Kurz vor Weihnachten, es mag Freitag, der 12. Dezember 1834 gewesen sein, brachte der Postmeistergeselle von Frankenberg einen versiegelten Brief, der mit der Abendpost gekommen war, in das Haus der Apotheker und wurde von dem seit der Flucht Bendlers merklich in sich gekehrten Knackfuß in die Bodenkammer Otto Heinrichs verwiesen.
«Ein Brief für den Herrn Provisor«, sagte der Geselle, als er ins Zimmer trat und den jungen Apotheker lesend und auf der Decke des Bettes liegend antraf.»Ein Brief aus Dresden.«
«Aus Dresden?«Mit einem Satz sprang Otto Heinrich auf und trat dem Boten entgegen, die Arme weit ausgestreckt.»Aus Dresden einen Brief! Welch ein Wunder! Er kommt von meinem Vater Gotthelf Kummer?«
Der Geselle drehte die Siegel vor den Augen und schüttelte den Kopf.
«Es scheint nicht so. Der Herr Absender nennt sich A. von Maltitz.«
«Maltitz? Aus Dresden? — Geben Sie her — das wird eine freudige Nachricht!«Er drückte dem Boten einige Kreuzer in die Hand, nahm den schweren Brief und eilte mit ihm zum Tisch. Mit einem» Gute Nacht, Herr Provisor!«verließ der Postmeistergeselle die Stube und tappte die steile Treppe hinab.
In seiner Kammer entzündete Otto Heinrich eine zweite, kleine Tischlampe, um den Brief mit mühelosem Behagen lesen zu können; dann besah er sich eine gute Weile die roten und blauen Siegel mit dem freiherrlichen Wappen derer von Maltitz.
Der Brief war oft gefaltet, von schwerem breitgerilltem Pergamentpapier und eng beschrieben mit einer zierlichen, fast tänzerischen Schrift.
Er glättete ihn mit beiden Handflächen auf der kleinen Tischplatte, schob die Lampe näher heran, sprang noch mal auf und legte zwei dicke Tannenscheite in den Ofen, um nicht durch ein Verglimmen der entfachten Glut gestört zu werden, und setzte sich dann bequem zurecht, den ersten Brief, den er in Frankenberg erhielt, zu lesen.
«Mein liebster Freund — «
Das war das erste, was er las, und eine tiefe Freude durchrann sein Herz, genannt zu werden wie die wenigen Auserwählten, die wirklich einen Freund fürs Leben fanden und nie bereuten, eine Hand vertrauensvoll gedrückt zu haben.
«Mein lieber Freund!
Sie werden sehr erstaunt sein, von einem Manne ein paar Zeilen zu empfangen, den Sie vielleicht schon längst aus dem Gedächtnis strichen, in dem die wenigen Stunden in Augustusburg nur schemenhaft als eine ferne Erinnerung spuken. Und doch möchte ich heute um Ihr Gehör bitten, weil ich die ganze Zeit über das bestimmte Gefühl nicht zu unterdrücken vermochte, in Ihnen einen Menschen gefunden zu haben, den das Schicksal weit über seine Jahre reifte und der nach bürgerlicher Standmoral so vermessen ist, den Blick zu Sternen zu erheben, die fern dem Wissen unserer breiten Masse schweben.
Ich grüße Sie aus Dresden. Ein wenig Heimatluft müssen diese Zeilen jetzt in Ihre Stube tragen, denn ich hielt den Brief, bevor ich ihn schloß, an der Elbe an den Wind und tränkte ihn mit der würzigen Schneeluft, die von der Vogelwiese zu mir herüberwehte.
Dresden ist eine herrliche Stadt! Es ist eigentlich ein Garten Eden für das die Schönheit begreifende Künstlerauge, und wenn ich durch den mächtigen Zwinger wandere und vom Flachdache auf den Nymphenbrunnen schaue, so scheint es mir, als habe diese Stadt nur noch in Rom und Paris ihre Konkurrentinnen an Ewigkeit und berückender Glückhaftigkeit.
Sie sind in einem Paradies geboren, junger Freund!
Aber nun, mein Liebster, bitte ich Sie um Haltung und um Bezwingung Ihres Herzens. ich war als Gast bei Ihrem Vater.«
Otto Heinrich ließ das Blatt sinken und schloß die Augen. Ein merkwürdiges, bedrückendes Kribbeln zog über sein Herz, drohte den Schlag zu hemmen und ließ ihn schwer und schneller atmen.
Der Vater.
Er sah seine große, kräftige Gestalt vor sich, den strengen Blick, mit dem er, ohne viel zu sprechen, den großen Hausstand dirigierte. Er sah die Mutter, das wertvolle Spitzenhäubchen auf den angegrauten Haaren, durch die Zimmer gehen, die kleine Schwester Anna Luise an der Hand, den Liebling der Familie, dem man alles verzieh, weil es, ein Kind unter Erwachsenen, die Herzen aufriß mit dem Jauchzer ihrer Kindlichkeit.
Otto Heinrich blickte auf. Die blonde Locke war ihm in die Stirn gefallen, sie pendelte vor seinen Augen und behinderte den Blick. Mit einem Schwung des Kopfes schleuderte er sie wieder auf sein Haupt und beugte sich dann erneut über den Brief.
«Ihr Vater ist ein vortrefflicher Mann. Da ich abends kam, lud er mich zur Tafel, wo ich Ihre hochverehrte Frau Mutter und Ihre Geschwister kennenlernte. Mit der kleinen Anna Luise habe ich Freundschaft geschlossen… sie sieht Ihnen so ähnlich, nur hat ihr kleines Auge noch den Funken Freude, der sich bei Ihnen tief ins Herz vergrub. Warum nur, liebster Freund? Das Leben ist nichts wert, schon recht — doch muß es halt gelebt werden. Das ist die Kunst: verachten und doch lieben!
Was rede ich: Ihr Vater fragte mich, er machte sich um Ihre Zukunft mannigfache Gedanken und scheint mit dem Gedanken sehr befreundet, Sie nach dem Ablauf eines Jahres als Provisor an die Hofapotheke nach Dresden zurückzuholen. Er sprach sehr lobend über Sie — fast schien es Stolz —, und er war beglückt, als ich Sie einen Freund und edlen Menschen nannte.
Meinen Namen kannte er! Auch meine >Pfefferkörner< waren ihm geläufig — er fand sie — eine rege Diskussion kam nach dem Essen auf — ein wenig zu vulgär. Man könnte Scharfes auch mit Zucker mischen, Baldrian mit Honig, Würzfleisch mit Marsala! Ich sagte ihm, daß meine Absicht nicht Beruhigung, sondern Aufruf wäre, daß ich das Volk ergreifen wolle, nicht die dünne Schicht der Aristokratie, daß ich — wie Luther — ihnen auf das Maul schaue (ich sagte wörtlich Maul, das imponierte ihm!) und nicht mit der geschraubten Zunge leere Platitüden drechsle. Er sah das ein, mit vielen bürgerlichen Vorbehalten, für die ich, stäke ich in seiner Haut, Verständnis habe — doch schien ihm meine Art, die Dinge nackt und ohne Illusion zu sehen, zu lebensfeindlich, denn Leben — sagte er — ist nicht der Zweck, den Sinn zu erforschen, sondern sich mit den von Gott gegebenen Dingen zu befreunden und sie zu meistern. - Eine gute Lehre! Aber ich verlange mehr vom Menschen: In meinen Augen ist das Leben Kampf,
Kampf um das Ich, für das Ich, wegen des Ichs! Das Leben ist die Essenz einer sich selbst errungenen Moral!«
Otto Heinrich Kummer blickte wieder auf und starrte in die blakende Lampe. Seine Augen schmerzten, er legte die Hände über das Gesicht und lehnte sich zurück.
Leben… hat das Leben eine Moral? Man quält sich sechzig oder siebzig Jahre um Brot und Wasser, man kämpft um dieses Leben, muß ja kämpfen, denn Verhungern ist ein bestialisch harter Tod — und dann kommt aus dem Dunkel ein Schatten an dein Bett, und dieser Schatten spricht und sagt:»Vorbei! Das Leben ist vorbei —! Da staunst du, was? Du kannst's nicht ändern — da hilft dir nichts und niemand, du mußt schon still und brav sein, wenn ich winke. Vorbei, mein Freund — man kann auch sagen: Du mußt sterben. Mußt, hörst du — ob du willst, danach wird nicht gefragt. Man fragte dich ja auch nicht, ob du leben wolltest — warum soll denn das Gehen anders als das Kommen sein?!«
Und dann kommt dieser Schatten über dich, erdrückt dich, würgt, erstickt dir deinen Atem, und du bist auch nur noch ein Schatten, der im Nichts zerflattert. Zurück allein bleibt der Gedanke, den das letzte Zucken deines Hirns gebar: Wie sinnlos dieses Leben, wie einsam in der Tiefe dieser Weg von der Geburt bis in den Tod, wie grauenvoll pervers das hochgepriesene Ethos eines für das Nichts vertanen Lebens.
Das einzige, das alles überlebt, ist Kälte.
Unendlich ausgestreute Kälte.
Weltraumkälte.
Nichts.
Otto Heinrich Kummer erschauderte. Die Einsamkeit, die seit der Flucht Bendlers sich um ihn legte, der schroffe Ton des Apothekers Knackfuß, dem die Auseinandersetzung wie eine Nadel in der Seele stak, und die Zurückhaltung Trudels seit diesem Tag, dieses Ausweichen und flehende Blicken, alles wurde in Otto Heinrichs Brust zu einem Berg, dessen Gipfel hoch im Unbegreiflichen schwebte und nur den einen grausamschönen Gedanken erweckte, ihn zu erklettern und sich dann mit einem Lächeln hinabzustürzen in die Unendlichkeit, in das wissende Dunkel.
Mit einem Seufzer nahm Kummer den Brief wieder auf und schraubte die Lampe ein wenig niedriger, weil das unreine Öl einen übelriechenden Qualm abzusondern begann.
«Am nächsten Abend«, las er weiter,»war ich erneut der Gast Ihres liebwerten Vaters. Doch schien er mir im Vergleich zu gestern sehr bedrückt und fahrig, er sprach ohne Zusammenhang, sprunghaft, wie es nicht seine Art ist, er spann die Gedanken nicht zu Ende, bedeckte oft, als befalle ihn Ermüdung, die Augen mit der Hand und schien mir dankbar, als ich mich entschuldigte, eine Besprechung vorgab und ihn verließ.
Das veränderte Wesen Ihres Herrn Vaters schien mir unerklärlich. Eine häusliche Ursache hatte es nicht, denn Ihre Frau Mutter war ebenso entsetzt und ratlos, wie ich es war, und drang vergeblich in den unerklärlich stillen Mann, von dessen Lebhaftigkeit und sprudelndem Geist nur noch die Funken unter einer fremden Asche schwelgten.
Da der Abend angebrochen war, ging ich in die herrliche Dresdener Oper. Man spielte Mozarts Don Giovanni mit dem göttlichen Tonio Traverna als Don Juan.
Im Foyer des prächtigen Hauses traf ich auf einen alten Bekannten meiner Studierzeit und war erstaunt, daß er, als das Gespräch auf Sie, mein Freund, kam, Sie persönlich kannte und mir — ich wollte es nicht glauben — bis zu den Stegen Ihrer grauen Hosen porträtgenau beschrieb. Es war der Herr Baron von Seditz.«
Otto Heinrich blickte kurz auf. Seditz? Baron von Seditz? Er suchte in den Fächern der Erinnerung und fand einen gütig lächelnden Herrn, der ihm auf der Poststation in Frankenberg — ja, auf der Hinreise war es — die Hand drückte und alles Gute wünschte. Und den Vater kannte er, ja, er erinnerte sich genau — er sprach von seinem
Vater und von einer dringlichen Mission.
Das Bild verschwamm, erlosch — und Otto Heinrich blickte wieder auf den engbeschriebenen Bogen.
«Dieser Herr von Seditz«, schrieb Maltitz,»ist ein Mann von Welt! Geheimer Kabinettsrat Seiner Majestät des Königs von Sachsen, verkörpert er so gar nicht die Spitzenaristokratie einer höfischen Kamarilla, sondern er machte auf mich eher den Eindruck eines in geregelten Bahnen hineingelebten Lebemannes, eines Menschen, der den Wert des Lebens an den Lippen seiner Geliebten abliest und nicht müde wird, seine Treue zu beteuern, obgleich beide wissen, daß alle Worte nur gesprochen sind, das Glück einer flüchtigen Stunde nicht zu verfinstern.
Doch hinter seinen Blicken schlägt Tatkraft und ein harter Wille. Ich spürte ihn, als unser unterhaltsames Gespräch von Ihnen zu Ihrem Vater überging und mir so vieles klar und plötzlich tragisch wurde, vor dem ich noch vor einer Stunde ratlos stand.
Mein bester Freund, ich bitte Sie um Haltung, die Nachricht mannhaft zu ertragen: über Ihrem Vater liegt der Schatten der Madame de Colombique.«
Madame de Colombique? Otto Heinrich sann, den Kopf in die Hände gestützt. Madame de Colombique? War das nicht die würdige, aufgeregte Dame in der Kutsche, die sich vor den Räubern fürchtete und beim Ausladen ihre Koffer nicht fand? Und der Baron von Seditz… wie war das noch… fuhr er nicht mit, die Dame an der Grenze zu verhaften, weil sie als Spionin. Ja, als Spionin. das war es. Er staunte damals noch und betrachtete die Dame im Halbdunkel der schwankenden Kutsche mit einem Gefühl von abenteuerlichem Interesse!
Aber sein Vater? Madame de Colombique und der Münzmarschall Kummer? Mein Gott, es war nicht auszudenken, wenn die Spionage auch den Vater in die Ketten warf!
Erregt beugte sich Otto Heinrich vor und las weiter:
«Ihr Vater schwebt in einer großen, unverdienten Gefahr! Ihn traf die Ungnade Seiner Majestät, als Sie erfuhr, daß es die Bitte Ihres Vaters war, die der Madame de Colombique einen laissez-passer vom Präfekten erwirkte. Zudem hatte man Ihren Vater beim Hofball oft in der Nähe der Dame gesehen, obwohl es Seine Majestät ablehnte, die Dame vorgestellt zu bekommen.
Es war bestimmt nur das gütige, ahnungslose und redlich denkende Herz Ihres Herrn Vaters, das ihn bewog, der Madame de Colombique seine Gegenwart zu schenken und ihr bei einem Grenzpaß behilflich zu sein. Ich bin auch zutiefst davon überzeugt, daß Ihr Vater bis zur Stunde seiner Ungnade nichts von dem wahren Treiben dieser Dame ahnte, geschweige wußte — doch in den Kreisen des Hofes genügte es, Ihren ehrvollen Herrn Vater in einer lockeren Verbindung zu einer Dame zu sehen, die — wie sich herausstellte — mit den hohen Offizieren fast aller Truppenteile intime Beziehungen unterhielt zu dem Zwecke, militärische Geheimnisse durch den Duft ihres vielleicht reizvollen Boudoirs zu erbeuten. Daß ihr dies in einigen Fällen gelungen ist, mag die Dummheit der betreffenden Offiziere beweisen oder von der Macht eines Frauenkörpers sprechen, der, in Spitzen und seidene Kissen gebettet, Himmel und Hölle zugleich verspricht.
Madame de Colombique, die sich eine Französin nannte, französisch sprach und kleidete, aber eigentlich Vera Veranewski Bul-kow heißt, aus Moskau stammt und für den Zaren als Spür- und Schoßhund tätig ist, konnte ins Preußische entkommen — dank des laissez-passer Ihres Vaters.
Hier liegt die große Tragik dieses redlichen, treuen, ahnungslosen, pflichtbewußten Mannes — die Ungnade seiner Majestät ist nur das Rauschen des Vorhangs über den 1. Akt eines Stückes, von dem man noch nicht weiß, ob es eine Tragödie oder nur ein am Ende versöhnendes Schauspiel wird.«
Mit sich steigernder Erregung hatte Otto Heinrich die Zeilen gelesen. Nun warf er das Schreiben auf den Tisch, hieb die Faust darauf, daß die Tranlampe klirrte und blakte und der Glasschirm einen Rußstreifen bekam, und sprang dann auf. Sein Gesicht war unnatürlich gerötet.
Mit großen Schritten ging er in der Kammer hin und her.
Der Vater in Ungnade! Verwickelt in Spionage!
O Vater… Vater… armer Vater. Nun ist die Einsamkeit vollendet bei dir. und mir. den Namen Kummer umweht der Hauch des Moders, des Grabes, des Vergessens. Vielleicht. du unglücklicher Vater. vielleicht verstehst du jetzt den fernen, verstoßenen Sohn Otto Heinrich. Vielleicht spürst du jetzt selbst die Kälte von den Sternen steigen und die Wünsche lauter werden, dort zu sein, wo alle Qualen nichts sind vor der Größe des unbegreiflich Ewigen. Vielleicht erkennt dein Herz jetzt auch den anderen Gott, nicht den, von dem man von der Kanzel spricht, sondern den unbekannten, der in dem Wissen schläft, daß unser Leben nur eine Brücke ist, die von dem einen Dunkel in das andere führt, ein kleiner Weg durch das Bewußtsein, nach dem die köstliche Stille des Unbewußten folgt, des Unaussprechlichen — die Nähe Gottes.
«Vater«, sagte Otto Heinrich leise.»Liebster Vater. wenn ich dir doch helfen könnte.«
Er stand lange Zeit schweigend am Fenster und sah in die Sterne. Erst als es kühl im Zimmer wurde, ging er zum Ofen, blies das verflackernde Feuer an, legte einige trockene Scheite nach und ging zum Tisch zurück.
Vom Turme der nahen Kirche schlug die Zeit. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen — es war ja auch gleich. was ist die Zeit. ob heute, morgen oder übermorgen. das Leid der Menschen ist beständiger als der seltene Kerzenschimmer des Glückes.
Langsam nahm Otto Heinrich den Brief vom Tisch und las ihn im Stehen zu Ende.
«Das war es, was ich Ihnen zu melden habe, mein liebster Freund. Seien Sie stark im Gram und Schmerz — die Prüfungen des Lebens sind nie so groß, daß sie untragbar wären; denn wer wie
Sie und ich das Leben so unwichtig nimmt, wird nicht vor solchen kleinen menschlichen Leiden in die Knie sinken. Es ist die Lehre der Stoiker, das Leben dem Gleichklang der Natur gleichzusetzen. Sie setzen der Vernunft ein Denkmal in dem Ideal der Selbstbeherrschung. Gott ist die Natur, das Wirkliche ist körperlich, die Kraft ist der edelste und feinste Stoff des Lebens — die Kraft des Ichs. Seien Sie stark, liebster Freund, stark auch im Leid, und helfen Sie Ihrem Vater, indem Sie die Kraft finden, das Wirkliche zu tun: die Türen Ihres Vaters stehen offen.
Ich hoffe, Sie bald zu sehen. Ich bleibe bis zum neuen Jahr in Dresden. Leben Sie wohl, bester Freund, und gedenken Sie in schwerster Stunde der Worte Galileis: Und sie bewegt sich doch!
In immerwährender Freundschaft
Ihr A. v. Maltitz.«
Unter dem Schreiben stand in einer steilen, energischen Schrift, die sich hart von den Kringeln der Maltitzschen Zeilen abhob, ein kurzer Satz.
«Ich rate Ihnen als Freund: Kommen Sie nach Dresden. Herzlichst von Seditz, Geheimer Kabinettsrat Seiner Majestät des Königs von Sachsen.«
Otto Heinrich ließ das Schreiben auf den Tisch fallen und warf sich auf sein durch eine Decke geschütztes Bett. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die gekalkte Decke, auf die der Schein der Tischlampe einen fantastisch geformten, an den Rändern dunkel ausgefransten Lichtkreis warf.
Nach Dresden, dachte er, nach Dresden.
Weihnachten in Dresden. Spazierengehen im Schnee unter der hohen Kuppel der Frauenkirche. Und am Heiligabend läuten von allen Türmen die Glocken das Halleluja.
Otto Heinrich schloß die Augen und drehte sich zur Seite. Er schämte sich vor sich selbst, daß er weinte, er schalt sich einen Narren, als das Schluchzen seinen Körper schüttelte… aber er schluchzte und weinte wie ein Kind und fühlte unter den Tränen sein Herz freier, weiter und lichter werden.
«Ich komme, Vater«, flüsterte er.»Ich komme zu euch zurück. Wartet auf mich. Ich komme.«
So lag er mit geschlossenen Augen, unter deren Lidern die Tränen hervorquollen, und regte sich nicht. Unmerklich dämmerte er hinüber in die Welt des Traumes, und als die blakende Lampe den letzten Tropfen Öl saugte und flackernd erlosch, schlief er endlich ein.
Otto Heinrich erwachte erst, als die vereinzelten Schneeflocken sich zu einer lautlosen Flut vereinigt hatten, die unaufhörlich niederrieselte und das Städtchen, den Wald und die Berge einwattete. Der fahle Tag, der sich durch den grauüberzogenen Himmel quälte, war schon ein Stück vorübergeschritten, die Turmuhr zitterte mit ihrem Schlag durch das lautlose Geriesel und verriet, daß es die neunte Stunde sei, und Otto Heinrich, den es in seinen Kleidern auf dem Bett erbärmlich fror, erhob sich vor Kälte zitternd, tappte auf den Flur, wusch sich unter Schütteln in dem schmalen Becken, feuchtete mit Wasser die wirrgelegenen Haare an und bürstete sie dann mit einer kleinen Taschenbürste.
Da es Sonntag war, kleidete er sich um, fuhr in die graue, enganliegende Hose und den steifen, gefütterten Winterrock aus weinrotem, flandrischem Tuch, suchte einen reinen, steifen Eckenkragen und eine blaugraue breite Halsschleife, legte beide an und besah sich dann in dem niedrigen Spiegel, noch immer etwas verschlafen, übelgelaunt und frierend.
Er zog die Decke des nichtbenutzten Bettes glatt, räumte die Tranlampe zur Seite, faltete den Brief nach einem kurzen Zögern und steckte ihn in den Rock und trat dann auf die Treppe, hinunter zum Frühstückstisch zu gehen.
Von unten, über den Korridor, hallte die helle Stimme von Trudel. Dann klappte eine Tür, und das Haus lag wieder still.
Mit langen Schritten eilte Otto Heinrich die Treppe hinab, durchmaß den Flur mit einigen Sätzen und klopfte dann energisch an die
Tür des Speisezimmers.
«Bitte!«ertönte eine harte Stimme als Antwort. Der alte Knackfuß schien übler Laune zu sein. Nichts Neues an ihm, dachte Kummer und drückte die Klinke herunter.
Als er eintrat, sah ihm der Apotheker zuerst erstaunt entgegen — dann sprang er auf, eine leichte Röte durchzuckte sein Gesicht, die Augen wurden gläsern, farblos, schlangenhaft.
«Sie?«sagte er gedehnt.»Ich dachte, Sie wünschen allein zu essen?«
«Mein Vorsatz hat sich nicht geändert«, antwortete Otto Heinrich kühl.»Ich habe lediglich um eine Bitte nachzusuchen.«
«Ich höre.«
«Mein Vater bittet mich, die Feiertage in Dresden zu verleben. Wenn seine Bitte nicht dringlich wäre und familiäre Sorgen eine Sprache sprächen, würde ich mich nicht an Sie gewandt haben. So aber bitte ich um Urlaub über Weihnachten.«
Kummer hatte höflich, aber im bestimmten Ton gesprochen. Dem Apotheker aber, dem Unterwürfigkeit des Personals das Bewußtsein seiner kleinen Macht stets von neuem nährte, gefiel die Sprache nicht. Er runzelte die Stirn, musterte den Provisor vom Kopf bis zu den Schuhen, drehte sich dann schroff um und ging zu seinem Pfeifenständer.
«Urlaub? Kaum gekommen und schon Urlaub?«sagte er über die Schulter hinweg und suchte dabei mit pedantischer Genauigkeit eine hellbraun angerauchte Tonpfeife aus dem Ständer.»Urlaub muß erarbeitet werden, Herr Provisor!«
Otto Heinrich fühlte, wie in ihm eine maßlose Wut aufstieg. Er hätte zu diesem Mann hinstürzen und ihn würgen können, bis sich die gelben Augäpfel verdrehten und das faltige Kinn schlaff herunterfiel. Aber er legte die rechte Hand nur um eine Stuhllehne, preßte sie und antwortete mit leiser, in der Erregung belegter Stimme.
«Herr Prinzipal — ich glaube meine Pflicht bisher erfüllt zu haben! Ich sähe sonst keine Berechtigung, Provisor zu sein, und bitte Sie, den Titel zurückzunehmen!«
Als habe ihn jemand gestochen, so wild fuhr der Apotheker herum und trat auf Otto Heinrich zu.
«Sie!«schrie er, und sein Gesicht wurde gelb.»Sie Lümmel! Ist das der Dank?! Den jüngsten Laffen mache ich zum ersten Mann, den Giftschrank geb' ich ihm — ich dulde, daß er meiner Tochter Blicke zuwirft, die zur Kündigung reichen«- Kummer erbleichte und klammerte sich fester an den Stuhl —,»und da kommt dieser Flegel und sagt mir ins Gesicht, daß ich ein Idiot sei!«Kummer hob die Hand, doch Knackfuß wehrte ihn mit beiden Armen ab.»Schweigen Sie! Ich sage Idiot! Daß Sie es von mir denken, weiß ich schon seit langem! Sie handelten an mir und meinem Hause wie ein Schuft — «
«Herr Knackfuß!«Otto Heinrich bebte und ballte beide Fäuste.»Das nehmen Sie zurück!«Und plötzlich schrie er, daß seine helle Stimme bis auf die Straße flatterte.»Das nehmen Sie zurück — oder… oder… ich fordere Sie!«
«Nichts nehme ich zurück!«Der Alte keuchte, als würde er gleich unter einer schweren Last zusammenbrechen.»Nichts, nichts, gar nichts! Sie sind ein Lümmel, ein Flegel, ein verzogener Laffe, ein Rotzkerl!«
In Otto Heinrich rang die Wut mit der Vernunft. Er trat dicht vor den Apotheker heran, so dicht, daß des Alten Atem über sein Gesicht zog, und sagte leise, aber scharf, daß es Knackfuß wie eine Schneide durch das Herz ging:»Ich könnte Sie zu Boden schlagen! Nur weil Sie im Alter meines Vaters sind, geschieht es nicht —!«
Der Apotheker rang nach Luft.»Mir dies.«, röchelte er.»Mir dies. mir. mir. oh. «Er wankte, perlender Schweiß trat ihm plötzlich auf die Stirn, die gelben Augäpfel verdrehten sich schrecklich, zuckend griffen die Hände ins Leere, der Mund stammelte wirr und unverständlich — dann schwankte der ganze Körper, zitterte in den Gliedern, so wie ein Baum mit allen Ästen bebt, ehe er gefällt zu Boden rauscht, die Beine knickten, ein röchelnder Schrei entrang sich den fahlen, bläulich schimmernden Lippen.»Trudel. Tru. «Dann sank der Körper um und fiel in die Arme des erschreckten, sprachlos starrenden Otto Heinrich.
Mit aller Kraft schleifte er den schweren Körper auf das Sofa, bettete den Kopf des Bewußtlosen auf die Kissen, lockerte ihm die Halsbinde und lief dann auf den Flur.
«Trudel!«schrie er.»Trudel!«Und als das Mädchen erstaunt aus ihrem Schlafzimmer trat, mit aufgelösten Haaren, die sie gerade kämmte und die das schmale Gesicht nun wie eine Flut goldener Fäden umgaben, schrie er:»Der Vater. schnell, der Vater!«
Mit einem Schrei eilte das Mädchen an ihm vorbei in das Zimmer. Ihr Kleid, das sich in der Klinke verfing, schloß die Tür.
Unschlüssig stand Kummer vor dem Zimmer, aus dem jetzt das laute Weinen Trudels drang und das Klappern von Schüsseln aus der danebenliegenden Küche.
Er wußte nicht, ob er wieder eintreten und helfen oder sich still entfernen sollte. Schließlich, nach längerem Warten, entschloß er sich zu gehen und stieg nachdenklich zu seiner Kammer empor, nahm Mantel und Hut vom Haken und ging dann hinunter in den tiefverschneiten Garten, über dem in dichten Wolken der Schnee vom Himmel tanzte.
Unruhig wanderte er die nur schwach kenntlichen Wege auf und nieder, bis das Gewicht des Schnees auf seinem Hut und seinen Mantelschultern ihn in die Laube trieb. Dort klopfte er die Flocken ab und sah gedankenlos zu, wie die Kristalle durch die Wärme seiner Hände vergingen, kleiner und kleiner wurden, um als winziger grauschmutziger Wasserfleck zu enden.
Dann lehnte er sich an den in die Erde gerammten Tisch und blickte durch das schmale Hinterfenster in das weiße Geriesel und in die graue Wolkenwand und fühlte sich eins mit der tötenden Schönheit der winterlichen Natur.
Wie lange er so gestanden hatte, wußte er nicht. Er schreckte erst auf, als eine Hand mit leichtem Druck seine Schulter berührte.
Otto Heinrich blickte sich nicht um. Er wußte, daß es Trudels Hand war, doch er scheute sich, in ihre Augen zu blicken, die von den Tränen gerötet und gedunsen sein mußten. Er hatte sein Versprechen nicht gehalten und kam sich schlecht und elend vor.
«Trudel?«sagte er nur mit leiser Stimme und wunderte sich nicht, daß auf seine Frage keine Antwort kam. Erst nach langem Schweigen sagte sie» Ja «und trat an seine Seite.
«Warum hast du das getan?«fragte sie. Aber die Frage war nicht vorwurfsvoll, traurig, ärgerlich oder hart, sondern weich und streichelnd, als habe sie von einer sehnsuchtsweiten Liebe gesprochen, die nun zu ihr trat und Wirklichkeit des Herzens wurde. Und gerade diese Weichheit des Vorwurfs, dieses liebende Dulden war es, was in Otto Heinrich eine Flamme aufriß, was ihn packte und schüttelte und seine Schuld so furchtbar schwer werden ließ.
Er krampfte die Finger zur Faust und starrte weiter stumm in das Rieseln des Schnees.
«Du hattest mir versprochen, des Vaters Zorn zu schonen«, fuhr Trudel leise fort.»Du weißt, er ist im Herzen gut — und trotzdem triffst du ihn so hart. Otto Heinrich«- das Mädchen stockte und legte zögernd die Hand wieder auf die Schulter Kummers —,»weil du mich liebst, solltest du schweigen.«
«Es ging nicht!«Der Jüngling fuhr herum und preßte die Fäuste an seine Brust.»Wenn du wüßtest, wie er mich quält, tagaus, tagein, stündlich, schon wenn er mich sieht — in der Apotheke, bei Tisch, im Kontor, überall — immer diese spitzen Reden, unberechtigte Schelte, Mißtrauen, Härte, Spott — alle Register menschlicher Quälsucht wendet er an, um mich zu treffen, mich zu erniedrigen, mir zu zeigen, daß ich ein Haufen Unrat bin. Dreck, sagte er einmal — ein Häufchen Dreck sind Sie, auf den die Sonne scheint und mildtätig vergoldet. Das soll ich mir gefallen lassen? Tagelang, wochenlang — vielleicht auch noch Jahre? Immer Qual, immer getreten werden, immer das Bewußtsein: Wenn du jetzt ins Laboratorium trittst, steht er da und brüllt dich an! Brüllt, viehisch, unmenschlich. Ich ertrage das nicht länger — ich werde noch irr in dieser Luft des Hasses. Ich mache Schluß wie Bendler.«
«Liebster. «Trudel sah ihn mit großen Augen an und zitterte.»Liebster. denke doch auch an mich.«
«Ich habe daran gedacht! Vielleicht zu oft, und ich bückte mich vor Tritten, wo ich eigentlich hätte widertreten müssen! Aber ein-mal steht auch der stärkste Mensch an seiner Grenze. Da geht es nicht mehr, Trudel, da mußt du durchbrechen… da bist du wie ein Tier, das man hetzt und hetzt und in der Falle noch quält.da beißt du um dich und vergißt, daß du einmal ein Versprechen gabst, das aber unhaltbar ist, solange du noch fühlst und Ehre hast!«
Er schwieg einen Augenblick und atmete schwer, vermied es aber noch immer, in Trudels Augen zu schauen.
«Als ich dann vor ihm stand, um Urlaub nach Dresden bat, als er dann meine Arbeit schmähte und mich zum Tollen reizte, da warst du nicht mehr da, nicht mehr in den Gedanken, nicht mehr im Gefühl, nur tief im Herzen — und dort schwiegst du, ergriffen von der Einsamkeit, die du dort fandest. Ich aber schrie meinen Haß und meine Wahrheit dem Peiniger ins Gesicht. Als er dann umsank, war ich zuerst entsetzt, dann rief ich dich. ich fühlte nur den einen Wunsch: Heraus aus dieser Hölle!«
Er schwieg und blickte auf den gefrorenen Boden. Das Mädchen, das ihn bei seiner Beichte unverwandt angesehen hatte, senkte nun den Kopf, bis er auf seinen Schultern lag und die goldgelben Strähnen ihres Haares an seiner Wange und seinem Nacken kitzelten.
Ein leises Schluchzen erschütterte ihren Körper.
«Und kaum, daß er aus seinem Anfall erwachte, ging er ins Kontor und schrieb in das Kassenbuch deine Reisekosten und ein Extragehalt für das Fest ein«, weinte sie leise.
Otto Heinrich fuhr herum und fing das Mädchen auf, das durch den plötzlichen Ruck ins Wanken geraten war.»Was tat er?«stotterte er und schob die Linke unter Trudels Kinn, ihr den Kopf hochhebend.»Er läßt mich nach Dresden fahren?!«
«Er hat eine gute Seele«, schluchzte das Mädchen.»Oh, warum versteht ihr ihn alle nicht und haßt ihn, weil er sich seiner Güte schämt und hart ist?! Und du, gerade du. «Sie weinte auf und verbarg das tränennasse Gesicht in ihren blaurotgefrorenen Händen.
«Wie konnte ich das wissen«, stammelte Otto Heinrich.»Er nannte mich einen Flegel, einen Rotzkerl, einen Schuft.«
«Liebster.«»Ja, einen Schuft auch! Da konnte ich nicht schweigen, da durfte ich nicht, wenn mir der Name meines Vaters, den ich trage, heilig ist! Ich hätte ihn ermorden können, ich war in diesem Augenblick zu allem fähig, ich… ich. Trudel, ich weiß nicht mehr, was Unrecht oder Recht ist, wenn man liebt und gleichzeitig wie ein Hund gehetzt wird.«
Er blickte aus dem Fenster und drückte das Mädchen fest an seine Brust. Als er spürte, wie sie vor Kälte zitterte, öffnete er seinen Mantel, schlug ihn um den schmalen Mädchenkörper und preßte ihn eng an sich, rieb ihre Hände und hauchte sie an, küßte ihre Wimpern, an denen die leicht gefrorenen Tränen leise knisterten, und drückte dann auch den Kopf an sich, das ganze zarte Geschöpf in seinen weiten Mantel hüllend.
Draußen rieselte unentwegt der Schnee.
Tief eingeschneit lag die Laube inmitten der Tannen, denen die Schneelast die Zweige zur Erde bog. Die Wege waren unkenntlich, eine große, weiße Fläche war der Garten, und nur der fahle Schein, den der Schnee zurückwarf, erhellte die lautlose Nacht.
Die Lichter in den Nachbarhäusern waren längst erloschen. Eine klirrende Kälte kroch in die einsame, zugeschneite Laube.
Eng umschlungen standen die Liebenden.
Sie froren und zitterten.
Doch sie wagten nicht, hinaus durch den Schnee in das Haus zu gehen, denn diese Hütte war ihr Reich, wo niemand von der lauten Welt sie störte und wo die Herzen fühlen durften, was ewig ist und göttlich groß wie das Wunder der weißen, lautlosen Flocken, die sie umspielten.
«Ich habe dich lieb«, sagte Trudel nach langem Schweigen.»Es ist so schwer zu lieben.«
Otto Heinrich streichelte ihr über die eisigen Wangen.
«Frierst du, Liebste? Du sollst nicht zittern, in meinen Armen nicht — nicht vor Frost und nicht vor Angst. «Er preßte sie so fest an sich, daß sie leise aufschrie und nach Atem rang.»Verzeih«, stammelte er.»Alles, was ich mache, ist voll Schmerz und Unrecht. Ich bin ein Mensch, der Unglück bringt und Tränen.«
«Du bist ein großes, großes Kind.«, flüsterte das Mädchen und schmiegte sich in seine Arme.»Ein Kind, Liebster, ungezogen, unüberlegt — und lieb, so lieb.«
Sie küßten sich und schwiegen dann, schauten auf die stummen, tanzenden Flocken, auf die weißen Tannen und die Schatten der Häuser.
Und sie froren nicht mehr. sie waren zu glücklich, um Kälte zu spüren. Unwirklich wurde die Welt, in einem Nebel von Glück versank die Besinnung auf Erde und Mensch. sie waren nur Ich und Du. nur Wir. nur eins im Taumel der Seligkeit.
Doch ihre Körper standen und zitterten vor Frost. standen in einer Laube, deren Dach sich unter der Decke des Schnees bog und die in einer Flut wirbelnder Flocken versank.
Langsam schneite die Laube zu, und der Vorhang des Schnees wurde dichter.
Wie ein Geheimnis dehnte sich die Nacht.
Nur einmal drang ein schwacher Laut in diese Stille. Ein Tannenzweig, plötzlich vom abgerutschten Schnee befreit, schnellte empor.
Doch lautlos, ohne Pause, rieselte der Schnee. tänzelte und schwebte. in dicken Flocken, eng aneinandergereiht. lautlos. ständig. Schnee. endloser Schnee.
Das Weihnachtsfest in Dresden ging schnell vorbei. Otto Heinrich traf das große Haus in der äußeren Rampschen Gasse im festlichen Schmuck an, duftend nach Tannen, frischem Gebäck und gebratenem Fleisch, er fand seine kleine Schwester Anna Luise voll seliger Erwartung auf das kleine Wunder der Weihnacht und den Bruder Johannes Benno gerüstet, eine große und feierliche Hausandacht zu halten, nur der Vater ging bedrückt umher, zwang sich zu einer sauren Fröhlichkeit und bemühte sich nach Kräften, der Mutter nicht das schöne Fest in Galle zu verwandeln.
Als Otto Heinrich in die Halle trat, kam ihm der Vater ernst entgegen. Sie drückten sich die Hand, sahen sich stumm an und nickten sich zu. Es war ein stiller Schwur, zu schweigen und das harte Los mit Stärke und Geduld zu tragen.
Am ersten Tag des Festes, dem abends die Bescherung vorausging und das Glück der kleinen Anna Luise bis zum Bersten füllte, kamen die Gäste ins Haus.
Es waren nur noch wenige. Verfemt, geächtet lag das breit hingelagerte Marienbad im Schnee, und die sonst gastoffenen Türen klapperten nur selten hinter den Mänteln der spärlichen Besucher.
Freiherr von Maltitz kam und gratulierte.
Und Herr von Seditz.
Der Baron von Puttkammer.
Der Ritter von Bruneck.
Und der Maler Caspar David Friedrich.
Der letzte Romantiker. Der Rhapsode des Mondscheins. Der Mystiker des Gefühls — Sucher im Dunkel.
Der Maler C.D. Friedrich, der Freund, der den Münzmarschall nach Rügen begleitete und dort seine berühmten 36 Bilder malte. Der letzte Große, der die Treue hielt, weil er wußte, wie verschlungen die Wege der Wahrheit sind, verschlungen wie die Mischung der Farben, ehe sie den richtigen Glanz erzeugen.
Der stämmige Münzmarschall saß in seinem Sessel am knisternden Kamin und überblickte die kleine Gesellschaft.
«Fünf Gäste«, sagte er gedehnt.»Im vorigen Jahr waren es fast fünfzig!«
«Wieviel du ihnen warst, erkennst du erst heute«, erwiderte Friedrich und nippte an einem Glase voll dampfenden Punsches.»Die Freunde des Glücks sind die Feinde des Unrechts.«
«Die Welt ist schlecht«, sagte der Münzmarschall und starrte in die Flammen.
«Die Welt ist schön«, erwiderte langsam von Maltitz.»Nur die Menschen sind es, die sie zur Hölle machen.«
«Und selbst die Hölle ist schön.«, Herr von Seditz räkelte sich in seinem Sessel.»Sie trennt die Schlacke von dem edlen Metall.«
Dann schwiegen sie und tranken den dampfenden Punsch.
Sie spielten Schach und rauchten holländischen Tabak. Das Dor-chen — wie der Hausherr seine Gattin nannte — brachte kurz vor Mitternacht noch Tee, Gebäck und eine Flasche, die man stürmisch feierte und mit lautem Vivat begrüßte.
Tokaier war es, blutrot, dick wie Serum, ölig, schimmernd im Glas wie dunkelster Rubin.
Von Maltitz schnalzte mit der Zunge. Er zog den Propfen aus der Flasche, daß es knallte.
Dann wurde es still am knisternden Kamin — es sprach allein der Wein.
Der Schein der Flammen zuckte über die dunkel getäfelten Wände und die schwere Rautendecke.
Erst weit nach Mitternacht verließen die Gäste gemeinsam das einsame, große Haus in der Rampschen Gasse. Otto Heinrich ging mit ihnen. Caspar David Friedrich und Maltitz hatten ihn untergehakt und sprachen leise auf ihn ein.
Man ging durch den knisternden, verharschten Schnee zur Brühl-schen Terrasse. In einem kleinen Weinlokal, nahe der Frauenkirche, war in einem Hinterzimmer schon ein Tisch gedeckt.
Der Wirt stand in der Tür und dienerte.
Was in dieser Nacht besprochen wurde, erfuhr man nie. Es war ein toller Plan, den Münzmarschall zu retten.
Als Otto Heinrich gegen Morgen auf sein Zimmer gehen wollte, traf er den Vater noch im Arbeitszimmer an.
Stumm sahen sie sich an.
Dann sagte Otto Heinrich leise:
«Es geht gut, Vater. Die Zukunft gehört uns.«
Und der Münzmarschall legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter, wandte sich dann ab und trat an das verhängte Fenster.
«Ich tat dir manches Unrecht, Otto Heinrich. Ich bin ein alter Mann, verzeihe mir.«
Im Rücken des Marschalls klappte eine Tür. Eilige Schritte ent-fernten sich. Sie hallten in den weiten Räumen.
Otto Heinrich floh vor seinen Tränen.
Gleich nach dem zweiten Weihnachtstag fuhr Herr von Seditz mit einer königlichen Extrapost nach Berlin zu dem Gesandten Ritter von Bollhagen. Freiherr von Maltitz begab sich in das Großherzogtum Posen nach der Festung Thorn, um die Grenze nach Polen unter den Augen zu haben. Der Ritter von Bruneck dagegen wandte sich nach Kleve und wartete an den niederländischen Schlagbäumchen.
Ein heimliches Kesseltreiben begann. Die Geheimdienste von Sachsen, Preußen, Posen, Schlesien, Westfalen, Hannover, Bayern, Württemberg und Baden bekamen ihre Ordre und das Signalement einer Madame de Colombique, geborene Vera Veranewski Bulkow aus Moskau.
Otto Heinrich Kummer aber feierte in Dresden mit den Eltern und den lachenden Geschwistern das neue Jahr 1835, und als die Glocken Dresdens schallend die erste Stunde einläuteten, die Fenster aufgestoßen wurden und helle Stimmen, jubelnd, weinfroh durch die Schneenacht lachten, saß der Münzmarschall dem einst verbannten Sohne gegenüber und hielt dessen heiße Hände.
«Ich habe nie gewußt, daß Liebe stärker ist als Haß«, sagte er leise.
«Vater.«
Der Alte winkte ab.
«Ich weiß, es gab einst eine Zeit, wo du den Vater haßtest! Wann war das? Es ist lange her.«
«Vater. ich.«
Der Junge stotterte. Er wollte seine Hände an sich ziehen, doch der Vater hielt sie fest und blickte auf die zarten, schmalen Finger.
«Diese Hand schrieb einst: Ich habe keinen Vater mehr! — Ach, es ist lange her. Ich habe es nie verstanden, ich war in eine andere Welt geboren als mein Sohn. Ich tat ihm Unrecht, ich war hart, ich schickte ihn in eine Einsamkeit, damit er sehen und sein Inneres reifen lerne. Und dieser Sohn ist da, als man den Vater, der für ihn gestorben war, ins Unrecht stieß. Ist da und sagt zu mir: Vater! — Was habe ich an dir gesündigt! Verzeih mir, Otto Heinrich — in dieser Stunde — verzeih.«
Er legte seinen Kopf auf die Hände des Sohnes und schwieg.
Otto Heinrich bebte am ganzen Körper. Er wollte schreien, weglaufen, hinaus in die Nacht, in den Schnee, in die Kälte, laufen, immer laufen, bis zur Elbe, bis in das Gebirge, bis nach Frankenberg, laufen, laufen. Nur das nicht sehen, nur das nicht hören müssen. diesen Zusammenbruch seines Vaters, seines harten, herrischen Vaters, des stolzen Münzmarschalls.
«Was tust du«, stammelte er.»Vater. Vater. was tust du.?«
«Ich habe einen Sohn wiedergefunden«, sagte der Alte.»Und dafür danke ich dem Himmel.«
Als Otto Heinrich nach einer Stunde das Arbeitszimmer des Vaters verließ, trug er an seiner Hand den alten Familienring der Kummers.
Es war der Ring, den der Vater stets dem liebsten Sohn vererbte.
In seinem Zimmer schloß sich Otto Heinrich ein.
Die ganze Nacht hindurch brannte bei ihm die Lampe.
Unter seinem Fenster leuchtete der Schnee.
Am Morgen fuhr er ab. Zurück nach Frankenberg.
Er sah den Vater nicht mehr. Die Mutter sagte, ihm sei unwohl, und gab dem Sohn den Segen.
Erst als die Türme Dresdens in dem Morgendunst verschwammen, lehnte sich Otto Heinrich in das harte Polster zurück und legte beide Hände vor seine Augen.
Er weinte.
Doch er wußte nicht zu sagen: war es Heimweh, Glück, Wehmut oder die Angst vor einer Zukunft, der er mit bangen Ahnungen entgegenfuhr.
In der zweiten Nacht der Reise passierte die schwankende Kutsche unter klirrendem Frost die Stadt Freiberg und wandte sich dann von der Hauptstrecke ab, um auf einer Nebenstraße die Route durch das südwestliche Erzgebirge zu erreichen.
Es war eine dunkle, eisig windige Nacht. Die Reisenden hatten sich in ihre Pelze und Fußsäcke gedrückt, schliefen, indem sie sich gegenseitig stützten, oder brüteten vor sich in die Dunkelheit, die Unbequemlichkeit der Fahrt verdammend und leise ächzend bei jedem Stoß, der den schwankenden Holzkasten in allen Fugen schüttelte, wenn die Räder durch die tiefen Löcher der ungepflegten Straße sprangen.
Die kleinen Fenster zu beiden Seiten der Kutsche waren von innen verhängt. Auf dem Bock saß der Postillion im dicken Pelz und fluchte.
Weiß wehte aus den Nüstern der Pferde der Atem in die Kälte.
Als die Kutsche in die Nebenstraße einbog, um dann mit verstärktem Trab in die Wälder zu fahren, hatte niemand in der Kutsche noch der Postillion bemerkt, wie sich aus dem Gebüsch an der Kreuzung eine Gestalt löste, wieselschnell an die Rückwand der Post sprang, sich an einer der langen gebogenen Gepäckstangen festklammerte und ein Stück mitlief, ehe sie sich an einigen Schnürriemen emporzog und auf den Proviantkasten dicht unter das schmale Rückfenster setzte.
Bekleidet mit einem weiten Mantel und einem tief ins Gesicht gedrückten, breiten Schlapphut, saß die Gestalt schwarz und in sich zusammengezogen über den schwankenden Rädern. Durch die dünne Holzwand hörte sie das Hüsteln der Reisenden, lächelte bei einem saftigen Fluch des Postillions und schnalzte mit der Zunge mit, wenn die Peitsche klatschend über die zitternden Pferderücken zischte.
«Monsieur«, sagte plötzlich eine Dame zu ihrem Nachbarn und richtete sich ein wenig auf.»Mir war es, als habe sich draußen an der Hinterwand etwas geregt! Mon Dieu — es gibt hier doch keine Räuber?«»Es ist der Wind«, murmelte ihr Begleiter verschlafen.»Der Wind, Madame. Räuber. «Er gähnte laut.»Räuber gibt's hier nicht.«
Nach wenigen Augenblicken schlief er weiter.
«Ich gehe nicht davon ab: es rührt sich etwas an der Rückwand«, flüsterte die Dame nach einer Weile.»Eben war es wieder! Haben Sie es auch gehört?«
Otto Heinrich, der vor sich hinbrütend angestoßen wurde, schreckte auf.
«Wie bitte?«stotterte er.»Was sagten Sie, Madame?«
«Draußen an der Rückwand rührt sich etwas!«
«So lassen Sie doch den Postillion halten.«
Die Dame zögerte.»Ich kann mich auch verhört haben.«
«Bestimmt, Madame, bestimmt.«
Die Kutsche klapperte weiter durch die eisige Nacht.
Auf dem Proviantkasten kauerte noch immer die schwarze Gestalt.
Sie kicherte und räkelte sich auf dem breiten Sitz. Sogar eine Pfeife rauchte sie und verdeckte den glimmenden Schein des Tabaks mit der Hand.
Erst als das Morgengrauen über die Wälder stieg und der bleierne Himmel fahl und bedrückend wurde, sprang die Gestalt mit einem weiten Satz vom Wagen auf die glatte Straße, sah der Kutsche nach, bis sie um eine Wegbiegung verschwand, und eilte dann quer durch den Wald, bis sie im Unterholz verschwand.
Nur einmal blieb der stumme Gast stehen, kurz nachdem er von der Kutsche sprang, und nahm den breiten Schlapphut ab, sich über die Haare streichend.
Es war Willi Bendler.
Schon als Kind hatte Willi Bendler gute Augen. Und er war stolz darauf gewesen, wenn sein Vater sagte:»Der sieht wie eine Katze «und ihn aus der ganzen Geschwisterschar auswählte, bei Nacht das Feuerholz aus dem Schuppen zu holen.
Nun aber.
Kein Hauch Licht. Sterne und Mond verbargen sich hinter einer schweren Wolkendecke. Und der Hang hier nichts als schwarzes Un-terholz.
Willi Bendler fluchte, schob einen Zweig aus dem Gesicht, überlegte es sich, rannte in langen Sprüngen zur Straße zurück. Die Kurve, ja, das war die Stelle. Gleich dahinter mündete der Ziehweg, der zur Köhlerhütte führte. Aber hier war kein Durchkommen. Er ging weiter. Eine Tannenschonung. Dann versanken die Füße bis zu den Schäften der Stiefel im Laub, und schließlich tauchten wieder schwarz wie Scherenschnitte große Bäume aus dem Dunkel auf, der Himmel wurde lichter — ja, da mußte der Weg sein. Und da war er auch.
Bendler reckte sich zu seiner ganzen Größe, legte die Hände an den Mund:»Uuiuu!«Nochmals. Der Ruf des Käuzchens.
Er legte den Kopf schräg. Nichts.
Vielleicht waren sie noch zu weit weg?
Er ging nochmals zwei-, dreihundert Meter bergan und versuchte es wieder.
Und diesmal kam die Antwort. Ein einsamer, hohler Käuzchenruf. Dreimal.
Na also! Es dauerte nur wenige Minuten, bis er festen Boden unter den Sohlen seiner Stiefel spürte: der Ziehweg.
Bendler, der Riese, ging bergan, so kraftvoll, wie nur er das konnte, und verharrte erst, als eine Männerstimme seinen Namen rief.
«Willi! — Bist du's, Willi?«
Hans, einer der beiden Gera-Vettern. - Bist du's, Willi? — Hatte er diesen Eseln nicht eingeschärft, stets und unter allen Umständen das Losungswort zu benutzen. >Aurora< lautete es in dieser Woche. Wahrscheinlich hatten sie's schon wieder vergessen.
«Gott sei Dank! Da bist du ja, Willi.«
Ein Schatten tauchte vor ihm auf.
Bendler schluckte den Groll hinunter, tätschelte Hans Hilperts Schulter, wollte jetzt keinen Streit, auch keine Auseinandersetzung um Losungsworte — einen Schluck Schnaps wollte er, besser wäre noch Wein, ein Stück Brot und Speck dazu, nach der ganzen aufregenden Fahrt als blinder Kutschen-Passagier knurrte ihm der Magen.
Die Köhlerhütte war aus rohen, mit Lehm verfugten Tannenstämmen zusammengefugt. Drinnen hatten sie ein Feuer angefacht. Durch die geöffnete Tür konnte er den Flammenschein erkennen. Nun ja, so bedenklich war das nicht. In diesen abgelegenen Teil des Thüringer Waldes wagte sich bei Nacht niemand. Schon gar nicht eine Streife der königlich sächsischen Gendarmerie.
Er mußte den Kopf mächtig einziehen und dabei gleichzeitig in die Knie gehen, um die Hüttentür zu passieren.
Und dort empfing ihn Lärm, Geschrei und Lachen. Sie waren alle aufgesprungen, nur Sottka blieb am Tisch sitzen: klein und gekrümmt, den dreckigen, längst verspeckten Zylinder mit der zerrissenen Krempe wie immer auf dem Kopf. Joseph Hilpert, Student wie Hans, umarmte ihn. Die vertrauten Gesichter. Augen, in denen die Erleichterung lag, den Anführer wieder bei sich zu wissen.»Was ist, Willi? Wie war es?«
«Erzähl' ich noch. Jetzt kann ich nicht. Mein Magen knurrt lauter als meine Stimme. Hört ihr ihn nicht? Gebt mir Futter.«
Joseph hatte schon das Messer und den Brotlaib in der Hand. Otto, den sie >Frosch< nannten, seit er mit einem gewaltigen Sprung von der Rodach-Brücke der Eskorte entwich, die ihn ins Polizeigefängnis nach Coburg bringen wollte, schnitt ein Stück Käse ab.
«Speck habt ihr keinen?«
«Bedauerlicherweise nicht, Eure Exzellenz«, ließ sich Sottka vernehmen. Er lüpfte den Zylinder und zog ihn in einem höfisch-eleganten Halbbogen über den Kopf.»Aber falls Euer Hochwohlgeboren mit unserem bescheidenen Mahl nicht vorliebnehmen.«
«Hör auf mit dem Mist!«sagte Bendler, schlug die Zähne in das Brot und kaute. Und dann warf er einen seiner langen dunklen Blicke zu der kleinen Gestalt dort am Tisch. Sottka versuchte dem Blick zu begegnen. Die runden Brillengläser funkelten. Doch Willi Bendler wandte sich ab. Seit jener Nacht in der fernen Mark Brandenburg konnte er den Kerl einfach nicht mehr sehen, seit jener Nacht, als er mitansehen mußte, wie Sottka, den er stets für einen jener verschrobenen Intellektuellen gehalten hatte, die sich seit den Zensur-und Knebel-Gesetzen zu Dutzenden in den Reihen der Freischärler finden ließen, kaltblütig mit dem Dolch einen Gefangenen tötete. Und dieser Gefangene war dazu noch eine Frau. Sie mochte die Strafe verdient haben, gewiß, deshalb sollte sie ja auch zum Beweis der deutschen Gesinnung der Freischar-Bewegung den Behörden übergeben werden — aber doch gefangen übergeben! Gefangen und lebendig. Nicht ermordet.
In dieser Nacht hätte er beinahe selbst Schuld auf sich geladen und Sottka erwürgt. Nur den anderen war es zu verdanken, daß er noch lebte, ihrer Freundschaft, nicht ihrem Argument:»Sie hätte uns verraten, wie sie jeden verraten hat. Es war besser so.«
Nein, es war nicht besser so. Sottka hatte ein Kains-Mal gesetzt. Und darunter würden sie als Bruderschaft ewig leiden. Auch wenn ihnen die Flucht nach Böhmen gelang. Die Folgen waren schlimm genug. Er mußte das Korps auflösen. Nur als einzelne Gruppen hatten sie die Chance, der Polizeiverfolgung zu entkommen.
Doch dies war nicht die Zeit für solche Gedanken.
Bendler las die Zeit von seiner Taschenuhr: kurz vor Mitternacht. Es gab keine Überlegung und keine Diskussion: sie brauchten das verdammte Schießpulver. Letzten Dienstag, vor beinahe einer Woche, beim Übergang über die Elster war Hans, der den Pulvervorrat im Tornister trug, auf einem glatten Stein gerutscht und ins Wasser gefallen. So hatten sie die ganze Reserve bis auf die Füllung von zwei Pulverhörnern verloren.
Mit zwei Pulverhörnern nach Böhmen?!
Ausgeschlossen. Auch die anderen brauchten Nachschub.
Doch soweit würde es nicht kommen.
Der Militärtransport für das Mineur-Detachement in Frankenberg war seit einem Tag unterwegs. Er würde um Mittag in der Stadt eintreffen. Bendler hatte es aus einem Dragoner-Unteroffizier herausgekitzelt, den er an einer Wegschenke bei Weida getroffen und betrunken gemacht hatte.
Um Mittag. Das hieß, daß sie kurz vor sieben hier durchkommen mußten. Also bei Morgengrauen. Ein guter Zeitpunkt. Dann waren Kutscher und Begleiter von der Nacht schon so zermürbt, daß sie nicht bemerken würden, was auf sie wartete. Und wenn sie es merkten, war's ohnehin zu spät.
Noch einmal überprüfte Willi Bendler den Sitz des Seils. Er hatte es am schenkeldicken Ast der Eiche verknotet, die am gegenüberliegenden Hang hochwuchs.
Nun tarnte er es mit abgeschnittenen Zweigen.
Hans, der ältere der beiden Studenten-Vettern aus Gera, kletterte noch einmal rasch wie ein Affe den Baum hoch, schwang sich wieder auf den Weg, lachte.
«Na, denen rasieren wie die Hüte ab, was, Willi?«
Bendler nickte. Den Jungen mochte er. Als Student der beste auf dem Paukboden, hatten sie gesagt. Außerdem gehörte er der JahnBewegung an, war gewandt wie ein Panther, ließ sich nie Angst anmerken und blieb immer guter Laune, selbst wenn es noch so übel aussah.
Der Weg war nun nichts als ein graues Band.
Der Wald verhielt noch im Dunkel. Weiter oben aber, wo die Kurve auslief und das Gefälle begann und sich Felder zogen und Büsche, hatte der Himmel sich aufgehellt. Schon waren die ersten Vogelrufe zu vernehmen. Und der Mond hing als blasse Sichel in einem grünen Himmel.
Sie würden kommen. Bald sogar. - Falls seine Rechnung aufging.
Bendler bückte sich, scharrte einen Armvoll Laub zusammen und streute ihn über das Seil am Boden.
Dann verkrochen sie sich wieder in der Deckung, kauerten hinter Stämmen und Büschen. Jetzt sprach keiner mehr, jeder wußte, was zu tun war.
Bendler zog die Pistole. Beinahe zärtlich streichelte er den Knauf und die vertraute Rundung des Griffs. Die Kugeln steckten im Lauf.
Er spannte die beiden Hähne, prüfte die Zündhütchen. Auch die beiden Gera-Vettern machten die Waffen schußbereit. Weiter oben, in der Schonung, kauerte der >Frosch< hinter einem Haufen Bruchholz. Er hatte das Grenadier-Gewehr.»Nur im Notfall schießen!«hatte Bendler ihm eingeschärft.
Sieben Uhr zehn. Nun konnte er die Ziffern seiner Uhr schon ganz deutlich lesen. Die Zeiger schienen festgeschraubt.
Irgendwo schrie eine Krähe. Und nun wieder ein Vogelruf. Es klang wie eine Warnung.
Der milchige Schleier über den Feldern hatte sich aufgelöst und einem klaren Blau Platz gemacht.
Und dann hörten sie es: das gleichmäßige Schlagen von Hufen, Räderpoltern, das metallische Klacken, das entsteht, wenn stählerne Radbänder auf harte Steine treffen.
«Sie kommen.«
Hans war es, der es flüsterte, und Bendler hob die Hand. Eine unnötige Geste. Jeder wußte, was er zu tun hatte.
Hans Hilpert war der einzige, der sich aus der Kauerstellung hochschob. Eng an einen Stamm gepreßt, hielt er das Seilende. Sobald es soweit war, würde er das schwere Hanfseil blitzschnell anspannen und um das Aststück schlingen. In angespanntem Zustand mußte es Kutscher wie Reiter abwerfen. Sie hatten es zuvor genau ausgemessen.
Bendler hielt den Atem an.
Das Hufeklappern änderte sich, wurde schneller. Das, was er erwartet hatte, war eingetreten: der Kutscher nützte den leicht abfallenden Hang. Statt zu bremsen, versetzte er die Pferde in einen raschen Trab. - Na, um so besser!
Zwei Lichter.
Wegen des Waldesdunkels waren die Laternen noch nicht gelöscht.
Bendler stand auf: ein Schatten unter anderen Waldesschatten.
Noch vierzig, dreißig, zwanzig Meter. Und nun sah er sie, sah alles ganz genau, jedes Detail: das Blinken an den Tschakos der beiden Reiter, die die unförmige Militärkarosse begleiteten, die weißen
Dragoner-Aufschläge an den Uniformen — den Kutscher. Auch er ein Soldat. Hochaufgerichtet saß er, während die Dragoner, erschöpft vom Nachtritt, wie schwankende Puppen in ihren Sätteln hingen und die Pferde allein ihren Weg suchen ließen.
Na, die werden wir gleich wecken.
Hans' Zähne blitzten. Die Anspannung hatte ihm die Lippen hochgezogen. Die Faust griff zum Seil.
«Jetzt!«rief Bendler.
Ja, jetzt.
Was nun folgte, mischte sich zu einem kaleidoskopartigen Wirbel von Eindrücken und Geräuschen: Schatten, die schreiend durch die Dämmerung flogen. Flüche. Das Wiehern sich aufbäumender Pferde, das Donnern der Hufe, als die Tiere in Panik die Hangstraße hinabrasten. Die Kutsche dort — führungslos. Das Deichselpferd schien sich im Geschirr verfangen zu haben, brach nach vorne in die Knie. Und da kippte der Wagen um, rutschte über die Steine, blieb an einem Baum hängen.
Um so besser.
Bendler sprang.
Und nun war er wieder der >Riese Bendler<, ein gewaltiger, Unheil verkündender schwarzer Schatten, der sich wie ein Geist aus der Dämmerung erhob, einen der beiden Dragoner, der sich gerade fluchend aus dem Staub hochgerappelt hatte, mit einem einzigen Faustschlag zurück auf die Straße schleuderte; so mächtig, mit solcher Hammergewalt geführt war der Hieb, daß der Mann zuckend liegenblieb.
Und da war der zweite, war schon hoch, wollte den Säbel ziehen.
Doch dazu kam er nicht mehr.
Willi Bendler wirbelte herum. Das rechte Bein holte aus, die Fußspitze traf genau den Magen und warf den Mann gegen die Böschung. Hustend, nach Luft schnappend, sackte er zusammen.
Was war mit dem Kutscher? — Ah, dort! Und die Hände hatte er über dem Kopf. Und vor sich Hans' Pistole.
Willi Bendler beugte sich über den Dragoner. Er hing zwischen den Wurzeln und hatte noch immer beide Hände gegen seinen Magen gepreßt. Jetzt drehte er den Kopf. Die Augen wurden weit.
«Na, wie geht's denn, Gevatter?«
«Ihr seid es.?«
«Aber natürlich.«
Bendler grinste freundlich, beruhigend. Zufälle gab es. Er hatte den Unteroffizier sofort erkannt. Der Sergeant war der Mann, den er in der Kneipe so mit Wein vollgeschüttet hatte, daß er ihm den Transport verriet. Daß er selbst mitreiten würde, das allerdings hatte er verschwiegen.
«Mein Magen.«
«Bin nicht ich«, grinste Bendler,»das ist der Wein. Werd' den erst mal los, dann wird's dir besser. Komm, ich helf dir.«
Er packte den dicken Unteroffizier an seinem Uniformkragen und drückte ihn nach vorne, mit dem Gesicht zum Laub.»Spuck's aus, Gevatter! Dann wird dir besser.«
Vielleicht war soviel christliche Fürsorge nun doch ein Fehler. Der erste der beiden Soldaten war wieder auf den Beinen. Der gab nicht auf. Und weiß der Teufel, eine Pistole hat er in der Hand.!
Das Gesicht war jung, ein Bauerngesicht mit unruhig flackernden Augen. Doch die beiden anderen Augen, die schwarzen, kreisrunden Mündungen der Pistolenläufe blieben ruhig. Und beide waren sie auf Bendlers Brust gerichtet.
Bendler holte Atem. Die Luft war so kühl. Dort drüben das Pferd. Es schnaubte, wieherte unterdrückt. - Es hatte Angst.
«Nun tu's doch, Junge«, sagte er.»Na los!«
Die Läufe begannen zu schwanken.
«Willst wohl beweisen, daß du ein tapferer Soldat bist?. Nur, wem?. Dir selber?. Wer sonst sieht es denn, daß du einem Freischärler die Pistole auf die Brust setzt? — Niemand, Junge.«
Ein leiser, halb klagender, halb knurrender Laut. Dann flog die Pistole plötzlich hoch, beschrieb einen Bogen und landete im Laub des Weges. - Der Oberkörper des Dragoners aber war zurückgebogen, ein Arm winkelte sich um seinen Hals, eine Klinge blitzte in der fahlen Dämmerung.
Sottkas Dolch.
«Sottka!«
Bendler brüllte, schlug mit der flachen Hand das Messer weg. Die Schneide spaltete ihm die Haut. Blutperlen sprangen auf. Und da waren Sottkas glühende Augen, funkelten in einem sonderbaren, wie zu einer fahlen Steinmaske erstarrten Gesicht.
«Laß den Mist, verflucht noch mal!«
«Verflucht noch mal? Er wollte dich umbringen.«
«Das wollte er nicht. Das hatte ich ihm schon ausgeredet.«
Den Kopf gesenkt, die Schultern eingekrümmt, stand der Soldat zwischen ihnen.»Bitte«, murmelte er,»bitte.«
«Ja, bitte!«
Bendler riß die ledernen Fuchsbänder heraus, die er stets in seinen Taschen mit sich führte, und band dem Dragoner die Hände auf den Rücken.»Da rüber, zu deinem Kameraden. - Wird's schon!«
Der Dragoner nickte erleichtert.
Bendler wandte sich wieder Sottka zu.»Hättest ihn wohl gern auch noch erstochen, was?«
«Gerne oder nicht«, der schmale Mund Sottkas blieb starr,»noch ein Tyrannenknecht weniger, die Welt könnte mir dankbar sein.«
«Die Welt, die Welt. All deine Reden, die wunderschönen Appelle, die du angeblich geschrieben hast — im Grunde kümmert dich das alles gar nicht. Für dich geht es nicht um Freiheit, um eine neue Gesellschaft, um Ideale oder sonst etwas, das alles ist für dich nur der Weg, deine Mordlust zu befriedigen. Du bist krank, Sottka! Das bist du: eine kranke, mordlüsterne, widerliche, kleine Ratte. Ich will's noch deinem Buckel zugute halten, wenn jetzt raus will, was immer in dir schlummerte. Aber nicht in meiner Gegenwart, Sottka. Nicht mehr. Das werde ich nicht zulassen. Eher schieße ich dich über den Haufen.«
«Bendler, ich hab' dir gerade.«
«Das Leben gerettet?«höhnte Willi Bendler.»Und was für ein Leben soll das sein, wenn man mit solchen Scheißkerlen, wie du einer bist, durch die Wälder ziehen muß? Manchmal begreife ich mich selber nicht. Aber eines sag' ich dir: Nimm dir so was nicht mehr heraus. Nie mehr.«
Haß war es, der in den grauen Augen hinter den Brillengläsern flackerte. Ein Haß, der ihn nicht erreichen konnte. Es gab Wichtigeres.
Bendler wandte sich um und ging zu den anderen.
Sie hatten versucht, den Wagen wieder auf die Straße zurückzustemmen. Es war ihnen nicht gelungen. Wozu auch? Die vier Pferde waren an Baumstämmen festgebunden, knabberten friedlich an den Zweigen, die beiden Dragoner lehnten mit dem Rücken gegen die Böschung und blickten mit dem betroffenen, schicksalsergebenen Ausdruck der Gefangenen zu ihnen herüber.
«Na, wie steht's? Was habt ihr gefunden?«
«Wirst dich wundern, Willi. Pulver, soviel, daß du ganz Frankenberg mitsamt deiner Apotheke in die Luft jagen kannst, falls du das willst.«
«Will ich nicht. Was weiter?«
«Die Gewehre der Dragoner. Auch der Kutscher hatte eine Pistole. Eine französische Reiterpistole. Richtiggehender Luxus. Na ja, und dann wäre da noch das.«
Der >Frosch< beugte sich und hob eine viereckige, eisenbeschlagene Holzkassette vom Boden.
«Und?«
«Achthundert Dukaten.«
«Mach keine Witze.«
«Kein Witz. Sind sogar achthundertfünfzig.«
Bendler pfiff leise durch die Zähne.
«Na dann«, sagte er.»Ich nehm' eines der Pulverfässer. Wir füllen es später in Säcke um. Die in Böhmen brauchen Nachschub.«
«Und die da drüben?«
Bendler überlegte.
«Laufenlassen können wir sie nicht. Dann steigen sie doch auf ihre Gäule und sind in zwei Stunden in Frankenberg. Das Risiko können wir uns nicht leisten. Ein bißchen Vorsprung brauchen wir schon. bindet sie an den Bäumen fest. Und gebt ihnen vorher was zu trinken. Die Frühpost kommt um elf. Soldaten müssen an Strapazen gewöhnt werden. Das ist nur gut für ihre Karriere.«
Im Gänsemarsch zogen die Männer den Hang hinauf. Bendler war der letzte. Noch einmal wandte er sich zu den Gefangenen.
«Übrigens, Freunde, habt ihr nicht Lust, zu uns zu kommen? So ein Waldleben ist doch gesünder als die Kaserne.«
Er erhielt keine Antwort. Nur eine Krähe schrie vom nächsten Gipfel.
Ahnungslos wie der entflohene Freund ratterte Otto Heinrich durch den Morgen Frankenberg entgegen. Das Schicksal, das in dieser Nacht durch eine dünne Holzwand einer alten Kutsche machtlos wurde, entfernte sich mit jedem Pferdetritt und überließ den Jüngling seinem höheren Geschick.
Schon als die Post gegen Mittag in Frankenberg einlief und Trudel, trotz ihres heiligen Versprechens, ihn nicht an der Posthalterei erwartete, ahnte Otto Heinrich, daß etwas Schlimmes im Hause Knackfuß vorgefallen war.
Ungeduldig wartete er, bis die Postknechte das Gepäck vom Dache schnürten und verteilten, reichte dem Postillion ein kleines Trinkgeld und eilte dann mit großen Schritten in die Stadt, bis er am Markt das große Apothekerhaus liegen sah.
Eine unerklärliche, fremde Unruhe trieb ihn vorwärts. Ohne den Laden zu beachten, lief er durch den seitlichen Privateingang die Treppen hinauf in seine Kammer, sah, daß der Ofen nicht geheizt war und der Staub noch dick im Raume lag, packte seinen Koffer in die Ecke, überlegte dann kurz, zog ihn wieder hervor und begann, sich erst zu waschen und dann umzukleiden.
Mit Widerwillen und leichtem Ekel benutzte er das alte, abgestandene Wasser in dem zerbeulten Zinkeimer auf dem kleinen Flur. Das Handtuch war noch das alte wie vor seiner Reise, das Bett war unberührt, wie er es verlassen hatte.
Von einer jagenden Angst getrieben, rannte Otto Heinrich die Treppe hinunter, lief durch den Privatkorridor und zögerte erst, als er vor dem Kontor des Prinzipals stand.
Mit einem Ruck zog er seine Jacke zurecht, klopfte dann an und trat mit festem Schritt in das Zimmer.
Am Stehpult stand Knackfuß und rechnete im Hauptbuch.
Als er Otto Heinrich eintreten sah, klappte er es mit einem lauten Knall zu und schoß hinter dem Pult hervor. Seine Augen waren starr, und der faltige, schmale Mund zuckte wie in Krämpfen.
«Er. Er.!«Seine Stimme überschlug sich und wurde schrill.»Er wagt es noch, mir unter die Augen zu treten?!«
Otto Heinrich Kummer brauchte eine Zeit, um sein Staunen und seinen Schreck zu überwinden, ehe er eine Antwort fand.
«Ich weiß nicht.«, stotterte er unsicher, denn die fremde Anrede in der dritten Person, die nur bei Lehrlingen und einfachen Gesellen üblich war, verwirrte ihn noch immer.»Ich weiß nicht, was.«
«Er weiß nicht?!«Der alte Knackfuß schrie, daß seine Stimme in dem engen Raum gellte.»Er Lump! Er Schuft! Schleicht sich mit süßen Reden in mein Herz, ich mache Ihn zum Provisor, schenke Ihm Vertrauen, und Er. Er schändet meine Tochter. Er lockt sie nachts in Lauben, wie ein Verbrecher, der die Nacht braucht, um zu leben. Er säuselt ihr sein Unglück vor, verführt mit schönen Reden das ahnungslose, reine Herz, bringt Schande in die gottgeweihte Seele und steht dann da, ein Haufen Dreck, ein Mörder kindlicher Unschuld, und fragt: ich weiß nicht, was. Hinaus! Hinaus, Er Satan!!«
Knackfuß hielt sich an dem Rand des Stehpultes fest und atmete röchelnd.
Die Haut seines Gesichts war fahlgelb. Das Weiße der Augäpfel überzog sich mit rotem Geäder.
Otto Heinrich, der stumm die Schmähungen ertragen hatte, sah mit einem Schimmer Mitleid auf die gebrochene Gestalt des alten Mannes. In seinem Innern aber jagten die Gedanken. In den Halsschlagadern fühlte er hart den rasenden Puls klopfen.
Wo ist Trudel? schrie es in ihm. Was ist hier geschehen?! Der Alte bringt es fertig und erwürgt in seiner Wut die eigene Tochter!
«Was ist mit Trudel?«keuchte Otto Heinrich und duckte sich, als wolle er jeden Augenblick auf Knackfuß springen.
«Sie ist fort!«
«Wo fort? Wohin?!«
«Fort!«
«Wohin!!!«Der Jüngling schrie es und packte den Alten an den Rockaufschlägen.
Mit tödlichem Haß sahen sich die beiden in die Augen.
«Zu meinem Bruder. Nach Chemnitz. Dort bleibt sie, bis ich ihr den Mann ausgesucht habe, den sie heiraten muß — und wird!«
«Teufel! Infamer Teufel!«Stöhnend schüttelte Kummer den Apotheker wie eine Puppe hin und her.»Gib mir Trudel wieder. Du. Du. gib sie mir wieder.«
«Nie. «Die Augen Knackfuß' sprühten Triumph und Haß.»Nie! Ich würde euch verfluchen, wie nie ein Vater fluchte!«
«Wir brauchen deinen Segen nicht! Die Welt ist groß und weit!«Und plötzlich schleuderte er den Alten an das Stehpult zurück, daß es krachte und zu schwanken begann.»Ich werde sie mir holen, und wenn die Hölle dazwischen läge!«
Knackfuß, der sich an das Pult geklammert hatte, um nicht hinzustürzen, richtete sich auf und zog die verrutschte Halsbinde gerade. Mit pfeifendem Atem trat er aus der Reichweite seines Provisors und ging hinter das hohe Stehpult.
«Wenn Sie den Tod wollen, tun Sie es«, sagte er verwunderlich kalt und nüchtern.»Ich habe nie einen Menschen so gehaßt wie Sie! Noch in der Brautnacht würde ich Sie und Trudel mit Gewalt vergiften!«
«Sie sind ein Satan!«
«Die Unschuld meiner Tochter ist mein Heiligtum!«
«Ich habe nie gewagt, sie ihr zu nehmen!«schrie Otto Heinrich.»Ich liebe Trudel!«
«Und Trudel liebt Sie auch! — Sie haben sie geküßt!«
«Ja.«
«Schuft! Wer meine Tochter küßt, beleidigt mich! Nur weil ich ein alter Mann bin, fordere ich nicht Rechenschaft mit der Pistole. Aber der Mann, der einmal Trudel in sein Haus nimmt, wird Sie wie einen tollen Hund zu Boden knallen… ich werde dafür sorgen, daß die Flamme brennt!«
Wie gelähmt stand Otto Heinrich vor diesem Haß. Er fand keine Antwort als ein schwaches resignierendes Achselzucken und wandte sich ab.
Erst in der geöffneten Tür blickte er sich noch einmal um und sagte langsam:
«Wenn es einen Gott gibt, wird er Sie einmal für diese Stunde strafen!«
Dann schloß er die Tür, lehnte sich an ihren Rahmen und bedeckte die Augen mit seinen Händen. So stand er eine Zeitlang, bis er langsam die Treppe empor in seine Kammer stieg, sich auf das Bett warf und das Gesicht in die Decken vergrub.
Schlafen. dachte er. nur schlafen, nichts mehr hören, nichts mehr sehen. nichts als schlafen. eintauchen in die Dunkelheit. versinken. schlafen. ewig schlafen.sterben.
Und vor dem Fenster rieselte wieder der Schnee.
Am Abend dieses Tages brachte einer der Gesellen einen Brief zu Otto Heinrich auf die Kammer und ein zusammengefaltetes Papier.
Otto Heinrich, der dabei war, seine Habe zu ordnen und einzupacken, da nach dieser Auseinandersetzung ein Bleiben im Hause Knackfuß unmöglich war, nickte dem Jungen knapp zu, nahm die Briefe und legte sie auf den kleinen Tisch.
Dann räumte er erst den Koffer ein, schrieb eine kurzgefaßte Austrittserklärung aus den Diensten der Frankenberger Apotheke und faltete dann erst das lose Blatt auf.
Es war ein kurzer Brief des Prinzipals.
Keine Anrede, keine Anschrift — das Schreiben begann wie ein Kanonenschuß.
«Da Sie einsehen werden, daß nach dem heutigen Vorfall nie gekannter Disziplinlosigkeit ein Verbleiben Ihrer Person in meiner Apotheke unmöglich geworden ist, sehe ich mich gezwungen, Sie aus meinen Diensten zu entlassen.
Sie werden andererseits aber einsehen müssen, daß es mir jetzt am Beginn eines Jahres und bei den unwegsamen Straßen und Postverbindungen fast unmöglich ist, einen neuen Provisor in Dienst zu stellen.
Aus dem Bestand der Apotheke möchte ich nicht noch einmal eine Enttäuschung wählen. Ich muß Sie daher — sehr gegen meinen und sicherlich auch Ihren Willen — ersuchen, Ihre Stellung bei mir bis zum Eintreffen des neuen Kollegen weiterhin zu bekleiden. Ich werde bemüht sein, diesen unhaltbaren Zustand schnellstens zu ändern. Da sich demnach eine weitere Zusammenarbeit nicht vermeiden läßt, ersuche ich Sie, auf Ihrem Zimmer zu speisen und tunlichst den persönlichen Verkehr mit mir auf ein erträgliches Mindestmaß zu beschränken.
Ihr Dienst beginnt wie immer morgen 8 Uhr früh im Laboratorium.
Knackfuß, Apotheker zu Frankenberg.«
Otto Heinrich ließ das Papier auf seinem Schoß sinken und blickte halb erstaunt, halb ärgerlich vor sich hin.
«Er braucht mich, das ist alles«, dachte er.»Er kann mich nicht entbehren, er will keinen Skandal. er sucht einen Weg, mich weiter zu fesseln, zu quälen und in die Verzweiflung zu treiben. - Aber ich gehe! Ich bleibe nicht!!«
Doch je länger er darüber grübelte, um so größer wurde seine Hoffnung, Trudel vielleicht doch noch einmal zu sehen, sie zu sprechen oder nur zu erfahren, wo sie in Chemnitz wohnte und ob man schreiben konnte, wie das Herz blutete in der Sehnsucht nach ihren Lippen.
So nahm er den zweiten, verschlossenen Brief vom Tisch, drehte ihn mehrmals um, da er keine Anschrift und keinen Absender enthielt, schüttelte den Kopf und erbrach das Kuvert.
Ein kleines, mit einer zierlichen Schrift eng beschriebenes Papier fiel heraus, und Otto Heinrich, der das zu Boden geflatterte Blatt aufhob, las auf der Rückseite das Wort >Trudel<.
Ein heißer, beißender Stich jagte ihm durch das Herz.
Bebend rückte er an die Lampe und schraubte sie heller.
«Trudel«, dachte er.»Trudel«, flüsterte er.»Trudel, liebste, liebste Trudel. Du schreibst mir. o Trudel. Liebste.«
Mit zitternden Lippen begann er zu lesen.
«Mein liebster, einziger Geliebter!
Zürne nicht! Das Leben ist so anders als der Wunsch der Herzen, und Glück ist seltener als eine Stimme Gottes, die die Seele trifft.
Ich bin Dir weit entfernt, wenn Deine Hand den Brief erbricht, weit, Liebster, weit. so weit, daß nie ein Weg mehr uns zusammenführt.
Es ist des Vaters Wille, daß ich gehe. Und ich gehorche, denn des Vaters Leben ist mir heilig, auch wenn er Dich und mich verbannt und Herzen tötet, weil sie glücklich sind. Doch bleibe ich bei Dir, so wird der Vater sich am Gram verzehren, und unser Glück wäre Fluch, und unser Leben nur die Flucht vor einem Totenbild, vor einem Vater, der beim letzten Atem noch die Faust hob.
Ich muß gehorchen. Leben heißt Gehorsam, denn nur Gehorsam wird uns unsere Ehre schützen. Ich weiß, daß nun auch Du mir fluchst — Liebster, ich ertrage es, denn meine Seele ist gestorben, wenn sie diesen Brief geschrieben, und nur der Körper atmet noch… wer weiß, wie lange noch… es ist die Qual nur eines aufgeschobenen Todes.
Ach Liebster, vor Dir liegt die ganze Welt. Erobere sie, erfülle sie mit Deinem Geist, gib ihr ein Beispiel, sei ein Mensch, der würdig ist, zu leben.
Und… Liebster… liebe eine andere Frau und suche Trost in ihren Armen vor des Lebens Sturm. Vergiß mich. Nenne mich nur einen Traum, eine Vision, vielleicht auch einen Gedanken.
Wie will ich glücklich sein, wenn ich einst lobend von Dir höre. wie will ich mich erfreuen, wenn Dein Leben freudvoll wird — ich habe zu den Sternen, die der Himmel mir verdeckte, Wunsch und Gruß für Dich gesandt und will, wenn sie am Himmel glitzern, in sie sehen und Deine Augen treffen, wenn auch Du zu ihnen schaust.
Weine nicht — ich habe Dich wie nie einen Menschen geliebt. Sieh, nun sind unsere Herzen gleich, wehmütig in der Sehnsucht, traurig in Erinnerungen, frierend im Atem der Welt.
Leb wohl! Ich küsse Dich — die Haare, die Augen, den Mund und Deine zarten, schmalen Hände, die mich so oft streichelten.
Leb wohl. Auf immer Lebewohl. auf ewig. Trudel.«
Langsam sank der Kopf Otto Heinrichs hinab, bis er mit dem Gesicht auf der Platte des Tisches lag. Schlaff hingen die Arme herab, der Brief war auf die Erde geflattert, den Körper schüttelte ein Schluchzen.
«O warum hast du das getan?«flüsterte er.»Trudel. das ist die Einsamkeit, die grenzenlose Einsamkeit. der Tod.«
Die Haare fielen ihm an den Seiten über das Gesicht. Die Hände zuckten.
«Mein Urteil.«, stammelte er.»Mein Todesurteil, von ihr, die alles, alles für mich war.«
Und dann weinte er, haltlos, laut, daß seine Seele überfloß und im Schmerz ertrank. Weinte, bis sein Körper zusammenfiel und die Erschöpfung ihn im Schlaf erlöste.
Über den Tisch hingesunken lag Otto Heinrich bis zum Morgengrauen.
Als er starr vor Frost erwachte, war sein Herz vom größten Schmerz befreit. Doch es war kalt geworden, Eis wie die wundersamen Blumen an den zugefrorenen Fenstern, gefühllos, tot. einsam wie das kalte All.
Bevor er hinunter in das Laboratorium ging, nahm er den Brief Trudels nochmals zur Hand und schrieb unter den Namen der Liebsten ein kleines, resignierendes Gedicht.
Hämisch und voll Spott hob es sich von den Worten des Abschiedes ab.
Frech und ungerecht.
Kalt und einsam.
Ich kenne einen armen Wicht, der bildete sich ein, ein Mädchenherz betröge nicht und müßte redlich sein.
Er ist enttäuscht und wünschet nun im stillen kühlen Grab zu ruhn, wo alle Qualen enden.
Er schleuderte den Brief auf den Tisch und wandte sich brüsk ab. Dann stieg er die Treppe hinunter in das Laboratorium.
Ein neuer Mensch, dessen Sehnsucht es war, zu sterben.
Ein Mensch, dem der Tod zur Wonne würde.
Ein Mensch, dessen Leben schon gestorben war und der nur atmete, weil die Natur es wollte.
Ein Mensch, der Gott deshalb anklagte, weil er schwieg.
Ein einsames Herz.