Der Kater war es, der ihn rettete. Er jaulte und sprang vor Entsetzen über Richards Kopf. Er mußte sich ducken. Nicht tief genug, daß der Gar ihn verfehlte, doch ausreichend, daß er nicht die volle Wucht abbekam. Trotzdem rissen die Krallen schmerzhaft über seinen Rücken und stießen ihn, alle viere von sich gestreckt, mit dem Gesicht nach unten in den Staub. Die Luft wurde ihm geräuschvoll aus den Lungen gepreßt. Bevor er Atem schöpfen konnte, stürzte sich der Gar auf seinen Rücken. Sein Gewicht hinderte ihn daran, Luft zu holen oder nach seinem Schwert zu greifen. Vor seinem Sturz hatte er gesehen, wie Zedd von einem zweiten Gar, der den alten Zauberer jetzt durchs Unterholz brechend verfolgte, zwischen die Bäume geschleudert wurde.
Richard machte sich auf die Krallen gefaßt, die folgen würden. Bevor der Gar ihn aufreißen konnte, bewarf Kahlan ihn mit Steinen vom Wegesrand her. Sie prallten harmlos vom Schädel des Monsters ab, aber es wurde für einen Augenblick abgelenkt. Der Gar röhrte mit klaffendem Maul, schien die Nachtluft mit dem Geräusch zerteilen zu wollen und nagelte Richard wie eine Maus unter der Pfote einer Katze am Erdboden fest. Richard versuchte, sich mit aller Kraft aufzurichten, seine Lungen rangen nach Luft. Blutmücken zerstachen ihm den Hals. Er griff hinter sich, riß im Versuch, den mächtigen Arm von seinem Rücken zu zerren, büschelweise Fell heraus. Nach der Größe zu urteilen, mußte es ein kurzschwänziger Gar sein. Er war viel größer als der Langschwänzige, den er auf dem Weg zu Zedd gesehen hatte. Das Schwert lag unter ihm, bohrte sich schmerzhaft in seinen Unterleib. Er kam nicht dran. Seine Halsadern schienen zu bersten.
Richard wurde schwarz vor Augen. Das Gellen und Röhren des Gars wurde schwächer, während er sich weiter abmühte. Kahlan geriet dem Untier zu nahe. Mit beängstigender Geschwindigkeit holte der Gar aus und packte sie am Haar. Dabei mußte das Monster sein Gewicht so weit verlagern, daß Richard verzweifelt nach Luft schnappen konnte, doch bewegen konnte er sich immer noch nicht. Kahlan schrie auf.
Aus dem Nichts sprang der Kater, ein wütendes Fellknäuel aus Fängen und Krallen, dem Gar ins Gesicht. Jaulend schlug der Kater dem Gar die Krallen wild in die Augen. Im einen Arm Kahlan haltend, hob er den anderen, um den Kater fortzuwischen.
In diesem Augenblick rollte Richard zur Seite, sprang auf die Füße und zog sein Schwert. Kahlan schrie auf. Richard holte wie rasend aus und schlug den Arm, der sie hielt, durch. Sie torkelte zurück und war frei. Aufheulend verpaßte ihm der Gar eine Rückhand, bevor er das Schwert hochreißen konnte. Der gewaltige Hieb warf ihn rücklings durch die Luft. Er landete auf dem Rücken.
Richard setzte sich auf. Alles drehte sich und schwankte. Das Schwert war verschwunden, lag irgendwo im Gestrüpp. Der Gar stand in der Mitte des Pfades, heulte vor Wut und Schmerz, während das Blut aus dem Stumpf schoß. Mit grün funkelnden Augen suchte er das Ziel seines Hasses. Die Augen erfaßten Richard. Kahlan war nirgendwo zu sehen.
Ein Stück weiter rechts, zwischen den Bäumen, leuchtete plötzlich ein blendender Blitz auf und erhellte alles mit grellem, weißem Licht. Das brutale Geräusch einer Explosion dröhnte ihm qualvoll in den Ohren. Der Druck des Knalls riß ihn von den Beinen, schleuderte ihn gegen einen Baum und holte den Gar von den Füßen. Feuerwolken quollen zwischen den Bäumen hervor. Riesige Splitter und andere Trümmer zischten rauchend vorbei.
Der Gar rappelte sich heulend auf. Richard suchte hektisch nach dem Schwert. Verzweifelt tastete er den Boden ab, vom Blitz der Explosion geblendet. Er konnte den Gar gerade noch kommen sehen.
Sein Zorn flammte auf. Er spürte die Kraft des Schwertes, das seinen Meister herbeizurufen schien. Er gierte danach. Dort mußte es liegen, auf der anderen Seite des Pfades. Er war so sicher, als könnte er es sehen. Er wußte genau, wo es lag. Fast so, als könnte er es berühren. Er kroch über den Pfad.
Auf halbem Weg verpaßte ihm der Gar einen harten Tritt. Er sah Dinge vorbeihuschen, ohne zu begreifen, was sie darstellten. Sicher war nur eins: jeder Atemzug rief einen heftigen Schmerz in seiner linken Seite hervor. Er hatte keine Ahnung, wo der Pfad sein mochte, oben oder unten, rechts oder links. Blutmücken schwirrten vor seinem Gesicht herum. Er fand keinen Halt. Doch wo das Schwert der Wahrheit lag, wußte er.
Er stürzte sich darauf.
Einen Augenblick lang berührte er es mit den Fingern. Einen Augenblick lang glaubte er Zedd zu sehen. Dann hatte ihn der Gar. Er packte ihn mit seiner Rechten und hüllte seine ekelhaften, warmen Flügel um ihn, drückte ihn fest an sich, bis seine Beine in der Luft zappelten. Der stechende Schmerz in seiner linken Brust ließ ihn aufschreien. Ein grünfunkelnder Blick brannte sich in seine Augen, das riesige Maul klappte auf und zeigte ihm sein Schicksal. Der gewaltige Rachen öffnete sich für ihn, hauchte ihm den fauligen Atem ins Gesicht, der schwarze Schlund wartete. Feuchte Reißzähne glänzten im Mondschein.
Mit all seiner Kraft trat Richard dem Gar mit dem Stiefel in den Stumpf seines Armes. Der warf den Kopf zurück, heulte vor Schmerz auf und ließ ihn fallen.
Zedd tauchte am Waldrand auf, fünf Meter hinter dem Gar. Richard ging in die Knie und griff nach dem Schwert. Zedd warf die Hände nach vorn, die Finger ausgestreckt. Feuer, Zaubererfeuer, schoß aus seinen Fingern und kreischte durch die Luft. Das Feuer wuchs und kugelte sich, erhellte im Vorbeiziehen alles ringsum, wurde zu einem blaugelben Ball aus flüssigen Flammen, die jaulend und sich ausbreitend zum Angriff übergingen. Ein lebendiges Wesen. Mit dumpfem Schlag trafen sie den Gar im Rücken und verwandelten das Monster in eine schwarze Silhouette. Innerhalb eines Atemzugs überspülten die blaugelben Flammen den Gar, hüllten ihn ein, brandeten durch ihn hindurch. Blutmücken verglühten zu Nichts. Flammen zischten und züngelten überall auf dem Wesen und fraßen es auf. Der Gar verschwand in blauer Feuerglut und war nicht mehr. Das Feuer bildete kurz einen Wirbel, dann war es ebenfalls verschwunden. Der Geruch nach verbranntem Fell und ein nebliger Rauch hingen in der Luft. Die Nacht war plötzlich still.
Richard brach erschöpft und unter Schmerzen zusammen. In die Striemen auf seinem Rücken hatte sich Schmutz und Schotter gerieben, und die Schmerzen in seiner linken Seite fraßen sich mit jedem Atemzug in ihn hinein. Er wollte nur daliegen, sonst nichts. Das Schwert lag immer noch in seiner Hand. Er ließ sich von der Kraft durchfluten, von ihr aufrichten. Der Zorn sollte ihn von den Schmerzen ablenken.
Mit seiner rauhen Zunge leckte ihm der Kater das Gesicht und drückte seinen Kopf gegen Richards Wange. »Danke, Kater«, brachte er hervor. Über ihm tauchten Zedd und Kahlan auf. Die beiden beugten sich über ihn, nahmen seine Arme und halfen ihm auf.
»Nein! So tut ihr mir weh. Laßt mich allein aufstehen.«
»Was ist?« fragte Zedd.
»Der Gar hat mich in die linke Seite getreten. Es tut weh.«
»Laß mich mal sehen.« Der alte Mann bückte sich und betastete vorsichtig Richards Rippen. Richard zuckte vor Schmerzen zusammen. »Nun, ich sehe keine hervorstehenden Knochen, so schlimm kann es nicht sein.«
Richard versuchte, nicht zu lachen, denn er ahnte den Schmerz. Er hatte recht. »Zedd, das war kein Trick. Diesmal war es Zauberei.«
»Diesmal war es Zauberei«, bestätigte der Zauberer. »Aber möglicherweise hat Darken Rahl es auch gesehen, wenn er hingeschaut hat. Wir müssen fort von hier. Lieg still und laß mich sehen, ob ich helfen kann.«
Kahlan kniete an seiner anderen Seite und hielt ihre Hand über seine, über jene Hand, die das Schwert, die Zauberkraft hielt. Als sie seine Hand berührte, spürte er eine Woge von Kraft aus dem Schwert, die ihn auffahren ließ und ihm fast den Atem raubte. Irgendwie hatte er das Gefühl, die Magie wolle ihn warnen und versuche, ihn zu beschützen.
Kahlan lächelte ihn an. Sie hatte nichts bemerkt.
Zedd legte eine Hand auf Richards Rippen und einen Finger unter sein Kinn, während er mit leiser, ruhiger Stimme auf ihn einsprach. Richard überließ Kahlan das Schwert und hörte Zedd zu. Sein alter Freund erklärte ihm, drei seiner Rippen seien verletzt, und er wolle sie in Zauberkraft hüllen, um sie zu stärken und zu schützen, bis sie verheilt wären. Er fuhr in seiner ganz eigenen Art fort und erzählte Richard, wie die Schmerzen gelindert werden, ohne jedoch ganz zu verschwinden, bis die Rippen wieder in Ordnung sein würden. Er sagte noch mehr, doch die Worte schienen irgendwie keine Rolle zu spielen. Als Zedd schließlich fertig war, fühlte sich Richard, als erwache er aus tiefem Schlaf.
Er setzte sich auf. Der Schmerz hatte stark nachgelassen. Er dankte dem Alten und stand auf. Er steckte das Schwert ein, hob den Kater hoch und bedankte sich noch einmal. Dann gab er Kahlan den Kater, damit sie ihn hielt, während er nach seinem Rucksack suchte. Er fand ihn am Wegesrand, wo er während des Kampfes gelandet war. Die Striemen auf seinem Rücken waren schmerzhaft; aber darum wollte er sich kümmern, wenn sie am Ziel ihres Weges waren. Als die beiden anderen wegsahen, nahm er den Zahn von seinem Hals und steckte ihn in die Tasche.
Richard fragte die beiden anderen, ob sie verletzt seien. Zedd schien die Frage zu beleidigen. Er versicherte, er sei nicht so gebrechlich, wie er aussehe. Kahlan meinte, es ginge ihr gut, und das hätte sie ihm zu verdanken. Richard meinte, nie mit ihr um die Wette Steine schmeißen zu wollen. Sie strahlte ihn an und packte den Kater in seinen Rucksack. Er sah, wie sie den Umhang aufhob und sich um die Schultern legte, und mußte daran denken, wie die Zauberkraft des Schwertes reagiert hatte, als sie seine Hand berührte.
»Wir brechen besser auf«, erinnerte Zedd sie.
Nach ungefähr einer Meile kreuzten sich verschiedene kleinere Pfade. Richard führte sie den gesuchten Weg hinab. Der Zauberer verstreute noch etwas von seinem Zauberstaub und verwischte so ihre Spur. Ihr Pfad war jetzt schmaler. Richard ging voraus, Kahlan in der Mitte, und Zedd bildete den Schluß. Alle drei hielten beim Gehen ein waches Auge auf den Himmel. Obwohl es unbequem war, lief Richard mit der Hand am Schwertgriff.
Schatten huschten im Mondlicht über die schwere Eichentür und ihre Angeln aus Bandeisen, sobald der Wind die Äste dicht an das Haus neigte. Kahlan und Zedd wollten nicht über den spitzenbewehrten Zaun klettern, daher hatte Richard sie auf der anderen Seite warten lassen. Er hatte gerade die Hand gehoben, um an die Tür zu klopfen, als eine große Faust seine Haare packte, und ein Messer gegen seine Kehle gedrückt wurde. Er erstarrte.
»Chase?« flüsterte er hoffnungsvoll.
Die Hand ließ sein Haar los. »Richard! Was schleichst du denn mitten in der Nacht herum? Du solltest nicht so dumm sein, dich an mein Haus heranzuschleichen.«
»Ich habe mich nicht angeschlichen. Ich wollte nur nicht das ganze Haus aufwecken.«
»Du bist ja voller Blut. Wieviel davon ist deins?«
»Das meiste, wie ich leider gestehen muß. Chase, geh und schließ dein Tor auf. Draußen warten Kahlan und Zedd. Wir brauchen dich.«
Chase trat mit seinen nackten Füßen in irgend etwas hinein, schloß fluchend das Tor auf und führte alle ins Haus.
Emma Brandstone, Chases Frau, war eine nette, freundliche Frau, die immer ein Lächeln in ihrem strahlenden Gesicht hatte. Emma wäre lieber gestorben, als zu glauben, sie hätte jemandem angst gemacht, während für Chase ohne letzteres ein Tag nicht gut gelaufen war. In einer Hinsicht war Emma jedoch genau wie Chase. Nichts schien sie je zu überraschen oder durcheinanderzubringen. Ihre Gelassenheit zu dieser späten Stunde war typisch. Sie stand da in ihrem langen, weißen Kleid, ihr strähnig graues Haar zurückgebunden, und setzte Tee auf, während die anderen am Tisch Platz nahmen. Sie lächelte, als wäre es normal, mitten in der Nacht blutverschmierte Gäste zu empfangen. Bei Chase war es das gelegentlich sogar.
Richard hängte seinen Rucksack über seine Stuhllehne, nahm den Kater heraus und reichte ihn Kahlan. Sie setzte ihn auf ihren Schoß. Er begann sofort zu schnurren, als sie ihm den Rücken kraulte. Zedd setzte sich auf die andere Seite. Chase zog ein Hemd über seinen kräftigen Körper und zündete mehrere Lampen an, die an schweren Eichenbalken hingen. Chase hatte die Bäume selbst gefällt, die Balken herausgeschlagen und sie selber eingesetzt. In den einen waren die Namen der Kinder eingeschnitzt. Hinter seinem Stuhl befand sich eine Feuerstelle aus Steinen, die er im Laufe der Jahre auf seinen Reisen gesammelt hatte. Jeder war einzigartig in Form, Farbe und Beschaffenheit. Jedem, der zuhörte, erzählte Chase, woher die einzelnen Steine stammten und welchen Schwierigkeiten er beim Sammeln begegnet war. Eine einfache Holzschale mit Äpfeln stand mitten auf dem groben Fichtentisch.
Emma nahm die Schale mit Äpfeln vom Tisch und stellte statt dessen eine Kanne mit Tee und einen Topf mit Honig darauf, dann verteilte sie Becher. Sie sagte Richard, er solle sein Hemd ausziehen und seinen Stuhl herumdrehen, damit sie seine Wunden säubern konnte, eine Aufgabe, die ihr nicht unvertraut war. Mit einer harten Bürste und heißem Seifenwasser schrubbte sie seinen Rücken, als reinige sie einen verkrusteten Kessel.
Richard biß die Zähne zusammen, während sie ihn bearbeitete. Sie entschuldigte sich bei ihm für die Schmerzen, die sie ihm bereitete, meinte aber, sie müsse sämtlichen Schmutz entfernen, sonst wäre es hinterher noch schlimmer. Als sie fertig war, tupfte sie ihm den Rücken mit einem Handtuch trocken und trug eine kühlende Salbe auf, während Chase ihm ein sauberes Hemd besorgte. Richard war glücklich, das Hemd überstreifen zu können, bot es doch wenigstens symbolischen Schutz vor ihrer weiteren Pflege.
Emma lächelte die drei Gäste an. »Mochte jemand etwas zu essen?«
Zedd hob seine Hand. »Nun, ich hätte nichts dagegen…« Richard und Kahlan warfen ihm einen vernichtenden Blick zu. Er sank auf seinen Stuhl zurück. »Nein, danke. Für uns nichts.«
Emma stand hinter Chase und fuhr ihm zärtlich mit den Fingern durch die Haare. Der durchlitt dabei unverhohlene Qualen, konnte die öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen kaum ertragen. Schließlich beugte er sich vor und benutzte den Vorwand, Tee einzuschenken, um den Zärtlichkeiten ein Ende zu machen.
Chase legte die Stirn in Falten und schob den Honig über den Tisch. »Richard, solange ich dich kenne, hattest du ein Talent, Arger aus dem Weg zu gehen. In der letzten Zeit jedoch scheinst du ein wenig den Halt zu verlieren.«
Richard wollte gerade antworten, als Lee, eine der Töchter, in der Tür erschien und sich mit den Fäusten den Schlaf aus den Augen rieb. Chase warf ihr einen zornigen Blick zu. Als Antwort zog sie einen Schmollmund.
Chase seufzte. »Du bist bestimmt das häßlichste Kind, das ich je gesehen habe.«
Ihr Schmollmund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Lee rannte zu ihm, schlang ihm die Arme ums Bein, legte ihm den Kopf aufs Knie und drückte ihn fest. Er strich ihr durchs Haar.
»Zurück ins Bett, Kleines.«
»Warte«, warf Zedd ein. »Lee, komm her.« Sie lief um den Tisch. »Mein alter Kater hat sich beschwert, daß er keine Kinder als Spielkameraden hat.« Lee riskierte einen Blick auf Kahlans Schoß. »Kennst du vielleicht irgendwelche Kinder, die er besuchen könnte?«
Das Mädchen bekam große Augen. »Er kann doch hierbleiben, Zedd! Bei uns hätte er Spaß!«
»Wirklich? Nun, dann soll er hierbleiben und euch besuchen.«
»Also gut, Lee«, meinte Emma, »und jetzt ab ins Bett mit dir.«
Richard sah auf. »Könntest du mir einen Gefallen tun, Emma? Hast du irgendwelche Kleidung, die du Kahlan borgen könntest?«
Emma betrachtete Kahlan und nahm Maß. »Nun, ihre Schultern sind zu breit für meine Kleider, und ihre Beine zu lang, aber die älteren Mädchen haben Sachen, die, glaube ich, ganz gut passen werden.« Sie lächelte Kahlan freundlich zu und reichte ihr eine Hand. »Komm, meine Liebe, sehen wir, was sich finden läßt.«
Kahlan reichte Lee den Kater und nahm sie bei der Hand. »Hoffentlich macht der Kater keinen Ärger. Er besteht darauf, mit dir in einem Bett zu schlafen.«
»Ach was«, meinte Lee voller Ernst, »das ist schon in Ordnung.«
Die beiden verließen das Zimmer. Emma schloß augenzwinkernd die Tür.
Chase nippte an seinem Tee. »Nun?«
»Nun, du weißt, daß mein Bruder von einer Verschwörung gesprochen hat? Es ist schlimmer als er vermutet.«
»Tatsächlich?« meinte Chase nichtssagend.
Richard zog das Schwert der Wahrheit aus seiner Scheide und legte es zwischen sie auf den Tisch. Die polierte Klinge funkelte. Chase beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und nahm das Schwert in die nach oben offene Hand. Er ließ es in seine Handflächen rollen, betrachtete es von nahem, strich mit dem Finger über das Wort WAHRHEIT auf dem Heft und entlang der Vertiefung zu beiden Seiten der Klinge, probierte ihre Schärfe. Außer einer gewissen Neugier ließ er sich nichts anmerken.
»Nicht ungewöhnlich für ein Schwert, einen Namen zu tragen. Normalerweise wird der Name jedoch in die Klinge graviert. Auf dem Heft habe ich den Namen noch nie gesehen.« Chase wartete auf Antwort.
»Du hast das Schwert schon einmal gesehen, Chase«, erinnerte ihn Richard. »Du weißt, um was es sich handelt.«
»Stimmt. Aber nicht von so nah.« Er hob den Kopf. Seine Augen waren dunkel und stechend. »Das Entscheidende ist, was tust du damit, Richard?«
Richard erwiderte den Blick mit gleicher Eindringlichkeit. »Ein großer und nobler Zauberer hat es mir gegeben.«
Chase runzelte die Stirn und fragte Zedd sachlich: »Welche Rolle spielst du dabei, Zedd?«
Zedd beugte sich vor, die dünnen Lippen zu einem kleinen Lächeln verzogen. »Ich war es, der es ihm gegeben hat.«
Chase lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, schüttelte langsam den Kopf. »Gelobt seien die Seelen«, flüsterte er. »Ein echter Sucher. Endlich.«
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Richard. »Ich muß einige Dinge über die Grenze wissen.«
Chase stieß einen tiefen Seufzer aus, stand auf und ging zum Kamin. Er stützte seinen Arm auf den Sims und starrte in die Flammen. Die beiden anderen warteten, während der kräftige Mann auf der Suche nach den richtigen Worten am derben Holz des Simses bohrte.
»Richard, ist dir klar, worin meine Aufgabe besteht?«
Richard zuckte mit den Achseln. »Die Leute zu ihrem eigenen Besten von der Grenze fern zu halten.«
Chase schüttelte den Kopf. »Weißt du, wie man Wölfe los wird?«
»Man zieht los und jagt sie, nehme ich an.«
Wiederum schüttelte der Grenzposten seinen Kopf. »Damit erwischt man vielleicht ein paar, aber es würden immer weitere geboren, und am Ende wären es genauso viele wie zuvor. Wenn du Wölfe wirklich loswerden willst, mußt du Jagd auf ihre Nahrung machen. Du fängst Kaninchen, sozusagen. Das ist einfacher. Gibt es weniger Nahrung, werden weniger Jungtiere geboren. Am Ende hast du weniger Wölfe. Genau das tue ich. Ich mache Jagd auf Kaninchen.«
Richard spürte, wie ihn eine Woge der Angst durchflutete.
»Die meisten Leute verstehen weder die Grenze noch unsere Aufgabe. Sie glauben, wir sind irgendeine dämliche Truppe, die für die Einhaltung bestimmter Gesetze sorgen soll. Viele fürchten sich vor der Grenze, meist ältere Menschen. Wieder andere glauben zu wissen, was für sie am besten ist und gehen dorthin, um zu wildern. Sie haben keine Angst vor der Grenze, also machen wir ihnen wenigstens angst vor den Posten. Das ist für sie etwas Wirkliches. Wir sorgen dafür, daß es so bleibt. Es gefällt ihnen nicht, aber aus Angst vor uns bleiben sie fort. Ein paar betrachten es als Spiel. Sie wollen herausfinden, ob sie damit durchkommen. Wir fangen wohl kaum alle. Genaugenommen ist es uns egal. Aber uns ist nicht egal, ob wir genügend fangen, damit die Wölfe an der Grenze nicht ausreichend Kaninchen haben, um immer stärker zu werden.
Wir schützen die Leute, aber nicht indem wir sie daran hindern, ins Grenzgebiet zu gehen. Wer so dumm ist, dem können wir auch nicht mehr helfen. Unsere Aufgabe ist es, die Mehrheit von der Grenze fernzuhalten, und dafür zu sorgen, daß sie selbst undurchlässig bleibt, damit die Wesen innerhalb des Gebietes nicht herauskommen und sich über alle anderen hermachen. Sämtliche Posten haben Wesen gesehen, die sich hatten befreien können. Wir verstehen das, andere nicht. In der letzten Zeit konnten sich immer mehr Wesen befreien. Die Regierung deines Bruders bezahlt uns vielleicht, aber begreifen tut sie fast nichts. Unsere Loyalität gilt weder ihr noch irgendwelchen Gesetzen. Unsere einzige Pflicht ist es, die Menschen vor den Wesen aus der Finsternis zu schützen. Wir betrachten uns als unabhängig. Befehle nehmen wir nur entgegen, wenn sie uns nicht an unserer Arbeit hindern. Dadurch bleibt alles im freundlichen Rahmen. Doch wenn die Zeit kommt, werden wir nur noch unsere eigenen Ziele verfolgen und unseren eigenen Befehlen gehorchen.«
Er setzte sich wieder an den Tisch und stützte die Ellenbogen auf. »Letzten Endes gibt es nur einen, dessen Befehlen wir gehorchen werden, weil unsere Sache ein Teil seiner größeren Sache ist. Und dieser eine ist der echte Sucher.« Er ergriff das Schwert mit seinen großen Händen, blickte Richard in die Augen und hielt es ihm hin. »Mein Leben und meine Loyalität gehören dem Sucher.«
Richard lehnte sich bewegt zurück. »Ich danke dir, Chase.« Er sah kurz zum Zauberer hinüber, dann wieder zum Grenzposten. »Wir werden dir jetzt erzählen, was bisher geschehen ist, und dann sage ich dir, was ich tun möchte.«
Richard und Zedd teilten sich die Erzählung. Chase sollte alles erfahren. Er sollte begreifen, daß halbherzige Bemühungen keinen Sinn hatten, daß es um Sieg ging oder Tod, und zwar auf Darken Rahls und nicht ihr Betreiben hin. Während sie erzählten, blickte Chase vom einen zum anderen. Er begriff, wie ernst es ihnen war. Als von der Magie der Ordnung die Rede war, wirkte er verbittert. Sie brauchten ihn nicht zu überzeugen; er hatte bereits mehr gesehen, als sie vielleicht je erfahren würden. Er stellte einige Fragen und hörte aufmerksam zu.
Die Geschichte, wie Zedd mit dem Pöbel umgesprungen war, gefiel ihm dagegen. Sein donnerndes Lachen füllte den Raum und ihm kamen die Tränen.
Die Tür ging auf, und Kahlan und Emma traten ins Licht. Kahlan war in feine Waldkleider gehüllt, in dunkelgrüne Hosen mit weitem Gürtel, ein hellbraunes Hemd, einen dunklen Umhang. Dazu trug sie einen guten Rucksack. Stiefel und Hüfttasche waren ihre eigenen. Sie schien wie geschaffen für ein Leben im Wald. Dennoch, ihr Haar, ihr Gesicht, ihr Körper und mehr noch ihre Haltung verrieten, wieviel mehr als das sie war.
Richard stellte sie Chase vor. »Meine Führerin.«
Chase zog die Augenbrauen hoch.
Emma erblickte das Schwert. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte Richard, daß sie verstand. Sie stellte sich wieder hinter ihren Gatten, berührte jedoch nicht sein Haar, sondern legte ihm schlicht eine Hand auf die Schulter. Sie wollte in seiner Nähe sein. Dieser nächtliche Besuch bedeutete Ärger. Richard schob das Schwert in die Scheide, und Kahlan setzte sich zu ihm, während er die Erzählung über die Ereignisse der Nacht beendete. Als er fertig war, saßen sie alle einige Minuten schweigend da.
»Wie kann ich dir helfen, Richard?« fragte Chase schließlich.
Richard sprach leise, aber bestimmt. »Verrate mir, wo der Paß ist.«
Chase hob scharf den Blick. »Welcher Paß?«
»Der Paß über die Grenze. Ich weiß, es gibt ihn, nur nicht genau wo, und zum Suchen habe ich keine Zeit.« Richard konnte auf diese Spielereien verzichten und spürte, wie sein Zorn wuchs.
»Wer hat dir das erzählt?«
»Beantworte die Frage, Chase!«
Sein Gegenüber lächelte verhalten. »Unter einer Bedingung: Ihr nehmt mich als Führer.«
Richard mußte an die Kinder denken. Chase war Gefahr gewöhnt, aber dies war etwas anderes. »Das ist nicht nötig.«
Chase warf Richard einen abschätzenden Blick zu. »Für mich schon. Der Ort ist gefährlich. Ihr drei wißt nicht, worauf ihr euch einlaßt. Ich werde euch nicht allein dorthin lassen. Und die Grenze fällt in meine Verantwortung. Wenn du es wissen willst, mußt du mich mitnehmen.«
Alles wartete, während Richard einen Augenblick überlegte. Chase bluffte nicht, und Zeit war kostbar. Richard blieb keine andere Wahl. »Chase, es wäre uns eine Ehre, dich bei uns zu haben.«
»Gut.« Er schlug mit der Hand auf den Tisch. »Der Paß wird Königspforte genannt. Er befindet sich in einer üblen Gegend mit dem Namen Southhaven. Zu Pferd vier, vielleicht fünf Tage, wenn wir den Händlerpfad nehmen. Du hast es eilig, also wirst du ihn nehmen wollen. In wenigen Stunden wird es hell. Ihr drei schlaft jetzt etwas. Emma und ich werden Vorräte zusammenpacken.«