OSIRIS

Ich war eben mit dem Frühstück fertig, als es an der Tür klingelte - zeitgleich mit dem Piepton meiner Armbanduhr, es war gerade zehn. Ich erwartete keinen Besuch.

Auf der Schwelle stand Heras Chauffeur in seinem Tarnanzug. Er sah sogar noch beleidigter aus als beim vorigen Mal und roch heftig nach Pfefferminzpastillen.

»Ein Brief für Sie«, sagte er und hielt mir ein gelbes Kuvert ohne Marke und Adresse hin. In so einem hatte mir Hera einst ihr Photo geschickt. Sofort, vor den Augen des Chauffeurs, riss ich es auf. Ein von Hand beschriebener Briefbogen steckte darin.

Grüß dich, Rama.


der Verlauf unseres Treffens ist mir schrecklich unangenehm. Erst wollte ich dich anrufen und fragen, ob alles wieder gut ist, doch dann dachte ich, du könntest es in die falsche Kehle kriegen, womöglich als Hohn auffassen. Darum habe ich beschlossen, dir ein Geschenk zu machen. Mir schien, du hättest auch gerne so ein Auto, wie ich es habe. Ich habe mit Enlil Maratowitsch gesprochen. Er gab mir ein neues, und das hier ist jetzt deines, mitsamt dem Fahrer. Er heißt Iwan und ist auch als Leibwächter zu gebrauchen. Also kannst du ihn zu unserem nächsten Rendezvous mitbringen ... Zufrieden? Jetzt bist du ein Big Mäc mit eigenem Bimmer. Ich hoffe, das hebt die Stimmung ein wenig. Ruf an.


Schmatz, Hera


PS Ich hab Osiris Adresse rausbekommen - über Mitra. Iwan weiß, wo es ist. Wenn du hinfahren willst, musst du es ihm bloß sagen.


PSS Bablos: demnächst! Ich weiß es aus sicherer Quelle.

Ich blickte zu Iwan.

»Was hat Hera jetzt für ein Auto?«

»Einen Bentley«, erwiderte Iwan und hüllte mich in eine Mentholwolke. »Was befehlen Sie?«

»Ich bin in einer Viertelstunde unten«, sagte ich. »Warten Sie bitte im Auto auf mich.«

Osiris wohnte in einem großen Haus aus vorrevolutionärer Zeit nahe der Metrostation Majakowskaja. Der Fahrstuhl funktionierte nicht, ich musste zu Fuß in den fünften Stock steigen. Im Treppenhaus herrschte Finsternis, da die Fenster mit Sauerkrautplatten vernagelt waren.

Eine Wohnungstür wie die von Osiris hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Ein fernes Grüßgott aus der Sowjetära -falls kein Designer-Retro-Fake, versteht sich. Zehn Klingelknöpfe mindestens zierten die Wand, allesamt alt, mehrfach überpinselt; auf den Klingelschildern die hässlichen Namen des siegreichen Proletariats: Nosoglasych, Kuprijanow, Sedych, Salomastow. Nosoglasych stand in verschmierten Kopierstiftbuchstaben angeschrieben; vielleicht deswegen drückte ich den darüber befindlichen Knopf. Hinter der Tür gellte eine Klingel. Ich wartete ein, zwei Minuten, dann klingelte ich bei Kuprijanow. Dieselbe Klingel sprang an. Ich drückte der Reihe nach sämtliche Knöpfe - alle hingen sie an derselben widerwärtig gellenden Blechglocke, deren Ruf niemanden zu interessieren schien. Schließlich hämmerte ich mit der Faust an die Tür.

»Ich komme«, ertönte eine Stimme drinnen auf dem Flur. Dann ging die Tür auf.

Vor mir stand ein hagerer, blasser Mann mit Hängeschnauzbart. Schwarze Lederweste über einem schmuddeligen, aus der Hose hängenden Hemd. Etwas Transsilvanisches ging von ihm aus, obgleich er mir für einen Vampir reichlich welk vorkam. Aber Osiris war Tolstoianer, fiel mir ein. Vielleicht war dieses Äußere ein Effekt der selbstverordneten schlichten Lebensart.

»Guten Tag, Osiris«, sprach ich. »Ich komme von Ischtar Borissowna.«

Der Schnauzbart gähnte sich matt in die hohle Hand.

»Ich bin nicht Osiris. Ich bin sein Gehilfe. Kommen Sie.«

An seinem Hals gewahrte ich ein quadratisches kleines Pflaster mit braunem Fleck in der Mitte und wusste Bescheid.

Osiris’ Wohnung sah aus, wie eine große, verwahrloste Kommunalka mit vielen aus der Not geborenen Flickschustereien aussieht: Schweißspuren am Heizkörper, Spachtelstreifen an der Decke, ein Strang neuer Kabel neben den alten verlegt. Scheuerleistenmarxismus.

Ein Zimmer, das größte, dessen Tür offen stand, sah fertig saniert aus: geweißte Wände, neues Parkett. An die Tür war mit rotem Marker geschrieben:

MUSTOPF MOSKAU STADT DER FLIEGEN

Dort befand sich allem Anschein nach das geistige und ökonomische Zentrum der Wohnung: Zigarettenmief und resolute Männerstimmen drangen heraus, während der Rest der Wohnung in Altersstarre lag. Drinnen wurde, wenn ich nicht irrte, Moldawisch gesprochen.

Ich trat in die Tür. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Esstisch, an dem vier Männer mit Spielkarten in Händen saßen. Am Fußboden Kartonstapel, Taschen, Schlafsäcke. Sämtliche Kartenspieler hatten die gleichen Pflasterchen am

Hals wie der Moldawier, der mir geöffnet hatte. Alle vier trugen gleiche graue T-Shirts mit den weißen Buchstaben WTO auf der Brust.

Die Unterhaltung verstummte, die Kartenspieler starrten mich an. Ich hielt den Blicken wortlos stand. Schließlich ergriff der Größte von ihnen, ein bulliger Typ, das Wort.

»Überstunden? Dreifacher Tarif, oder du verpisst dich lieber gleich!«

»Ich verpiss mich lieber gleich«, erwiderte ich höflich.

Der Schnauzbart hinter mir sagte etwas auf Moldawisch, und die Kartenspieler verloren jegliches Interesse an mir. Dezent fasste er mich beim Arm.

»Hier sind wir falsch. Es ist weiter hinten. Da entlang, kommen Sie.«

Ich lief ihm nach durch einen langen Gang.

»Was waren das für Leute in dem Zimmer?«

»Gastarbeiter. So muss man es wohl nennen. Ich bin auch Gastarbeiter.«

Ganz am Ende des Gangs machten wir halt. Der Moldawier klopfte an eine Tür.

»Was ist?«, hörte man eine leise Stimme.

»Besuch für Sie.«

»Wer?«

»Von Ihren Leuten, denk ich«, sagte der Moldawier. »Ganz in Schwarz.«

»Wie viele?«

»Ein Einzelner, denk ich«, antwortete der Moldawier, nach mir äugend.

»Soll reinkommen. Und sag den Männern, sie sollen mit Rauchen aufhören. In einer Stunde wird gegessen.«

»Alles klar, Chef.«

Der Moldawier deutete mit dem Kopf auf die Tür und verzog sich. Sicherheitshalber klopfte ich noch einmal.

»Es ist offen«, sagte die Stimme.

Ich drückte die Klinke.

Drinnen war es schummrig - die Vorhänge waren vor die Fenster gezogen. Doch ich kannte inzwischen die so unmerklichen wie untrüglichen Zeichen, an denen man die Wohnstatt eines Vampirs erkennt.

Das Zimmer erinnerte an Brahmas Kabinett: auch hier ein Archivschrank über die ganze Wand, nur schlichter und weniger gediegen. In der Wand gegenüber war eine tiefe Nische, die das Bett aufnahm. (Ein Alkoven, fiel mir das Wort dafür ein - auch wenn ich nie zuvor einen gesehen hatte.) Vor dem Alkoven stand ein Möbel, dem Ähnlichkeit mit einem Couchtisch aufgezwungen worden war: ein altes Mahagonistück, dessen Beine man um die Hälfte gekürzt hatte. Darauf ein Haufen Kram: Stoffreste, Lineale, Metallgerümpel, unvollständige Plüschtiere, Bücher, klobige Handys aus Zeiten der ursprünglichen Akkumulation, Netzteile, Tassen und etliches mehr. Das interessanteste Objekt war eine Kerosinlampe; es hätte die Hervorbringung eines ingenieurtechnisch begabten Geisteskranken sein können. Die Lampe hatte zwei runde Spiegel, die so montiert waren, dass sie sich das Licht der Flamme gegenseitig zuwarfen.

Neben dem Tisch stand ein gelber Ledersessel.

Ich näherte mich dem Alkoven. Er enthielt ein Bett, über das eine Steppdecke gebreitet war. Darüber hing ein schwarzes Ebonittelefon aus Stalinzeiten an der Wand, umgeben von einem Nimbus aus Bleistiftnotizen. Daneben ein Klingelkopf - wie die an der Wohnungstür.

Osiris lagerte entspannt auf der Seite, ein Bein auf das Knie des anderen gestellt, so als wollte er sich für die Lotusposition warm machen. Er trug einen alten Baumwollkittel und eine Brille mit großen Gläsern. Schädel und Gesicht erinnerten in ihrem Bewuchs an einen kahlen Kaktus. (Den

Effekt erzielt man, indem man sich Kopf und Bart gleichzeitig rasiert und dann eine Woche lang die Stoppeln wachsen lässt.) Osiris’ Haut war welk und fahl - was daran liegen mochte, dass er einen Großteil seiner Zeit im Finstern verbrachte. Sekundenlang ruhte sein gleichmütiger Blick auf mir, bevor er mir die Hand entgegenstreckte, die kühl, weich und weiß war. Um sie zu drücken, musste ich mich weit nach vorn beugen und auf dem überladenen Tisch abstützen.

»Rama«, stellte ich mich vor. »Rama II.«

»Ich habe schon von dir gehört. Du bist jetzt an Brahmas Stelle?«

»So könnte man es auch sagen«, antwortete ich. »Obwohl ich mich eigentlich nicht als Stellvertreter fühle.«

»Setz dich«, sagte Osiris und deutete auf den Sessel.

Bevor ich das tat, spähte ich misstrauisch auf das staubige Parkett unter dem Sessel, rückte ihn gar ein Stück zur Seite. Osiris lachte, sagte aber nichts.

Als ich schließlich saß, war Osiris’ Kopf hinter der Nischenecke verschwunden; nur noch seine Füße waren zu sehen. Ich vermutete, dass der Sessel nicht zufällig in diesem Winkel zu ihm stand.

»Ich komme von Ischtar Borissowna«, begann ich.

»Wie geht’s dem alten Weiblein?«, fragte Osiris wohlwollend.

»Alles so weit in Ordnung, denke ich. Trinkt nur ein bisschen viel.«

»Tja. Was soll sie jetzt anderes machen ...«

»Inwiefern?«

»Lass mal. Das betrifft dich nicht. Darf ich den Zweck deiner Visite erfahren?«

»Ischtar Borissowna ist bei meinem Antrittsbesuch aufgefallen, dass ich mich viel mit abstrakten Fragen befasse«, erklärte ich. »Wie die Welt entstanden ist, zum Beispiel.

Oder die Frage nach Gott. So etwas. Ich habe zu der Zeit tatsächlich viel über diese Themen nachgedacht. Jedenfalls wollte Ischtar Borissowna, dass ich Sie aufsuche. Sie seien ein Hüter der sakralen Überlieferung und im Besitz der Antworten ...«

»Natürlich«, bestätigte Osiris. »Zwangsläufig.«

»Vielleicht könnten Sie mir etwas zum Lesen mitgeben? So ein paar sakrale Grundlagentexte des Vampirtums, meine ich?«

Osiris schaute belustigt aus seinem Alkoven hervor. (Dazu musste er sich weit nach vorn beugen, und sein Gesicht tauchte direkt vor mir auf.)

»Zum Lesen?«, wiederholte er. »Schön wärs ... Vampire haben keine sakralen Texte. Die Überlieferung existiert ausschließlich in mündlicher Form.«

»Dann dürfte ich vielleicht etwas davon hören?«

»Stell deine Fragen.«

Ich dachte nach. Bislang war mir so gewesen, als wären viele gravierende Fragen offen. Aber jetzt wollte mir keine davon einfallen. Das heißt, die, die mir einfielen, kamen mir dumm und kindisch vor.

»Wer ist Ischtar?«, wagte ich schließlich eine zu stellen.

»Die Vampire sehen in ihr eine große Göttin, die vor Urzeiten auf diesen Planeten verbannt wurde. Ischtar ist nur einer ihrer Namen. Ein anderer ist: Die Große Maus.«

»Verbannt wofür?«

»Ischtar hat eine Untat begangen, deren Bewandtnis uns auf ewig verschlossen bleibt.«

»Ischtar Borissowna? Eine Untat?«, wunderte ich mich. »Bei meiner Unterhaltung mit ihr hatte ich nicht den Eindruck, dass ...«

»Du hast dich nicht mit der Großen Maus unterhalten«, unterbrach mich Osiris, »sondern mit einem ihrer Köpfe.«

»Ergibt das einen Unterschied ?«

»Selbstverständlich. Ischtar hat zwei Gehirne, eines im Rücken und eines im Kopf. Ihre übergeordnete Persönlichkeit hängt am Rückenmark, das keine Sprache hat, von daher ist die Kommunikation mit ihr erschwert. Das heißt, ein Vampir kommuniziert mit ihr, wenn er Bablos zu sich nimmt. Aber das ist eine sehr spezielle Art Kommunikation ...«

»O.k.«, sagte ich, »wenn das so ist... Aber warum wurde ausgerechnet unser Planet als Verbannungsort ausgesucht?«

»Er wurde nicht ausgesucht. Er wurde überhaupt erst geschaffen, weil man ein Gefängnis brauchte.«

»Wie hat man sich das vorzustellen? Man schuf die Erde und irgendwo darauf ein Gefängnis, in das man die Große Göttin sperrte?«

»Das Gefängnis hat keine Adresse, wenn du das meinst.«

»Logisch betrachtet, wäre die Adresse dort, wo sich Ischtars Körper befindet«, bemerkte ich spitzfindig.

»Du hast es noch nicht verstanden«, antwortete Osiris. »Ischtars Leib ist auch nur Teil des Gefängnisses. Das Gefängnis ist an keinem bestimmten Ort, es ist überall. Fängst du an, die Wände deines Kerkers mit der Lupe abzusuchen, gelangst du in einen neuen Kerker. Du kannst ein Staubkorn vom Boden auflesen, unter das Mikroskop legen, schon siehst du die nächste Zelle. Und das geht immer so weiter - so unendlich, dass einem übel werden kann. Es funktioniert nach dem Kaleidoskop-Prinzip. Selbst die Illusionen sind hierbei so beschaffen, dass sich ein jedes ihrer Elemente in eine unbegrenzte Zahl neuer Illusionen aufsplittert. Der Traum, den du träumst, verwandelt sich sekündlich in etwas anderes.«

»Die ganze Welt ist also ein Gefängnis?«

»Ja. Und man kann sagen, was man will: Es ist tadellos gebaut, picobello bis ins kleinste Detail. Nehmen wir zum Beispiel die Sterne. Die Menschen im Altertum glaubten, es wären Zierkörper an den Himmelsschalen. Was ja eigentlich nicht falsch ist. Ihre hauptsächliche Funktion ist es, Goldpünktchen am Himmel zu sein. Gut, man könnte sich eine Rakete nehmen und zu irgendeinem dieser Sterne hinfliegen, und viele Millionen Jahre später sähe man sich einem riesigen Feuerball gegenüber. Man könnte sich auf einen seiner Planeten hinunterhangeln, könnte ein Stück Mineral von seiner Oberfläche klauben, dessen chemische Zusammensetzung bestimmen. Alles immer neue Zierkörper. Doch solche Reisen haben keinen Sinn. Es sind Rundgänge durch die Kasematten, Exkursionen, aus denen niemals eine Flucht werden kann.«

»Sekunde«, sagte ich. »Nehmen wir also an, unser Planet wäre erschaffen worden, um als Gefängnis zu dienen, und die Sterne wären Goldpunkte am Himmel. Aber das Weltall mitsamt den Sternen bestand doch lange vor Entstehung unseres Planeten. Etwa nicht?«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie raffiniert dieses Gefängnis entworfen ist. Spuren der Vergangenheit, wo man hinschaut! Und dabei ist alles nur Kerkerarchitektur. Design.«

»Wie das?«

»Ganz einfach. Zugleich mit der Welt wurde ein Vergangenheitspanorama von höchster Glaubwürdigkeit geschaffen. All diese unendlichen Raum- und Zeitperspektiven sind Theaterkulissen. Das haben die Physiker und Astronomen übrigens auch schon gemerkt. Wenn man einen Lichtstrahl in den Himmel entsände, so sagen sie, käme er nach vielen Jahren von der anderen Seite des Alls wieder angeflogen ... Das Weltall ist ein geschlossener Raum. Stell dir vor: Nicht einmal das Licht kann diese Welt verlassen. Es findet keine Lücke. Bedarf es noch eines Beweises, dass wir gefangen sind?«

»Das Licht kann vielleicht nicht hinaus«, sagte ich, »aber was ist mit dem Denken? Sie sagen doch selbst, dass Physiker und Astronomen in der Lage waren, die Grenzen von Raum und Zeit zu entdecken ...«

»In der Tat, sie sind darauf gekommen ... Aber was das eigentlich zu bedeuten hat, darüber ist sich kein Physiker und kein Astronom im Klaren, derlei Dinge sind für den menschlichen Verstand nicht fassbar, sie sind ein Ausfluss diverser Formeln und sonst nichts. Es ist das gleiche schwindlig machende Kaleidoskop, von dem ich bereits sprach - nur hier in Bezug auf Theorien und Bedeutungen. Ein Abprodukt von Geist B ... Trester aus der Bablosproduktion.«

Hatte Osiris Trester gesagt? Ein Fachbegriff der Winzer, Osiris hatte ihn bestimmt von seinen Moldawiern. Wenn ich nicht irrte, waren das die Rückstände beim Auspressen der Trauben.

»Aber Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, alles Wissen der Menschheit über den Aufbau des Universums wäre ... Trester?«

Osiris steckte den Kopf aus seiner Nische und guckte mich an wie einen armen Idioten.

»Ich will überhaupt nichts behaupten, es ist nur leider so. Überleg doch mal, wo das Universum so plötzlich herkam!«

»Herkam? Die Frage verstehe ich nicht.«

»Ich meine, früher hatten die Leute ihre goldbepunkteten Himmelsschalen über den Köpfen. Wie wurde ein Universum daraus? Womit fing das an?«

Ich überlegte.

»Na ja ... Die Menschen fingen an, den Himmel zu erforschen, ihn durch das Fernrohr zu betrachten ...«

»Aha! Und wozu das?«

Ich zuckte die Achseln.

»Dann will ich es dir ins Gedächtnis rufen«, sagte Osiris. »Die großen Entdeckungen auf dem Gebiet der Astronomie -

Galilei, Herschel und so weiter -, sie wurden gemacht, um zu Geld zu kommen. Galilei wollte der venezianischen Regierung sein Fernrohr verkaufen, Herschel den König George schröpfen. Auf diesem Wege kamen die Sterne und Galaxien zu uns geschwommen. Und man beachte: Bablos hält sich nicht lange, der Trester bleibt für alle Zeit. Das ist wie bei den Mammutjägern in ihrem Nomadenlager: Das Fleisch ist schnell verzehrt, die Rippen und Stoßzähne stapeln sich mit den Jahren, bis man auf die Idee kommt, Häuser daraus zu bauen. Nur aufgrund dieser Rippen und Stoßzähne leben wir heute nicht mehr auf einer runden Insel im Urmeer, wie die Kirche es einst lehrte, sondern schweben im ständig größer werdenden Raum. Der aber nach neuesten Erkenntnissen schon wieder kleiner wird.«

»Und die Mikrowelt ist auch bloß Trester?«

»Klar. Aber du solltest diesen Trester nicht gering schätzen. Ich spreche nur von der Herkunft dieser Phänomene. Ihrer Genealogie sozusagen.«

»Wir springen etwas sehr unvermittelt von einem Punkt zum anderen«, sagte ich. »Noch mal von vorne und der Reihe nach, wenn ich bitten darf. Sie hatten gesagt, die Große Maus sei auf die Erde verbannt worden. Von woher denn? Und durch wen?«

»Das ist der springende Punkt: Die Strafe für Ischtar bestand darin, dass sie vergaß, wer sie war und woher. Anfangs wusste sie nicht einmal, dass sie in Verbannung war - sie glaubte diese Welt selbst erschaffen zu haben, ohne zu wissen, wann und wie. Dann kamen ihr jedoch Zweifel - und sie erschuf erst einmal uns, die Vampire. Zunächst mit eigenem Körper, wir sahen aus wie Riesenfledermäuse, das kennst du ja schon. Später, als die Klimakatastrophe einsetzte, entwickelten wir uns zu Zungen fort, die in anderen, besser an das neue Milieu angepassten Lebewesen einwohnen.«

»Wozu hat Ischtar die Vampire denn erschaffen?«

»Die Vampire waren von Beginn an dazu ausersehen, der Großen Maus zu dienen. Als ihre Verlängerung, ihre Projektionen. Sie hätten den Sinn der Schöpfung ergründen und der Großen Maus nachträglich erklären sollen, wozu sie die Welt geschaffen hatte. Doch es gelang ihnen nicht.«

»Das kann ich verstehen«, sagte ich.

»Worauf die Vampire beschlossen, sich wenigstens einigermaßen komfortabel in dieser Welt einzurichten. Zu diesem Zweck schufen sie den Geist B, zogen den Menschen heran. Hat man dir schon erklärt, wie Geist B funktioniert?«

Ich bejahte.

»Gut«, sagte Osiris. »Dann weißt du: Das Wort schafft die Dinge und nicht umgekehrt. Wenn für etwas keine Wörter vorhanden sind, existiert es für Geist B einfach nicht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es ergab sich nämlich ein interessanter Umkehreffekt. Der Kosmos ist seinerseits zur Widerspiegelung von Geist B geworden. Und seither weiß keiner mehr das eine vom anderen zu unterscheiden, es ist dasselbe geworden. Du kannst nicht sagen: Das hier ist der Geist, und das da ist das Universum. Alles ist aus Wörtern gemacht.«

»Wie kommt man überhaupt darauf, dass Geist B ein Modell des Universums ist?«

»Zwei aufeinander gerichtete Spiegel schaffen einen unendlichen Raum. Das ist unsere Welt. Der doppelseitige Spiegel, den die Chaldäer am Gürtel tragen, soll diesen Mechanismus symbolisieren.«

Skeptisch beäugte ich die Kerosinlampe mit den zwei Spiegeln, die auf dem Tisch stand. Wie ein Modell des Universums sah das nun gerade nicht aus. Bestenfalls hätte man das Ding für den ersten russischen Laser ausgeben können, konstruiert von einem gewissen Kulibin, Naturtalent aus Samara, im Jahre 1883. Obwohl: Mit solcher PR ausgestattet, wäre es tatsächlich ein Modell des Universums, fiel mir ein. So gesehen, hatte Osiris recht.

»Wie zuvor die Große Maus stand nun der Mensch vor der Frage, wer er war und wozu in diese Welt geraten. Er begann nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Und das bemerkenswerterweise, ohne seine Grundfunktion, derentwegen er gezüchtet worden war, zu vernachlässigen. Den Sinn der Schöpfung - einen, der die Große Maus zufriedengestellt hätte - fand die Menschheit leider nicht. Doch immerhin will sie den Gottesbeweis gefunden haben. Noch so ein unvorhergesehener Effekt des Wirkens von Geist B.«

»Lässt sich dieser Gott irgendwie spüren?«

»Er ist für Verstand und Gefühl gleichermaßen unzugänglich. Zumindest in den menschlichen Dimensionen. Aber es gibt Vampire, die meinen, wir wären ihm nahe, wenn wir Bablos zu uns nehmen. Von daher auch der alte Spruch, demzufolge das Bablos uns zu Göttern macht.«

Er sah auf die Uhr.

»Aber probieren ist besser als studieren.«

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