ihn von einem Unglück ins nächste zu stürzen. Mit einemmal stand er in einer schmalen Schneise im Wald. Die Sklavenkette vom Hang setzte sich hier unten fort, eine endlose Reihe von Menschen, die volle Wassereimer von Hand zu Hand weiterreichte. Wozu, verdammt, wurde all das Wasser in der Festung benötigt?

»He, Zwerg!« brüllte eine Stimme. Ein Krieger, der diesen Abschnitt der Kette bewachte, war auf Alberich aufmerksam geworden. Mit knallender Peitsche jagte er auf ihn zu.

Alberich warf sich herum und tauchte wieder ins Unterholz. Von überall her erklang jetzt das Bersten von Zweigen und Ästen. Er hätte anhalten und abermals ins Horn stoßen können, aber er fürchtete die Folgen; außerdem, wer sagte ihm denn, daß nicht einige der Männer ihre Ohren verstopft hatten? Wenn er jetzt haltmachte, würden sie ihn unweigerlich einholen und zur Strecke bringen.

Ganz in seiner Nähe bellten Hunde. In Gedanken sah er sich schon von scharfen Fängen zerfleischt, als sich der Wald plötzlich lichtete. Rotes Dämmerlicht schimmerte ihm entgegen. Er sprang zwischen den Stämmen hervor, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen, stürzte nach vorne - und klatschte ins Wasser. Die Fluten des Rheins drangen von allen Seiten auf ihn ein, sogen ihn nach unten. In einem Wirbel aus Luftblasen tauchte er hinab, wurde von der Strömung gepackt und wieder nach oben gespült. Einen Augenblick lang drang sein Kopf ins Freie, er schnappte nach Atem und sah durch Wasserschlieren, daß die Krieger ihm vom Ufer aus nachblickten. Ob sie weitere Bolzen auf ihn abschossen, konnte er nicht erkennen, denn schon spülte die nächste Woge über ihn hinweg. Die goldene Brünne hätte ihn in die Tiefe gerissen, wäre es ihm nicht geistesgegenwärtig gelungen, ihre Riemen zu lösen. Der funkelnde Panzer trudelte abwärts in die Schwärze. Allein die Geißel hielt Alberich umklammert; sie war nicht schwer genug, ihn nach unten zu ziehen.

Irgendwie hielt er sich lange genug an der Oberfläche, um nicht zu ertrinken. Der Strom trug ihn nach Norden. Noch einmal sah er Menschen am Ufer - das Ende der Sklavenkette -, dann schloß er die Augen und ließ sich treiben.

Einige Zeit verging, in der er nicht wußte, was er tun sollte. Er mußte wieder an Land, natürlich, aber nicht so nah am Gebiet der Drachenkrieger. Vielleicht sollte er erst den Blutsee suchen und darin baden, um dann unverwundbar zurückzukehren und die Freunde zu befreien. Aber was, wenn es den Drachen und sein Blut gar nicht gab? Wenn sie alle einem Gerücht aufgesessen waren?

Nein, dachte er, ich muß sofort umkehren. Das bin ich Mütterchen und Löwenzahn schuldig.

Schließlich glaubte er sich weit genug von seinen Verfolgern entfernt, um zurück ans Ufer zu paddeln. Atemlos zog er sich auf festen Grund, blieb erschöpft im Schlamm liegen und schlief augenblicklich ein.



Irgendwann ließ der Schmerz nach. Mütterchen schlug die Augen auf und blickte unwillkürlich in das Gesicht des Riesen, der neben ihr am Boden lag. Löwenzahn hatte immer noch beide Hände auf die Ohren gepreßt. Seine Lider flatterten, aus seinem Mundwinkel perlte ein Speichelfaden.

Mütterchen sah sich um. Die Krieger, die sie gestellt hatten, lagen zuckend im Gras. Die Tatsache, daß es ihnen nicht gelungen war, die Helme abzustreifen und sich die Ohren zuzuhalten, hatte dafür gesorgt, daß der Klang des Horns sie weit schlimmer getroffen hatte als Löwenzahn und sie selbst.

Von Alberich war weit und breit keine Spur zu entdecken. Er war geflohen, der Lump! Aber welche Wahl hatte er schon gehabt? Mütterchen mußte sich eingestehen, daß er richtig gehandelt hatte.

Gerade wollte sie sich aufsetzen und Löwenzahn zu Hilfe eilen, als sich etwas Kühles von hinten auf ihre Schulter legte. Eine Schwertklinge!

»Na, na, na«, höhnte eine rauhe Stimme. »Wohin denn so eilig, alte Hexe?«

Mütterchen bekämpfte tapfer den Drang, eine passende Antwort zu geben. Statt dessen schwieg sie verbissen und fügte sich in ihr Schicksal.

Wenig später wurden sie von einem Trupp Drachenkrieger nach Osten zur Festung geführt. Je näher der Turm und seine hohe Ummauerung rückten, desto bedrohlicher schienen sie. Dünne schwarze Rauchfahnen stiegen hinter dem Steinwall zum Nachthimmel; sie waren nur zu erkennen, weil sie von unten durch flackernden Feuerschein erhellt wurden. Der Innenhof war erleuchtet.

Die Krieger trieben ihre beiden Gefangenen mit Hieben und Tritten zum Tor der Festung. Vor allem Löwenzahn mußte einige Martern ertragen, denn die Männer hatten seine Abstammung erkannt, und wenn es eines gab, das allen Menschen am Rhein gemeinsam war, dann war es der Haß auf die Hunnen. Mütterchen wunderte sich, daß sie Löwenzahn nicht gleich erschlugen. Andererseits würde er einen kräftigen Arbeiter abgeben.

Die Sklavenkette wurde auch bei Nacht nicht unterbrochen. Unablässig wurde Eimer auf Eimer in die Festung gereicht. Viele der Männer und Frauen starrten stumpfsinnig ins Dunkel, griffen ohne hinzusehen nach den Eimern ihrer Nebenmänner und gaben sie weiter. Mütterchen fragte sich voller Abscheu, wie lange das alles schon so gehen mochte. Nicht einmal während ihrer Zeit als Räuberin hatte sie sich mit Sklaverei abgegeben. Sicher, sie hatte gemordet und gemeuchelt, ehrlich und aus dem Hinterhalt, aber niemals hatte sie eines ihrer Opfer derart gedemütigt.

Als sie durchs Tor getrieben wurden, war das erste, was Mütterchen sah, eine Kolonne von Pferdewagen, auf die alle Eimer nach ihrer Entleerung geworfen wurden. In regelmäßigen Abständen machte sich einer der Karren auf den Weg ins Tal und brachte die Gefäße hinunter zum Fluß. So umging man die Notwendigkeit, eine zweite Menschenkette einzurichten, um die leeren Eimer zurück zum Ufer zu schaffen.

Im Innenhof der Festung wimmelte es von Menschen. Im Schein zahlloser Feuerbecken gabelte sich die Sklavenkette in drei Stränge, die fächerförmig auseinanderführten. Sie endeten an drei merkwürdigen Holzkonstruktionen, die Mütterchen auf den ersten Blick für Brunnen hielt. Es waren riesige Seilwinden, gestützt von je vier Holzbalken, fast so hoch wie ein Haus. Unter ihnen klafften Löcher im Boden, in denen armdicke Seile verschwanden. Aus der Tiefe erklang der Lärm von Spitzhacken. Aus irgendwelchen Gründen wurden die Sklaven gezwungen, an diesen drei Stellen Schächte in den Fels zu treiben. Dabei wurden sie von oben permanent mit Wasser begossen, Eimer um Eimer.

Mütterchen wandte sich an einen ihrer Bewacher. »Welchen Sinn hat es, das Wasser hierher zu schaffen, um es dann wieder hinab in die Brunnen zu gießen?«

Statt einer Antwort hieb der Mann ihr die Hand ins Kreuz. Mütterchen ging mit einem dumpfen Stöhnen zu Boden. Sogleich wirbelte Löwenzahn herum, seine Faust traf einen der Bewacher unter den Rippen. Einen anderen schickte er mit einem kräftigen Tritt in den Schmutz. Ehe die anderen reagieren konnten, war er bereits bei Mütterchen und half ihr auf die Beine. Kaum hatte sie sich aufgerichtet, da fiel auch schon ein halbes Dutzend Krieger über Löwenzahn her und begrub ihn unter sich. Fäuste und Schwertknäufe hagelten auf den gefällten Riesen herab. Mütterchen blinzelte durch Tränenschleier zu dem hilflosen Freund hinüber, unfähig ihm beizustehen, als plötzlich eine Stimme über das Chaos hinwegschrie:

»Haltet ein!«

Augenblicklich ließen die Krieger von Löwenzahn ab. Als der Koloß unter ihnen zum Vorschein kam, war sein Gesicht voller Blut, die Lippen und das linke Auge fast zugeschwollen. Trotzdem gelang es ihm, sich auf die Füße zu stemmen. Er war zu stolz, vor seinen Gegnern im Dreck zu kriechen.

Mütterchen blickte auf. An einem der unteren Turmfenster, zehn Schritte vom Boden entfernt, war eine Gestalt erschienen, ein fetter, unförmiger Kerl, der ein Nachtgewand und eine baumelnde Schlafmütze trug. Er war noch jung, kaum zwanzig Jahre, schätzte Mütterchen. Im flackernden Schein der Feuerbecken glänzte sein Gesicht vor Schweiß.

Alle Gespräche und gebrüllten Befehle im Hof verstummten. Nur die Sklaven arbeiteten schweigend weiter und begossen ihre Leidensgenossen in den Schächten mit Wasser.

»Ich will nicht, daß ihr ihn umbringt«, keifte der fette Junge am Fenster mit hoher Stimme. »Ich will, ich will, ich will es nicht! Ich bezahle nicht für tote Sklaven, ihr Kröten!« Er seufzte gekünstelt. »Hach, welch Glück, daß mein Schlaf so leicht und meine Augen so wachsam sind.«

Der Anführer ihrer Bewacher salutierte widerwillig mit erhobenem Schwert zum Fenster hinauf, dann gab er leise Befehl, Löwenzahn und Mütterchen abzuführen. Der Fette warf noch einen mißtrauischen Blick in die Runde, dann zog er sich zurück. Als weißer Schemen verschwand er im dunklen Rechteck des Fensters, ein schwergewichtiges Nachtgespenst.

Mütterchen wagte einen erneuten Vorstoß, beruhigt von der Tatsache, daß man sie nicht töten würde. »Ist das euer Herr?« fragte sie den Krieger, der sie eben geschlagen hatte.

Erst sah es aus, als würde er abermals keine Antwort geben, dann aber schüttelte er unmerklich den Kopf. Seine Augen im Sehschlitz blickten stur an Mütterchen vorbei. »Unser Herr ist der Geweihte«, erklang es dumpf unter dem Helm.

Sie wußte nicht, ob das als »ja« oder »nein« zu werten war, deshalb bohrte sie weiter: »Er« - sie deutete zum Fenster - »ist der Geweihte?«

Noch ein Kopfschütteln. »Das war Graf Ugo. Aber du wirst den Geweihten noch kennenlernen. Er wird euch sehen wollen, wenn er von der Jagd heimkehrt.«

»Wegen des Horns?«

Der Krieger schwieg und stieß sie vorwärts.

Was ging hier vor, verflucht? Wer war der Geweihte, und warum ritt er in dunkler Nacht zur Jagd? Was für eine Weihe war es, die ihm diesen Namen gegeben hatte? Und was Graf Ugo anging, so kannte sie in dieser Gegend nur einen, der so hieß und einen Adelstitel für sich beanspruchen konnte. Bislang hatte sie allerdings angenommen, daß er im Schloß seiner Ahnen gefangengehalten wurde - aus gutem Grund, denn Graf Ugo war in höchstem Maße schwachsinnig. Seine Eltern waren Bruder und Schwester gewesen, genauso wie deren Eltern und Großeltern.

Das Rätsel, das Mütterchen am meisten beschäftigte, war jedoch der Drachenkopf auf den Harnischen der Krieger. Hatte das Symbol mit dem Ziel ihrer Reise zu tun, oder war die Übereinstimmung nur ein Zufall? Drachen waren verbreitete Wappentiere. Es mußte nicht unbedingt etwas bedeuten.

Die Männer führten ihre Gefangenen in weitem Bogen an der Mauer entlang, weit genug von den Seilwinden entfernt, daß Mütterchen und Löwenzahn der Blick in die Schächte verwehrt blieb. Feuerschein spiegelte sich auf nackter, verschwitzter Haut. Keiner der Sklaven blickte zu den Neuankömmlingen auf. Wahrscheinlich wurden ständig neue Gefangene in die Festung gebracht, der Anblick war nicht ungewöhnlich.

Ihr Weg endete an einem Gittertor, das direkt in den Festungswall führte. Die Mauer war breit genug, um Kammern und Kerker zu beherbergen. Mütterchen und Löwenzahn wurden in ein finsteres Verlies gestoßen, dann schlug das Gitter hinter ihnen zu.

Der Schein der Flammen reichte nur drei Schritt weit, dahinter lag ihr Gefängnis im Dunkeln. Mütterchen vernahm leises Rascheln in der Finsternis. Sie waren nicht allein.

Ein Gesicht schob sich ins gelbrote Halblicht. Ein Mädchen mit verhärmten Zügen und zotteligem schwarzem Haar kroch auf allen vieren auf sie zu. Ihre rechte Gesichtshälfte war zerschrammt und blutverkrustet; es sah aus, als sei sie mit der Wange über den Boden gezerrt worden.

»Wer seid ihr?« fragte sie stockend, mit einer Stimme rauh vom Schreien.

Mütterchen nannte ihre Namen. »Und du?«

»Marret«, erwiderte sie kurzangebunden und so leise, daß es kaum zu verstehen war. Noch immer hockte sie auf Händen und Knien und blickte zu den beiden empor, mit den dunklen treuen Augen eines Hundes.

Mütterchen ging ächzend in die Knie. Jeder einzelne ihrer alten Knochen schmerzte. »Warum bist du hier?«

Ein irres Grinsen flackerte über Marrets geschundene Züge. »Als ob ihr das nicht wüßtet.«

»Woher sollten wir?«

»Weil er euch schickt«, sagte sie und wippte dabei mit dem Kopf. »Er schickt euch, um mich zu quälen.«

Löwenzahn und Mütterchen wechselten einen Blick, dann sagte die Räuberin: »Keiner von uns will dir etwas zuleide tun, Marret. Und, glaub’ mir, niemand hat uns geschickt. Wir sind Gefangene, zweifellos bald Sklaven wie alle hier.« Tatsächlich wunderte sie sich, daß man sie nicht gleich in die Sklavenkette eingereiht hatte. Was sollte dieser Aufschub?

Das Mädchen - es mochte siebzehn Lenze gesehen haben, keinesfalls mehr - lächelte schwach. »Er mag es, mich zu quälen. Mit Schmerz und mit Lüge.«

»Ich lüge nicht«, sagte Mütterchen geduldig und mit aller Sanftheit, die sie in ihrer Lage aufbringen konnte. »Nun sag mir, warum du hier bist.«

»Um zu leiden«, erwiderte Marret mit entrückter Miene. »Leiden, leiden, leiden.« Und dann sang sie:


Allerschönste Puppe,

Lange nicht gesehn,

Koch mir eine Suppe.

Ja, es soll geschehn!

Für ein Dreier Butter,

Für ein Dreier Bier,

Allerschönste Puppe,

Komm und tanz mit mir!


Löwenzahn stieß Mütterchen an und verzog das geschwollene Gesicht zu einer Grimasse, die bedeuten sollte, was von dem Mädchen zu halten war.

Doch Mütterchen ließ nicht locker. »Warum sollst du leiden, mein Kind? Wer tut dir das an?«

»Klein-Ugo«, sagte Marret und legte sich ins schmutzige Stroh, zusammengekrümmt wie ein Kind.

»Klein-Ugo?« fragte Löwenzahn ungläubig.

»Der Graf«, erklärte Mütterchen. »Der fette Kerl am Fenster.«

Marret kicherte. Ihr Blick ging durch Mütterchen und Löwenzahn hindurch. »Fetter Kerl? Laß ihn das nicht hören. Klein-Ugo kann sehr ungehalten sein. Dann ißt er seine Suppe nicht und wirft mit schlechten Dingen.«

Mütterchen kam eine Ahnung. »Warst du seine Dienerin?«

Das Mädchen wiegte sich im Liegen hin und her, als höre es eine Melodie. Aber da war nichts, nur der Lärm vom Innenhof. »Seine Dienerin, ja«, sagte sie. »Ich hab’ für ihn gesorgt, hab’ ihm Essen gebracht, ihn gewaschen, war immer gut zu ihm.« Ihr verklärtes Lächeln wurde wehmütig. »Ich war die einzige, die gut zu ihm war. Er war eingesperrt, daheim im Schloß. Keiner ging zu ihm. Klein-Ugo sah nie einen anderen Menschen, nur mich. Immer nur mich.«

Löwenzahn seufzte. »Verstehe gar nichts«, flüsterte er Mütterchen zu. »Weißt du, was sie meint?«

Die alte Räuberin nickte flüchtig. »Ugo ist wahnsinnig, jeder hier weiß das. Seine Familie hielt ihn gefangen, damit er kein Unheil anrichten konnte. Ein Vetter regierte für ihn die Ländereien.« Sie betrachtete das kranke Mädchen mitleidsvoll. »Ich glaube, Marret war eine Dienerin im Schloß, der man den Befehl gab, sich um Ugo zu kümmern. Liebe Güte, dabei ist sie doch fast noch ein Kind. Wer weiß, wie lange sie schon seiner Willkür ausgesetzt war...«

»Viele Jahre«, warf Marret unvermittelt ein. Sie hatte ganz genau zugehört, was Mütterchen sagte. »Seit meinem neunten Jahr. Ugo ist nur ein wenig älter als ich.« Sie kicherte verspielt. »Und ein wenig dicker, aber das mag er nicht gern hören.« Abermals stimmte sie ein Lied an:


Auf einem gelben Butterberg,

Da saß ein großer dicker Zwerg.

Da kam die Sonne eins zwei drei,

Und schmolz den Butterberg entzwei.

O weh, der Schreck, da war er weg.


Löwenzahn lachte roh, trotz der Schmerzen, die in seinem Gesicht loderten. »Das merk’ ich mir für Alberich.«

Mütterchen schalt ihn mit einem finsteren Blick. Dann wandte sie sich wieder an Marret. »Irgendwie hat Ugo sich befreit, nicht wahr? Oder wurde befreit. War es nicht so?«

»Ja, o ja«, gab das Mädchen zurück. »Er war sehr böse mit mir, hat gesagt, ich hätte ihn eingesperrt.«

Mütterchen atmete tief durch. »Weil er immer nur dich zu sehen bekam, gab er dir in seinem Wahn die Schuld.«

»Zahlt’s mir zurück, hat er gesagt.« Plötzlich schluchzte sie herzzerreißend. »Dabei war ich doch immer gut zu ihm, immer freundlich, immer nett. Sogar wenn er die Suppe auf den Boden goß, sogar wenn er sich schmutzig machte. Marret hat alles weggewischt, hat ihn gewaschen, den kleinen Ugo.« Sie weinte jetzt bitterlich. »Jetzt ist er böse zu mir, läßt mich leiden, sagt er.«

Mütterchen rückte näher an sie heran und streichelte sanft über ihr verfilztes Haar. Marrets Schicksal erschütterte sie. Erst war sie von ihren grausamen Herren genötigt worden, ganz allein für einen Wahnsinnigen zu sorgen, und dann wurde sie so entsetzlich dafür bestraft, bis gar ihr eigener Verstand dahinschwand.

Sie legte Marrets Kopf in ihren Schoß und drückte und streichelte sie, bis ihre Tränen versiegten. Dann fragte sie sanft: »Wie ist Ugo entkommen?«

Marret schniefte. »Männer kamen, Männer befreiten ihn. Viele im Schloß wurden getötet, der Herr, die Herrin, viele andere. Seitdem ist Klein-Ugo der Herr. Graf Ugo - das klingt schön, nicht wahr?.«

»Schön, ja«, entgegnete Mütterchen unsicher. »Sag, Marret, diese Männer, die Ugo befreiten, waren das die dort draußen im Hof? Die Krieger mit den Drachenköpfen auf der Brust?«

»Ja. Sie machten Ugo zum Herrn der Burg, und danach brachten sie ihn hierher.«

Mütterchen wußte, daß das Stammschloß des Grafen eine halbe Tagesreise von hier entfernt lag. Dieser Turm mußte ein alter Grenzposten seiner Ländereien sein. Plötzlich glaubte sie die Hintergründe des Ganzen zu begreifen, wenigstens einen Teil davon.

»Kennst du den, den sie den Geweihten nennen?« fragte sie das Mädchen.

Marrets Augen weiteten sich angstvoll. »So ein böser Mann! So schlecht, so gemein!«

»Ja, mein Kind, das ist er ganz bestimmt«, sagte Mütterchen. Der Geweihte mußte den irrsinnigen Ugo befreit haben, um ihn für seine eigenen Zwecke auszunutzen. Sie zweifelte nicht, daß der Graf nur eine Puppe in den Klauen seines Erlösers war. Und das Schlimmste daran war, daß der Geweihte nicht einmal gegen des Königs Recht verstoßen hatte, denn Ugo war der rechtmäßige Graf. Die Verwandten des Jungen hatten dessen Krankheit genutzt, um die Macht im Schloß an sich zu reißen. Nicht einmal König Dankrat, so er überhaupt davon erfahren hatte, konnte die Ansprüche Ugos für ungültig erklären.

Wer aber war der Geweihte? Falls er ein Räuber war, so hatte Mütterchen noch nie von ihm gehört.

Sie überlegte, ob sie Marret noch weitere Fragen stellen sollte, dann aber sagte sie sich, daß sie das Mädchen nur unnötig mit bösen Erinnerungen quälte. Die Kleine hatte schon genug erdulden müssen.

Mütterchen hing noch ihren Gedanken nach, als Löwenzahn rief: »Da draußen tut sich was!« Er hatte beide Hände um das Gitter geklammert und starrte aufmerksam in den Hof.

Die Räuberin bettete Marrets Kopf sachte ins Stroh, dann eilte sie an Löwenzahns Seite. Von hier aus konnten sie jenseits der Feuerbecken und Seilwinden gerade noch das Tor der Ummauerung erkennen. Männer mit Drachenwappen auf der Brust, aber ohne Helm und Rüstzeug, trugen drei mächtige Hirsche herein, gewaltige Tiere, die kopfüber an langen Holzstangen hingen. Alle drei wiesen tödliche Wunden auf, die zu groß waren, um von Pfeilen zu stammen, und zu sauber, als daß Hunde sie hätten reißen können. Die Tiere waren im Nahkampf mit dem Schwert erlegt worden.

Hinter den Trägern ritt eine finstere Gestalt in den Hof, in seinem Gefolge ein gutes Dutzend Krieger. Der Geweihte war zurückgekehrt.

Mütterchen versuchte vergebens, Einzelheiten zu erkennen. Erst als der Mann sich einem Feuer näherte und dort sein Pferd zügelte, um gefällig das Sklavenheer zu überblicken, konnte sie ihn deutlicher sehen.

Ihr Atem stockte, als sie begriff, warum man ihn den Geweihten nannte.


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