Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.
So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.
Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.
Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.
Die ewig Unentwegten und Naiven
Ertragen freilich unsre Zweifel nicht.
Flach sei die Welt, erklären sie uns schlicht,
Und Faselei die Sage von den Tiefen.
Denn sollt es wirklich andre Dimensionen
Als die zwei guten, altvertrauten geben,
Wie könnte da ein Mensch noch sicher wohnen,
Wie könnte da ein Mensch noch sorglos leben?
Um also einen Frieden zu erreichen,
So laßt uns eine Dimension denn streichen!
Denn sind die Unentwegten wirklich ehrlich,
Und ist das Tiefensehen so gefährlich,
Dann ist die dritte Dimension entbehrlich.
Doch heimlich dürsten wir …
Anmutig, geistig, arabeskenzart
Scheint unser Leben sich wie das von Feen
In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,
Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.
Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heitern Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.
Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not,
Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,
Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,
Nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.
Gelegentlich ergreifen wir die Feder
Und schreiben Zeichen auf ein weißes Blatt,
Die sagen dies und das, es kennt sie jeder,
Es ist ein Spiel, das seine Regeln hat.
Doch wenn ein Wilder oder Mondmann käme
Und solches Blatt, solch furchig Runenfeld
Neugierig forschend vor die Augen nähme,
Ihm starrte draus ein fremdes Bild der Welt,
Ein fremder Zauberbildersaal entgegen.
Er sähe A und B als Mensch und Tier,
Als Augen, Zungen, Glieder sich bewegen,
Bedächtig dort, gehetzt von Trieben hier,
Er läse wie im Schnee den Krähentritt,
Er liefe, ruhte, litte, flöge mit
Und sähe aller Schöpfung Möglichkeiten
Durch die erstarrten schwarzen Zeichen spuken,
Durch die gestabten Ornamente gleiten,
Sah Liebe glühen, sähe Schmerzen zucken.
Er würde staunen, lachen, weinen, zittern,
Da hinter dieser Schrift gestabten Gittern
Die ganze Welt in ihrem blinden Drang
Verkleinert ihm erschiene, in die Zeichen
Verzwergt, verzaubert, die in steifem Gang
Gefangen gehn und so einander gleichen,
Daß Lebensdrang und Tod, Wollust und Leiden
Zu Brüdern werden, kaum zu unterscheiden …
Und endlich würde dieser Wilde schreien
Vor unerträglicher Angst, und Feuer schüren
Und unter Stirnaufschlag und Litaneien
Das weiße Runenblatt den Flammen weihen.
Dann würde er vielleicht einschlummernd spüren,
Wie diese Un-Welt, dieser Zaubertand,
Dies Unerträgliche zurück ins Niegewesen
Gesogen würde und ins Nirgendland,
Und würde seufzen, lächeln und genesen.
Beim Lesen in einem alten Philosophen
Was gestern noch voll Reiz und Adel war,
Jahrhundertfrucht erlesener Gedanken,
Plötzlich erblaßt's, wird welk und Sinnes bar
Wie eine Notenschrift, aus deren Ranken
Man Kreuz und Schlüssel löschte; es entwich
Aus einem Bau der magische Schwerpunkt; lallend
Wankt auseinander und zerlüdert sich,
Was Harmonie schien, ewig widerhallend.
So kann ein altes weises Angesicht,
Das liebend wir bewundert, sich zerknittern
Und todesreif sein geistig strahlend Licht
In kläglich irrem Fältchenspiel verzittern.
So kann ein Hochgefühl in unsern Sinnen
Sich, kaum gefühlt, verfratzen zu Verdruß,
Als wohne längst schon die Erkenntnis innen,
Daß alles faulen, welken, sterben muß.
Und über diesem eklen Leichentale
Reckt dennoch schmerzvoll, aber unverderblich,
Der Geist voll Sehnsucht glühende Fanale,
Bekriegt den Tod und macht sich selbst unsterblich.
Sein Spielzeug, bunte Perlen, in der Hand,
Sitzt er gebückt, es liegt um ihn das Land
Verheert von Krieg und Pest, auf den Ruinen
Wächst Efeu, und im Efeu summen Bienen.
Ein müder Friede mit gedämpftem Psalter
Durchtönt die Welt, ein stilles Greisenalter
Der Alte seine bunten Perlen zählt,
Hier eine blaue, eine weiße faßt,
Da ein große, eine kleine wählt
Und sie im Ring zum Spiel zusammenpaßt.
Er war einst groß im Spiel mit den Symbolen,
War vieler Künste, vieler Sprachen Meister,
War ein weltkundiger, ein weitgereister,
Berühmter Mann, gekannt bis zu den Polen,
Umgeben stets von Schülern und Kollegen.
Jetzt blieb er übrig, alt, verbraucht, allein,
Es wirbt kein Jünger mehr um seinen Segen,
Es lädt ihn kein Magister zum Disput;
Sie sind dahin, und auch die Tempel, Bücherein,
Schulen Kastaliens sind nicht mehr … Der Alte ruht
Im Trümmerfeld, die Perlen in der Hand,
Hieroglyphen, die einst viel besagten,
Nun sind sie nur noch bunte gläserne Scherben.
Sie rollen lautlos aus des Hochbetagten
Händen dahin, verlieren sich im Sand …
Urschweigen starrt … Es waltet Finsternis …
Da bricht ein Strahl aus zackigem Wolkenriß,
Greift Weltentiefen aus dem blinden Nichtsein,
Baut Räume auf, durchwühlt mit Licht die Nacht,
Läßt Grat und Gipfel ahnen, Hang und Schacht,
Läßt Lüfte locker blau, läßt Erde dicht sein.
Es spaltet schöpferisch zu Tat und Krieg
Der Strahl entzwei das keimend Trächtige:
Aufglänzt entzündet die erschrockne Welt.
Es wandelt sich, wohin die Lichtsaat fällt,
Es ordnet sich und tönt die Prächtige
Dem Leben Lob, dem Schöpfer Lichte Sieg.
Und weiter schwingt sich, gottwärts rückbezogen,
Und drängt durch aller Kreatur Getriebe
Dem Vater Geiste zu der große Drang.
Er wird zu Lust und Not, zu Sprache, Bild, Gesang,
Wölbt Welt um Welt zu Domes Siegesbogen,
Ist Trieb, ist Geist, ist Kampf und Glück, ist Liebe.
In einem Kloster im Gebirg zu Gast,
Trat ich, da alle beten gangen waren,
In einen Büchersaal. Im Abendsonnenglast
Still glänzten an der Wand mit wunderbaren
Inschriften tausend pergamentene Rücken.
Voll Wißbegierde griff ich und Entzücken
Ein erstes Buch zur Probe, nahm und las:
»Zur Zirkelquadratur der letzte Schritt.«
Dies Buch, so dacht ich rasch, nehm ich mir mit!
Ein andres Buch, goldlederner Quartant,
Auf dessen Rücken klein geschrieben stand:
»Wie Adam auch vom andern Baume aß« …
Vom andern Baum? Von welchem: Dem des Lebens!
So ist Adam unsterblich? Nicht vergebens,
So sah ich, war ich hier, und einen Folianten
Erblickt ich, der an Rücken, Schnitt und Kanten
In regenbogenfarbenen Tönen strahlte.
Sein Titel lautete, der handgemalte:
»Der Farben und der Töne Sinn-Entsprechung.
Nachweis, wie jeder Färb« und Farbenbrechung
Als Antwort eine Tonart zugehöre.«
O wie verheißungsvoll die Farbenchöre
Mir funkelten! Und ich begann zu ahnen,
Und jeder Griff nach einem Buch bewies es:
Dies war die Bücherei des Paradieses;
Auf alle Fragen, die mich je bedrängten,
Alle Erkenntnisdürste, die mich je versengten,
War Antwort hier und jedem Hunger Brot
Des Geistes aufbewahrt. Denn wo ich einen Band
Mit schnellem Blick befragte, jedem stand
Ein Titel angeschrieben voll Versprechen;
Es war hier vorgesorgt für jede Not,
Es waren alle Früchte hier zu brechen,
Nach welchen je ein Schüler ahnend bangte,
Nach welchen je ein Meister wagend langte.
Es war der Sinn, der innerste und reinste,
Jedweder Weisheit, Dichtung, Wissenschaft,
War jeder Fragestellung Zauberkraft
Samt Schlüssel und Vokabular, es war die feinste
Essenz des Geistes hier in unerhörten,
Geheimen Meisterbüchern aufbewahrt.
Die Schlüssel lagen hier zu jeder Art
Von Frage und Geheimnis und gehörten
Dem, dem der Zauberstunde Gunst sie bot.
So legt ich denn, mir zitterten die Hände,
Aufs Lesepult mir einen dieser Bände,
Entzifferte die magische Bilderschrift,
So, wie im Traum man oft das Niegelernte
Halb spielend unternimmt und glücklich trifft.
Und alsbald war beschwingt ich in besternte
Geisträume unterwegs, dem Tierkreis eingebaut,
In welchen alles, was an Offenbarung
Der Völker Ahnung bildlich je erschaut,
Erbe jahrtausendalter Welterfahrung,
Harmonisch sich zu immer neuen Bindungen
Begegnete und eins aufs andre rückbezog,
Alten Erkenntnissen, Sinnbildern, Findungen
Stets neue, höhere Frage jung entflog,
So daß ich lesend, in Minuten oder Stunden,
Der ganzen Menschheit Weg noch einmal ging
Und ihrer ältesten und jüngsten Kunden
Gemeinsam inneren Sinn in mir empfing.
Ich las und sah der Bilderschrift Gestalten
Sich miteinander paaren, rückentfalten,
Zu Reigen ordnen, auseinanderfließen
Und sich in neue Bildungen ergießen,
Kaleidoskop sinnbildlicher Figuren,
Die unerschöpflich neuen Sinn erfuhren.
Und wie ich so, von Schauungen geblendet,
Vom Buch aufsah zu kurzer Augenrast,
Sah ich: ich war hier nicht der einzige Gast.
Es stand im Saal, den Büchern zugewendet,
Ein alter Mann, vielleicht der Archivar,
Den sah ich ernsthaft, seines Amts beflissen,
Beschäftigt bei den Büchern, und es war
Der eifrigen Arbeit Art und Sinn zu wissen
Mir seltsam wichtig. Dieser alte Mann,
So sah ich, nahm mit zarter Greisenhand
Ein Buch heraus, las, was auf Buches Rücken
Geschrieben stand, hauchte aus blassem Munde
Den Titel an – ein Titel zum Entzücken,
Gewähr für manche köstliche Lesestunde! –
Löscht« ihn mit wischendem Finger leise fort,
Schrieb lächelnd einen neuen, einen andern,
Ganz andern Titel drauf, begann zu wandern
Und griff nach einem Buch bald da, bald dort,
Löscht« seinen Titel aus, schrieb einen andern.
Verwirrt sah ich ihm lange zu und kehrte,
Da mein Verstand sich zu begreifen wehrte,
Zurück zum Buch, drin ich erst wenig Zeilen
Gelesen hatte; doch die Bilderfolgen,
Die eben mich beseligt, fand ich nimmer,
Es löste sich und schien mir zu enteilen
Die Zeichenwelt, in der ich kaum gewandelt
Und die so reich vom Sinn der Welt gehandelt;
Sie wankte, kreiste, schien sich zu verwelken,
Und im Zerfließen ließ sie nichts zurück
Als leeren Pergamentes grauen Schimmer.
Auf meiner Schulter spürt ich eine Hand
Und blickte auf, der fleißige Alte stand
Bei mir, und ich erhob mich. Lächelnd nahm
Er nun mein Buch, ein Schauer überkam
Mich wie ein Frieren, und sein Finger glitt
Wie Schwamm darüber; auf das leere Leder
Schrieb neue Titel, Fragen und Versprechungen,
Schrieb ältester Fragen neuste jüngste Brechungen
Sorgfältig buchstabierend seine Feder.
Dann nahm er Buch und Feder schweigend mit.
Im Anfang herrschten jene frommen Fürsten,
Feld, Korn und Pflug zu weihen und das Recht
Der Opfer und der Maße im Geschlecht
Der Sterblichen zu üben, welche dürsten
Nach der Unsichtbaren gerechtem Walten,
Das Sonn« und Mond im Gleichgewichte hält,
Und deren ewig strahlende Gestalten
Des Leids nicht kennen und des Todes Welt.
Längst ist der Göttersöhne heilige Reihe
Erloschen, und die Menschheit blieb allein,
In Lust und Leides Taumel, fern vom Sein,
Ein ewiges Werden ohne Maß und Weihe.
Doch niemals starb des wahren Lebens Ahnung,
Und unser ist das Amt, im Niedergang
Durch Zeichenspiel, durch Gleichnis und Gesang
Fortzubewahren heiliger Ehrfurcht Mahnung.
Vielleicht, daß einst das Dunkel sich verliert,
Vielleicht, daß einmal sich die Zeiten wenden,
Daß Sonne wieder uns als Gott regiert
Und Opfergaben nimmt von unsern Händen.
Es destilliert aus Studien und Gedanken
Vielvieler Jahre spät ein alter Mann
Sein Alterswerk, in dessen krause Ranken
Er spielend manche süße Weisheit spann.
Hinstürmt voll Glut ein eifriger Student,
Der sich in Büchereien und Archiven
Viel umgetan und den der Ehrgeiz brennt,
Ein Jugendwerk voll genialischer Tiefen.
Es sitzt und bläst ein Knabe in den Halm,
Er füllt mit Atem farbige Seifenblasen,
Und jede prunkt und lobpreist wie ein Psalm,
All seine Seele gibt er hin im Blasen.
Und alle drei, Greis, Knabe und Student
Erschaffen aus dem Maya-Schaum der Welten
Zaubrische Träume, die an sich nichts gelten,
In welchen aber lächelnd sich erkennt
Das ewige Licht, und freudiger entbrennt.
Einst war, so scheint es uns, das Leben wahrer,
Die Welt geordneter, die Geister klarer,
Weisheit und Wissenschaft noch nicht gespalten.
Sie lebten voller, heitrer, jene Alten,
Von denen wir bei Plato, den Chinesen
Und überall so Wunderbares lesen –
Ach, und sooft wir in des Aquinaten
Wohl abgemeßnen Summentempel traten,
So schien uns eine Welt der reifen, süßen,
Der lautern Wahrheit ferneher zu grüßen:
Alles schien dort so licht, Natur von Geist durchwaltet,
Von Gott her zu Gott hin der Mensch gestaltet,
Gesetz und Ordnung formelschön verkündet,
Zum Ganzen alles ohne Bruch gerundet.
Statt dessen scheint uns Späteren, wir seien
Zum Kampf verdammt, zum Zug durch Wüsteneien,
Zu Zweifeln nur und bittern Ironien,
Nichts sei als Drang und Sehnsucht uns verliehen.
Doch mag es unsern Enkeln einmal gehen
Wie uns: sie werden uns verklärend sehen,
Als Selige und Weise, denn sie hören
Von unsres Lebens klagend wirren Chören
Nur noch harmonischen Nachklang, der verglühten
Nöte und Kämpfe schön erzählte Mythen.
Und wer von uns am wenigsten sich traut,
Am meisten fragt und zweifelt, wird vielleicht
Es sein, des Wirkung in die Zeiten reicht,
An dessen Vorbild Jugend sich erbaut;
Und der am Zweifel an sich selber leidet,
Wird einst vielleicht als Seliger beneidet,
Dem keine Not und keine Furcht bewußt war,
In dessen Zeit zu leben eine Lust war
Und dessen Glück dem Glück der Kinder glich.
Denn auch in uns lebt Geist vom ewigen Geist,
Der aller Zeiten Geister Brüder heißt:
Er überlebt das Heut, nicht Du und Ich.
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Musik des Weltalls und Musik der Meister
Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören,
Zu reiner Feier die verehrten Geister
Begnadeter Zeiten zu beschwören.
Wir lassen vom Geheimnis uns erheben
Der magischen Formelschrift, in deren Bann
Das Uferlose, Stürmende, das Leben,
Zu klaren Gleichnissen gerann.
Sternbildern gleich ertönen sie kristallen,
In ihrem Dienst ward unserm Leben Sinn,
Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen,
Als nach der heiligen Mitte hin.
Es war vor manchen tausend Jahren, und die Frauen waren an der Herrschaft: in Stamm und Familie waren es die Mutter und Großmutter, welchen Ehrfurcht und Gehorsam erwiesen wurde, bei Geburten galt ein Mädchen sehr viel mehr als ein Knabe.
Im Dorf war eine Ahnfrau, wohl hundert oder mehr Jahre alt, von allen wie eine Königin verehrt und gefürchtet, obwohl sie schon seit Menschengedenken nur selten noch einen Finger rührte oder ein Wort sprach. An vielen Tagen saß sie vor dem Eingang ihrer Hütte, ein Gefolge von dienenden Verwandten um sie, und es kamen die Frauen des Dorfes, ihr Ehrfurcht zu erweisen, ihr ihre Angelegenheiten zu erzählen, ihre Kinder zu zeigen und zum Segnen zu bringen; es kamen die Schwangeren und baten, sie möge ihren Leib berühren und ihnen den Namen für das Erwartete geben. Die Ahnmutter legte manchmal die Hand auf, manchmal nickte sie nur oder schüttelte den Kopf oder blieb auch regungslos. Worte sagte sie selten; sie war nur da; sie war da, saß und regierte, saß und trug das weißgelbe Haar in dünnen Strähnen um das lederne, weitsichtige Adlergesicht, saß und empfing Verehrung, Geschenke, Bitten, Nachrichten, Berichte, Anklagen, saß und war allen bekannt als die Mutter von sieben Töchtern, als die Großmutter und Urahne von vielen Enkeln und Urenkeln, saß und trug auf den scharfgefalteten Zügen und hinter der braunen Stirn die Weisheit, die Überlieferung, das Recht, die Sitte und Ehre des Dorfes.
Es war ein Abend im Frühling, bewölkt und früh dunkelnd. Vor der Lehmhütte der Urahne saß nicht sie selbst, aber ihre Tochter, die war kaum weniger weiß und würdig und auch nicht sehr viel weniger alt als die Urahne. Sie saß und ruhte, ihr Sitz war die Türschwelle, ein flacher Feldstein, bei kaltem Wetter mit einem Fell belegt, und weiter außen im Halbkreise hockten am Boden, im Sand oder Gras, ein paar Kinder und ein paar Weiber und Buben; die hockten hier an jedem Abend, an dem es nicht regnete oder fror, denn sie wollten die Tochter der Urahne erzählen hören, Geschichten erzählen oder Sprüche singen. Früher hatte dies die Urahne selbst getan, jetzt war sie allzu alt und nicht mehr mitteilsam, und an ihrer Stelle kauerte und erzählte die Tochter, und wie sie die Geschichten und Sprüche alle von der Urgroßmutter hatte, so hatte sie von ihr auch die Stimme, die Gestalt, die stille Würde der Haltung, der Bewegungen und des Sprechens, und die Jüngeren unter den Zuhörern kannten sie viel besser als ihre Mutter und wußten schon beinahe nichts mehr davon, daß sie an Stelle einer anderen saß und die Geschichten und Weistümer des Stammes mitteilte. Von ihrem Munde floß an den Abenden der Quell des Wissens, sie verwahrte den Schatz des Stammes unter ihrem weißen Haar, hinter ihrer sanft gefurchten alten Stirn wohnte die Erinnerung und der Geist der Siedlung. Wenn einer wissend war und Sprüche oder Geschichten kannte, so hatte er sie von ihr. Außer ihr und der Uralten gab es nur noch einen Wissenden im Stamm, der aber verborgen blieb, einen geheimnisvollen und sehr schweigsamen Mann, den Wetter- oder Regenmacher.
Unter den Zuhörenden kauerte auch der Knabe Knecht und neben ihm ein kleines Mädchen, das hieß Ada. Dieses Mädchen hatte er gern und begleitete und beschützte es oft, nicht aus Liebe eigentlich, davon wußte er noch nichts, er war selber noch ein Kind, sondern weil sie die Tochter des Regenmachers war. Ihn, den Regenmacher, verehrte und bewunderte Knecht sehr, nächst der Urahne und ihrer Tochter niemand so wie ihn. Aber sie waren Frauen. Sie konnte man verehren und fürchten, doch konnte man nicht den Gedanken fassen und den Wunsch in sich hegen, zu werden, was sie waren. Der Wettermacher nun war ein ziemlich unnahbarer Mann, es war für einen Knaben nicht leicht, sich in seiner Nähe zu halten; man mußte Umwege gehen, und einer der Umwege zum Wettermacher war Knechts Sorge um dessen Kind. Er holte es so oft wie möglich in des Wettermachers etwas abgelegener Hütte ab, um am Abend vor der Hütte der Alten zu sitzen und sie erzählen zu hören, und brachte sie dann wieder heim. So hatte er auch heute getan und hockte nun neben ihr in der dunklen Schar und hörte zu.
Die Ahne erzählte heute vom Hexendorf. Sie erzählte:
»Manchmal gibt es in einem Dorf eine Frau, die von böser Art ist und es mit niemandem gut meint. Meistens bekommen diese Frauen keine Kinder. Manchmal ist eins von diesen Weibern so böse, daß das Dorf sie nicht mehr bei sich haben will. Dann holt man das Weib in der Nacht, legt ihren Mann in Fesseln, züchtigt das Weib mit Ruten und treibt es dann weit in die Wälder und Sümpfe hinaus, man verflucht es mit einem Fluch und läßt es dort draußen. Dem Mann nimmt man alsdann die Fesseln wieder ab, und wenn er nicht zu alt ist, kann er sich zu einer andern Frau gesellen. Die Hinausgejagte aber, wenn sie nicht umkommt, streift in den Wäldern und Sümpfen, lernt die Tiersprache, und wenn sie lang gestreift und gewandert ist, findet sie eines Tages ein kleines Dorf, das heißt das Hexendorf. Dort sind alle die bösen Frauen, die man aus ihren Dörfern vertrieben hat, zusammengekommen und haben sich selber ein Dorf gemacht. Dort leben sie, tun Böses und treiben Zauber, und namentlich locken sie, weil sie selber keine Kinder haben, gerne Kinder aus den richtigen Dörfern an sich, und wenn ein Kind sich im Walde verläuft und nie mehr wiederkommt, dann ist es vielleicht nicht im Sumpf ertrunken oder vom Wolf zerrissen, sondern von einer Hexe auf Irrwege gelockt und von ihr mit ins Hexendorf genommen worden. Zur Zeit, als ich noch klein und meine Großmutter die Älteste im Dorf war, ist einmal ein Mädchen mit den andern in die Heidelbeeren gegangen, und beim Beerenpflücken wurde es müd und schlief ein; es war noch klein, die Farnkräuter bedeckten es, und die andern Kinder zogen weiter und merkten nichts, und erst als sie wieder zum Dorf zurückkamen und es schon Abend war, sahen sie, daß das Mädchen nicht mehr bei ihnen war. Man schickte die Jungburschen, die suchten und riefen nach ihr im Wald, bis es Nacht war, dann kamen sie zurück und hatten sie nicht gefunden. Die Kleine aber war, als sie genug geschlafen hatte, im Walde weiter und weiter gegangen. Und je mehr es ihr bang wurde, desto schneller lief sie, aber sie wußte schon lange nicht mehr, wo sie war, und lief bloß immer weiter vom Dorfe weg bis dahin, wo noch niemand gewesen war. Am Halse trug sie an einem Bastfaden einen Eberzahn, ihr Vater hatte ihn ihr geschenkt, er hatte ihn von der Jagd mitgebracht, und durch den Zahn hatte er mit einem Steinsplitter ein Loch gebohrt, durch das man den Bast ziehen konnte, und hatte den Zahn vorher dreimal im Eberblut gekocht und gute Sprüche dazu gesungen, und wer einen solchen Zahn bei sich trug, der war vor manchem Zauber geschützt. Jetzt kam eine Frau zwischen den Bäumen heraus, die war eine Hexe, sie machte ein süßes Gesicht und sagte: »Ich grüße dich, du hübsches Kind, hast du dich verlaufen? Komm nur mit mir, ich bringe dich nach Hause.« Das Kind ging mit ihr. Aber es fiel ihm ein, was Mutter und Vater ihm gesagt hatten: daß es niemals einem Fremden den Eberzahn zeigen dürfe, und so machte es im Gehen unbemerkt den Zahn vom Bastfaden los und steckte ihn in den Gürtel. Die fremde Frau lief mit dem Mädchen stundenlang, es war schon Nacht, da kamen sie ins Dorf, es war aber nicht unser Dorf, es war das Hexendorf. Da wurde das Mädchen in einen finsteren Stall gesperrt, die Hexe aber ging in ihre Hütte schlafen. Am Morgen sagte die Hexe: »Hast du nicht einen Eberzahn bei dir?« Das Kind sagte: nein, es habe wohl einen gehabt, aber der sei ihm im Walde verlorengegangen, und sie zeigte ihr Halsbändchen aus Bast, an dem kein Zahn mehr hing. Da holte die Hexe einen steinernen Topf, in dem war Erde, und in der Erde wuchsen drei Kräuter. Das Kind schaute die Krauter an und fragte, was damit sei. Die Hexe deutete auf das erste Kraut und sagte: »Das ist das Leben deiner Mutter.« Dann deutete sie auf das zweite und sagte: »Das ist das Leben deines Vaters.« Dann deutete sie auf das dritte Kraut: »Und das ist dein eigenes Leben. Solang diese Kräuter grün sind und wachsen, seid ihr am Leben und gesund. Wird eines welk, dann wird der krank, dessen Leben es bedeutet. Wird eins ausgerissen, so wie ich jetzt eins ausreißen werde, dann muß der sterben, dessen Leben es bedeutet.« Sie faßte das Kraut, das des Vaters Leben bedeutete, mit den Fingern und fing an, daran zu ziehen, und als sie ein wenig gezogen hatte und ein Stück von der weißen Wurzel zu sehen war, tat das Kraut einen tiefen Seufzer…«
Bei diesem Wort sprang das kleine Mädchen neben Knecht auf, wie von einer Schlange gebissen, tat einen Schrei und rannte Hals über Kopf davon. Lang hatte sie mit der Angst gekämpft, die ihr die Geschichte machte, jetzt hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Eine alte Frau lachte. Andere unter den Zuhörern hatten kaum weniger Angst als die Kleine, aber sie hielten an sich und blieben sitzen. Knecht aber, sobald er recht aus dem Traum des Zuhörens und Angsthabens erwacht war, sprang ebenfalls auf und rannte dem Mädchen nach. Die Ahne erzählte weiter.
Der Regenmacher hatte seine Hütte nahe beim Dorfweiher stehen, in dieser Richtung suchte Knecht die Davongelaufene. Mit lockendem, beruhigendem Brummen, Singen und Sumsen suchte er sie zu ködern, mit einer Stimme, wie sie die Weiber beim Heranlocken der Hühner machen, langgezogen, süß, auf Bezauberung bedacht. »Ada,« rief er und sang er, »Ada, Adalein, komm her. Ada, hab keine Angst, ich bin es, ich, Knecht.« So sang er wieder und wieder, und noch ehe er etwas von ihr gehört oder gesehen hatte, fühlte er plötzlich ihre kleine weiche Hand sich in die seine drängen. Sie war am Weg gestanden, den Rücken dicht an eine Hüttenwand gelehnt, und hatte ihn erwartet, seit sein Rufen sie erreicht hatte. Aufatmend schloß sie sich ihm an, der ihr groß und stark und schon wie ein Mann vorkam.
»Hast du Angst gehabt, ja?« fragte er. »Ist nicht nötig, niemand tut dir was, alle haben Ada gern. Komm, wir gehen heim.« Sie zitterte noch und schluchzte ein wenig, war aber schon ruhiger und kam dankbar und vertrauensvoll mit.
Aus der Hüttentür schimmerte schwaches rotes Licht, innen hockte der Wettermacher am Herd gebückt, durch seine hängenden Haare schimmerte es hell und rot, er hatte Feuer brennen und kochte etwas in zwei kleinen Topf dien. Ehe Knecht mit Ada eintrat, schaute er von draußen neugierig ein paar Augenblicke zu; er sah sogleich, daß es kein Essen sei, was hier gekocht wurde, das tat man in anderen Töpfen, und es war ja auch dazu schon viel zu spät. Aber der Regenmacher hatte ihn schon gehört. »Wer steht da in der Tür?« rief er. »Vorwärts, herein! Bist du es, Ada?« Er deckte Deckel auf seine Töpfchen, umbaute sie mit Glut und Asche und wendete sich um.
Knecht schielte noch immer nach den geheimnisvollen Töpfchen, es war ihm neugierig, ehrfürchtig und beklommen zumut wie jedesmal, wenn er diese Hütte betrat. Er tat es, sooft er nur konnte, er schuf sich mancherlei Anlässe und Vorwände dazu, aber immer spürte er dabei dies halb kitzelnde, halb warnende Gefühl von leiser Beklemmung, in dem lüsterne Neugierde und Freude mit Furcht im Streite lag. Der Alte mußte es ja doch sehen, daß Knecht ihm seit langem nachfolgte und überall in der Nähe auftauchte, wo er ihn vermuten konnte, daß er ihm wie ein Jäger auf der Spur war und stumm seine Dienste und seine Gesellschaft anbot.
Turu, der Wettermacher, sah ihn mit den hellen Raubvogelaugen an. »Was willst du hier?« fragte er kühl. »Keine Tageszeit für Besuche in fremden Hütten, mein Junge.«
»Ich habe Ada heimgebracht, Meister Turu. Sie war bei der Urahne, wir hörten Geschichten erzählen, von den Hexen, und auf einmal ist es ihr Angst geworden, und sie hat geschrien, da habe ich sie begleitet.«
Der Vater wandte sich an die Kleine: »Ein Angsthase bist du, Ada. Kluge Mädchen brauchen die Hexen nicht zu fürchten. Du bist doch ein kluges Mädchen, nicht?«
»Ja, schon. Aber die Hexen können doch lauter böse Künste, und wenn man keinen Eberzahn hat…«
»So, einen Eberzahn möchtest du haben? Wir werden sehen. Aber ich weiß etwas, was noch besser ist. Ich weiß eine Wurzel, die werde ich dir bringen, im Herbst müssen wir sie suchen und ziehen, die schützt kluge Mädchen vor allem Zauber und macht sie sogar noch hübscher.«
Ada lächelte und freute sich, sie war schon beruhigt, seit der Geruch der Hütte und das bißchen Feuerschein um sie war. Schüchtern fragte Knecht: »Könnte nicht ich die Wurzel suchen gehen? Du müßtest sie mir beschreiben…«
Turu kniff die Augen klein. »Das möchte mancher kleine Junge gern wissen,« sagte er, aber seine Stimme klang nicht böse, nur etwas spöttisch. »Es hat noch Zeit damit. Im Herbst vielleicht.«
Knecht zog sich zurück und verschwand in der Richtung nach dem Knabenhaus, wo er schlief. Eltern hatte er nicht, er war eine Waise, und auch darum empfand er bei Ada und in ihrer Hütte einen Zauber.
Der Regenmacher Turu liebte die Worte nicht, er hörte weder andre noch sich gern reden; viele hielten ihn für wunderlich, manche für mürrisch. Er war es nicht. Er wußte von dem, was um ihn her vorging, immerhin mehr, als man seiner gelehrten und einsiedlerischen Zerstreutheit zutraute. Er wußte unter andrem genau darum, daß dieser etwas lästige, aber hübsche und offenbar kluge Knabe ihm nachlaufe und ihn beobachte, von allem Anfang an hatte er es bemerkt, es dauerte schon ein Jahr und länger. Er wußte auch genau, was das bedeute. Es bedeutete viel für den Jungen und bedeutete viel auch für ihn, den Alten. Es bedeutete, daß dieser Bursche in die Wettermacherei verliebt war und nichts sehnlicher wünschte, als sie zu lernen. Immer einmal gab es einen solchen Knaben in der Siedlung. Mancher war schon so dahergekommen. Mancher ließ sich leicht abschrecken und entmutigen, andre nicht, und er hatte schon zwei von ihnen jahrelang zu Schülern und Lehrlingen gehabt, die hatten dann weit fort in andre Dörfer geheiratet und waren dort Regenmacher oder Kräutersammler geworden; seither war Turu allein geblieben, und wenn er je nochmals einen Lehrling annähme, dann würde er es tun, um einst einen Nachfolger zu haben. So war es immer gewesen, so war es richtig und konnte nicht anders sein: immer wieder mußte ein begabter Knabe auftauchen und mußte dem Manne anhängen und nachlaufen, den er sein Handwerk als Meister beherrschen sah. Knecht war begabt, er hatte, was man braucht, und hatte auch einige Zeichen, die ihn empfahlen: den forschenden, zugleich scharfen und träumerischen Blick vor allem, das Verhaltene und Lautlose im Wesen und im Ausdruck des Gesichts und Kopfes etwas Spürendes, Witterndes, Waches, auf Geräusche und Gerüche Aufmerkendes, etwas Vogelhaftes und Jägerhaftes. Gewiß, aus diesem Knaben konnte ein Wetterkundiger werden, vielleicht auch ein Magier, er war zu brauchen. Aber es hatte keine Eile damit, er war ja noch zu jung, und man brauchte ihm keineswegs zu zeigen, daß man ihn erkannte, man durfte es ihm nicht zu leicht machen, es sollte ihm kein Weg erspart werden. Wenn er einzuschüchtern, abzuschrecken, abzuschütteln, zu entmutigen war, dann war es nicht schade um ihn. Mochte er warten und dienen, mochte er herumschleichen und um ihn werben.
Knecht schlenderte durch die einbrechende Nacht unter bewölktem Himmel mit zwei, drei Sternen dorfeinwärts, befriedigt und wohlig erregt. Von den Genüssen, Schönheiten und Verfeinerungen, welche uns Heutigen selbstverständlich und unentbehrlich sind und noch dem Ärmsten gehören, wußte die Siedlung nichts, sie kannte weder Bildung noch Künste, sie kannte weder andre Häuser als schiefe Lehmhütten, noch wußte sie von eisernen und stählernen Werkzeugen, auch Dinge wie Weizen oder Wein waren unbekannt, Erfindungen wie Kerze oder Lampe wären den Menschen strahlende Wunder gewesen. Das Leben Knechts und seine Vorstellungswelt war darum nicht weniger reich, als unendliches Geheimnis und Bilderbuch umgab ihn die Welt, deren er sich mit jedem neuen Tag ein neues kleines Stück eroberte, vom Tierleben und Pflanzenwuchs bis zum Sternenhimmel, und zwischen der stummen, geheimnisvollen Natur und seiner vereinzelten, in banger Knabenbrust atmenden Seele war alle Verwandtschaft und war auch alle Spannung, Angst, Neugierde und Aneignungslust vorhanden, deren die Menschenseele fähig ist. Gab es in seiner Welt kein geschriebenes Wissen, keine Geschichte, kein Buch, kein Alphabet, war ihm alles, was mehr als drei, vier Stunden über sein Dorf hinaus lag, vollkommen unbekannt und unerreichbar, so lebte er dafür in dem seinen, in seinem Dorf, ganz und vollkommen mit. Das Dorf, die Heimat, die Gemeinschaft des Stammes unter der Führung der Mütter gab ihm alles, was Volk und Staat dem Menschen geben können: einen Boden voll tausend Wurzeln, in deren Geflecht er selbst eine Faser war und an allem teilhatte.
Zufrieden schlenderte er dahin, in den Bäumen flüsterte der Nachtwind und knackte leise, es roch nach feuchter Erde, nach Schilf und Schlamm, nach Rauch von halbgrünem Holz, ein fettiger und etwas süßer Geruch, der mehr als jeder andre Heimat bedeutete, und zuletzt, als er sich der Knabenhütte näherte, roch es nach ihr, roch nach Knaben, nach jungen Menschenleibern. Lautlos kroch er unter der Schilfmatte hindurch in die warme, atmende Finsternis, legte sich auf die Streu und dachte an die Hexengeschichte, an den Eberzahn, an Ada, an den Wettermacher und seine Töpfchen am Feuer, bis er einschlief.
Turu kam dem Knaben nur mit sparsamen Schritten entgegen, er machte es ihm nicht leicht. Der junge Mensch aber war immer auf seiner Spur, es zog ihn dem Alten nach, er wußte selbst oft nicht wie. Manchmal, wenn der Alte irgendwo an verborgenster Stelle in Wald, Sumpf oder Heide eine Falle stellte, eine Tierspur beroch, eine Wurzel grub oder Samen sammelte, konnte er plötzlich den Blick des Knaben fühlen, der ihm lautlos und unsichtbar seit Stunden folgte und ihn belauerte. Dann tat er manchmal, als habe er nichts gemerkt, manchmal knurrte er und wies den Verfolger ungnädig weg, manchmal auch winkte er ihn zu sich und behielt ihn für den Tag bei sich, ließ sich Dienste von ihm leisten, zeigte ihm dies und jenes, ließ ihn raten, stellte ihn auf Proben, nannte ihm Namen von Kräutern, hieß ihn Wasser schöpfen oder Feuer zünden, und bei jeder Verrichtung wußte er Handgriffe, Vorteile, Geheimnisse, Formeln, deren Geheimhaltung dem Jungen eingeschärft wurde. Und schließlich, als Knecht etwas größer war, behielt er ihn ganz bei sich, er erkannte ihn als seinen Lehrling an und holte ihn aus dem Knabenschlafhaus in seine eigene Hütte. Damit war Knecht vor allem Volk gekennzeichnet: er war kein Knabe mehr, er war Lehrling beim Wettermacher, und das bedeutete: wenn er durchhielt und etwas taugte, würde er dessen Nachfolger sein.
Von dieser Stunde an, in der Knecht vom Alten in seine Hütte aufgenommen wurde, war die Schranke zwischen ihnen gefallen, nicht die Schranke der Ehrfurcht und des Gehorsams, aber die des Mißtrauens und der Zurückhaltung. Turu hatte sich ergeben und von Knechts zäher Werbung erobern lassen; nun wollte er nichts andres mehr als einen guten Wettermacher und Nachfolger aus ihm machen. Es gab für diese Unterweisung keine Begriffe, keine Lehre, keine Methode, keine Schrift, keine Zahlen und nur sehr wenig Worte, und es waren Knechts Sinne viel mehr als sein Verstand, welche von seinem Meister erzogen wurden. Es galt, ein großes Gut an Überlieferung und Erfahrung, das gesamte Wissen des damaligen Menschen um die Natur, nicht bloß zu verwalten und auszuüben, sondern weiterzugeben. Ein großes und dichtes System von Erfahrungen, Beobachtungen, Instinkten und Forschergewohnheiten tat sich langsam und dämmernd vor dem Jüngling auf, beinahe nichts davon war auf Begriffe gebracht, beinahe alles mußte mit den Sinnen erspürt, erlernt, nachgeprüft werden. Fundament aber und Mittelpunkt dieser Wissenschaft war die Kunde vom Mond, von seinen Phasen und Wirkungen, wie er immer wieder anschwoll und immer wieder hinschwand, bevölkert von den Seelen der Gestorbenen, sie zu neuer Geburt aussendend, um Raum für neue Tote zu schaffen.
Ähnlich wie jener Abend mit dem Gang von der Märchenerzählerin zu den Töpfen am Herd des Alten hat sich eine andere Stunde in Knechts Gedächtnis geprägt, eine Stunde zwischen Nacht und Morgen, da ihn der Meister zwei Stunden nach Mitternacht geweckt hatte und mit ihm in tiefer Finsternis hinausgegangen war, um ihm den letzten Aufgang einer schwindenden Mondsichel zu zeigen. Da harrten sie, der Meister in schweigsamer Regungslosigkeit, der Junge etwas furchtsam und vor Mangel an Schlaf fröstelnd, inmitten der Waldhügel auf einer frei vorgebauten Felsplatte lange Zeit, bis an der vom Meister vorbezeichneten Stelle und in der von ihm vorausbeschriebenen Gestalt und Neigung der dünne Mond hervorkam, ein zarter gebogener Strich. Bang und bezaubert starrte Knecht auf das langsam steigende Gestirn, zwischen Wolkenfinsternissen schwamm es sanft in einer klaren Himmelsinsel hinan.
»Bald wird er seine Gestalt wechseln und wieder anschwellen, dann kommt die Zeit, um den Buchweizen auszusäen,« sagte der Regenmacher, die Tage an seinen Fingern vorzählend. Dann versank er wieder in das vorige Schweigen, wie alleingelassen kauerte Knecht auf dem tauglänzenden Stein und zitterte vor Kühle, aus der Waldtiefe kam ein langgezogener Eulenschrei herauf. Lange sann der Alte, dann erhob er sich, legte die Hand auf Knechts Haar und sagte leise, wie aus einem Traum heraus: »Wenn ich gestorben bin, fliegt mein Geist in den Mond. Du wirst dann ein Mann sein und eine Frau haben, meine Tochter Ada wird deine Frau sein. Wenn sie einen Sohn von dir bekommt, wird mein Geist zurückkehren und in eurem Sohn wohnen, und du wirst ihn Turu nennen, wie ich Turu hieß.«
Staunend hörte der Lehrling zu, er wagte kein Wort zu sagen, die dünne Silbersichel stieg und war schon halb von den Wolken verschlungen. Wunderlich berührte den jungen Menschen eine Ahnung von vielen Zusammenhängen und Verknüpfungen, Wiederholungen und Kreuzungen zwischen den Dingen und Geschehnissen, wunderlich fand er sich als Zuschauer und auch als Mitspieler vor diesen fremden, nächtlichen Himmel gestellt, wo über den unendlichen Wäldern und Hügeln die scharfe dünne Sichel, vom Meister genau vor verkündet, erschienen war; wunderbar erschien ihm der Meister und in tausend Geheimnisse eingehüllt, er, der an seinen eigenen Tod dachte, er, dessen Geist im Monde weilen und vom Monde zurück in einen Menschen kehren würde, welcher Knechts Sohn sein und des gewesenen Meisters Namen tragen sollte.
Wunderlich aufgerissen und stellenweise durchsichtig gleich dem Wolkenhimmel schien die Zukunft, schien das Schicksal vor ihm zu liegen, und daß man von ihnen wissen, sie nennen und von ihnen sprechen konnte, schien ihm wie ein Ausblick in unabsehbare Räume voll von Wundern und doch voll Ordnung. Einen Augenblick schien alles ihm vom Geiste erfaßbar, alles wißbar, alles belauschbar, der leise, sichere Gang der Gestirne oben, das Leben der Menschen und Tiere, ihre Gemeinschaften und Feindschaften, Begegnungen und Kämpfe, alles Große und Kleine samt dem in jedem Lebendigen mit eingeschlossenen Tod, das alles sah oder fühlte er in einem ersten Ahnungsschauer als ein Ganzes und sich selbst darin eingeordnet und einbezogen als etwas durchaus Geordnetes, von Gesetzen Beherrschtes, dem Geiste Zugängliches. Es war die erste Ahnung von den großen Geheimnissen, ihrer Würde und Tiefe sowohl wie ihrer Wißbarkeit, die den Jüngling in dieser nächtlich-morgendlichen Waldkühle auf dem Felsen über den tausend flüsternden Wipfeln wie eine Geisterhand berührte. Er konnte nicht davon sprechen, damals nicht und in seinem ganzen Leben nicht, aber daran denken mußte er viele Male, ja es war in seinem weiteren Leben und Erfahren immer diese Stunde und ihr Erlebnis mit gegenwärtig. »Denke daran,« mahnte sie, »denke daran, daß es dies alles gibt, daß zwischen dem Mond und dir und Turu und Ada Strahlen und Ströme gehen, daß es den Tod gibt und das Seelenland und die Wiederkehr von dort und daß auf alle Bilder und Erscheinungen der Welt es eine Antwort innen in deinem Herzen gibt, daß alles dich angeht, daß du von allem so viel wissen solltest, als dem Menschen irgend zu wissen möglich ist.« So etwa sprach diese Stimme. Für Knecht war es das erstemal, daß er die Stimme des Geistes so vernahm, ihre Verlockung, ihre Forderung, ihr magisches Werben. Schon manchen Mond hatte er am Himmel wandern sehen und manchen nächtlichen Eulenruf gehört, und aus dem Mund des Meisters, so wenig redselig er sein mochte, hatte er schon manches Wort alter Weisheit oder einsamer Betrachtung vernommen – in der heutigen Stunde aber war es neu und anders, es war die Ahnung vom Ganzen, die ihn getroffen hatte, das Gefühl der Zusammenhänge und Beziehungen, der Ordnung, die ihn selbst mit einbezog und mitverantwortlich machte. Wer den Schlüssel dazu hätte, der müßte nicht bloß aus den Fußspuren ein Tier, an den Wurzeln oder Samen eine Pflanze zu erkennen imstande sein, er müßte das Ganze der Welt: die Gestirne, die Geister, die Menschen, die Tiere, die Heilmittel und Gifte, alles müßte er in seiner Ganzheit erfassen und aus jedem Teil und Zeichen jeden ändern Teil ablesen können. Es gab gute Jäger, die konnten aus einer Spur, aus einer Losung, aus einem Haar und Überbleibsel mehr erkennen als andre: sie erkannten an ein paar winzigen Haaren nicht nur, von welcher Art Tier sie stammten, sondern auch, ob es alt oder jung, Männchen oder Weibchen sei. Andre erkannten an einer Wolkenform, an einem Geruch in der Luft, an einem besondern Verhalten der Tiere oder Pflanzen das kommende Wetter für Tage voraus; sein Meister war darin unerreicht und nahezu unfehlbar. Andre wieder hatten eine angeborene Geschicklichkeit: es gab Knaben, die vermochten mit den Steinen einen Vogel auf dreißig Schritt zu treffen, sie hatten es nicht gelernt, sie konnten es einfach, es geschah nicht durch Bemühung, sondern durch Zauber oder Gnade, der Stein in ihrer Hand flog von selbst, der Stein wollte treffen, und der Vogel wollte getroffen sein. Andre sollte es geben, welche die Zukunft vorauswußten: ob ein Kranker sterben werde oder nicht, ob eine Schwangere Knaben oder Mädchen gebären werde; die Tochter der Ahnnmtter war dafür berühmt, und auch der Wettermacher besaß, sagte man, etwas von solchem Wissen. Es mußte nun, so schien es Knecht in jenem Augenblick, im riesigen Netz der Zusammenhänge einen Mittelpunkt geben, von dem aus alles gewußt, alles Vergangene und alles Kommende gesehen und abgelesen werden konnte. Dem, der an diesem Mittelpunkt stünde, müßte das Wissen zulaufen wie dem Tal das Wasser und dem Kohl der Hase, sein Wort müßte scharf und unfehlbar treffen wie der Stein aus der Hand des Scharfschützen, er müßte kraft des Geistes alle diese einzelnen wunderbaren Gaben und Fähigkeiten in sich vereinen und spielen lassen: dies wäre der vollkommene, weise, unübertreffliche Mensch! So wie er zu werden, sich ihm anzunähern, zu ihm unterwegs zu sein: das war der Weg der Wege, das war das Ziel, das gab einem Leben Weihe und Sinn. So etwa empfand er es, und was wir in unsrer ihm unbekannten, begrifflichen Sprache darüber zu sagen versuchen, kann nichts von deren Schauer und von der Glut seines Erlebnisses mitteilen. Das nächtliche Aufstehen, die Führung durch den finstern, lautlosen Wald voll Gefahr und Geheimnis, das Harren auf der Steinplatte oben in der Morgenkälte, das Erscheinen des dünnen Mondgespenstes, die spärlichen Worte des weisen Mannes, das Alleinsein mit dem Meister zu außerordentlicher Stunde, dies alles wurde von Knecht als eine Feier und ein Mysterium erlebt und aufbewahrt, als Feier der Initiation, als seine Aufnahme in einen Bund und Kult, in ein dienendes, aber ehrenvolles Verhältnis zum Unnennbaren, zum Weltgeheimnis. Zu Gedanken oder gar zu Worten konnte dies Erlebnis und manches ähnliche nicht werden, und ferner und unmöglicher noch als jeder andre Gedanke wäre etwa dieser gewesen: »Bin nur ich allein es, der dies Erlebnis schafft, oder ist es objektive Wirklichkeit? Fühlt der Meister dasselbe wie ich, oder lächelt er über mich? Sind meine Gedanken bei diesem Erlebnis neue, eigene, einmalige, oder hat der Meister und mancher vor ihm einst genau dasselbe erlebt und gedacht?« Nein, es gab diese Brechungen und Differenzierungen nicht, es war alles Wirklichkeit, war getränkt und voll von Wirklichkeit wie ein Brotteig von Hefe. Wolken, Mond und wechselndes Himmelstheater, nasser kalter Kalksteinboden unterm nackten Fuß, feuchte rieselnde Taukälte in der bleichen Nachtluft, tröstlicher Heimatgeruch nach Herdrauch und Laubstreu, aufbewahrt im Fell, das der Meister umgeschlagen trug, Klang von Würde und leiser Anklang von Alter und Todesbereitschaft in seiner rauhen Stimme – alles war überwirklich und drang beinah gewalttätig in die Sinne des Jünglings. Und für Erinnerungen sind Sinneseindrücke ein tieferer Nährboden als die besten Systeme und Denkmethoden.
Der Regenmacher gehörte zwar zu den wenigen, welche einen Beruf ausübten, eine spezielle Kunst und Fähigkeit eigens ausgebildet hatten, doch war sein Alltagsleben von dem aller andern nach außen hin nicht so sehr verschieden. Er war ein hoher Beamter und genoß Ansehen, erhielt auch Abgaben und Lohn vom Stamm, sooft er für die Allgemeinheit zu tun hatte, doch kam dies nur bei besonderen Anlässen vor. Seine weitaus wichtigste und feierlichste, ja heilige Funktion war es, im Frühling für jede Art von Frucht und Kraut den Tag der Aussaat zu bestimmen; dies tat er unter genauer Berücksichtigung des Mondstandes teils nach ererbten Regeln, teils nach der eigenen Erfahrung. Die feierliche Handlung der Saateröffnung selbst, das Ausstreuen der ersten Handvoll Korn und Samen ins Gemeindeland, gehörte aber schon nicht mehr zu seinem Amt, so hoch stand kein Mann im Range; es wurde alljährlich von der Ahnmutter selbst oder deren ältesten Verwandten vollzogen. Zur wichtigsten Person des Dorfes wurde der Meister in jenen Fällen, wo er wirklich als Wettermacher zu amten hatte. Dies geschah, wenn eine lange Trockenheit, Nässe oder Kälte die Felder belagerte und den Stamm mit Hungersnot bedrohte. Dann hatte Turu die Mittel anzuwenden, die man gegen Dürre und Mißwachs kannte: Opfer, Beschwörungen, Bittgänge. Der Sage nach gab es, wenn bei hartnäckiger Trockenheit oder endlosem Regen alle anderen Mittel versagten und die Geister durch kein Zureden, Flehen oder Drohen umzustimmen waren, noch ein letztes unfehlbares Mittel, das zu Zeiten der Mütter und Großmütter des öfteren sollte angewandt worden sein; die Opferung des Wettermachers selbst durch die Gemeinde. Die Ahnmutter, sagte man, habe dies noch erlebt und mitangesehen.
Außer der Sorge um das Wetter hatte der Meister noch eine Art privater Praxis, als Geisterbeschwörer, als Anfertiger von Amuletten und Zaubermitteln und in gewissen Fällen als Arzt, soweit dies nicht der Ahnmutter vorbehalten war. Im übrigen aber lebte Meister Turu das Leben jedes andern. Er half, wenn die Reihe an ihn kam, das Gemeindeland bestellen und hatte bei der Hütte auch seinen eigenen kleinen Pflanzgarten. Er sammelte Früchte, Pilze, Brennholz und bewahrte sie auf. Er fischte und jagte und hielt eine Ziege oder zwei. Als Bauer war er gleich jedem andern, als Jäger, Fischer und Kräutersucher aber war er nicht gleich irgendeinem andern, sondern war ein Einzelgänger und Genie und stand im Ruf, eine Menge von natürlichen und magischen Listen, Griffen, Vorteilen und Hilfsmitteln zu kennen. Einer von ihm geflochtenen Weidenschlinge, hieß es, konnte kein gefangenes Tier wieder entrinnen, die Fischköder wußte er durch besondere Mittel duftend und schmackhaft zu machen, er verstand es, die Krebse an sich zu locken, und es gab Leute, welche glaubten, daß er auch die Sprache mancher Tiere verstehe. Sein eigentlichstes Gebiet aber war doch das seiner magischen Wissenschaft: das Beobachten des Mondes und der Sterne, die Kenntnis der Wetterzeichen, das Vorgefühl für Witterung und Wachstum, die Beschäftigung mit allem, was als Hilfsmittel magischer Wirkungen diente. So war er groß als Kenner und Sammler von jenen Gebilden der Pflanzen- und Tierwelt, welche als Heilmittel und als Gifte, als Träger von Zauber, als Segen und Schutzmittel gegen die Unheimlichen dienen konnten. Er kannte und fand ein jedes Kraut, auch das seltenste, er wußte, wo und wann es blühe und Samen trage, wann es Zeit sei, seine Wurzel zu graben. Er kannte und fand alle Arten von Schlangen und Kröten, wußte mit der Verwendung von Hörnern, Hufen, Klauen, Haaren Bescheid, kannte sich mit den Verwachsungen, Mißbildungen, Spuk- und Schreckformen aus, den Knollen, Kröpfen und Warzen am Holz, am Blatt, am Korn, an der Nuß, am Hörn und Huf.
Knecht hatte mehr mit den Sinnen, mehr mit Fuß und Hand, mit Auge, Hautgefühl, Ohr und Geruchsinn zu lernen als mit dem Verstande, und Turu lehrte weit mehr durch Beispiel und Zeigen als durch Worte und Lehren. Es war selten, daß der Meister überhaupt zusammenhängend sprach, und auch dann waren die Worte nur ein Versuch, seine außerordentlich eindrücklichen Gebärden noch zu verdeutlichen. Knechts Lehre war wenig verschieden von der Lehre, welche etwa ein junger Jäger oder Fischer bei einem guten Meister durchmacht, und sie machte ihm große Freude, denn er lernte nur, was schon in ihm lag. Er lernte lauern, lauschen, sich anschleichen, beobachten, auf der Hut sein, wach sein, schnuppern und spüren; aber das Wild, auf das er und sein Meister lauerten, war nicht nur Fuchs und Dachs, Otter und Kröte, Vogel und Fisch, sondern der Geist, das Ganze, der Sinn, der Zusammenhang. Das flüchtige, launische Wetter zu bestimmen, zu erkennen, zu erraten und vorauszuwissen, den in Beere und Schlangenbiß bereitliegenden Tod zu kennen, das Geheimnis zu belauschen, nach welchem die Wolken und die Stürme mit den Zuständen des Mondes zusammenhingen und auf Saat und Wachstum ebenso einwirkten wie auf Gedeihen und Verderb des Lebens in Mensch und Tier, darauf waren sie aus. Sie strebten dabei wohl eigentlich nach demselben Ziel, wie die Wissenschaft und Technik späterer Jahrtausende es tat, nach dem Beherrschen der Natur und dem Spielenkönnen mit ihren Gesetzen, aber sie taten es auf einem vollkommen anderen Wege. Sie trennten sich nicht von der Natur und suchten in ihre Geheimnisse nicht gewaltsam einzudringen, sie waren nie der Natur entgegengesetzt und feindlich, immer ein Teil von ihr und ihr mit Ehrfurcht hingegeben. Es ist wohl möglich, daß sie sie besser kannten und klüger mit ihr umgingen. Eines aber war ihnen ganz und gar unmöglich, nicht einmal in den verwegensten Gedanken: der Natur und der Geisterwelt ohne Angst zugetan und untertan zu sein oder sich gar ihr überlegen zu fühlen. Diese Hybris war ihnen undenkbar, und zu den Mächten der Naturkräfte, zum Tod, zu den Dämonen ein andres Verhältnis als das der Angst zu haben, wäre ihnen unmöglich erschienen. Die Angst stand beherrschend über dem Leben der Menschen. Sie zu überwinden schien unmöglich. Aber sie zu sänftigen, sie in Formen zu bannen, zu überlisten und zu maskieren, sie ins Ganze des Lebens einzuordnen, dazu dienten die verschiedenen Systeme der Opfer. Die Angst war der Druck, unter dem das Leben dieser Menschen stand, und ohne diesen hohen Druck hätte ihrem Leben zwar der Schrecken, aber auch die Intensität gefehlt. Wem es gelang, einen Teil der Angst in Ehrfurcht zu veredeln, der hatte viel gewonnen, Menschen dieser Art, Menschen, deren Angst zu Frömmigkeit geworden war, waren die Guten und Vorgeschrittenen jenes Zeitalters. Geopfert wurde viel und in vielen Formen, und ein gewisser Teil dieser Opfer und ihrer Riten gehörte zum Amtsbereich des Wettermachers.
Neben Knecht wuchs in der Hütte die kleine Ada auf, ein hübsches Kind, des Alten Liebling, und als diesem die Zeit gekommen schien, gab er sie seinem Schüler zur Frau. Knecht galt von jetzt an als des Regenmachers Gehilfe, Turu stellte ihn der Dorfmutter als seinen Schwiegersohn und Nachfolger vor und ließ sich von da an in manchen Verrichtungen und Amtshandlungen von ihm vertreten. Allmählich, mit den Jahreszeiten und Jahren, versank der alte Regenmacher ganz in die einsame Beschaulichkeit der Greise und überließ ihm sein ganzes Amt, und als er starb – man fand ihn tot am Herdfeuer hocken, über einige Töpfchen mit magischem Gebräu gebückt, das weiße Haar vom Feuer angesengt –, da war schon seit langem der Junge, der Schüler Knecht, dem Dorfe als Regenmacher bekannt. Er verlangte vom Dorfrat ein ehrenvolles Begräbnis für seinen Lehrmeister und verbrannte über seinem Grabe als Opfer eine ganze Last von edlen und köstlichen Heilkräutern und Wurzeln. Auch dies war längst vergangen, und unter Knechts Kindern, deren schon mehrere die Hütte Adas eng machten, gab es einen Knaben namens Turu: in seiner Gestalt war der Alte von der Todesfahrt zum Monde wiedergekehrt.
Es erging Knecht, wie es vorzeiten seinem Lehrer ergangen war. Ein Teil seiner Angst ward zu Frömmigkeit und zu Geist. Ein Teil seines jugendlichen Strebens und seiner tiefen Sehnsucht blieb lebendig, ein Teil starb dahin und verlor sich im Älterwerden in der Arbeit, in der Liebe und Sorge für Ada und die Kinder. Immer galt seine größte Liebe und angelegentlichste Forschung dem Monde und seinem Einfluß auf die Jahreszeiten und Witterungen; hierin erreichte er seinen Meister Turu und übertraf ihn am Ende. Und weil das Wachsen des Mondes und sein Schwinden so eng mit dem Sterben und Geborenwerden der Menschen zusammenhing, und weil von allen den Ängsten, in welchen die Menschen leben, die Angst vor dem Sterbenmüssen die tiefste ist, darum gewann der Mondverehrer und Mondkenner Knecht aus seinem nahen und lebendigen Verhältnis zum Monde auch ein geweihtes und geläutertes Verhältnis zum Tode; er war in seinen reiferen Jahren der Todesfurcht weniger untertan als andere Menschen. Er konnte ehrerbietig mit dem Monde reden, oder flehend, oder zärtlich, er wußte sich ihm verbunden in zarten geistigen Beziehungen, er kannte des Mondes Leben sehr genau und nahm an dessen Vorgängen und Schicksalen innigen Anteil, er lebte sein Hinschwinden und sein Neuwerden wie ein Mysterium in sich mit, und er litt mit ihm und erschrak, wenn das Ungeheure eintrat und der Mond Erkrankungen und Gefahren, Wandlungen und Schädigungen ausgesetzt schien, wenn er den Glanz verlor, die Farbe änderte, sich bis nahe ans Erlöschen verdunkelte. In solchen Zeiten freilich nahm jedermann am Monde teil, zitterte um ihn, erkannte Drohung und Unheilsnähe in seiner Verfinsterung und starrte angstvoll in sein altes, krankgewordenes Gesicht. Aber gerade dann zeigte sich, daß der Regenmacher Knecht dem Monde inniger verbunden war und mehr von ihm wußte als andre; wohl litt er dessen Schicksal mit, wohl war ihm eng und bange um das Herz, aber seine Erinnerung an ähnliche Erlebnisse war schärfer und gepflegter, sein Vertrauen gegründeter, sein Glaube an die Ewigkeit und Wiederkunft, an die Korrektur und Oberwindbarkeit des Todes war größer; und größer war auch der Grad seiner Hingabe; er fühlte sich in solchen Stunden bereit, das Schicksal des Gestirns bis zum Untergang und bis zur Neugeburt mitzuerleben, ja er fühlte dann zuweilen sogar etwas wie Frechheit, etwas wie den verwegenen Mut und Entschluß, dem Tode durch den Geist zu trotzen, sein Ich durch die Hingabe an übermenschliche Geschicke zu stärken. Etwas davon ging in sein Wesen über und ward auch den andern spürbar; er galt für einen Wissenden und Frommen, für einen Mann von großer Ruhe und geringer Todesfurcht, für einen, der mit den Mächten gut stand.
Er hatte diese Gaben und Tugenden in manchen harten Proben zu bewähren. Einmal hatte er eine Periode von Mißwachs und feindseliger Witterung zu bestehen, die sich über zwei Jahre ausdehnte, es war die größte Prüfung seines Lebens. Da hatten die Widrigkeiten und bösen Anzeichen schon bei der wiederholt verschobenen Aussaat begonnen, und dann hatte jeder erdenkliche Unstern und Schaden die Saaten betroffen und endlich so gut wie ganz vernichtet; die Gemeinde hatte grausam gehungert und Knecht mit ihr, und daß er dieses bittre Jahr überstand, daß er, der Regenmacher, nicht jeglichen Glauben und Einfluß verlor und dem Stamm helfen konnte, das Unglück mit Demut und einiger Fassung zu ertragen, war schon sehr viel gewesen. Als nun gar das folgende Jahr, nach einem harten und an Todesfällen reichen Winter, all das Ungemach und Elend des vorigen wiederholte, als das Gemeindeland im Sommer unter einer hartnäckigen Trockenheit verdorrte und barst, die Mäuse sich grausig vermehrten, als die einsamen Beschwörungen und Opferhandlungen des Regenmachers ebenso unerhört und ergebnislos blieben wie die öffentlichen Veranstaltungen, die Trommelchöre, die Bittgänge der ganzen Gemeinde, als es sich grausam zeigte, der Regenmacher könne diesmal keinen Regen machen, da war es keine kleine Sache und brauchte mehr als einen gewöhnlichen Mann, die Verantwortung zu tragen und sich gegen das erschreckte und aufgewühlte Volk aufrecht zu halten. Es gab da zwei oder drei Wochen, in denen Knecht ganz und gar allein stand, und ihm gegenüber stand die ganze Gemeinde, stand der Hunger und die Verzweiflung, stand der alte Volksglaube, nur die Opferung des Wettermachers könne die Mächte wieder versöhnen. Er hatte durch Nachgeben gesiegt. Er hatte dem Opfergedanken keinen Widerstand entgegengesetzt, er hatte sich selber als Opfer angeboten. Außerdem hatte er mit unerhörter Mühe und Hingabe an der Linderung der Not mitgearbeitet, hatte immer wieder Wasser entdeckt, eine Quelle, ein Rinnsal erspürt, hatte verhindert, daß in der höchsten Not der gesamte Viehstand vernichtet wurde, und namentlich hatte er die damalige Altmutter des Dorfes, die von einer verhängnisvollen Verzweiflung und Seelenschwäche ergriffene Ahnfrau, in dieser drangvollen Zeit durch Beistand, Rat, Drohung, durch Zauber und Gebet, durch Vorbild und durch Einschüchterung davor bewahrt, zusammenzubrechen und alles vernunftlos treiben zu lassen. Es hatte sich damals gezeigt, daß in Zeiten der Beunruhigung und der allgemeinen Sorge ein Mann desto brauchbarer ist, je mehr er sein Leben und Denken auf Geistiges und Überpersönliches gerichtet, je mehr er verehren, beobachten, anbeten, dienen und opfern gelernt hat. Die beiden furchtbaren Jahre, die ihn beinahe zum Opfer gemacht und vernichtet hätten, hinterließen ihm schließlich hohes Ansehen und Vertrauen, nicht zwar bei der Menge der Unverantwortlichen, wohl aber bei den wenigen, die Verantwortung trugen und einen Mann von seiner Art zu beurteilen vermochten.
Durch diese und manche andre Prüfungen war sein Leben geführt worden, als er das reife Mannesalter erreichte und auf seiner Lebenshöhe stand. Er hatte zwei Ahnfrauen des Stammes begraben helfen, er hatte ein hübsches sechsjähriges Söhnlein verloren, es war vom Wolf geholt worden, er hatte eine schwere Krankheit ohne fremde Hilfe überstanden, sein eigener Arzt. Er hatte Hunger und Frost gelitten. Dies alles hatte sein Gesicht gezeichnet und nicht minder seine Seele. Er hatte auch die Erfahrung gemacht, daß geistige Menschen bei den andern eine gewisse wunderliche Art von Anstoß und Widerwillen erregen, daß man sie zwar aus der Ferne schätzt und in Notfällen in Anspruch nimmt, sie aber keineswegs liebt und als seinesgleichen empfindet, ihnen vielmehr ausweicht. Auch das hatte er erfahren, daß überkommene oder frei erfundene Zaubersprüche und Bannformeln vom Kranken oder Unglücklichen viel williger angenommen werden als vernünftiger Rat, daß der Mensch lieber Ungemach und äußere Buße auf sich nimmt als sich im Innern ändert oder auch nur prüft, daß er an Zauber leichter glaubt als an Vernunft, an Formeln leichter als an Erfahrung: lauter Dinge, welche sich in den paar tausend Jahren seither vermutlich nicht so sehr geändert haben, als manche Geschichtsbücher behaupten. Er hatte aber auch gelernt, daß ein forschender geistiger Mensch die Liebe nicht verlieren darf, daß er den Wünschen und Torheiten der Menschen ohne Hochmut entgegenkommen, sich aber nicht von ihnen beherrschen lassen dürfe, daß es vom Weisen zum Scharlatan, vom Priester zum Gaukler, vom helfenden Bruder zum schmarotzenden Nutznießer immer nur einen Schritt weit ist und daß die Leute im Grunde weit lieber einen Gauner bezahlen, sich von einem Marktschreier ausnützen lassen, als ohne Entgelt eine selbstlos geleistete Hilfe annehmen. Sie wollten nicht gern mit Vertrauen und Liebe bezahlen, sondern lieber mit Geld und Ware. Sie betrogen einander und erwarteten, selbst betrogen zu werden. Man mußte lernen, den Menschen als ein schwaches, selbstsüchtiges und feiges Wesen zu sehen, man mußte auch einsehen, wie sehr man selbst an allen diesen üblen Eigenschaften und Trieben teilhabe, und durfte dennoch daran glauben und seine Seele davon nähren, daß der Mensch auch Geist und Liebe sei, daß etwas in ihm wohne, das den Trieben entgegensteht und ihre Veredlung ersehnt. Aber diese Gedanken sind wohl schon allzu losgelöst und überformuliert, als daß Knecht ihrer fähig gewesen wäre. Sagen wir: er war zu ihnen unterwegs, sein Weg würde einmal zu ihnen und durch sie hindurchführen.
Indes er diesen Weg ging, sich nach Gedanken sehnend, jedoch weit mehr im Sinnlichen lebend, im Bezaubertsein durch den Mond, durch den Duft eines Krautes, die Salze einer Wurzel, den Geschmack einer Rinde, durch das Züchten von Heilpflanzen, das Kochen von Salben, die Hingabe an Wetter und Atmosphäre, bildete er manche Fähigkeiten in sich aus, auch solche, welche wir Späteren nicht mehr besitzen und nur noch halb verstehen. Die wichtigste dieser Fähigkeiten war natürlich das Regenmachen. Wenn auch zu manchen besonderen Malen der Himmel hart blieb und seine Bemühungen grausam zu verhöhnen schien, so hat Knecht doch hundertmal Regen gemacht, und beinahe jedesmal auf eine ein wenig andere Weise. An den Opfern zwar und am Ritus der Bittgänge, der Beschwörungen, der Trommelmusiken hätte er nicht das kleinste zu ändern oder wegzulassen gewagt. Aber dies war ja nur der offizielle, der öffentliche Teil seiner Tätigkeit, ihre amtliche und priesterliche Schauseite; und gewiß war es sehr schön und gab ein herrliches Hochgefühl, wenn am Abend eines mit Opfer und Prozession begangenen Tages der Himmel sich ergab, der Horizont sich bewölkte, der Wind feucht zu riechen begann, die ersten Tropfen herabwehten. Allein auch da hatte es erst der Kunst des Wettermachers bedurft, um den Tag gut zu wählen, um nicht blind das Aussichtslose anzustreben; man durfte die Mächte wohl anflehen, ja bestürmen, aber mit Gefühl und Maß, mit Ergebung in ihren Willen. Und lieber noch als jene schönen triumphalen Erlebnisse von Erfolg und Erhörung waren ihm gewisse andre, von welchen niemand wußte als er selbst, und auch er selbst wußte nur mit Scheu und mehr mit den Sinnen als mit dem Verstande von ihnen. Es gab Lagen des Wetters, Spannungen der Luft und der Wärme, es gab Bewölkungen und Winde, gab Arten von Wasser- und von Erd- und Staubgeruch, gab Drohungen oder Versprechungen, gab Stimmungen und Launen der Wetterdämonen, welche Knecht in seiner Haut, seinem Haar, seinen sämtlichen Sinnen voraus- und mitempfand, so daß er von nichts überrascht, von nichts enttäuscht werden konnte, daß er mitschwingend das Wetter in sich konzentrierte und es in einer Weise in sich trug, die ihn befähigte, Wolken und Winden zu gebieten: nicht freilich aus einer Willkür und nach freiem Belieben, sondern eben aus dieser Verbundenheit und Gebundenheit heraus, welche den Unterschied zwischen ihm und der Welt, zwischen Innen und Außen vollkommen aufhob. Dann konnte er verzückt stehen und lauschen, verzückt kauern und alle Poren offen haben und das Leben der Lüfte und Wolken m seinem Innern nicht mehr nur mitfühlen, sondern dirigieren und erzeugen, etwa so, wie wir einen Satz Musik, den wir genau kennen, in uns innen wecken und reproduzieren können. Dann brauchte er nur den Atem anzuhalten – und der Wind oder Donner schwieg, brauchte nur mit dem Kopf zu nicken oder zu schütteln – und der Hagel brach los oder blieb aus, brauchte nur dem Ausgleich der kämpfenden Kräfte in sich durch ein Lächeln Ausdruck zu geben – und droben schlugen die Wolkenfalten sich auseinander und entblößten das dünne lichte Blau. In manchen Zeiten von besonders reiner Gestimmtheit und Seelenordnung trug er das Wetter der kommenden Tage genau und untrüglich vorauswissend in sich, als stünde in seinem Blut die ganze Partitur geschrieben, nach welcher draußen gespielt werden mußte. Das waren seine guten und besten Tage, seine Belohnungen, seine Wonnen.
Wenn jedoch diese innige Verbindung mit dem Außen unterbrochen, wenn Wetter und Welt unvertraut, unverständlich und unberechenbar waren, dann waren auch in seinem Innern Ordnungen gestört und Ströme unterbrochen, dann fühlte er, daß er kein rechter Regenmacher sei, und empfand sein Amt und seine Verantwortlichkeit für Wetter und Ernte als lästig und ungerecht. In diesen Zeiten war er häuslich, war Ada gehorsam und behilflich, nahm sich mit ihr des Haushaltes beflissen an, machte den Kindern Spielzeug und Werkzeug, kochte an Arzneien herum, war liebebedürftig und empfand den Drang, sich so wenig als möglich von anderen Männern zu unterscheiden, sich völlig in Brauch und Sitte zu fügen und sogar die ihm sonst eher lästigen Erzählungen seiner Frau und der Nachbarinnen über das Leben, Befinden und Gehaben anderer Leute anzuhören. In den guten Zeiten aber sah man ihn zu Hause wenig, dann schweifte er und war draußen, angelte, jagte, suchte Wurzeln, lag im Grase oder hockte in Bäumen, schnupperte, lauschte, ahmte die Stimme von Tieren nach, hatte Feuerchen brennen und verglich die Formen der Rauchwolken mit denen der Himmelswölken, tränkte Haut und Haar mit Nebel, mit Regen, mit Luft, mit Sonne oder Mondlicht und sammelte nebenbei, wie es sein Meister und Vorgänger Turu zeitlebens getan hatte, solche Gegenstände, in welchen Wesen und Erscheinungsform verschiedenen Bereichen anzugehören schienen, in welchen die Weisheit oder Laune der Natur ein Stückchen ihrer Spielregeln und Schöpfungsgeheimnisse zu verraten schien, Gegenstände, welche weit Getrenntes gleichnishaft in sich vereinigten, zum Beispiel: Astknorren mit Menschen- und Tiergesichtern, wassergeschliffene Kiesel mit einer Maserung, als wären sie Holz, versteinerte Tierformen der Vorwelt, mißgebildete oder zwillingsgestaltete Fruchtkerne, Steine in der Form einer Niere oder eines Herzens. Er las die Zeichnungen auf einem Baumblatt, die netzförmigen Lineamente auf dem Kopf einer Morchel und ahnte dabei Geheimnisvolles, Geistiges, Künftiges, Mögliches: Magie der Zeichen, Vorahnung von Zahl und Schrift, Bannung des Unendlichen und Tausendgestaltigen ins Einfache, ins System, in den Begriff. Denn es lagen doch wohl alle diese Möglichkeiten der Weltergreifung durch den Geist in ihm, namenlos zwar, unbenannt, aber nicht unmöglich, nicht unerahnbar, Keim und Knospe noch, aber ihm wesentlich, ihm eigen und organisch in ihm wachsend. Und wenn wir auch, über diesen Regenmacher und seine uns früh und primitiv anmutende Zeit hinaus, noch um weitere Jahrtausende zurückgehen könnten: wir würden, das ist unser Glaube, mit dem Menschen zugleich überall auch schon den Geist antreffen, den Geist, der ohne Anfang ist und immer schon alles und jedes enthalten hat, was er später je hervorbringt.
Es war dem Wettermacher nicht bestimmt, eine seiner Ahnungen zu verewigen und der Beweisbarkeit näherzuführen, deren sie für ihn auch kaum bedurften. Weder wurde er einer der vielen Erfinder der Schrift, noch der Geometrie, noch der Medizin oder Astronomie. Er blieb ein unbekanntes Glied in der Kette, aber ein Glied so unentbehrlich wie jedes: er gab weiter, was er empfangen hatte, und er gab neu Erworbenes und Erkämpftes hinzu. Denn auch er hatte Schüler. Zwei Lehrlinge bildete er im Lauf der Jahre zu Regenmachern aus, deren einer später sein Nachfolger wurde.
Lange Jahre trieb er sein Gewerbe und Wesen unbelauscht und allein, und als zum erstenmal – es war nicht lange nach einer großen Mißwachs- und Hungersnot – ein Jüngling ihn zu besuchen, zu beobachten, zu umlauern, zu verehren und zu verfolgen begann, einer, den es zur Regenmacherei und zum Meister trieb, da empfand er mit einer wunderlich wehmütigen Bewegung des Herzens die Wiederkehr und Umkehr jenes großen Erlebnisses seiner Jugend und empfand dabei zum erstenmal jenes mittägliche, strenge, zugleich einschnürende und aufweckende Gefühl: daß die Jugend vorüber, daß der Mittag überschritten, die Blüte Frucht geworden sei. Und was er nie gedacht hätte, er verhielt sich gegen den Knaben ganz gleich, wie einst der alte Turu sich gegen ihn selbst verhalten hatte, und dies spröde, abweisende, zuwartende, hinauszögernde Verhalten ergab sich ganz von selber, ganz instinktiv, es war weder eine Nachahmung des verstorbenen Meisters, noch kam es aus Erwägungen moralischer und erzieherischer Art, wie daß man einen jungen Menschen erst lange prüfen müsse, ob es ihm ernst genug sei, daß man den Zugang zur Einweihung in Geheimnisse keinem leicht machen, ihn vielmehr recht sehr erschweren müsse und dergleichen. Nein, Knecht benahm sich gegen seine Lehrlinge ganz einfach so, wie sich jeder schon ein wenig alternde Einzelgänger und gelehrte Sonderling gegen Verehrer und Schüler benimmt: verlegen, scheu, abweisend, fluchtbereit, voll Bangen um seine schöne Einsamkeit und Freiheit, um sein Schweifen in der Wildnis, sein einsames freies Jagen und Sammeln, Träumen und Lauschen, voll eifersüchtiger Liebe zu allen seinen Gewohnhalten und Liebhabereien, seinen Geheimnissen und Versunkenheiten. Keineswegs umarmte er den zaghaften jungen Menschen, der sich ihm mit verehrender Neugierde näherte, keineswegs half er ihm über diese Zaghaftigkeit hinweg und ermunterte ihn, keineswegs empfand er es als Freude und Lohn, als Anerkennung und angenehmen Erfolg, daß nun endlich die Welt der anderen ihm einen Sendboten und eine Liebeserklärung zuschickte, daß jemand ihn umwarb, daß jemand sich ihm zugetan und verwandt und gleich ihm zum Dienst an den Geheimnissen berufen fühlte. Nein, er empfand es vorerst nur als lästige Störung, als einen Griff in seine Rechte und Gewohnheiten, einen Raub an seiner Unabhängigkeit, von der er jetzt erst sah, wie sehr er sie liebte; er sträubte sich dagegen und wurde erfinderisch im Überlisten und Sichverbergen, im Verwischen seiner Fährte, im Ausbiegen und Entkommen. Aber auch darin ging es ihm, wie es einst Turu gegangen war, daß das lange, stumme Werben des Jungen ihm langsam das Herz erweichte, seinen Widerstand langsam, langsam ermüdete und schmolz und daß er, je mehr der Junge an Boden gewann, in langsamem Fortschritt sich ihm zuwenden und öffnen, sein Verlangen gutheißen, sein Werben annehmen und in der neuen, oft so lästigen Pflicht des Anlernens und Schülerhabens das Unabwendbare, das vom Schicksal Gegebene und vom Geist Gewollte sehen lernte. Mehr und mehr mußte er Abschied nehmen vom Traum, von dem Gefühl und Genuß der unendlichen Möglichkeiten, der tausendfältigen Zukunft. Statt des Traumes vom unendlichen Fortschritt, von der Summe aller Weisheit, stand nun der Schüler da, eine kleine, nahe, fordernde Wirklichkeit, ein Eindringling und Störenfried, aber unabweisbar und unabwendbar, der einzige Weg in die wirkliche Zukunft, die einzige, wichtigste Pflicht, der einzige schmale Weg, auf welchem des Regenmachers Leben und Taten, Gesinnungen, Gedanken und Ahnungen vor dem Tode bewahrt bleiben und in einer kleinen neuen Knospe fortleben konnten. Seufzend, knirschend und lächelnd nahm er es auf sich.
Und auch in diesem wichtigen, vielleicht verantwortungsvollsten Bezirk seines Amtes, dem Weitergeben des Oberlieferten und Erziehen von Nachfolgern, blieb dem Wettermacher eine sehr schwere und bittre Erfahrung und Enttäuschung nicht erspart. Der erste Lehrling, der sich um seine Gunst bemühte und ihn nach langem Warten und Abwehren zum Meister bekam, hieß Maro und brachte ihm eine niemals ganz zu verwindende Enttäuschung. Er war unterwürfig und schmeichlerisch und spielte lange Zeit den unbedingt Gehorsamen, es fehlte ihm aber an diesem und jenem, es fehlte ihm an Mut vor allem, er fürchtete namentlich die Nacht und Dunkelheit, was er zu verheimlichen suchte und was Knecht, wenn er es doch bemerkte, noch lange Zeit für einen Rest von Kindheit hielt, der sich verlieren werde. Er verlor sich aber nicht. Es fehlte diesem Schüler auch völlig die Gabe, sich selbstlos und absichtslos an das Beobachten, an die Verrichtungen und Vorgänge des Berufs, an Gedanken und Ahnungen hinzugeben. Er war klug, ein heller, schneller Verstand war ihm eigen, und er lernte das, was ohne Hingabe gelernt werden kann, leicht und sicher. Aber mehr und mehr zeigte sich, daß er selbstsüchtige Absichten und Ziele hatte, derentwegen er die Regenmacherei erlernen wollte. Vor allem wollte er etwas gelten, eine Rolle spielen und Eindruck machen, er hatte die Eitelkeit des Begabten, aber nicht Berufenen. Er strebte nach Beifall, prahlte vor seinen Altersgenossen mit seinen ersten Kenntnissen und Künsten – auch das mochte kindlich sein und konnte sich vielleicht bessern. Aber er suchte nicht nur Beifall, sondern strebte nach Macht über andre und nach Vorteil; als der Meister dies zu merken begann, erschrak er und zog allmählich sein Herz von dem Jüngling ab. Dieser wurde zweimal und dreimal schwerer Verfehlungen überführt, nachdem er schon mehrere Jahre bei Knecht gelernt hatte. Er ließ sich verleiten, eigenmächtig, ohne Wissen und Erlaubnis seines Meisters und gegen Geschenke bald ein erkranktes Kind mit Arznei zu behandeln, bald in einer Hütte Beschwörungen gegen die Rattenplage vorzunehmen, und als er trotz allen Drohungen und Versprechen nochmals bei ähnlichen Praktiken ertappt wurde, entließ ihn der Meister aus seiner Lehre, zeigte die Sache der Ahnmutter an und versuchte, den undankbaren und unbrauchbaren jungen Menschen aus seinem Gedächtnis auszutilgen.
Es entschädigten ihn dann seine beiden späteren Schüler und ganz besonders der zweite von ihnen, der sein eigener Sohn Turu war. Diesen jüngsten und letzten seiner Lehrlinge und Jünglinge liebte er sehr und glaubte, daß mehr aus ihm werden könne, als er selbst sei, sichtlich war seines Großvaters Geist in ihm wiedergekehrt. Knecht erlebte die seelenstärkende Genugtuung, die Summe seines Wissens und Glaubens an die Zukunft weitergegeben zu haben und einen Menschen zu wissen, zwiefach sein Sohn, dem er jeden Tag sein Amt übergeben konnte, wenn es ihm selber zu mühsam würde. Aber jener mißratene erste Schüler ließ sich dennoch aus seinem Leben und seinen Gedanken nicht wieder hinwegbannen, er wurde im Dorfe ein zwar nicht hochgeehrter, aber doch bei vielen höchst beliebter und nicht einflußloser Mann, er hatte geheiratet, war als eine Art Gaukler und Spaßmacher beliebt, war sogar Obertrommler im Trommlerchor und blieb ein heimlicher Feind und Neider des Regenmachers, von welchem dieser manchen kleinen und auch großen Tort erleiden mußte. Knecht war niemals ein Mann der Freundschaften und des Zusammensitzens gewesen, er brauchte Alleinsein und Freiheit, er hatte nie um Achtung oder Liebe geworben, es sei denn einst als Knabe beim Meister Turu. Aber nun bekam er doch zu fühlen, was es ist, einen Feind und Hasser zu haben; es verdarb ihm manchen Tag seines Lebens.
Maro hatte zu jener Art von Schülern gehört, zu jener sehr begabten Art, welche trotz ihrer Begabung zu allen Zeiten den Lehrern unangenehm und lastig ist, weil bei ihnen das Talent nicht eine von unten und innen her gewachsene und begründete organische Stärke ist, das zarte adelnde Stigma einer guten Natur, eines tüchtigen Blutes und eines tüchtigen Charakters, sondern gleichsam etwas Angeflogenes, Zufälliges, ja Usurpiertes oder Gestohlenes. Ein Schüler von geringem Charakter, aber hohem Verstand oder glänzender Phantasie bringt unweigerlich den Lehrer in Verlegenheit: er soll diesem Schüler das Ererbte an Wissen und Methode beibringen und ihn zur Mitarbeit am geistigen Leben fähig machen – und muß doch fühlen, daß seine eigentliche, höhere Pflicht es wäre, die Wissenschaften und Künste gerade vor dem Zudrang der Nurbegabten zu schützen; denn der Lehrer hat ja nicht dem Schüler zu dienen, sondern beide dem Geist. Dies ist der Grund, warum die Lehrer vor gewissen blendenden Talenten eine Scheu und ein Grauen haben; jeder derartige Schüler verfälscht den ganzen Sinn und Dienst der Lehrarbeit. Jede Förderung eines Schülers, der zwar zu glänzen, aber nicht zu dienen fähig ist, bedeutet im Grunde eine Schädigung des Dienstes, eine Art von Verrat am Geist. Wir kennen in der Geschichte mancher Völker Perioden, in welchen, bei tiefgehender Störung der geistigen Ordnungen, geradezu ein Ansturm der Nurbegabten auf die Leitung der Gemeinden, der Schulen und Akademien, der Staaten stattgefunden hat und in allen Ämtern hochtalentierte Leute saßen, welche alle regieren wollten, ohne dienen zu können. Diese Art von Talenten rechtzeitig zu erkennen, noch ehe sie sich der Fundamente eines geistigen Berufes bemächtigt haben, und sie mit der notwendigen Härte auf die Wege zu ungeistigen Berufen zurückzuschicken, ist gewiß oft sehr schwer. Auch Knecht hatte Fehler gemacht, er hatte mit dem Lehrling Maro allzu lange Geduld gehabt, er hatte einem Streber und Oberflächlichen manche Adeptenweisheit anvertraut, um die es schade war. Die Folgen waren für ihn selbst schwerere, als er je gedacht hätte.
Es kam ein Jahr – Knechts Bart war schon ziemlich grau geworden –, da schien die Ordnung zwischen Himmel und Erde durch Dämonen von ungewöhnlicher Kraft und Tücke verrückt und gestört worden zu sein. Diese Störungen begannen im Herbste schauerlich und majestätisch, jede Seele bis zum Grunde erschreckend und mit Angst beklemmend, mit einem nie gesehenen Himmelsschauspiel, bald nach der Zeit der Tag- und Nachtgleiche, welche vom Regenmacher immer mit einer gewissen Feierlichkeit und ehrfürchtigen Andacht, mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit beobachtet und erlebt wurde. Da kam ein Abend, leicht, windig und etwas kühl, der Himmel glasig klar bis auf wenige unruhige Wölkchen, die in sehr großer Höhe schwebten und das rosige Licht der untergegangenen Sonne ungewöhnlich lange festhielten: treibende, lockere und schaumige Lichtbündel im kalten, bleichen Weltraum. Knecht hatte schon seit einigen Tagen etwas gespürt, das stärker und merkwürdiger war als das, was jedes Jahr um diese Zeit der beginnenden kürzeren Tage zu spüren war, ein Wirken der Mächte im Himmelsraum, eine Bangigkeit der Erde, der Pflanzen und Tiere, eine Unruhe in den Lüften, etwas Unstetes, Wartendes, Banges, Ahnungsvolles in aller Natur, auch die lang und zuckend nachflammenden Wölkchen dieser Abendstunde gehörten dazu mit ihren flatternden Bewegungen, welche nicht dem auf Erden wehenden Winde entsprachen, und ihrem flehenden, sich lang und trauernd gegen das Erlöschen wehrenden roten Licht, nach dessen Erkalten und Schwinden sie plötzlich unsichtbar waren. Im Dorf war es ruhig, vor der Hütte der Altmutter hatten die Besucher und zuhörenden Kinder sich schon lange verloren, ein paar Knaben jagten und rauften sich noch, sonst war alles schon in den Hütten, hatte längst gegessen. Viele schliefen schon, kaum daß jemand, außer dem Regenmacher, die abendroten Wolken beobachtete. Knecht ging in der kleinen Pflanzung hinter seiner Hütte auf und ab, dem Wetter nachgrübelnd, gespannt und ruhelos, zuweilen setzte er sich zu kurzer Rast auf den Baumklotz, der zwischen den Brennesseln stand und zum Holzspalten diente. Mit dem Erlöschen der letzten Wolkenkerze wurden die Sterne in dem noch hell und grünlich nachschimmernden Himmel plötzlich deutlicher sichtbar und nahmen schnell an Zahl und an Leuchtkraft zu; wo eben noch zwei oder drei sichtbar gewesen waren, standen schon zehn, zwanzig. Viele von ihnen und ihren Gruppen und Familien waren dem Regenmacher bekannt, er hatte sie viel hundertmal gesehen; ihre unveränderte Wiederkehr hatte etwas Beruhigendes, Sterne waren tröstlich, fern zwar und kalt standen sie oben, keine Wärme strahlend, aber zuverlässig, fest gereiht, Ordnung verkündend, Dauer versprechend. Dem Leben auf Erden, dem Leben der Menschen anscheinend so fremd und fern und entgegengesetzt, so unrührbar von seiner Wärme, seinen Zuckungen, Leiden und Ekstasen, ihm mit ihrer vornehm kalten Majestät und Ewigkeit so bis zum Spott überlegen, waren die Sterne dennoch in Beziehung zu uns, leiteten und regierten uns vielleicht, und wenn irgendein menschliches Wissen, ein geistiger Besitz, eine Sicherheit und Überlegenheit des Geistes über das Vergängliche erreicht und festgehalten wurde, so glichen sie den Sternen, strahlten wie sie in kühler Ruhe, trösteten mit kühlem Schauer, blickten ewig und etwas spöttisch. So war es dem Regenmacher oft erschienen, und wenn er auch zu den Sternen keineswegs das nahe, erregende, in beständiger Änderung und Wiederkehr sich erprobende Verhältnis hatte wie zum Monde, dem Großen, Nahen, Feuchten, dem fetten Zauberfisch im Himmelsmeer, so verehrte er sie doch tief und war ihnen durch manchen Glauben verbunden. Sie lange anzublicken und auf sich einwirken zu lassen, seine Klugheit, seine Wärme, seine Bangigkeit ihren kaltstillen Blicken darzubieten, war ihm oft wie Bad und Heiltrank gewesen.
Auch heute blickten sie wie immer, nur sehr hell und wie scharfgeschliffen in der straffen, dünnen Luft, aber er fand nicht die Ruhe in sich, sich ihnen hinzugeben, es zog aus unbekannten Räumen her eine Macht an ihm, schmerzte in den Poren, sog an den Augen, wirkte still und stetig, ein Strom, eine warnende Bebung. Nebenan in der Hütte glomm trübrot das warme schwache Licht der Herdglut, floß das kleine warme Leben, klang ein Zuruf, ein Lachen, ein Gähnen, atmete Menschengeruch, Hautwärme, Mütterlichkeit, Kinderschlaf, und schien durch seine harmlose Nähe die angebrochene Nacht noch zu vertiefen, die Sterne noch weiter zurück in die unbegreifliche Ferne und Höhe zu treiben.
Und jetzt, während Knecht in der Hütte drinnen die Stimme Adas, ein Kind beruhigend, melodisch tief sumsen und brummen hörte, begann am Himmel die Katastrophe, deren das Dorf noch jahrelang gedenken sollte. Es trat in dem stillen blanken Netz der Sterne da und dort ein Flimmern und Flackern ein, als zuckten die sonst unsichtbaren Fäden dieses Netzes flammend auf, es fielen, wie Steine geworfen, aufglühend und rasch wieder erlöschend, einzelne Sterne schräg durch den Raum, hier einer, dort zwei, hier ein paar, und noch hatte das Auge den ersten entschwundenen Fallstern nicht losgelassen, noch hatte das Herz, vom Anblick versteinert, nicht wieder zu schlagen begonnen, da jagten sich die schräg und in leicht gekrümmter Linie durch den Himmel fallenden oder geschleuderten Lichter schon in Schwärmen von Dutzenden, von Hunderten, in unzählbaren Scharen trieben sie wie von einem stummen Riesensturm getragen quer durch die schweigende Nacht, als habe ein Weltenherbst alle Sterne wie welke Blätter vom Himmelsbaum gerissen und jage sie lautlos dahin, ins Nichts. Wie welke Blätter, wie wehende Schneeflocken flohen sie. Tausende und Tausende, in schauerlicher Stille dahin und hinab, hinter den südöstlichen Waldbergen verschwindend, wo noch niemals seit Menschengedenken ein Stern untergegangen war, irgendwohin ins Bodenlose hinab.
Erstarrten Herzens, mit flimmernden Augen stand Knecht, den Kopf in den Nacken gedrückt, entsetzten und doch unersättlichen Blicks in den verwandelten und verwunschenen Himmel schauend, seinen Augen mißtrauend und doch des Schrecklichen nur allzu gewiß. Wie alle, denen dieser nächtliche Anblick geworden war, glaubte er die wohlbekannten Sterne selbst wanken, dahinstieben und hinabstürzen zu sehen und erwartete das Gewölbe, falls nicht vorher die Erde ihn verschlänge, in Bälde schwarz und ausgeleert zu sehen. Nach einer Weile freilich erkannte er, was andere zu erkennen nicht fähig waren, daß die wohlbekannten Sterne hier und dort und überall noch vorhanden waren, daß das Sterngestiebe nicht unter den alten, vertrauten Sternen ein schreckliches Wesen trieb, sondern im Zwischenraum zwischen Erdboden und Himmel, und daß diese fallenden oder geworfenen, neuen, so schnell erscheinenden und so schnell schwindenden Lichter in einem etwas anders gefärbten Feuer glühten als die alten, die richtigen Sterne. Dies war ihm tröstlich und half ihm sich wiederfinden, aber mochten das nun auch neue, vergängliche, andre Sterne sein, deren Gestöber die Luft erfüllte: grausig und böse, Unheil und Unordnung war es doch, tiefe Seufzer aus Knechts vertrockneter Kehle. Er blickte erdwärts, er horchte umher, um zu erfahren, ob ihm allein dies geisterhafte Schauspiel erscheine oder ob auch andre es sähen. Bald hörte er von anderen Hütten her Stöhnen, Kreischen und Ausrufe des Schreckens; auch andre hatten es gesehen, hatten es weitergeschrien, hatten die Ahnungslosen und die Schläfer alarmiert, im Nu würde Angst und Panik das ganze Dorf ergriffen haben. Tief aufseufzend nahm es Knecht auf sich. Ihn vor allen andern traf es, dies Unglück, ihn, den Regenmacher; ihn, der gewissermaßen verantwortlich war für die Ordnung am Himmel und in den Lüften. Noch immer hatte er große Katastrophen voraus erkannt oder gespürt: Überschwemmung, Hagel, große Stürme, hatte jedesmal die Mütter und Ältesten vorbereitet und gewarnt, hatte das Ärgste verhütet, hatte sich, sein Wissen und seinen Mut und sein Vertrauen zu den oberen Mächten zwischen das Dorf und die Verzweiflung gestellt. Warum hatte er diesmal nichts vorausgewußt und angeordnet? Warum hatte er von dem dunkeln, warnenden Vorgefühl, das er allerdings gehabt, keinem Menschen ein Wort gesagt?
Er lüpfte die Matte des Hütteneingangs und rief leise den Namen seiner Frau. Sie kam, ihr Jüngstes an der Brust, er nahm ihr das Kleine ab und legte es auf die Streu, er nahm Adas Hand, legte einen Finger auf die Lippen, Schweigen fordernd, führte sie aus der Hütte und sah, wie alsbald ihr geduldig stilles Gesicht von Angst und Schrecken entstellt wurde.
»Die Kinder sollen schlafen, sie sollen das nicht sehen, hörst du?« flüsterte er heftig. »Du darfst keines herauslassen, auch Turu nicht. Und auch du selber bleibst drinnen.«
Er zögerte, ungewiß, wieviel er sagen, wieviel von seinen Gedanken er verraten solle, und fügte dann mit Festigkeit hinzu: »Es wird dir und den Kindern nichts geschehen.«
Sie glaubte es ihm alsbald, obwohl damit ihr Gesicht und Gemüt noch nicht wieder vom erlittenen Schrecken genesen war.
»Was ist es denn?« fragte sie, wieder an ihm vorbei in den Himmel starrend. »Ist es sehr schlimm?«
»Es ist schlimm,« sagte er sanft, »ich glaube wohl, daß es sehr schlimm ist. Aber es gilt nicht dir und den Kleinen. Bleibet in der Hütte, halte die Matte gut geschlossen. Ich muß zu den Leuten, mit ihnen reden. Geh hinein, Ada.«
Er drängte sie durch das Hüttenloch, zog die Matte sorgfältig zu, stand noch einige Atemzüge lang, das Gesicht dem fortdauernden Sternregen zugewandt, dann senkte er den Kopf, seufzte nochmals aus schwerem Herzen und ging nun schnell dorfeinwärts durch die Nacht, zur Hütte der Ahnmutter.
Hier war das halbe Dorf schon versammelt, in einem gedämpften Getöse, einem durch die Angst gelähmten und halb unterdrückten Taumel von Schrecken und Verzweiflung. Es gab Weiber und Männer, welche sich dem Gefühl von Entsetzen und Untergangsnähe mit einer Art von Wut und Wollust hingaben, die wie Verzückte steif standen oder mit unbeherrschten Gliedern um sich fuchtelten, eine hatte Schaum vor dem Munde, tanzte für sich allein einen verzweifelten und zugleich obszönen Tanz und riß sich dabei die langen Haare in ganzen Büscheln aus. Knecht sah: es war alles schon im Gange, sie waren schon beinahe alle an den Rausch verloren, von den fallenden Sternen behext und verrückt gemacht, es würde vielleicht eine Orgie von Irrsinn, Wut und Selbstvernichtungslust geben, es war höchste Zeit, die paar Mutigen und Besonnenen zu sammeln und zu stärken. Die uralte Ahnmutter war ruhig; sie glaubte das Ende aller Dinge gekommen, wehrte sich aber nicht dagegen und zeigte dem Schicksal ein festes, hartes, in seiner herben Gekniffenheit beinah spöttisch aussehendes Gesicht. Er brachte sie dazu, ihn anzuhören. Er versuchte ihr zu demonstrieren, daß die alten, die immer dagewesenen Sterne noch vorhanden seien, doch vermochte sie das nicht aufzunehmen, sei es, daß ihre Augen die Kraft nicht mehr hatten, es zu erkennen, sei es, daß ihre Vorstellung von den Sternen und ihr Verhältnis zu ihnen von denen des Regenmachers allzu verschieden waren, als daß man einander hätte verstehen können. Sie schüttelte den Kopf und behielt ihr tapferes Grinsen bei, und als Knecht sie nun beschwor, die Leute in ihrem Angstrausch nicht sich selber und den Dämonen zu überlassen, war sie sogleich einverstanden. Es bildete sich um sie und den Wettermacher eine kleine Gruppe von geängstigten, aber nicht verrückt gewordenen Menschen, die bereit waren, sich führen zu lassen.
Noch im Augenblick vor seinem Eintreffen hatte Knecht gehofft, der Panik durch Vorbild, Vernunft, Rede, Erklärung und Zuspruch steuern zu können. Schon das kurze Gespräch mit der Ahnfrau belehrte ihn, daß es dafür zu spät sei. Er hatte gehofft, die andern an seinem eignen Erlebnis teilhaben lassen, es ihnen zum Geschenk machen und auf sie übertragen zu können, er hatte gehofft, unter seinem Zuspruch würden sie vor allem einsehen, daß nicht die Sterne selber, oder doch nicht alle, herunterfielen und vom Weltsturm davongetragen würden, und damit, daß sie vom hilflosen Schrecken und Staunen zum tätigen Beobachten fortschritten, würden sie der Erschütterung standhalten können. Aber es wären, das sah er schnell, im ganzen Dorf nur sehr wenige dieser Beeinflussung zugänglich gewesen, und bis man auch nur sie gewonnen hätte, wären die andern vollends ganz dem Irrsinn verfallen. Nein, es war hier, wie so oft, mit der Vernunft und den klugen Worten gar nichts zu erreichen. Zum Glück gab es andre Mittel. Wenn es unmöglich war, die Todesangst aufzulösen, indem man sie mit Vernunft durchsetzte, so war es doch möglich, die Todesangst zu leiten, zu organisieren, ihr Form und Gesicht zu geben und aus dem hoffnungslosen Durcheinander von Tollgewordenen eine feste Einheit, aus den unbeherrschten wilden Einzelstimmen einen Chor zu machen. Alsbald setzte es Knecht ins Werk, alsbald schlug das Mittel an. Er trat vor die Leute, schrie die wohlbekannten Gebetsworte, mit welchen sonst die öffentlichen Trauer- und Bußübungen eröffnet wurden, die Totenklage um eine Ahnfrau oder das Opfer- und Bußfest bei öffentlichen Gefahren wie Seuchen und Überschwemmung. Er schrie die Worte im Takt und unterstützte den Takt durch Händeklatschen, und im selben Takt, schreiend und händeklatschend, bückte er sich bis fast zum Erdboden, erhob sich wieder, bückte sich wieder, erhob sich, und schon machten zehn und zwanzig andere die Bewegungen mit, die greise Dorfmutter stand, murmelte rhythmisch und deutete mit kleinen Verneigungen die rituellen Bewegungen an. Wer noch von den anderen Hütten her sich einfand, ordnete sich ohne weiteres in den Takt und Geist der Zeremonie ein, die paar ganz Besessenen brachen entweder bald mit erschöpften Kräften zusammen und lagen regungslos, oder sie wurden vom Chorgemurmel und Verneigungsrhythmus der gottesdienstlichen Handlung bezwungen und mitgerissen. Es war gelungen. Statt einer verzweifelten Horde von Verrückten stand da ein Volk von Opfer- und bußgewillten Andächtigen, deren jedem es wohltat und das Herz stärkte, seine Todesfurcht und sein Entsetzen nicht in sich zu verschließen oder für sich allein hinauszubrüllen, sondern im geordneten Chor der vielen, taktmäßig, sich einer beschwörenden Zeremonie einzuordnen. Viele geheime Mächte sind in einer solchen Übung wirksam, ihr stärkster Trost ist die Gleichförmigkeit, das Gemeinschaftsgefühl verdoppelnd, und ihre unfehlbarste Arznei ist Maß und Ordnung, ist Rhythmus und Musik.
Während noch immer der ganze Nachthimmel vom Heer der fallenden Sternschnuppen wie von einer lautlos stürzenden Kaskade aus Lichttropfen bedeckt war, welche wohl zwei Stunden lang weiter ihre großen rötlichen Feuertropfen verschwendete, verwandelte das Grauen des Dorfes sich in Ergebung und Devotion, in Anrufung und Bußgefühl, und den aus ihrer Ordnung geratenen Himmeln trat die Angst und Schwäche der Menschen als Ordnung und kultische Harmonie entgegen. Noch ehe der Sternenregen anfing zu ermüden und dünner zu strömen, war das Wunder vollzogen und strahlte Heilkraft aus, und als der Himmel langsam sich zu beruhigen und zu genesen schien, hatten die todmüden Büßer alle das erlösende Gefühl, mit ihrer Übung die Mächte besänftigt und den Himmel wieder in Ordnung gebracht zu haben.
Die Schreckensnacht wurde nicht vergessen, man sprach noch den ganzen Herbst und Winter hindurch von ihr, aber bald tat man es schon nicht mehr flüsternd und beschwörend, sondern im alltäglichen Ton und mit der Genugtuung, welche auf ein brav bestandenes Unheil, eine mit Erfolg bekämpfte Gefahr zurückblickt. Man erlabte sich an den Einzelheiten, jeder war auf seine Weise von dem Unerhörten überrascht worden, jeder wollte es als erster entdeckt haben, über einige besonders Furchtsame und Überwältigte wagte man sich lustig zu machen, und noch lange hielt eine gewisse Angeregtheit im Dorfe vor: man hatte etwas erlebt, Großes war geschehen, es war etwas los gewesen!
An dieser Stimmung und am allmählichen Abflauen und Vergessen des großen Ereignisses hatte Knecht keinen Teil. Für ihn blieb das unheimliche Erlebnis eine unvergeßliche Mahnung, ein nicht mehr zur Ruhe kommender Stachel, und für ihn war es dadurch, daß es vorübergegangen und durch Prozession, Gebet und Bußübung besänftigt worden war, keineswegs abgetan und abgewendet. Es gewann sogar, je länger es vergangen war, für ihn desto größere Bedeutung, denn er erfüllte es mit Sinn, er wurde an ihm vollends zum Grübler und Deuter. Für ihn war schon das Ereignis an sich, das wunderhafte Naturschauspiel, ein unendlich großes und schwieriges Problem mit vielen Perspektiven: einer, der dies gesehen hatte, konnte wohl ein Leben lang darüber nachsinnen. Nur ein einziger im Dorf hätte den Sternenregen mit ähnlichen Voraussetzungen und ähnlichen Augen wie er selbst betrachtet, sein eigener Sohn und Schüler Turu, nur dieses einen Zeugen Bestätigungen oder Korrekturen hätten Wert für Knecht gehabt. Aber diesen Sohn hatte er schlafen lassen, und je länger er darüber nachgrübelte, warum er das eigentlich getan, warum er bei dem unerhörten Geschehnis auf den einzigen ernst zu nehmenden Zeugen und Mitbeobachter verzichtet hatte, desto mehr verstärkte sich in ihm der Glaube, daß er da gut und richtig gehandelt und einer weisen Ahnung gehorcht habe. Er hatte die Seinen vor dem Anblick behüten wollen, auch seinen Lehrling und Kollegen, und sogar ihn ganz besonders, denn niemandem war er so zugetan wie ihm. Darum hatte er ihm den Sternenfall verheimlicht und unterschlagen, denn einmal glaubte er an die guten Geister des Schlafes, zumal des jugendlichen, und ferner hatte er, wenn die Erinnerung ihn nicht täuschte, eigentlich schon in jenem Augenblick, gleich nach dem Beginn der Himmelszeichen, weniger an eine augenblickliche Lebensgefahr für alle gedacht als an ein Vorzeichen und sich meldendes Unheil in der Zukunft, und zwar an eines, das keinen so nahe anging und betreffen würde wie ihn allein, den Wettermacher. Es war da etwas im Anzug, eine Gefahr und Bedrohung aus jener Sphäre her, mit welcher sein Amt ihn verband, und sie würde, in welcher Gestalt immer, vor allem und ausdrücklich ihm selber gelten. Sich dieser Gefahr wach und entschlossen entgegenzustellen, sich in der Seele auf sie vorzubereiten, sie hinzunehmen, aber sich nicht von ihr kleinmachen und entwürdigen zu lassen, das war die Mahnung und der Entschluß, welche er aus dem großen Vorzeichen zog. Es würde dies kommende Schicksal einen reifen und mutigen Mann erfordern, darum wäre es nicht gut gewesen, den Sohn mit hineinzuziehen, ihn als Mitleidenden oder nur als Mitwisser zu haben, denn so gut er von ihm dachte, war es doch ungewiß, ob ein junger und unerprobter Mensch ihm würde gewachsen sein.
Der Sohn Turu freilich war sehr unzufrieden damit, daß er das große Schauspiel versäumt und verschlafen hatte. Mochte es nun so oder so gedeutet werden, eine große Sache war es in jedem Fall, und vielleicht würde in seinem ganzen Leben sich Ähnliches nicht mehr zeigen, es war ihm ein Erlebnis und Weltwunder entgangen, eine ganze Weile schmollte er deswegen mit dem Vater. Nun, dies Schmollen wurde überwunden, denn der Alte entschädigte ihn durch vermehrte zärtliche Aufmerksamkeit und zog ihn mehr als je zu allen Verrichtungen seines Amtes heran, sichtlich gab er im Vorgefühl kommender Dinge sich gesteigerte Mühe, in Turu vollends einen möglichst vollkommenen und eingeweihten Nachfolger zu erziehen. Sprach er auch nur selten mit ihm über jenen Sternregen, so nahm er ihn doch immer rückhaltloser in seine Geheimnisse, seine Praktiken, sein Wissen und Forschen mit auf, ließ sich von ihm auch bei Gängen, Versuchen, Naturbelauschungen begleiten, die er bisher mit niemand geteilt hatte.
Der Winter kam und verging, ein feuchter und eher milder Winter. Keine Sterne stürzten mehr, keine großen und ungewöhnlichen Dinge geschahen, das Dorf war beruhigt, fleißig gingen die Jäger auf Beute aus, am Gestänge über den Hütten klapperten überall bei windigem Frostwetter die Bündel von aufgehängten, steifgefrorenen Tierfellen, auf geglätteten langen Scheiten zog man über den Schnee die Holzlasten vom Walde her. Gerade während der kurzen Frostperiode starb eine alte Frau im Dorf, man konnte sie nicht gleich begraben; eine Reihe von Tagen, bis der Boden wieder etwas auftaute, hockte der gefrorene Leichnam neben der Hüttentür.
Der Frühling erst bestätigte zum Teil die üblen Vorahnungen des Wettermachers. Es wurde ein ausgesprochen schlechter, vom Monde verratener, lustloser Frühling ohne Trieb und Saft, immer war der Mond im Rückstande, niemals trafen die verschiedenen Zeichen zusammen, deren es bedurfte, um den Tag der Aussaat zu bestimmen, dürftig blühten die Blumen der Wildnis, tot hingen die geschlossenen Knospen an den Zweigen. Knecht war sehr bekümmert, ohne es sich anmerken zu lassen, nur Ada und namentlich Turu sahen, wie es an ihm zehrte. Er nahm nicht nur die üblichen Beschwörungen vor, sondern brachte auch private, persönliche Opfer dar, kochte für die Dämonen wohlriechende, wollüstig machende Breie und Aufgüsse, schnitt sich den Bart kurz und verbrannte die Haare in der Neumondnacht, vermengt mit Harz und feuchter Rinde, einen dicken Rauch erzeugend. Solange als möglich vermied er die öffentlichen Veranstaltungen, das Gemeindeopfer, die Bittgänge, die Trommlerchöre, solange als irgend möglich ließ er das verwünschte Wetter dieses bösen Frühlings seine Privatsorge sein. Immerhin mußte er, als der übliche Termin der Aussaat schon erheblich überschritten war, der Ahnmutter Bericht erstatten; und siehe, auch hier stieß er auf Unglück und Widerwärtigkeit. Die alte Ahnfrau, ihm gut Freund und beinah mütterlich wohlgesinnt, empfing ihn nicht, sie fühlte sich schlecht, lag im Bett, alle Pflichten und Besorgnisse hatte sie ihrer Schwester übergeben, und diese Schwester war gegen den Regenmacher recht kühl gesinnt, sie hatte nicht das strenge, gerade Wesen der Älteren, neigte etwas zu Zerstreuungen und Spielereien, und dieser Hang hatte ihr den Trommler und Gaukler Maro zugeführt, der verstand, ihr angenehme Stunden zu bereiten und ihr zu schmeicheln, und Maro war Knechts Feind. Gleich bei der ersten Unterredung witterte Knecht die Kühle und Abneigung, obwohl ihm mit keinem Wort widersprochen wurde. Seine Darlegungen und Vorschläge, nämlich mit der Aussaat und auch mit etwaigen Opfern und Umgängen noch zu warten, wurden gutgeheißen und angenommen, aber die Alte hatte ihn doch kalt und wie einen Untergebenen empfangen und behandelt, und sein Wunsch, die kranke Ahnmutter sehen oder ihr doch Arznei bereiten zu dürfen, wurde abschlägig beschieden. Betrübt und wie ärmer geworden, mit einem schlechten Geschmack im Gaumen, kam er von dieser Unterredung zurück, und einen halben Mond lang bemühte er sich auf seine Weise, eine Witterung zu schaffen, welche die Aussaat erlaubt hätte. Aber das Wetter, oft so gleichgerichtet mit den Strömungen seines Innern, verhielt sich hartnäckig höhnisch und feindselig, nicht Zauber noch Opfer schlug an. Es blieb dem Regenmacher nicht erspart, er mußte nochmals zur Schwester der Ahnmutter, diesmal war es schon wie ein Bitten um Geduld, um Aufschub; und er merkte sogleich, daß sie mit Maro, dem Hanswurst, über ihn und seine Sache müsse gesprochen haben, denn beim Gespräch über die Notwendigkeit, den Säetag zu bestimmen oder aber öffentliche Bittzeremonien anzuordnen, spielte das alte Weib allzusehr die Allwissende und brauchte einige Ausdrücke, die sie nur von Maro haben konnte, dem einstigen Regenmacherlehrling. Knecht bat sich noch drei Tage aus, stellte alsdann die gesamte Konstellation neu und günstiger dar und legte die Aussaat auf den ersten Tag des dritten Mondviertels. Die Alte fügte sich und sprach den rituellen Spruch dazu; der Beschluß wurde dem Dorf verkündigt, alles rüstete sich zur Saatfeier. Und nun, wo für eine Weile alles wieder geordnet schien, zeigten die Dämonen von neuem ihre Mißgunst. Ausgerechnet einen Tag vor der ersehnten und vorbereiteten Aussaatfeier starb die alte Ahnmutter, die Feier mußte verschoben und statt ihrer die Bestattung angesagt und vorbereitet werden. Es war eine Feier ersten Ranges; hinter der neuen Dorfmutter, ihren Schwestern und Töchtern hatte der Regenmacher seinen Platz, im Ornat der großen Bittgänge, unter der hohen spitzen Fuchsfellmütze, von seinem Sohn Turu assistiert, der die zweitönige Hartholzklapper schlug. Der Verstorbenen sowohl wie ihrer Schwester, der neuen Ältesten, wurde viel Ehre erwiesen. Maro mit den von ihm angeführten Trommlern drängte sich stark vor und fand Beachtung und Beifall. Das Dorf weinte und feierte, es genoß Wehklage und Festtag, Trommelmusik und Opfer, es war ein schöner Tag für alle, aber die Aussaat war wieder verschoben. Knecht stand würdig und gefaßt, war aber tief bekümmert; es schien ihm, als begrabe er mit der Ahnmutter alle guten Zeiten seines Lebens.
Bald darauf fand, auf Wunsch der neuen Ahnmutter ebenfalls mit besonderer Großartigkeit, die Aussaat statt. Feierlich umschritt die Prozession die Felder, feierlich streute die Alte die ersten Händevoll Samen ins Gemeindeland, zu beiden Seiten gingen ihre Schwestern, jede einen Beutel mit Körnern tragend, aus dem die Älteste schöpfte. Knecht atmete ein wenig auf, als diese Begehung endlich vollzogen war.
Aber die so festlich ausgesäte Frucht sollte keine Freude und keine Ernte bringen, es war ein gnadenloses Jahr. Mit einem Rückfall in Winter und Frost beginnend, übte das Wetter in diesem Frühling und Sommer alle nur ersinnlichen Tücken und Feindseligkeiten, und im Sommer, als endlich ein dünnstehendes, halbhohes, mageres Wachstum die Felder bedeckte, kam das Letzte und Schlimmste, eine ganz unerhörte Trockenheit, wie seit Menschengedenken keine gewesen war. Woche um Woche kochte die Sonne im weißlichen Hitzedunst, die kleineren Bäche versiegten, vom Dorfweiher blieb nur ein schmutziger Sumpf übrig, Paradies der Libellen und einer ungeheuerlichen Brut von Stechmücken, in der dürren Erde klafften die Spalten tief, man konnte zusehen, wie die Ernte erkrankte und abdorrte. Je und je zog sich Gewölk zusammen, aber die Gewitter blieben trocken, und fiel einmal ein Spritzer Regen, so folgte ihm tagelang ein dörrender Ostwind, oft schlug der Blitz in hohe Bäume, deren halbverdorrte Wipfel in schnell verloderten Feuern verbrannten.
»Turu,« sagte Knecht eines Tages zu seinem Sohn, »diese Sache wird nicht gut ausgehen, wir haben alle Dämonen gegen uns. Mit dem Sternenfall hat es angefangen. Es wird mir, so denke ich, das Leben kosten. Merke dir: wenn ich geopfert werden muß, dann trittst du in der gleichen Stunde mein Amt an, und als erstes verlangst du, daß mein Leib verbrannt und die Asche auf die Felder gestreut wird. Ihr werdet einen Winter mit großem Hunger haben. Aber das Unheil wird dann gebrochen sein. Du mußt sorgen, daß niemand das Saatgut der Gemeinde angreift, es muß Todesstrafe darauf stehen. Das kommende Jahr wird besser werden, und man wird sagen: gut, daß wir den neuen, jungen Wettermacher haben.«
Im Dorf herrschte Verzweiflung, Maro hetzte, nicht selten wurden dem Regenmacher Drohungen und Verwünschungen zugerufen. Ada wurde krank und lag von Erbrechen und Fiebern geschüttelt. Die Umgänge, die Opfer, die langen, herzerschütternden Trommelchöre konnten nichts mehr gutmachen. Knecht leitete sie, es war sein Amt, aber wenn die Leute wieder auseinanderliefen, stand er allein, ein gemiedener Mann. Er wußte, was notwendig war, und wußte auch, daß Maro schon von der Ahnmutter seine Opferung verlangt hatte. Seiner Ehre und seinem Sohn zuliebe tat er den letzten Schritt: er bekleidete Turu mit dem großen Ornat, nahm ihn mit zur Ahnmutter, empfahl ihn als seinen Nachfolger und legte selber sein Amt nieder, indem er sich zum Opfer anbot. Sie sah ihn eine kleine Weile neugierig prüfend an, dann nickte sie und sagte ja.
Die Opferung wurde noch am selben Tage vollzogen. Das ganze Dorf wäre mitgegangen, aber es lagen viele an der Ruhr krank, auch Ada lag schwer krank. Turu in seinem Ornat mit der hohen Fuchsfellmütze wäre beinah einem Hitzschlag erlegen. Alle Angesehenen und Würdenträger, soweit sie nicht krank lagen, kamen mit, die Ahnmutter mit zwei Schwestern, die Ältesten, der Vorstand des Trommlerchors, Maro. Hinterher folgte ungeordnet der Volkshaufe. Beschimpft wurde der alte Regenmacher von keinem, es ging recht schweigsam und beklommen zu.
Man zog in den Wald und suchte dort eine große rundliche Lichtung auf, sie hatte Knecht selbst zum Ort der Handlung bestimmt. Die meisten Männer hatten ihre Steinäxte mit, um an dem Holzstoß für die Verbrennung mitzuarbeiten. In der Lichtung angekommen, ließ man den Regenmacher in der Mitte stehen und bildete einen kleinen Kreis um ihn, weiter außen im größeren Kreis stand die Menge. Da alle ein unentschlossenes und verlegenes Schweigen bewahrten, ergriff der Regenmacher selbst das Wort. »Ich bin euer Regenmacher gewesen,« sagte er, »ich habe meine Sache viele Jahre lang so gut gemacht, als ich konnte. Jetzt sind die Dämonen gegen mich, es will mir nichts mehr glücken. Darum habe ich mich zum Opfer gestellt. Das versöhnt die Dämonen. Mein Sohn Turu wird euer neuer Regenmacher sein. Nun tötet mich, und wenn ich tot bin, dann folget genau den Vorschriften meines Sohnes. Lebet wohl! Und wer wird mich töten? Ich empfehle den Trommler Maro, er wird der geeignete Mann dafür sein.«
Er schwieg, und niemand rührte sich. Turu, dunkelrot unter der schweren Fellmütze, blickte gequält im Kreise herum, spöttisch verzog sich seines Vaters Mund. Endlich stampfte die Ahnmutter wütend mit dem Fuße auf, winkte Maro her und schrie ihn an: »Vorwärts doch! Nimm die Axt und tu es!« Maro, die Axt in Händen, stellte sich vor seinem einstigen Lehrmeister auf, er haßte ihn noch mehr als sonst, der Zug von Spott auf diesem schweigsamen alten Mund tat ihm bitter weh. Er hob die Axt und schwang sie über sich, zielend hielt er sie oben schwebend, starrte dem Opfer ins Gesicht und wartete, daß es die Augen schlösse. Allein dies tat Knecht nicht, er hielt die Augen unentwegt offen und blickte den Mann mit der Axt an, beinah ohne Ausdruck, aber was an Ausdruck zu sehen war, schwebte zwischen Mitleid und Spott.
Wütend warf Maro die Axt weg. »Ich tue es nicht,« murmelte er, drang durch den Kreis der Ehrwürdigen und verlor sich in der Menge. Einige lachten leise. Die Ahnmutter war bleich vor Zorn geworden, über den feigen, unbrauchbaren Maro nicht weniger als über diesen hochmütigen Regenmacher. Sie winkte einem der Ältesten, einem ehrwürdigen, stillen Mann, der auf seine Axt gestützt stand und sich dieser ganzen unbehaglichen Szene zu schämen schien. Er trat vor, er nickte dem Opfer kurz und freundlich zu, sie kannten sich seit Knabenzeiten, und jetzt schloß das Opfer willig seine Augen, fest tat Knecht sie zu und senkte den Kopf ein wenig. Der Alte schlug ihn mit der Axt, er sank zusammen. Turu, der neue Regenmacher, konnte kein Wort sprechen, nur mit Gebärden ordnete er das Notwendige an, und bald war ein Holzstoß geschichtet und der Tote darauf niedergelegt. Das feierliche Ritual des Feuerbohrens mit den beiden geweihten Hölzern war Turus erste Amtshandlung.
Es war um die Zeit, da der heilige Hilarion noch am Leben, wenn auch schon hoch in den Jahren war, da lebte in der Stadt Gaza einer namens Josephus Famulus, der hatte bis zu seinem dreißigsten Jahr oder länger ein Weltleben geführt und die heidnischen Bücher studiert, war alsdann durch eine Frau, welcher er nachstellte, mit der göttlichen Lehre und der Süßigkeit der christlichen Tugenden bekannt geworden, hatte sich der heiligen Taufe unterzogen, seine Sünden abgeschworen und mehrere Jahre zu den Füßen der Presbyter seiner Stadt gesessen und namentlich den so sehr beliebten Erzählungen vom Leben der frommen Einsiedler in der Wüste mit brennender Neugier gelauscht, bis er eines Tages, etwa sechsunddreißig Jahre alt, jenen Weg einschlug, den die Heiligen Paulus und Antonius vorangegangen und den seither so manche Fromme eingeschlagen hatten. Er übergab den Rest seiner Habe den Ältesten, um ihn an die Armen der Gemeinde zu verteilen, nahm beim Tore von seinen Freunden Abschied und wanderte aus der Stadt in die Wüste, aus der schnöden Welt in das arme Leben der Büßer hinüber.
Viele Jahre sengte und dörrte ihn die Sonne, rieb er betend die Knie auf Fels und Sand, wartete er fastend den Untergang der Sonne ab, um seine paar Datteln zu kauen; quälten ihn die Teufel mit Anfechtung, Hohn und Versuchung, schlug er sie nieder mit Gebet, mit Buße, mit Preisgabe seiner selbst, wie wir das alles in den Lebensbeschreibungen der seligen Väter geschildert finden. Viele Nächte auch blickte er schlummerlos zu den Sternen empor, und auch die Sterne schufen ihm Anfechtung und Verwirrung, er las die Sternbilder ab, in welchen er einst gelernt hatte, die Geschichten der Götter und die Sinnbilder der Menschennatur mit zu lesen, eine Wissenschaft, welche von den Presbytern durchaus verabscheut wurde und welche noch lang ihn mit Phantasien und Gedanken aus seiner heidnischen Zeit verfolgte.
Überall, wo in jenen Bezirken die nackte unfruchtbare Wildnis von einem Quell, einer Handvoll Grün, einer kleinen oder großen Oase sich unterbrochen zeigte, lebten damals die Eremiten, manche ganz allein, manche in kleinen Brüderschaften wie sie auf einem Bild im Camposanto von Pisa dargestellt sind, Armut und Nächstenliebe übend, Adepten einer sehnsüchtigen Ars moriendi, einer Kunst des Sterbens, des Absterbens von der Welt und vom eigenen Ich und des Hinübersterbens zu ihm, dem Erlöser, ins Lichte und Unverwelkliche. Sie wurden von Engeln und von Teufeln besucht, sie dichteten Hymnen, trieben Dämonen aus, heilten und segneten und schienen es auf sich genommen zu haben, die Weltlust, Roheit und Sinnengier vieler dahingegangener und vieler noch kommender Zeitalter durch eine gewaltige Woge des Enthusiasmus und der Hingabe, durch ein ekstatisches Plus an Weltentsagung wiedergutzumachen. Manche von ihnen waren wohl im Besitz von alten heidnischen Praktiken der Läuterung, von Methoden und Übungen eines seit Jahrhunderten in Asien hochgezüchteten Verfahrens der Vergeistigung, doch wurde davon nicht gesprochen, und es wurden diese Methoden und Yoga-Übungen nicht eigentlich mehr gelehrt, sondern unterlagen dem Verbot, mit welchem das Christentum alles Heidnische mehr und mehr belegte.
In manchen dieser Büßer bildete die Glut dieses Lebens besondere Gaben aus, Gaben des Gebets, des Heilens durch Handauflegung, der Prophetie, des Teufelbannens, Gaben des Richtens und Strafens, des Tröstens und Segnens. Auch in Josephus schlummerte eine Gabe, und mit den Jahren, als sein Haar fahl zu werden begann, kam sie langsam zu ihrer Blüte. Es war die Gabe des Zuhörens. Wenn ein Bruder aus einer der Siedlungen oder ein vom Gewissen beunruhigtes und getriebenes Weltkind sich bei Josef einfand und ihm von seinen Taten, Leiden, Anfechtungen und Verfehlungen berichtete, sein Leben erzählte, seinen Kampf um das Gute und sein Erliegen im Kampf, oder einen Verlust und Schmerz, eine Trauer, so verstand Josef ihn anzuhören, ihm sein Ohr und Herz zu öffnen und hinzugeben, sein Leid und seine Sorge in sich aufzunehmen und zu bergen und ihn entleert und beruhigt zu entlassen. Langsam, in langen Jahren, hatte dieses Amt sich seiner bemächtigt und ihn zum Werkzeug gemacht, zu einem Ohr, dem man Vertrauen schenkte. Eine gewisse Geduld, eine gewisse einsaugende Passivität und eine große Verschwiegenheit waren seine Tugenden. Immer häufiger kamen Leute zu ihm, um sich auszusprechen, um sich angestauter Bedrängnisse zu entledigen, und manche von ihnen brachten, auch wenn sie einen weiten Weg bis zu seiner Rohrhütte hatten zurücklegen müssen, nach der Ankunft und Begrüßung doch nicht die Freiheit und Tapferkeit zum Bekennen auf, sondern wanden und schämten sich, taten mit ihren Sünden kostbar, seufzten und schwiegen lang, stundenlang, und er verhielt sich gegen einen jeden gleich, ob er nun gern oder widerwillig, ob er geläufig oder stockend redete, ob er seine Geheimnisse wütend von sich warf oder sich mit ihnen wichtig machte. Es war ihm einer wie der andere, er mochte Gott anklagen oder sich selbst, er mochte seine Sünden und Leiden vergrößern oder verkleinern, er mochte einen Totschlag oder nur eine Unkeuschheit beichten, eine untreue Geliebte oder ein verspieltes Seelenheil beklagen. Es erschreckte ihn nicht, wenn einer von vertrautem Umgang mit Dämonen erzählte und mit dem Teufel auf du zu stehen schien, noch verdroß es ihn, wenn einer lang und vielerlei erzählte und dabei sichtlich die Hauptsache verschwieg, noch machte es ihn ungeduldig, wenn einer sich wahnhafter und erdichteter Sünden bezichtigte. Es schien alles, was ihm an Klagen, Geständnissen, Anklagen und Gewissensängsten zugetragen wurde, in sein Gehör einzugehen wie Wasser in Wüstensand, er schien kein Urteil darüber zu haben und weder Mitleid noch Verachtung für den Beichtenden zu fühlen, und dennoch, oder vielleicht eben darum, schien das, was ihm gebeichtet wurde, nicht ins Leere gesagt, sondern im Sagen und Gehörtwerden verwandelt, erleichtert und gelöst zu werden. Selten nur sprach er eine Mahnung oder Warnung aus, noch seltener gab er einen Rat oder gar Befehl; es schien dies nicht seines Amtes zu sein, und die Sprechenden schienen es auch zu fühlen, daß dies nicht seines Amtes sei. Sein Amt war, Vertrauen zu erwecken und zu empfangen, geduldig und liebevoll zuzuhören, dadurch der noch nicht fertig gestalteten Beichte vollends zur Gestalt zu verhelfen, das in den Seelen Gestaute oder Verkrustete zum Fluß und Abströmen einzuladen, es aufzunehmen und in Schweigen einzuhüllen. Nur daß er am Ende einer jeden Beichte, der schrecklichen wie der harmlosen, der zerknirschten wie der eitlen, den Beichtenden neben sich knien ließ und das Vaterunser betete und ihn, ehe er ihn entließ, auf die Stirn küßte. Bußen und Strafen zu verhängen, war nicht seines Amtes, auch zum Aussprechen einer eigentlichen priesterlichen Absolution fühlte er sich nicht ermächtigt, es war weder das Richten noch das Vergeben der Schuld seine Sache. Indem er zuhörte und verstand, schien er Mitschuld auf sich zu nehmen, schien tragen zu helfen. Indem er schwieg, schien er das Gehörte versenkt und der Vergangenheit übergeben zu haben. Indem er mit dem Beichtkind nach seiner Beichte betete, schien er es als Bruder und seinesgleichen aufzunehmen und anzuerkennen. Indem er ihn küßte, schien er ihn auf eine mehr brüderliche als priesterliche, auf eine mehr zärtliche als feierliche Art zu segnen.
Sein Ruf verbreitete sich in der ganzen Umgebung von Gaza, man kannte ihn weitum und nannte ihn gelegentlich sogar mit dem verehrten, großen Beichtvater und Eremiten Dion Pugil zusammen, dessen Ruf allerdings schon um zehn Jahre älter war und auf ganz anderen Fähigkeiten beruhte, denn Vater Dion war gerade dadurch berühmt, daß er in den Seelen, die sich ihm anvertrauten, noch schärfer und rascher zu lesen verstand als in den ausgesprochenen Worten, so daß er einen zögernd Beichtenden nicht selten dadurch überraschte, daß er ihm seine noch nicht gebeichteten Sünden auf den Kopf zusagte. Dieser Seelenkenner, von welchem Josef hundert erstaunliche Geschichten hatte erzählen hören und mit welchem er sich selbst niemals zu vergleichen gewagt hätte, war auch ein begnadeter Berater irrender Seelen, war ein großer Richter, Bestrafer und Ordner; er auferlegte Bußen, Kasteiungen und Wallfahrten, stiftete Ehen, zwang Verfeindete zur Aussöhnung, und seine Autorität war gleich der eines Bischofs. Er lebte in der Nähe von Askalon, wurde aber von Bittstellern sogar aus Jerusalem, ja aus noch ferner gelegenen Orten aufgesucht.
Josephus Famulus hatte gleich den meisten Eremiten und Büßern lange Jahre eines leidenschaftlichen und aufreibenden Kampfes durchgemacht. Hatte er auch sein Weltleben verlassen, hatte er seine Habe und sein Haus weggegeben und die Stadt mit ihren vielfältigen Einladungen zur Welt- und Sinnenlust verlassen, so hatte er doch sich selbst mitnehmen müssen, und es waren in ihm alle Triebe des Leibes und der Seele vorhanden, welche einen Menschen in Not und Versuchung führen können. Er hatte zunächst vor allem den Leib bekämpft, er war streng und hart mit ihm gewesen, hatte ihn an Hitze und Kälte, an Hunger und Durst, an Narben und Schwielen gewöhnt, bis er langsam abgewelkt und abgedörrt war, aber auch noch in der hageren Asketenhülle konnte ihn der alte Adam durch die unsinnigsten Begierden und Gelüste, Träume und Vorgaukelungen schmählich überraschen und ärgern; wir wissen ja, daß den Weltflüchtigen und Büßern der Teufel eine ganz besondere Sorgfalt widmet. Als sodann gelegentlich Trostsuchende und Beichtbedürftige ihn aufgesucht hatten, erkannte er darin dankbar einen Ruf der Gnade und empfand zugleich darin eine Erleichterung seines Büßerlebens: er hatte einen über ihn selbst hinausweisenden Sinn und Inhalt bekommen, ein Amt war ihm erteilt worden, er konnte anderen dienen oder konnte Gott als Werkzeug dienen, um Seelen zu sich zu ziehen. Dies war ein wunderbares und wahrhaft erhebendes Gefühl gewesen. Aber im Fortgang hatte es sich gezeigt, daß auch die Güter der Seele noch dem Irdischen angehören und zu Versuchungen und Fallstricken werden können. Oft nämlich, wenn solch ein Wanderer gegangen oder geritten kam, vor seiner Felsengrotte haltmachte, um einen Schluck Wasser und hernach um das Anhören seiner Beichte bat, dann beschlich unsern Josef ein Gefühl von Befriedigung und Wohlgefallen, einem Wohlgefallen an sich selbst, einer Eitelkeit und Selbstliebe, über welche er, sobald er sie erkannte, tief erschrak. Nicht selten bat er Gott auf den Knien um Vergebung und bat ihn darum, daß kein Beichtkind mehr zu ihm, dem Unwürdigen, kommen möge, nicht aus den Hütten der büßenden Brüder in der Nachbarschaft und nicht aus den Dörfern und Städten der Welt. Indessen befand er sich auch dann, wenn wirklich die Beichter zuzeiten ausblieben, nicht viel besser, und wenn daraufhin dann wieder viele kamen, dann ertappte er sich bei einer neuen Versündigung: es begegnete ihm nun, daß er beim Anhören dieser oder jener Geständnisse Regungen der Kälte und Lieblosigkeit, ja der Verachtung gegen den Beichtenden empfand. Seufzend nahm er auch diese Kämpfe auf sich, und es gab Zeiten, wo er nach jeder angehörten Beichte sich einsamen Demütigungs- und Bußübungen unterzog. Außerdem machte er es sich zum Gesetz, alle Beichtenden nicht nur wie Brüder, sondern mit einer gewissen besonderen Ehrerbietung zu behandeln, und desto mehr, je weniger die Person eines solchen ihm gefallen wollte: er empfing sie als Boten Gottes, ausgesandt, um ihn zu prüfen. So fand er mit den Jahren, spät genug, als ein schon alternder Mann, eine gewisse Gleichmäßigkeit der Lebensführung, und jenen, welche in seiner Nähe lebten, schien er ein tadelfreier Mann zu sein, der den Frieden in Gott gefunden hat.
Indessen ist auch der Friede etwas Lebendiges, auch er wie alles Lebende muß wachsen und abnehmen, muß sich anpassen, muß Proben bestehen und Wandlungen durchmachen; so stand es auch um den Frieden des Josephus Famulus, er war labil, er war bald sichtbar, bald nicht, er war bald nah wie eine Kerze, die man in der Hand trägt, bald fern wie ein Stern am Winterhimmel. Und mit der Zeit war es eine besondere, neue Art von Sünde und Versuchung, welche ihm immer häufiger das Leben schwer machte. Es war nicht eine starke, leidenschaftliche Bewegung, Empörung oder Erhebung der Triebe, es schien eher das Gegenteil zu sein. Es war ein Gefühl, das in seinen ersten Stadien ganz leicht zu ertragen, ja kaum wahrzunehmen war, ein Zustand ohne eigentliche Schmerzen und Entbehrungen, ein flauer, lauer, langweiliger Seelenzustand, der sich eigentlich nur negativ bezeichnen ließ, als ein Hinwegschwinden, Abnehmen und schließliches Fehlen der Freude. So wie es Tage gibt, an welchen weder die Sonne strahlt noch der Regen strömt, sondern der Himmel still in sich selber versinkt und sich einspinnt, grau, doch nicht schwarz, schwül, doch nicht bis zur Gewitterspannung, so wurden allmählich die Tage des alternden Josef; es waren die Morgen von den Abenden, die Festtage von den gewöhnlichen, die Stunden des Aufschwungs von denen des Darniederliegens immer weniger zu unterscheiden, es lief alles trag in einer lahmen Müdigkeit und Unlust dahin. Es sei das Alter, dachte er traurig. Traurig war er, weil er vom Altwerden und vom allmählichen Erlöschen der Triebe und Leidenschaften sich eine Aufhellung und Erleichterung seines Lebens, einen Schritt weiter zur ersehnten Harmonie und reifen Seelenruhe versprochen hatte, und weil nun das Alter ihn zu enttäuschen und betrügen schien, indem es nichts brachte als diese müde, graue, freudlose öde, dies Gefühl unheilbarer Übersättigung. Übersättigt fühlte er sich von allem: vom bloßen Dasein, vom Atmen, vom Schlaf der Nacht, vom Leben in seiner Grotte am Rande der kleinen Oase, vom ewigen Abendwerden und Morgenwerden, vom Vorbeiziehen der Reisenden und Pilger, der Kamelreiter und Eselreiter und am meisten von jenen Leuten, deren Kommen und Besuch ihm selber galt, von jenen törichten, angstvollen und zugleich so kindisch gläubigen Menschen, deren Bedürfnis es war, ihm ihr Leben, ihre Sünden und Ängste, ihre Anfechtungen und Selbstanklagen zu erzählen. Es schien ihm zuweilen: wie in der Oase die kleine Wasserquelle sich im Steinbecken sammelte, durch Gras floß und einen kleinen Bach bildete, dann in die öde des Sandes hinausfloß und dort nach kurzem Lauf versiegte und erstarb, ebenso kämen alle diese Beichten, dieseSündenregister, diese Lebensläufe, diese Gewissensplagen, große wie kleine, ernste wie eitle, ebenso kämen sie in sein Ohr geflossen, Dutzende, Hunderte, immerdar neue. Aber das Ohr war nicht tot wie der Wüstensand, das Ohr war lebendig und vermochte nicht ewig zu trinken und zu schlucken und einzusaugen, es fühlte sich ermüdet, mißbraucht, überfüllt, es sehnte sich danach, daß das Fließen und Geplätscher der Worte, der Geständnisse, der Sorgen, der Anklagen, der Selbstbezichtigungen einmal aufhöre, daß einmal Ruhe, Tod und Stille an die Stelle dieses endlosen Fließens trete. Ja, er wünschte ein Ende, er war müde, er hatte genug und übergenug, schal und wertlos war sein Leben geworden, und es kam so weit mit ihm, daß er zuweilen sich versucht fühlte, seinem Dasein ein Ende zu machen, sich zu bestrafen und auszulöschen, so wie es Judas der Verräter getan hatte, als er sich erhängte. Wie ihm in früheren Stadien seines Büßerlebens der Teufel die Wünsche, Vorstellungen und Träume der Sinnen- und Weltlust in die Seele geschmuggelt hatte, so suchte er ihn jetzt heim mit Vorstellungen der Selbstvernichtung, so daß er jeden Ast eines Baumes daraufhin prüfen mußte, ob er geeignet sei, sich an ihm aufzuhängen, jeden steilen Felsen der Gegend, ob er steil und hoch genug sei, um sich von ihm zu Tode zu stürzen. Er widerstand der Versuchung, er kämpfte, er gab nicht nach, aber er lebte Tag und Nacht in einem Brand von Selbsthaß und Todesgier, das Leben war unerträglich und hassenswert geworden.
Dahin also war es mit Josef gekommen. Als er eines Tages wieder auf einer jener Felsenhöhen stand, sah er in der Ferne zwischen Erde und Himmel zwei, drei winzige Gestalten erscheinen, Reisende offenbar, Pilger vielleicht, vielleicht Leute, welche ihn aufsuchen wollten, um bei ihm zu beichten – und plötzlich ergriff ihn ein unwiderstehliches Verlangen, alsbald und schleunigst davonzugehen, fort von diesem Ort, weg von diesem Leben. Das Verlangen packte ihn so übermächtig und triebhaft, daß es alle Gedanken, Einwände und Bedenken überannte und hinwegfegte, denn natürlich fehlte es an solchen nicht; wie hätte ein frommer Büßer ohne Zuckungen des Gewissens einem Triebe zu folgen vermocht? Schon lief er, schon war er zu seiner Grotte zurückgekehrt, zur Wohnstätte so vieler durchkämpfter Jahre, zum Gefäß so vieler Erhebungen und Niederlagen. In besinnungsloser Eile rüstete er ein paar Hände voll Datteln und eine Kürbisflasche mit Wasser, verstaute sie in seinem alten Reisebeutel, hängte ihn über die Schulter, griff zum Stab und verließ den grünen Frieden seiner kleinen Heimat, ein Flüchtling und Ruheloser, flüchtig vor Gott und den Menschen, und flüchtig am meisten vor dem, was er einst für sein Bestes, für sein Amt und seine Mission gehalten hatte. Er ging anfangs wie gehetzt, so, als wären wirklich jene fern aufgetauchten Figuren, die er vom Felsen aus gesichtet hatte, Verfolger und Feinde. Aber im Lauf der ersten Wanderstunde verließ ihn die ängstliche Eile, die Bewegung ermüdete ihn wohltätig, und während der ersten Rast, zu welcher er sich jedoch keinen Imbiß gönnte – es war ihm heilige Gewohnheit geworden, vor Sonnenuntergang keine Speise zu sich zu nehmen –, begann schon seine Vernunft, im einsamen Denken geübt, sich wieder zu ermuntern und sein triebmäßiges Handeln begutachtend abzutasten. Und sie mißbilligte dies Handeln, so wenig vernünftig es scheinen mochte, nicht, sondern sah ihm eher mit Wohlwollen zu, denn zum erstenmal seit geraumer Zeit fand sie sein Tun harmlos und unschuldig. Es war eine Flucht, die er angetreten hatte, eine plötzliche und unüberlegte Flucht zwar, aber keine schmähliche. Er hatte einen Posten verlassen, dem er nicht mehr gewachsen war, er hatte durch sein Weglaufen sich selber und dem, der ihm zusehen mochte, sein Versagen eingestanden, er hatte einen täglich wiederholten, nutzlosen Kampf aufgegeben und sich als den Geschlagenen und Unterlegenen bekannt. Dies war, so fand seine Vernunft, nicht großartig, nicht heroisch und heiligmäßig, aber es war aufrichtig und schien unumgänglich gewesen zu sein; er wunderte sich jetzt darüber, daß er diese Flucht erst so spät angetreten, daß er es so lange, so sehr lange ausgehalten hatte. Den Kampf und Trotz, in dem er sich so lange auf dem verlorenen Posten gehalten hatte, empfand er jetzt als einen Irrtum, vielmehr als einen Kampf und Krampf seiner Selbstsucht, seines alten Adam, und meinte jetzt zu verstehen, warum dieser Trotz zu so üblen, ja teuflischen Folgen geführt hatte, zu solcher Zerrissenheit und Gemütserschlaffung, ja zu dämonischem Besessensein vom Wunsche nach Tod und Selbstvernichtung. Wohl sollte ein Christ dem Tode nicht Feind sein, wohl sollte ein Büßer und Heiliger sein Leben durchaus als ein Opfer betrachten; aber der Gedanke an freiwillige Tötung war ganz und gar ein teuflischer und konnte nur in einer Seele entstehen, deren Meister und Hüter nicht mehr Gottes Engel, sondern die bösen Dämonen waren. Eine Weile saß er ganz verloren und betreten und endlich tief zerknirscht und erschüttert, indem ihm aus dem Abstand, den ihm die wenigen Meilen der Wanderung gaben, sein jüngst vergangenes Leben sichtbar wurde und ins Bewußtsein trat, das verzweifelte und gehetzte Leben eines alternden Mannes, der sein Ziel verfehlt hat und beständig von der gräßlichen Versuchung gepeinigt war, sich am Ast eines Baumes zu erhängen wie der Verräter des Heilands. Wenn es ihm vor dem freiwilligen Tode so sehr graute, so spukte in diesem Grauen freilich auch noch ein Rest von vorzeitlichem, vorchristlichem, altheidnischem Wissen, Wissen um den uralten Brauch des Menschenopfers, zu dem der König, der Heilige, der Auserwählte des Stammes ausersehen war, und das er nicht selten mit eigener Hand zu vollziehen gehalten war. Nicht nur daß dieser verpönte Brauch aus heidnischen Vorzeiten herüberklang, machte ihn so grauenerregend, sondern noch mehr der Gedanke, daß am Ende der vom Erlöser am Kreuz erlittene Tod auch nichts anderes war als ein freiwillig vollzogenes Menschenopfer. Und in der Tat: wenn er sich recht besann, so war eine Ahnung dieses Bewußtseins schon in jenen Regungen der Begierde nach Selbstmord vorhanden gewesen, ein trotzig-böser, wilder Drang, sich selber zu opfern und damit eigentlich auf unerlaubte Weise den Erlöser nachzuahmen – oder auf unerlaubte Weise anzudeuten, daß Jenem sein Erlösungswerk nicht so ganz gelungen sei. Er erschrak tief bei diesem Gedanken, fühlte aber auch, daß er jener Gefahr nun entronnen sei.
Lange betrachtete er diesen Büßer Josef, zu dem er geworden war und welcher jetzt, statt dem Judas oder auch dem Gekreuzigten nachzufolgen, die Flucht ergriffen und sich damit von neuem in Gottes Hand gegeben hatte. Scham und Bekümmerung wuchsen in ihm an, je deutlicher er die Hölle erkannte, der er entlaufen war, und am Ende drängte das Elend sich wie ein würgender Bissen in seiner Kehle, wuchs zu unerträglichem Drang und fand plötzlich Abschluß und Erlösung in einem Ausbruch von Tränen, der ihm wunderbar wohltat. O wie lange hatte er nicht mehr weinen können! Die Tränen flössen, die Augen vermochten nichts mehr zu sehen, aber das tödliche Würgen war gelöst, und als er zu sich kam und den Salzgeschmack auf seinen Lippen fühlte und wahrnahm, daß er weine, war ihm einen Augenblick, als sei er wieder ein Kind geworden und wisse nichts von Argem. Er lächelte, er schämte sich ein wenig seines Weinens, stand endlich auf und setzte seine Wanderung fort. Er fühlte sich unsicher, wußte nicht, wohin seine Flucht führen und was mit ihm werden solle, wie ein Kind kam er sich vor, aber es war kein Kampf und Wollen mehr in ihm, er fühlte sich leichter und wie geführt, wie von einer fernen guten Stimme gerufen und gelockt, als wäre seine Reise nicht eine Flucht, sondern eine Heimkehr. Er wurde müde, und die Vernunft auch, sie schwieg oder ruhte sich aus oder kam sich entbehrlich vor.
An der Tränkestelle, wo Josef übernachtete, rasteten einige Kamele; da der kleinen Reisegesellschaft auch zwei Frauen angehörten, begnügte er sich mit einer Grußgebärde und vermied ein Gespräch. Dafür konnte er, nachdem er beim Dunkelwerden einige Datteln verzehrt, gebetet und sich niedergelegt hatte, die leise Unterhaltung zwischen zwei Männern, einem alten und einem jüngeren, mit anhören, denn sie lagen in seiner nächsten Nähe. Es war nur ein Stückchen ihres Zwiegesprächs, das er hören konnte, der Rest wurde nur noch geflüstert. Aber auch dies kleine Bruchstück nahm seine Aufmerksamkeit und Teilnahme in Anspruch und gab ihm für die halbe Nacht zu denken.
»Schon gut,« hörte er die Stimme des Alten sagen, »schon gut, daß du zu einem frommen Mann gehen und beichten willst. Diese Leute verstehen allerhand, sage ich dir, sie können mehr als bloß Brot essen, und mancher von ihnen ist zauberkundig. Wenn er einem anspringenden Löwen nur ein Wörtchen zuruft, so duckt er sich, der Räuber, zieht den Schwanz ein und schleicht sich davon. Sie können Löwen zahm machen, sage ich dir; einem von ihnen, der ein besonders heiliger Mann war, haben sogar seine zahmen Löwen das Grab gegraben, als er gestorben war, haben die Erde wieder hübsch über ihm zusammengescharrt, und lange Zeit haben immer zwei von ihnen Tag und Nacht an seinem Grab die Wacht gehalten. Und nicht bloß Löwen verstehen sie zahm zu kriegen, diese Leute. Einer von ihnen hat einmal einen römischen Zenturionen, ein grausames Biest von einem Soldaten und den größten Hurenbruder von ganz Askalon, ins Gebet genommen und ihm das böse Herz geknetet, so daß der Kerl klein und ängstlich davonging wie eine Maus und ein Loch suchte, um sich zu verstecken. Man hat den Burschen nachher kaum wiedererkannt, so still und klein war er geworden. Allerdings, und das gibt zu denken, ist der Mann bald darauf gestorben.«
»Der heilige Mann?«
»O nein, der Zenturio. Varro hieß er. Seit der Büßer ihn zusammengestaucht und ihm das Gewissen geweckt hatte, ist er ziemlich schnell zusammengefallen, bekam zweimal das Fieber und ist nach einem Vierteljahr ein toter Mann gewesen. Na, nicht schade um ihn. Aber immerhin, ich habe mir oft gedacht: der Büßer hat ihm nicht bloß den Teufel ausgetrieben, er wird wohl auch ein Sprüchlein über ihn gesprochen haben, das ihn unter die Erde gebracht hat.«
»Ein so frommer Mann? Das kann ich nicht glauben.«
»Glaube es oder glaube es nicht, mein Lieber. Aber von dem Tag an war der Mensch wie verwandelt, um nicht zu sagen verhext, und ein Vierteljahr nachher…«
Es war eine kleine Weile still, dann fing der Jüngere wieder an: »Es gibt da einen Büßer, er muß hier irgendwo in der Nähe leben, er soll ganz allein an einer kleinen Quelle wohnen, am Weg nach Gaza, Josephus heißt er, Josephus Famulus. Von dem habe ich viel gehört.«
»So, und was denn?«
»Er soll schauderhaft fromm sein und namentlich niemals eine Frau ansehen. Wenn je einmal an seinem abgelegenen Ort ein paar Kamele durchkommen, und auf einem hockt ein Weib, so mag es noch so dick verschleiert sein, er wendet den Rücken und verschwindet alsbald ins Geklüft. Es sind viele zu ihm beichten gegangen, sehr viele.«
»Wird nicht so schlimm sein, sonst hätte ich wohl auch schon von ihm gehört. Und was kann er denn, dein Famulus?«
»Oh, man geht eben zu ihm beichten, und wenn er nicht gut wäre und nichts verstünde, so würden die Leute ja nicht zu ihm laufen. Übrigens heißt es von ihm, er sage kaum ein Wort, es gebe bei ihm kein Schelten und Andonnern, keine Strafen und nichts dergleichen, er soll ein sanfter und sogar schüchterner Mann sein.«
»Ja, was tut er denn dann, wenn er nicht schilt und nicht straft und das Maul nicht auftut?«
»Er soll bloß zuhören und wunderbar seufzen und das Kreuz schlagen.«
»Ach was, einen schönen Winkelheiligen habet ihr da! Du wirst doch nicht so töricht sein und diesem schweigsamen Onkel nachlaufen.«
»Doch, das will ich. Finden werde ich ihn schon, es kann nicht weit mehr von hier sein. Es stand ja heut abend so ein armer Bruder hier bei der Tränke herum, den frage ich morgen früh, er sieht selber wie ein Büßer aus.«
Der Alte erhitzte sich. »Laß du deinen Quellenbüßer nur in seiner Grotte hocken! Ein Mann, der bloß zuhört und seufzt und vor den Weibern Angst hat und nichts kann und versteht! Nein, ich werde dir sagen, zu wem du gehen mußt. Es ist zwar weit von hier, noch über Askalon hinaus, aber dafür ist es auch der beste Büßer und Beichtvater, den es überhaupt gibt. Dion heißt er, und man nennt ihn Dion Pugil, das heißt den Faustkämpfer, weil er sich mit allen Teufeln rauft, und wenn einer ihm seine Schandtaten beichtet, dann, mein Guter, seufzt der Pugil nicht und behält das Maul zu, sondern legt los und tut dem Mann den Rost herunter, daß es eine Art hat. Manche soll er verprügelt haben, einen hat er eine ganze Nacht auf nackten Knien in den Steinen knien lassen und ihm dann erst noch auferlegt, vierzig Groschen den Armen zu geben. Das ist ein Mann, Brüderchen, du wirst sehen und staunen; wenn er dich so richtig anschaut, dann schlottert dir schon das Gebein, durch und durch blickt dich der. Da wird nichts geseufzt, der Mann hat es in sich, und wenn einer nicht mehr recht schlafen kann oder schlechte Träume und Gesichte hat und dergleichen, den stellt dir der Pugil wieder in den Senkel, sage ich dir. Ich sage es dir nicht, weil ich Weiber habe von ihm schwatzen hören. Ich sage es dir, weil ich selber bei ihm gewesen bin. Jawohl, ich selber, so ein armer Tropf ich sein mag, ich habe einst den Büßer Dion aufgesucht, den Faustkämpfer, den Gottesmann. Hingegangen bin ich elend und mit lauter Schande und Unrat im Gewissen, und fortgegangen bin ich hell und sauber wie der Morgenstern, so wahr ich David heiße. Merke dir: Dion heißt er, mit Zunamen Pugil. Den suchst du auf, sobald du kannst, du wirst dein Wunder erleben. Präfekten, Älteste und Bischöfe haben sich bei ihm Rat geholt.«
»Ja,« meinte der andere, »wenn ich wieder einmal in jene Gegend komme, will ich mir's überlegen. Aber heut ist heut, und hier ist hier, und da ich heut hier bin und da in der Nähe jener Josephus sein muß, von dem ich so viel Gutes gehört habe…«
»Gutes gehört! Was hast du denn an diesem Famulus für einen Narren gefressen?«
»Es hat mir gefallen, daß er nicht schimpft und wüst tut. Mir gefällt das, muß ich sagen. Ich bin ja kein Zenturio und auch kein Bischof; ich bin ein kleiner Mann und bin eher schüchtern, ich könnte nicht viel Feuer und Schwefel vertragen; ich habe weiß Gott nichts dagegen, wenn man mich eher sanft anfaßt, so ist das nun einmal mit mir.«
»Das hätte manch einer gern. Sanft anfassen! Wenn du gebeichtet und gebüßt und Strafe auf dich genommen und dich gesäubert hast, dann meinetwegen, dann ist es vielleicht am Platz, dich sanft anzufassen, aber nicht, wenn du unrein und stinkend wie ein Schakal vor deinem Beichtvater und Richter stehst!«
»Nun ja, nun ja. Wir sollten nicht so laut sein, die Leute wollen doch schlafen.«
Plötzlich kicherte er vergnügt vor sich hin. »Übrigens, etwas Drolliges hat man mir von ihm auch erzählt.«
»Von wem?«
»Von ihm, vom Büßer Josephus. Also der hat es so im Brauch, wenn einer ihm seine Sachen erzählt und gebeichtet hat, dann grüßt und segnet er ihn zum Abschied und gibt ihm einen Kuß auf die Wange oder auf die Stirn.«
»So, tut er? Komische Gewohnheiten hat er schon.«
»Und nun ist er ja so sehr scheu vor den Frauen, weißt du. Da soll einmal eine Hure aus der Gegend in Mannskleidern zu ihm gegangen sein, und er merkt nichts und hört sich ihre Lügengeschichten an und wie sie mit Beichten fertig ist, verneigt er sich vor ihr und gibt ihr feierlich einen Kuß.«
Der Alte setzte zu einem heftigen Gelächter an, der andere machte schnell »Bst, bst!,« und nun bekam Josef nichts mehr zu hören als eine Weile noch dies halb erstickte Lachen.
Er blickte zum Himmel, scharf und dünn stand die Mondsichel hinter den Kronen der Palmen, er schauerte von der Nachtkälte. Wunderlich wie in einem Zerrspiegel, und doch aufschlußreich, hatte ihm das Abendgespräch der Kamelführer seine eigene Person und die Rolle vor Augen gefühlt, der er untreu geworden war. Und eine Hure also hatte sich diesen Spaß mit ihm gemacht. Nun, dies war nicht das Schlimmste, wenn auch schlimm genug. Er hatte lange nachzudenken über die Unterhaltung der beiden fremden Männer. Und als er sehr spät endlich einschlafen konnte, konnte er es nur, weil sein Nachdenken nicht vergeblich gewesen war. Es hatte zu einem Ergebnis, zu einem Entschluß geführt, und mit diesem jungen Entschluß im Herzen schlief er tief und ungestört bis zum Tagesanbruch.
Sein Entschluß aber war eben jener, welchen der jüngere von den beiden Kameltreibern nicht hatte fassen können. Sein Entschluß war, dem Rat des älteren zu folgen und den Dion, genannt Pugil, aufzusuchen, von dem er ja längst schon wußte und dessen Lob ihm heut so eindringlich war gesungen worden. Dieser berühmte Beichtvater, Seelenrichter und Ratgeber würde auch für ihn einen Rat, ein Urteil, eine Strafe, einen Weg wissen; ihm wollte er sich stellen wie einem Vertreter Gottes und willig annehmen, was er ihm verordnen würde.
Anderntags verließ er schon den Rastplatz, als die beiden Männer noch schliefen, und erreichte an diesem Tag in mühevoller Wanderung einen Ort, den er von frommen Brüdern bewohnt wußte und von dem aus er auf den üblichen Reiseweg gegen Askalon zu gelangen hoffte.
Bei der Ankunft gegen Abend blickte eine kleine grüne Oasenlandschaft ihn freundlich an, er sah Bäume ragen und hörte eine Ziege meckern, glaubte im grünen Schatten die Umrisse von Hüttendächern zu entdecken und Menschennähe zu wittern, und als er zögernd näher trat, meinte er einen Blick auf sich gerichtet zu spüren. Er blieb stehen und spähte umher, da sah er unter den ersten Bäumen, an einen Stamm gelehnt, eine Gestalt sitzen, einen aufrecht sitzenden alten Mann mit einem eisgrauen Bart und einem würdigen, aber strengen und starren Gesicht, der blickte ihn an und mochte ihn schon eine Weile angeblickt haben. Der Blick des alten Mannes war fest und scharf, aber ohne Ausdruck, wie der Blick eines Mannes, der zu beobachten gewohnt, aber nicht neugierig und beteiligt ist, der die Menschen und Dinge an sich herankommen läßt und sie zu erkennen sucht, sie aber nicht herbeizieht und einlädt.
»Gelobt sei Jesus Christus,« sagte Josef. Mit einem Murmeln gab der Greis Antwort.
»Mit Verlaub,« sagte Josef, »seid Ihr ein Fremdling wie ich, oder seid Ihr ein Bewohner dieser schönen Siedlung?«
»Ein Fremder,« sagte der Weißbärtige.
»Ehrwürdiger, so könnet Ihr mir vielleicht sagen, ob es möglich ist, von hier aus auf den Weg nach Askalon zu kommen?«
»Es ist möglich,« sagte der Alte. Und nun richtete er sich langsam, mit etwas steifen Gliedern, auf, ein hagerer Riese. Er stand und blickte in die leere Weite hinaus. Josef fühlte, daß dieser greise Riese wenig Lust zu einem Redewechsel habe, aber eine Frage wollte er doch noch wagen.
»Erlaubet mir noch eine einzige Frage, Ehrwürdiger,« sagte er höflich und sah die Augen des Mannes wieder aus der Ferne zurückkehren. Kühl und aufmerksam blickten sie ihn an.
»Kennet Ihr vielleicht den Ort, wo Vater Dion zu finden ist, genannt Dion Pugil?«
Der Fremde zog die Brauen ein wenig zusammen, und sein Blick wurde noch kühler. »Ich kenne ihn,« sagte er knapp. »Ihr kennet ihn?« rief Josef. »Oh, dann saget ihn mir, denn dorthin, zu Vater Dion, geht meine Reise.«
Der große alte Mann schaute prüfend zu ihm hernieder. Er ließ ihn lange auf Antwort warten. Dann trat er zu seinem Baumstamm zurück, ließ sich langsam wieder zu Boden nieder und setzte sich, an den Stamm gelehnt, wie er vorher gesessen war. Mit einer kleinen Handbewegung forderte er Josef auf, sich ebenfalls niederzulassen. Gehorsam leistete dieser der Gebärde Folge, spürte im Niedersitzen einen Augenblick die große Müdigkeit in seinen Gliedern, vergaß sie aber alsbald wieder, um seine ganze Aufmerksamkeit dem Greise zuzuwenden. Dieser schien in Nachsinnen versunken, ein Zug von abweisender Strenge erschien auf seinem würdevollen Antlitz, über welchen jedoch noch ein anderer Ausdruck, ja ein anderes Gesicht, wie eine durchsichtige Maske gelegt schien, ein Ausdruck alten und einsamen Leides, dem der Stolz und die Würde keine Äußerung erlauben.
Es dauerte lange, bis der Blick des Ehrwürdigen sich ihm wieder zuwandte. Mit großer Schärfe prüfte ihn auch jetzt wieder dieser Blick, und plötzlich stellte der Alte in befehlendem Ton die Frage: »Wer seid Ihr denn, Mann?«
»Ich bin ein Büßer,« sagte Josef, »ich habe seit langen Jahren das Leben der Zurückgezogenen geführt.« »Das sieht man. Ich frage, wer Ihr seid.« »Ich heiße Josef, mit dem Zunamen Famulus.« Als Josef seinen Namen sagte, zog der Alte, der im übrigen regungslos blieb, die Brauen so stark zusammen, daß seine Augen für eine Weile beinah unsichtbar wurden, er schien betroffen, erschreckt oder enttäuscht zu sein über Josefs Mitteilung; oder vielleicht war es auch nur eine Ermüdung der Augen, ein Nachlassen der Aufmerksamkeit, irgendeine kleine Anwandlung von Schwäche, wie so alte Leute sie haben. Jedenfalls verharrte er in vollkommener Regungslosigkeit, hielt die Augen eine Weile eingekniffen, und als er sie wieder öffnete, schien sein Blick verändert oder schien, wenn es möglich war, noch älter, noch einsamer, versteinerter und abwartender geworden zu sein. Langsam tat er die Lippen voneinander, um zu fragen: »Ich habe von Euch gehört. Seid Ihr der, zu dem die Leute beichten gehen?«
Josef bejahte verlegen, das Erkanntwerden wie eine unliebsame Entblößung empfindend und von der Begegnung mit seinem Ruf nun schon zum zweitenmal beschämt.
Wieder fragte der Alte in seiner bündigen Weise; »Und jetzt wollet Ihr also den Dion Pugil aufsuchen? Was wollt Ihr von dem?«
»Ich möchte ihm beichten.«
»Was versprechet Ihr Euch davon?«
»Ich weiß nicht. Ich habe Vertrauen zu ihm, und es scheint mir sogar, als wäre es eine Stimme von oben, eine Führung, die mich zu ihm sendet.«
»Und wenn Ihr ihm gebeichtet haben werdet, was dann?«
»Dann werde ich das tun, was er mir befiehlt.«
»Und wenn er Euch etwas Falsches rät oder befiehlt?«
»Ich werde nicht untersuchen, ob es falsch sei oder nicht, sondern ich werde gehorchen.«
Der Greis ließ kein Wort mehr hören. Die Sonne war tief gerückt, ein Vogel schrie im Laub des Baumes. Da der Alte schweigsam blieb, erhob sich Josef. Schüchtern kam er nochmals auf sein Anliegen zurück.
»Ihr habet gesagt, daß Euch der Ort bekannt sei, an dem man den Vater Dion finden kann. Darf ich bitten, daß Ihr mir den Ort nennet und den Weg dorthin beschreibet?«
Der Alte zog seine Lippen zu einer Art von schwachem Lächeln zusammen. »Glaubet Ihr,« fragte er sanft, »daß Ihr ihm willkommen sein werdet?«
Wunderlich erschreckt durch die Frage, gab Josef keine Antwort. Er stand verlegen.
Dann sagte er: »Darf ich wenigstens hoffen, Euch wiederzusehen?«
Der alte Mann machte eine grüßende Gebärde und antwortete: »Ich werde hier schlafen und mich hier bis kurz nach Sonnenaufgang aufhalten. Gehet jetzt, Ihr seid müde und hungrig.«
Mit ehrerbietigem Gruß ging Josef weiter und kam mit Einbruch der Dämmerung in die kleine Siedlung. Es wohnten hier, ähnlich wie in einem Kloster, sogenannte Zurückgezogene, Christen aus verschiedenen Städten und Ortschaften, die sich hier in der Abgeschiedenheit eine Unterkunft geschaffen hatten, um ungestört sich einem einfachen, reinen Leben der Stille und Kontemplation zu ergeben. Man gab ihm Wasser, Speise und Nachtlager und verschonte ihn, da man sah, wie müde er war, mit Fragen und Unterhaltungen. Einer sprach ein Nachtgebet, an dem die anderen kniend teilnahmen, das Amen sprachen alle gemeinsam. Die Gemeinschaft dieser Frommen wäre zu einer anderen Zeit ein Erlebnis und eine Freude für ihn gewesen, aber jetzt hatte er nur eines im Sinn, und am frühesten Morgen eilte er dorthin zurück, wo er den alten Mann gestern verlassen hatte. Er fand ihn am Boden liegen und schlafen, in eine dünne Matte gerollt, und setzte sich abseits unter den Bäumen, um sein Erwachen zu erwarten. Schon bald wurde der Schläfer unruhig, erwachte, wickelte sich aus der Matte, stand schwerfällig auf und streckte die steifgewordenen Glieder, dann kniete er zu Boden und verrichtete sein Gebet. Als er sich wieder erhob, näherte sich Josef und verneigte sich stumm.
»Hast du schon gegessen?« fragte der Fremde.
»Nein. Ich habe die Gewohnheit, nur einmal am Tage und erst nach Untergang der Sonne zu essen. Seid Ihr hungrig, Ehrwürdiger?«
»Wir sind auf Wanderung,« sagte jener, »und wir sind beide keine jungen Leute mehr. Es ist besser, wir essen einen Bissen, ehe wir weiterziehen.«
Josef öffnete seinen Beutel und bot ihm von seinen Datteln an, auch hatte er von den freundlichen Leuten, bei denen er genächtigt, ein Hirsebrot mitbekommen, das er mit dem Alten teilte.
»Wir können gehen,« sagte der Alte, als sie gegessen hatten.
»Oh, wir werden zusammen gehen?« rief Josef erfreut.
»Gewiß. Du hast mich ja gebeten, dich zu Dion zu führen. Komm nur.«
Erstaunt und glücklich blickte ihn Josef an. »Wie gütig Ihr seid,« rief er und wollte in Danksagungen ausbrechen. Aber der Fremde machte ihn mit einer schroffen Handbewegung verstummen.
»Gütig ist Gott allein,« sagte er. »Wir gehen jetzt. Und sage du zu mir, wie ich es zu dir sage. Was sollen die Formen und Höflichkeiten zwischen zwei alten Büßern?«
Der große Mann schritt aus, und Josef schloß sich an, der Tag war angebrochen. Der Führer schien der Richtung und des Weges sicher zu sein und verhieß, sie würden gegen Mittag an einen schattigen Ort gelangen, wo sie für die Stunden der größten Sonnenglut Rast halten könnten. Weiter wurde auf dem Wege nicht gesprochen.
Erst als nach heißen Stunden der Rastort erreicht war und sie im Schatten zerklüfteter Felsen ausruhten, richtete Josef wieder das Wort an seinen Führer. Er fragte, wie viele Tagesmärsche sie wohl brauchen würden, um zu Dion Pugil zu kommen.
»Es kommt nur auf dich an,« sagte der Alte.
»Auf mich?« rief Josef. »Ach, wenn es nur auf mich ankäme, so stünde ich noch heute vor ihm.«
Der alte Mann schien auch jetzt nicht zu Gesprächen gelaunt.
»Wir werden sehen,« sagte er kurz, legte sich auf die Seite und schloß die Augen. Es war Josef unangenehm, ihn beim Schlummer beobachten zu können, er zog sich leise etwas abseits und legte sich, und unversehens entschlief auch er, der in der Nacht lange wach gelegen war. Sein Führer weckte ihn, als ihm die Zeit zum Abmarsch gekommen schien.
Am Spätnachmittag kamen sie zu einem Lagerplatz mit Wasser, Bäumen und Graswuchs, hier tranken sie, wuschen sich, und der Alte beschloß, hier zu bleiben. Josef war nicht einverstanden und erhob schüchtern Einspruch.
»Du sagtest heute,« meinte er, »es liege nur an mir, wie früh oder spät ich zu Vater Dion kommen werde. Ich bin bereit, noch viele Stunden zu gehen, wenn ich ihn wirklich schon heute oder morgen erreichen kann.«
»Ach nein,« sagte der andre, »für heute sind wir weit genug gekommen.«
»Verzeih,« sagte Josef, »aber kannst du meine Ungeduld nicht verstehen?«
»Ich verstehe sie. Doch wird sie dir nichts nützen.«
»Warum sagtest du dann, es liege an mir?«
»Es ist so, wie ich sagte. Sobald du deines Willens zum Beichten sicher bist und dich bereit und reif weißt, die Beichte abzulegen, wirst du sie ablegen können.«
»Auch heute noch?«
»Auch heute noch.«
Staunend blickte Josef in das stille, alte Gesicht.
»Ist es möglich?« rief er überwältigt. »Bist du selbst Vater Dion?«
Der Alte nickte.
»Ruhe dich hier unter den Bäumen aus,« sagte er freundlich, »aber schlafe nicht, sondern sammle dich, und auch ich will mich ausruhen und sammeln. Dann magst du mir sagen, was du zu sagen begehrst.«
So sah sich Josef plötzlich am Ziel und begriff jetzt kaum mehr, daß er den ehrwürdigen Mann nicht früher erkannt und verstanden habe, neben dem er einen ganzen Tag einhergegangen war. Er zog sich zurück, kniete und betete und richtete dann alle seine Gedanken auf das, was er dem Beichtvater zu sagen habe. Nach einer Stunde kehrte er zurück und fragte, ob Dion bereit sei.
Und nun durfte er beichten. Nun floß all das, was er seit Jahren gelebt und was seit langer Zeit mehr und mehr seinen Wert und Sinn verloren zu haben schien, von seinen Lippen als Erzählung, Klage, Frage, Selbstanklage, die ganze Geschichte seines Christen- und Büßerlebens, das als eine Läuterung und Heiligung gemeint und unternommen und das am Ende so sehr zu Verwirrung, Verdunklung und Verzweiflung geworden war. Auch das jüngst Erlebte verschwieg er nicht, seine Flucht und das Gefühl von Lösung und Hoffnung, das diese Flucht ihm gebracht hatte, die Entstehung seines Entschlusses, zu Dion zu reisen, seine Begegnung mit ihm, und wie er zu ihm, dem Älteren, zwar alsbald ein Vertrauen und eine Liebe gefaßt, ihn aber im Verlauf dieses Tages auch mehrmals als kalt und wunderlich, ja launisch beurteilt habe.
Die Sonne stand schon tief, als er zu Ende gesprochen hatte. Der alte Dion hatte mit unermüdlicher Aufmerksamkeit zugehört und sich jeder Unterbrechung und Frage enthalten. Und auch jetzt, wo die Beichte zu Ende war, kam kein Wort von seinen Lippen. Er erhob sich schwerfällig, blickte Josef mit großer Freundlichkeit an, neigte sich zu ihm, küßte ihn auf die Stirn und machte das Kreuz über ihm. Erst später fiel es Josef ein, daß dies ja dieselbe stumme, brüderliche und auf Urteilsspruch verzichtende Gebärde war, mit welcher er selbst so viele Beichtende entlassen hatte.
Bald darauf aßen sie, sprachen das Nachtgebet und legten sich nieder. Josef sann noch eine Weile und grübelte, er hatte eigentlich eine Verdammung und Strafpredigt erwartet, und war dennoch nicht enttäuscht oder unruhig, der Blick und Bruderkuß Dions hatte ihm genügt, es war still in ihm, und bald sank er in wohltätigen Schlaf.
Ohne Worte zu verschwenden, nahm ihn am Morgen der Alte mit, sie machten eine ziemlich große Tagesreise und noch vier oder fünf, dann waren sie bei Dions Klause angelangt. Da wohnten sie nun, Josef war Dion bei den kleinen Tagesarbeiten behilflich, lernte dessen tägliches Leben kennen und teilen, es war nicht so sehr verschieden von dem, das er selbst viele Jahre geführt hatte. Nur war er jetzt nicht mehr allein, er lebte im Schatten und Schutz eines andern, und so war es denn doch ein vollkommen anderes Leben. Und es kamen aus den umliegenden Siedlungen, aus Askalon und von noch weiter her immer wieder Ratsuchende und Beichtbedürftige. Anfangs zog Josef sich jedesmal, wenn solche Besucher kamen, eilig zurück und ließ sich erst wieder sehen, wenn sie gegangen waren. Aber immer häufiger rief Dion ihn zurück, so wie man einen Diener ruft, hieß ihn Wasser bringen oder sonst eine Handreichung tun, und nachdem er es einige Zeit so gehalten, gewöhnte er Josef daran, je und je einer Beichte als Mithörer beizuwohnen, wenn nicht der Beichtende sich dagegen sträubte. Vielen aber, ja den meisten war es nicht unlieb, dem gefürchteten Pugil nicht allein gegenüber zu stehen oder zu sitzen oder zu knien, sondern diesen stillen, freundlich blickenden und dienstwilligen Gehilfen mit dabei zu haben. So lernte er allmählich die Weise kennen, auf welche Dion Beichte hörte, die Art seines tröstlichen Zuspruchs, die Art seines Zugreifens und Schaltens, die Art seines Strafens und Ratgebens. Selten erlaubte er sich eine Frage, wie etwa damals, als ein Gelehrter oder Schöngeist auf der Durchreise vorsprach.
Dieser hatte, wie aus seinen Erzählungen hervorging, Freunde unter den Magiern und Sternkundigen; Rast haltend, saß er eine Stunde oder zwei bei den beiden alten Büßern, ein höflicher und gesprächiger Gast, sprach lang, gelehrt und schön über die Gestirne und über die Wanderung, welche der Mensch samt seinen Göttern vom Beginn bis zum Ende eines Weltalters durch alle die Häuser des Tierkreises zurückzulegen habe. Er sprach von Adam, dem ersten Menschen, und wie er einer und derselbe sei mit Jesus, dem Gekreuzigten, und nannte die Erlösung durch ihn die Wanderung Adams vom Baume der Erkenntnis zum Baume des Lebens, die Schlange des Paradieses aber nannte er die Hüterin des heiligen Urquells, der finsteren Tiefe, aus deren nächtigen Wassern alle Gestaltungen, alle Menschen und Götter stammen. Dion hörte diesem Manne, dessen Syrisch stark mit Griechisch durchsetzt war, aufmerksam zu, und Josef wunderte sich darüber, ja er nahm Anstoß daran, daß er diese heidnischen Irrtümer nicht mit Eifer und Zorn zurückweise, widerlege und banne, sondern daß die klugen Monologe des vielwissenden Pilgers ihn zu unterhalten und seine Teilnahme zu erregen schienen, denn er hörte nicht nur mit Hingabe zu, sondern lächelte und nickte auch des öfteren zu einem Wort des Redenden, als gefalle es ihm.
Als dieser Mensch wieder gegangen war, fragte Josef mit einem Ton von Eifer und beinahe Vorwurf: »Wie kommt es, daß du die Irrlehren dieses ungläubigen Heiden so geduldig angehört hast? Ja, du hast sie, so schien mir, nicht nur mit Geduld, sondern geradezu mit Teilnahme und mit einem gewissen Vergnügen angehört. Warum bist du ihnen nicht entgegengetreten? Warum hast du nicht versucht, diesen Menschen zu widerlegen, zu strafen und zum Glauben an unsern Herrn zu bekehren?«
Dion wiegte das Haupt auf dem dünnen faltigen Halse und gab Antwort: »Ich habe ihn nicht widerlegt, weil es nichts genützt hätte, vielmehr, weil ich dazu gar nicht imstande gewesen wäre. Im Reden und Kombinieren und in der Kenntnis der Mythologie und der Sterne ist dieser Mann mir ohne Zweifel weit überlegen, ich hätte nichts gegen ihn ausgerichtet. Und ferner, mein Sohn, ist es weder meine noch deine Sache, dem Glauben eines Menschen entgegenzutreten mit der Behauptung, es sei Lug und Irrtum, woran er glaube. Ich habe, gestehe ich, diesem klugen Mann mit einem gewissen Vergnügen zugehört, das ist dir nicht entgangen. Es machte mir Vergnügen, weil er vorzüglich sprach und viel wußte, vor allem aber, weil er mich an meine Jugendzeit erinnerte, denn in der Jugend habe ich mich viel mit ebensolchen Studien und Kenntnissen beschäftigt. Die Dinge aus der Mythologie, über die der Fremde so hübsch geplaudert hat, sind keineswegs Irrtümer. Sie sind Vorstellungen und Gleichnisse eines Glaubens, den wir nicht mehr brauchen, weil wir den Glauben an Jesum, den einzigen Erlöser, gewonnen haben. Für jene aber, die unsern Glauben noch nicht gefunden haben, ihn vielleicht überhaupt nicht finden können, ist ihr Glaube, aus alter Väterweisheit stammend, mit Recht ehrwürdig. Gewiß, Lieber, ist unser Glaube ein anderer, ein durchaus anderer. Aber weil unser Glaube der Lehre von den Gestirnen und Äonen, von den Urwassern und Weltmüttern und all dieser Gleichnisse nicht bedarf, darum sind jene Lehren an sich keineswegs Irrtum, Lug und Trug.«
»Aber unser Glaube,« rief Josef, »ist doch der bessere, und Jesus ist für alle Menschen gestorben; also müssen die, die ihn kennen, doch jene veralteten Lehren bekämpfen und die neue, richtige an ihre Stelle setzen!«
»Dies haben wir ja längst getan, du und ich und so viele andere,« sagte Dion gelassen. »Wir sind Gläubige, weil wir vom Glauben, von der Macht nämlich des Erlösers und seines Erlösertodes, ergriffen worden sind. Jene anderen aber, jene Mythologen und Theologen des Tierkreises und der alten Lehren, sind von dieser Macht nicht ergriffen worden, noch nicht, und uns ist es nicht gegeben, sie zu zwingen, daß sie Ergriffene werden. Hast du nicht bemerkt, Josef, wie hübsch und höchst geschickt dieser Mythologe zu plaudern und sein Bilderspiel zusammenzusetzen wußte und wie wohl es ihm dabei war, wie friedlich und harmonisch er in seiner Weisheit der Bilder und Gleichnisse lebt? Nun, dies ist ein Zeichen dafür, daß diesen Mann kein schweres Leiden drückt, daß er zufrieden ist, daß es ihm gut geht. Menschen, welchen es gut geht, hat unsereiner aber nichts zu sagen. Damit ein Mensch der Erlösung und des erlösenden Glaubens bedürftig werde, damit er die Freude an der Weisheit und Harmonie seiner Gedanken verliere und das große Wagnis des Glaubens an das Wunder der Erlösung auf sich nehme, muß es ihm erst schlecht gehen, sehr schlecht, er muß Leid und Enttäuschung, er muß Bitternis und Verzweiflung erlebt haben, die Wasser müssen ihm bis an den Hals gegangen sein. Nein, Josef, lassen wir diesen gelehrten Heiden in seinem Wohlergehen, lassen wir ihn im Glück seiner Weisheit, seines Denkens und seiner Redekunst! Vielleicht wird er morgen, wird er in einem Jahr, in zehn Jahren das Leid erfahren, das ihm seine Kunst und Weisheit zertrümmert, vielleicht wird man ihm die Frau, die er liebt, oder den einzigen Sohn totschlagen, oder er fällt in Krankheit und Armut; wenn wir ihm alsdann wieder begegnen, wollen wir uns seiner annehmen und ihm erzählen, auf welche Weise wir es versucht haben, des Leides Herr zu werden. Und sollte er uns dann fragen: »Warum habet Ihr mir das nicht gestern, nicht vor zehn Jahren schon gesagt?« – dann wollen wir antworten; »Es ist dir damals noch nicht schlecht genug gegangen.'«
Er war ernst geworden und schwieg eine Weile. Dann, wie aus Erinnerungsträumen heraus, fügte er hinzu: »Ich habe selbst einst viel mit den Weisheiten der Väter gespielt und mich vergnügt, und auch als ich schon auf dem Weg des Kreuzes war, hat das Theologisieren mir noch oft Freude gemacht, und freilich auch Kummer genug. Ich hatte es in meinen Gedanken am meisten mit der Schöpfung der Welt zu tun und damit, daß am Ende des Schöpfungswerkes doch eigentlich alles hätte gut sein sollen, denn es heißt ja: »Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war alles sehr gut.« In Wirklichkeit aber war es nur einen Augenblick gut und vollkommen, den Augenblick des Paradieses, und schon im nächsten Augenblick war Schuld und Fluch in die Vollkommenheit geraten, denn Adam hatte von jenem Baume gegessen, von dem zu essen ihm verboten war. Es gab nun Lehrer, welche sagten: der Gott, der die Schöpfung und mit ihr den Adam und den Baum der Erkenntnis gemacht hat, sei nicht der einige und höchste Gott, sondern nur sein Teil oder ein Untergott von ihm, der Demiurg, und die Schöpfung sei nicht gut, sondern sie sei ihm mißglückt, und es sei nun für eine Weltenzeit das Geschaffene verflucht und dem Bösen anheimgegeben, bis Er selbst, der Eine Geist Gott, durch seinen Sohn der verfluchten Weltzeit ein Ende zu bereiten beschloß. Von nun an, so lehrten sie, und so dachte auch ich, habe das Absterben des Demiurgen und seiner Schöpfung begonnen, und die Welt sterbe allmählich dahin und welke ab, bis in einem neuen Weltalter keine Schöpfung, keine Welt, kein Fleisch, keine Gier und Sünde, kein fleischliches Zeugen, Gebären und Sterben mehr sein, sondern eine vollkommene, geistige und erlöste Welt erstehen werde, frei vom Fluche Adams, frei vom ewigen Fluch und Drang des Begehrens, Zeugens, Gebarens, Sterbens. Wir gaben mehr dem Demiurgen als dem ersten Menschen die Schuld an den derzeitigen Übeln der Welt, wir waren der Meinung, es hätte dem Demiurgen, wenn er wirklich Gott selber war, ein leichtes sein müssen, den Adam anders zu schaffen oder ihm die Versuchung zu ersparen. Und so hatten wir denn am Schluß unserer Folgerungen zwei Götter, den Schöpfergott und den Vatergott, und scheuten uns nicht, über den ersteren richtend abzuurteilen. Es gab sogar solche, welche noch einen Schritt weitergingen und behaupteten, die Schöpfung sei überhaupt nicht Gottes, sondern des Teufels Werk gewesen. Wir glaubten mit unseren Klugheiten dem Erlöser und dem kommenden Zeitalter des Geistes behilflich zu sein, und so machten wir uns denn Götter und Welten und Weltpläne zurecht und disputierten und trieben Theologie, bis ich eines Tages in ein Fieber verfiel und auf den Tod krank wurde, und in den Träumen des Fiebers hatte ich es beständig mit dem Demiurgen zu tun, mußte Krieg führen und Blut vergießen, und die Gesichte und Beängstigungen wurden immer schrecklicher, bis ich in der Nacht des höchsten Fiebers meine eigene Mutter glaubte töten zu müssen, um meine fleischliche Geburt wieder auszulöschen. Der Teufel hat mich in jenen Fieberträumen mit allen seinen Hunden gehetzt. Aber ich genas, und zur Enttäuschung meiner früheren Freunde kehrte ich als ein dummer, schweigsamer und geistloser Mensch ins Leben zurück, der zwar die Kräfte seines Körpers bald wiedergewann, nicht aber die Freude am Philosophieren. Denn in den Tagen und Nächten der Genesung, als jene scheußlichen Fieberträume gewichen waren und ich beinahe immer schlief, fühlte ich in jedem wachen Augenblick den Erlöser bei mir und fühlte Kraft von ihm aus- und in mich eingehen, und als ich wieder gesund geworden war, empfand ich eine Traurigkeit darüber, daß ich diese seine Nähe nicht mehr zu empfinden vermochte. Statt ihrer aber empfand ich eine große Sehnsucht nach jener Nähe, und nun zeigte es sich: sobald ich wieder dem Disputieren zuhörte, fühlte ich, wie diese Sehnsucht – sie war damals mein bestes Gut – in Gefahr geriet, dahinzuschwinden und sich in die Gedanken und Worte hineinzuverlaufen, wie Wasser in Sand zerrinnt. Genug, mein Lieber, es war zu Ende mit meiner Klugheit und Theologie. Ich gehöre seither zu den Einfältigen. Aber wer zu philosophieren und zu mythologisieren weiß, wer jene Spiele zu spielen versteht, in denen auch ich mich einst versucht habe, den möchte ich nicht hindern und nicht gering achten. Wenn ich mich einst damit bescheiden mußte, daß Demiurg und Geistgott, daß Schöpfung und Erlösung in ihrem unbegreiflichen Ineinander- und Zugleichsein mir ungelöste Rätsel blieben, so muß ich mich auch damit bescheiden, daß ich Philosophen nicht zu Gläubigen machen kann. Es ist nicht meines Amtes.«
Einmal, nachdem einer einen Totschlag und Ehebruch gebeichtet hatte, sagte Dion zu seinem Gehilfen: »Totschlag und Ehebruch, das klingt recht verrucht und großartig, und es ist ja auch schlimm genug, nun ja. Aber ich sage dir, Josef, in Wirklichkeit sind diese Weltleute überhaupt keine richtigen Sünder. Sooft ich es versuche, mich ganz in einen von ihnen hineinzudenken, kommen sie mir durchaus wie Kinder vor. Sie sind nicht brav, nicht gut, nicht edel, sie sind eigennützig, lüstern, hochmütig, zornig, gewiß, aber eigentlich und im Grunde sind sie unschuldig, unschuldig in der Weise, wie eben Kinder unschuldig sind.«
»Aber doch,« sagte Josef, »stellst du sie oft gewaltig zur Rede und malst ihnen die Hölle vor Augen.«
»Eben darum. Sie sind Kinder, und wenn sie Gewissensbeschwerden haben und beichten kommen, dann wollen sie ernst genommen und wollen auch ernsthaft abgekanzelt werden. Wenigstens ist dies meine Meinung. Du hast es ja anders gemacht, seinerzeit, du hast nicht gescholten und gestraft und Bußen auferlegt, sondern warst freundlich und hast die Leute einfach mit dem Bruderkuß entlassen. Ich will das nicht tadeln, nein, aber ich könnte das nicht.«
»Wohl,« sagte Josef zögernd. »Aber sage, warum hast du dann mich, als ich dir damals meine Beichte abgelegt hatte, nicht ebenso behandelt wie deine anderen Beichtkinder, sondern hast mich schweigend geküßt und kein Wort der Strafe gesagt?«
Dion Pugil richtete seinen durchdringenden Blick auf ihn. »War es nicht richtig, was ich getan habe?« fragte er.
»Ich sage nicht, es sei nicht richtig gewesen. Es war gewiß richtig, sonst hätte jene Beichte mir nicht so wohlgetan.«
»Nun, so laß es gut sein. Auch habe ich dir ja damals eine strenge und lange Buße auferlegt, wenn schon ohne Worte. Ich habe dich mitgenommen und als meinen Diener behandelt und dich zu dem Amt zurückgeführt und gezwungen, dem du dich hattest entziehen wollen.«
Er wandte sich ab, er war ein Feind langer Gespräche. Aber Josef blieb diesmal hartnäckig.
»Du wußtest damals im voraus, daß ich dir gehorsam sein würde, ich hatte es schon vor der Beichte, und noch eh ich dich kannte, versprochen. Nein, sage mir: war es wirklich nur aus diesem Grunde, daß du es so mit mir gehalten hast?«
Der andere tat ein paar Schritte auf und nieder, blieb vor ihm stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Die Weltleute sind Kinder, mein Sohn. Und die Heiligen – nun, die kommen nicht zu uns beichten. Wir aber, du und ich und unseresgleichen, wir Büßer und Sucher und Weltflüchtige, wir sind keine Kinder und sind nicht unschuldig und sind nicht durch Strafpredigten in Ordnung zu bringen. Wir, wir sind die eigentlichen Sünder, wir Wissenden und Denkenden, die wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, und wir sollten einander also nicht wie Kinder behandeln, die man mit der Rute streicht und wieder laufen läßt. Wir entlaufen ja nach einer Beichte und Buße nicht wieder in die Kinderwelt, wo man Feste feiert und Geschäfte macht und gelegentlich einander totschlägt, wir erleben die Sünde nicht wie einen kurzen, bösen Traum, den man durch Beichte und Opfer wieder von sich abtut: wir weilen in ihr, wir sind niemals unschuldig, wir sind immerzu Sünder, wir weilen in der Sünde und im Brand unseres Gewissens, und wir wissen, daß wir unsere große Schuld niemals werden bezahlen können, es sei denn, daß Gott uns nach unserem Hinscheiden gnädig ansieht und in seine Gnade aufnimmt. Dies, Josef, ist der Grund, warum ich dir und mir nicht Predigten halten und Bußen diktieren kann. Wir haben es nicht mit dieser oder jener Entgleisung oder Übeltat zu tun, sondern immerdar mit der Urschuld selbst; darum kann einer von uns den andern nur des Mitwissens und der Bruderliebe versichern, nicht aber ihn durch eine Strafe heilen. Hast du dies denn nicht gewußt?«
Leise gab Josef zur Antwort: »Es ist so. Ich habe es gewußt.«
»Also laß uns nicht unnütze Reden führen,« sagte der Alte kurz und wandte sich dem Stein vor seiner Hütte zu, auf dem er zu beten gewohnt war.
Einige Jahre vergingen, und Vater Dion wurde je und je von einer Schwäche heimgesucht, so daß Josef ihm am Morgen behilflich sein mußte, da er sich nicht allein aufzurichten vermochte. Dann ging er beten, und auch nach dem Gebet vermochte er sich nicht allein aufzurichten. Josef mußte ihm helfen, und dann saß er den ganzen Tag und sah in die Weite hinaus. Dies geschah an manchen Tagen, an anderen wurde der alte Mann allein mit dem Aufstehen fertig. Auch Beichten hören konnte er nicht an jedem Tag, und wenn einer bei Josef gebeichtet hatte, rief ihn Dion nachher zu sich und sagte ihm: »Es geht zu Ende mit mir, mein Kind, es geht zu Ende. Sage es den Leuten: dieser Josef ist mein Nachfolger.« Und wenn Josef abwehren und ein Wort dazwischenwerfen wollte, blickte der Greis ihn mit jenem schrecklichen Blick an, der einen wie ein eisiger Strahl durchdrang.
Eines Tages, an dem er ohne Hilfe aufgestanden war und kräftiger schien, rief er Josef zu sich und führte ihn an eine Stelle am Rand ihres kleinen Gartens.
»Hier,« sagte er, »ist der Ort, an dem du mich begraben wirst. Das Grab werden wir gemeinsam graben, wir haben wohl noch etwas Zeit. Hole mir den Spaten.«
Nun gruben sie an jedem Tag in der Morgenfrühe ein kleines Stück. War Dion bei Kräften, so hob er selber einige Spaten voll Erde aus, mit großer Beschwerde, aber mit einer gewissen Munterkeit, als bereite die Arbeit ihm Vergnügen. Auch den Tag über verließ diese gewisse Munterkeit ihn nicht mehr; seit an dem Grabe geschaufelt wurde, war er stets guter Dinge.
»Du wirst eine Palme auf mein Grab pflanzen,« sagte er einmal bei dieser Arbeit. »Vielleicht wirst du noch von ihren Früchten essen. Wenn nicht, so wird ein anderer es tun. Ich habe je und je einen Baum gepflanzt, aber doch zu wenige, allzu wenige. Manche sagen, ein Mann sollte nicht sterben, ohne einen Baum gepflanzt zu haben und einen Sohn zu hinterlassen. Nun, ich hinterlasse einen Baum und hinterlasse dich, du bist mein Sohn.«
Er war gelassen und heiterer, als Josef ihn gekannt hatte, und wurde es mehr und mehr. Eines Abends, es wurde dunkel, und sie hatten schon gespeist und gebetet, rief er von seinem Lager aus nach Josef und bat ihn, noch eine kleine Weile bei ihm zu sitzen.
»Ich will dir etwas erzählen,« sagte er freundlich, er schien noch nicht müde und schläfrig zu sein. »Denkt es dir noch, Josef, wie du einst in deiner Klause drüben bei Gaza so schlechte Zeiten hattest und deines Lebens überdrüssig warst? Und wie du dann die Flucht ergriffen und beschlossen hast, den alten Dion aufzusuchen und ihm deine Geschichte zu erzählen? Und wie du dann in der Brüdersiedlung den alten Mann getroffen hast, den du nach dem Wohnort des Dion Pugil fragtest? Nun ja. Und war es nicht wie ein Wunder, daß jener alte Mann Dion selber war? Ich will dir nun erzählen, wie das gekommen ist; es war nämlich auch für mich merkwürdig und wie ein Wunder.
Du weißt, wie das ist, wenn ein Büßer und Beichtvater alt wird und die vielen Beichten der Sünder angehört hat, die ihn für einen Sündelosen und Heiligen halten und nicht wissen, daß er ein größerer Sünder ist als sie. Da kommt ihm sein ganzes Tun unnütz und eitel vor, und was ihm einst heilig und wichtig schien, daß ihn nämlich Gott an diese Stelle gesetzt und gewürdigt hat, den Schmutz und Unrat der Menschenseelen anzuhören und sie zu erleichtern, das erscheint ihm jetzt als eine große, eine allzu große Last, ja als ein Fluch, und am Ende graut ihm vor jedem Armen, der mit seinen Kindersünden zu ihm kommt, er wünscht ihn fort und wünscht sich selber fort, und sei es an einen Strick am Ast eines Baumes. So ist es dir gegangen. Und jetzt ist auch für mich die Stunde des Beichtens gekommen, und ich beichte: auch mir ist es so gegangen wie dir, auch ich glaubte unnütz und geistig erloschen zu sein und es nicht mehr ertragen zu können, daß immer wieder vertrauensvoll die Leute zu mir kamen und all den Unrat und Gestank des Menschenlebens zu mir trugen, mit dem sie nicht fertig wurden, und mit dem auch ich nicht mehr fertig wurde.
Nun hatte ich des öfteren von einem Büßer namens Josephus Famulus sprechen hören. Auch zu ihm, so vernahm ich, kamen die Menschen gern zur Beichte, und viele gingen zu ihm lieber als zu mir, denn er sollte ein sanfter, freundlicher Mann sein, und es hieß, er verlange nichts von den Leuten und schelte sie nicht aus, er behandle sie als Brüder, höre sie nur an und entlasse sie mit einem Kuß. Das war nicht meine Art, du weißt es, und als ich die ersten Male von diesem Josephus erzählen hörte, war mir seine Weise eher töricht und allzu kindlich erschienen; aber jetzt, da es mir so sehr fraglich geworden war, ob denn meine eigene Art etwas tauge, hatte ich allen Grund, über die Art dieses Josef mich eines Urteils und Besserwissens zu enthalten. Was für Kräfte mochte dieser Mann haben? Ich wußte, er sei jünger als ich, aber doch auch schon dem Greisenalter nahe, das gefiel mir, zu einem Jungen hätte ich nicht so leicht Vertrauen gefaßt. Zu diesem aber fühlte ich mich hingezogen. Und so entschloß ich mich, zu Josephus Famulus zu pilgern, ihm meine Not zu bekennen und ihn um Rat zu bitten, oder wenn er keinen Rat gab, vielleicht Trost und Stärkung von ihm mitzubekommen. Schon der Entschluß tat mir wohl und erleichterte mich.
Ich trat denn die Reise an und pilgerte dem Ort entgegen, wo es hieß, daß er seine Klause habe. Unterdessen aber hatte Bruder Josef eben dasselbe erlebt wie ich und hatte dasselbe getan wie ich, jeder hatte sich auf die Flucht begeben, um beim andern Rat zu finden. Als ich ihn dann, noch ehe ich seine Hütte gefunden hatte, zu Gesicht bekam, erkannte ich ihn schon beim ersten Gespräch, er sah aus wie der Mann, den ich erwartet hatte. Aber er war auf der Flucht, es war ihm schlecht ergangen, so schlecht wie mir oder noch schlechter, und er war keineswegs gesonnen, Beichten anzuhören, sondern begehrte selber zu beichten und seine Not in eine fremde Hand zu legen. Dies war mir zu jener Stunde eine wunderliche Enttäuschung, ich war sehr traurig. Denn wenn auch dieser Josef, der mich nicht kannte, seines Dienstes müde geworden und am Sinn seines Lebens verzweifelt war – schien das nicht zu bedeuten, daß es mit uns allen beiden nichts war, daß wir beide unnütz gelebt hatten und gescheitert waren?
Ich erzähle dir, was du schon weißt, laß es mich kurz machen. Ich blieb jene Nacht bei der Siedlung allein, während du bei den Brüdern Herberge fandest, ich übte Versenkung und dachte mich in diesen Josef hinein und dachte mir: was wird er tun, wenn er morgen erfährt, daß er vergebens geflohen ist und vergebens sein Vertrauen auf den Pugil gesetzt hat, wenn er erfährt, daß auch der Pugil ein Flüchtling und Angefochtener ist? Je mehr ich mich in ihn hineindachte, desto mehr tat Josef mir leid, und desto mehr wollte es mir scheinen, er sei mir von Gott zugesandt, um ihn und mit ihm mich selbst zu erkennen und zu heilen. Nun konnte ich schlafen, die halbe Nacht war schon um. Am nächsten Tage pilgertest du mit mir und bist mein Sohn geworden.
Diese Geschichte habe ich dir erzählen wollen. Ich höre, daß du weinst. Weine nur, es tut dir wohl. Und da ich schon so ungebührlich gesprächig geworden bin, so tu mir die Liebe und höre auch dieses noch an und nimm es in dein Herz auf: der Mensch ist wunderlich, es ist wenig Verlaß auf ihn, und so ist es nicht unmöglich, daß zu einer Zeit jene Leiden und Anfechtungen dich von neuem überkommen und dich zu besiegen versuchen werden. Möge dir dann unser Herr einen ebenso freundlichen, geduldigen und tröstlichen Sohn und Pflegling zusenden, wie er ihn mir in dir gegeben hat! Was aber den Ast am Baum anbelangt, von dem der Versucher dich damals träumen ließ, und den Tod des armen Judas Ischariot, so kann ich dir eines sagen: es ist nicht bloß eine Sünde und Torheit, sich einen solchen Tod zu bereiten, obwohl es unserm Erlöser ein kleines ist, auch diese Sünde zu vergeben. Aber es ist auch überdies jammerschade, wenn ein Mensch in Verzweiflung stirbt. Die Verzweiflung schickt uns Gott nicht, um uns zu töten, er schickt sie uns, um neues Leben in uns zu erwecken. Wenn er uns aber den Tod schickt, Josef, wenn er uns von der Erde und vom Leibe losmacht und uns hinüberruft, so ist das eine große Freude. Einschlafen dürfen, wenn man müde ist, und eine Last fallen lassen dürfen, die man sehr lang getragen hat, das ist eine köstliche, eine wunderbare Sache. Seit wir das Grab gegraben haben – vergiß den Palmbaum nicht, den du darauf pflanzen sollst –, seit wir angefangen haben, das Grab zu graben, bin ich vergnügter und zufriedener gewesen, als ich es in vielen Jahren war.
Ich habe lange geschwatzt, mein Sohn, du wirst müde sein. Geh schlafen, geh in deine Hütte. Gott mir dir!«
Am folgenden Tage kam Dion nicht zum Morgengebet und rief auch nicht nach Josef. Als dieser bange wurde und leise in Dions Hütte und an sein Lager trat, fand er den Alten entschlafen und sein Gesicht von einem kindlichen, leise strahlenden Lächeln erhellt.
Er begrub ihn, er pflanzte den Baum auf das Grab und erlebte noch das Jahr, in welchem der Baum die ersten Früchte trug.
Einer der von Vishnu, vielmehr dem als Rama menschgewordenen Teile von Vishnu, in einer seiner wilden Dämonenschlachten mit dem Sichelmondpfeil getöteten Dämonenfürsten war in Menschengestalt wieder in den Kreislauf der Gestaltungen eingetreten, hieß Ravana und lebte als kriegerischer Fürst an der großen Ganga. Dieser war Dasas Vater. Dasas Mutter starb frühe, und kaum hatte deren Nachfolgerin, ein schönes und ehrgeiziges Weib, dem Fürsten einen Sohn geboren, so war ihr der kleine Dasa im Wege; statt seiner, des Erstgeborenen, dachte sie ihren eigenen Sohn Nala einst zum Herrscher weihen zu sehen, und so wußte sie Dasa seinem Vater zu entfremden und war gesonnen, ihn bei der ersten guten Gelegenheit aus dem Wege zu räumen. Einem von Ravanas Hofbrahmanen jedoch, Vasudeva dem Opferkundigen, blieb ihre Absicht nicht verborgen, und der Kluge verstand sie zu vereiteln. Ihm tat der Knabe leid, auch schien ihm der kleine Prinz von seiner Mutter eine Anlage zur Frömmigkeit und ein Gefühl für das Recht geerbt zu haben. Er hatte ein Auge auf Dasa, daß ihm nichts geschähe, und wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn der Stiefmutter zu entziehen.
Es besaß nun der Rajah Ravana eine Herde dem Brahma geweihter Kühe, welche heilig gehalten und von deren Milch und Butter dem Gott häufige Opfer gebracht wurden. Ihnen waren im Lande die besten Weiden vorbehalten. Es kam eines Tages einer der Hirten dieser dem Brahma geweihten Kühe, um eine Fracht Butter abzuliefern und zu melden, daß in der Gegend, wo bisher die Herde geweidet, eine kommende Dürre sich anzeige, so daß sie, die Hirten, einig geworden seien, sie weiter fort gegen das Gebirge hin zu führen, wo es auch in der trockensten Zeit an Quellen und frischem Futter nicht mangeln werde. Diesen Hirten, den er seit langem kannte, zog der Brahmane ins Vertrauen, es war ein freundlicher und treuer Mensch, und als am nächsten Tage der kleine Dasa, Ravanas Sohn, verschwunden war und nicht mehr gefunden werden konnte, waren Vasudeva und der Hirte die einzigen, welche um das Geheimnis seines Verschwindens wußten. Der Knabe Dasa aber war von dem Hirten mit in die Hügel genommen worden, dort trafen sie auf die langsam wandernde Herde, und Dasa schloß sich ihr und den Hirten gerne und freundlich an, wuchs als ein Hirtenknabe auf, half hüten und treiben, lernte melken, spielte mit den Kälbern und lag unter den Bäumen, trank süße Milch und hatte Kuhmist an den nackten Füßen. Ihm gefiel das wohl, er lernte die Hirten und Kühe und ihr Leben kennen, lernte den Wald kennen und seine Bäume und Früchte, liebte den Mango, die Waldfeige und den Varingabaum, fischte die süße Lotoswurzel aus grünen Waldteichen, trug an Festtagen einen Kranz aus den roten Blüten der Waldflamme, lernte vor den Tieren der Wildnis auf der Hut zu sein, den Tiger zu meiden, sich mit dem klugen Mungo und dem heiteren Igel zu befreunden, in dämmriger Schutzhütte die Regenzeiten zu überdauern; da spielten die Knaben Kinderspiele, sangen Verse oder flochten Körbe und Schilfmatten. Dasa vergaß seine vorige Heimat und sein voriges Leben nicht ganz, doch war es ihm bald ein Traum geworden.
Und eines Tages, die Herde hatte eine andere Gegend bezogen, ging Dasa in den Wald, denn er war willens, Honig zu suchen. Wunderbar lieb war ihm der Wald, seit er ihn kannte, und dieser hier schien überdies ein besonders schöner Wald zu sein, durch Laub und Geäst wie goldne Schlangen wand sich das Tageslicht, und wie die Laute sich, die Vogelrufe, das Wipfelgeflüster, die Stimmen der Affen, zu einem holden, sanft leuchtenden Geflecht verschlangen und kreuzten, dem des Lichtes im Gehölze ähnlich, so kamen, verbanden und trennten sich wieder die Gerüche, die Düfte von Blüten, Hölzern, Blättern, Wassern, Moosen, Tieren, Früchten, Erde und Moder, herbe und süße, wilde und innige, weckende und schläfernde, muntre und beklommene. Zuzeiten rauschte in unsichtbarer Waldschlucht ein Gewässer auf, zuzeiten tanzte über weißen Dolden ein grünsamtener Falter mit schwarzen und gelben Flecken, zuzeiten krachte ein Ast tief im blauschattigen Gehölz, und schwer sank Laub in Laub, oder es röhrte ein Wild im Finstern oder schalt eine zänkische Äffin mit den Ihren. Dasa vergaß die Honigsuche, und indem er einige bunt blitzende Zwergvögel belauschte, sah er zwischen hohen Farnen, welche wie ein dichter kleiner Wald im großen Walde standen, eine Spur sich verlieren, etwas wie einen Weg, einen dünnen, winzigen Fußsteig, und indem er lautlos und vorsichtig eindrang und den Pfad verfolgte, entdeckte er unter einem vielstämmigen Baume eine kleine Hütte, eine Art von spitzem Zelt, aus Farnen gebaut und geflochten, und neben der Hütte an der Erde sitzend in aufrechter Haltung einen regungslosen Mann, der hatte die Hände zwischen den gekreuzten Füßen ruhen, und unter dem weißen Haar und der breiten Stirn schauten stille, blicklose Augen zur Erde gesenkt, offen, doch nach innen sehend. Dasa begriff, daß dies ein heiliger Mann und Yogin sei, es war nicht der erste, den er sah, sie waren ehrwürdige und von den Göttern bevorzugte Männer, es war gut, ihnen Gaben zu spenden und Ehrfurcht zu erweisen. Aber dieser hier, der vor seiner so schön und wohl verborgenen Farnhütte in aufrechter Haltung mit still hängenden Armen saß und der Versenkung pflegte, gefiel dem Knaben mehr und schien ihm seltsamer und ehrwürdiger als die, die er sonst gesehen hatte. Es umgab diesen Mann, der wie schwebend saß und entrückten Blickes doch alles zu sehen und zu wissen schien, eine Aura von Heiligkeit, ein Bannkreis der Würde, eine Woge und Flamme gesammelter Glut und Yoga-Kraft, welche der Knabe nicht zu durchschreiten oder mit einem Gruß oder Ruf zu durchbrechen gewagt hätte. Die Würde und Größe seiner Gestalt, das Licht von innen her, in welchem sein Antlitz strahlte, die Sammlung und eherne Unanfechtbarkeit in seinen Zügen sandten Wellen und Strahlen aus, in deren Mitte er thronte wie ein Mond, und die angehäufte Geisteskraft, der still gesammelte Wille in seiner Erscheinung spann einen solchen Zauberkreis um ihn, daß man wohl spürte: dieser Mann vermöchte mit einem bloßen Wunsch und Gedanken, ohne auch nur den Blick zu erheben, einen zu töten und wieder ins Leben zurückzurufen.
Regungsloser als ein Baum, der doch mit Laub und Zweigen atmend sich bewegt, regungslos wie ein steinernes Götterbild saß der Yogin an seinem Orte, und ebenso regungslos verharrte vom Augenblick an, in dem er ihn wahrgenommen, der Knabe, am Boden festgebannt, in Fesseln geschlagen und zauberisch angezogen von dem Bilde. Er stand und starrte den Meister an, sah einen Fleck Sonnenlicht auf seiner Schulter, einen Fleck Sonnenlicht auf einer seiner ruhenden Hände liegen, sah die Lichtflecken langsam wandern und neue entstehen und begann im Stehen und Staunen zu begreifen, daß die Sonnenlichter nichts mit diesem Mann zu tun hätten, noch die Vogelgesänge und Affenstimmen aus dem Walde ringsum, noch die braune Waldbiene, die sich ins Gesicht des Versunkenen setzte, an seiner Haut roch, eine Strecke weit über die Wange kroch und sich wieder erhob und von dannen flog, noch das ganze vielfältige Leben des Waldes. Dies alles, spürte Dasa, alles, was die Augen sehen, die Ohren hören, was schön oder häßlich, was lieblich oder furchterregend ist, dies alles stand in keiner Beziehung zu dem heiligen Mann, Regen würde ihn nicht kälten noch verdrießen, Feuer ihn nicht brennen können, die ganze Welt um ihn her war ihm Oberfläche und bedeutungslos geworden. Es lief die Ahnung davon, daß in der Tat vielleicht die ganze Welt nur Spiel und Oberfläche, nur Windhauch und Wellengekräusel über unbekannten Tiefen sein könnte, nicht als Gedanke, sondern als körperlicher Schauer und leichter Schwindel über den zuschauenden Hirtenprinzen hin, als eine Empfindung von Grauen und Gefahr und zugleich von Angezogenwerden in sehnlicher Begierde. Denn, so fühlte er, der Yogin war durch die Oberfläche der Welt, durch die Oberflächenwelt hinabgesunken in den Grund des Seienden, ins Geheimnis aller Dinge, er hatte das Zaubernetz der Sinne, die Spiele des Lichtes, der Geräusche, der Farben, der Empfindungen durchbrochen und von sich gestreift und weilte festgewurzelt im Wesentlichen und Wandellosen. Der Knabe, obwohl einst von Brahmanen erzogen und mit manchem Strahl geistigen Lichtes beschenkt, verstand dieses nicht mit dem Verstande und hätte mit Worten nichts darüber zu sagen gewußt, aber er spürte es, wie man zur gesegneten Stunde die Nähe des Göttlichen spürt, er spürte es als Schauer der Ehrfurcht und der Bewunderung für diesen Mann, spürte es als Liebe zu ihm und als Sehnsucht nach einem Leben, wie dieser in der Versenkung Sitzende es zu leben schien. Und so stand Dasa, auf wunderliche Weise durch den Alten an seine Herkunft, an Fürsten- und Königtum erinnert und im Herzen berührt, am Rande der Farnwildnis, ließ die Vögel fliegen und die Bäume ihre sanftrauschenden Gespräche führen, ließ den Wald Wald und die ferne Herde Herde sein, ergab sich dem Zauber und blickte auf den meditierenden Einsiedler, eingefangen von der unbegreiflichen Stille und Unberührbarkeit seiner Gestalt, von der lichten Ruhe seines Antlitzes, von der Kraft und Sammlung seiner Haltung, der vollkommenen Hingabe seines Dienstes.
Nachher hätte er nicht sagen können, ob es zwei oder drei Stunden, oder ob es Tage waren, die er bei jener Hütte verbracht hatte. Als der Zauber ihn wieder entließ, als er sich lautlos den Pfad zwischen den Farnkräutern zurückschlich, den Weg aus dem Walde suchte und schließlich wieder bei den offenen Weidegründen und der Herde anlangte, tat er es, ohne zu wissen, was er tue, noch war seine Seele bezaubert, und er erwachte erst, als einer der Hirten ihn anrief. Dieser empfing ihn mit lauten Scheltworten wegen seines langen Fortbleibens, aber als Dasa ihn groß und verwundert anschaute, als verstehe er die Worte nicht, schwieg der Hirt alsbald, über den so ungewohnten, fremden Blick des Knaben und seine feierliche Haltung erstaunt. Nach einer Weile aber fragte er: »Wo bist du denn gewesen, Lieber? Hast du etwa einen Gott gesehen oder bist einem Dämon begegnet?«
»Ich war im Walde,« sagte Dasa, »es zog mich dorthin, ich wollte nach Honig suchen. Aber dann vergaß ich es, denn ich sah dort einen Mann, einen Einsiedler, der saß da und war in Nachdenken versunken oder in Gebet, und als ich ihn sah und wie sein Gesicht leuchtete, mußte ich stehenbleiben und ihn ansehen, eine lange Zeit. Ich möchte am Abend hingehen und ihm Gaben bringen, er ist ein heiliger Mann.«
»Tu es,« sagte der Hirt, »bring ihm Milch und süße Butter; man soll sie ehren und soll ihnen geben, den Heiligen.«
»Aber wie soll ich ihn anreden?«
»Du brauchst ihn nicht anzureden, Dasa, bücke dich nur vor ihm und stelle die Gaben vor ihm nieder, mehr ist nicht vonnöten.«
So tat er denn. Er brauchte eine Weile, bis er den Ort wiederfand. Der Platz vor der Hütte war leer, und in die Hütte selbst einzutreten, wagte er nicht, so stellte er seine Gaben vor dem Eingang der Hütte auf den Boden und entfernte sich.
Solange nun die Hirten mit den Kühen in der Nähe des Ortes blieben, brachte er jeden Abend Spenden dorthin, und auch am Tage ging er einmal wieder hin, fand den Ehrwürdigen der Versenkung pflegen und widerstand auch dieses Mal der Verlockung nicht, als beseligter Zuschauer einen Strahl von der Kraft und der Glückseligkeit des Heiligen zu empfangen. Und auch nachdem man die Gegend verlassen und Dasa die Herde auf neue Weidegründe zu treiben geholfen hatte, konnte er das Erlebnis im Walde noch lange Zeit nicht vergessen, und wie es die Art von Knaben ist, gab er zuweilen, wenn er allein war, sich dem Traume hin, sich selbst als einen Einsiedler und Yogakundigen zu sehen. Indessen begann mit der Zeit die Erinnerung und das Traumbild blasser zu werden, um so mehr, da Dasa nun rasch zu einem kräftigen Jüngling heranwuchs und sich den Spielen und Kämpfen mit seinesgleichen mit freudigem Eifer hingab. Doch blieb ein Schimmer und eine leise Ahnung in seiner Seele zurück, als könnte das Prinzentum und Fürstentum, das ihm verlorengegangen war, ihm einst ersetzt werden durch die Würde und Macht des Yogitums.
Eines Tages, da sie sich in der Nähe der Stadt befanden, brachte einer der Hirten von dort die Nachricht, daß daselbst ein gewaltiges Fest bevorstehe: der alte Fürst Ravana, von seiner einstigen Kraft verlassen und hinfällig geworden, hatte einen Tag festgesetzt, an welchem sein Sohn Nala seine Nachfolge antreten und zum Fürsten ausgerufen werden sollte. Dieses Fest wünschte Dasa zu besuchen, um die Stadt einmal zu sehen, an welche aus der Kindheit her kaum noch eine leise Spur von Erinnerung in seiner Seele lebte, um die Musik zu hören, den Festzug und die Wettkämpfe der Adligen anzuschauen und auch einmal jener unbekannten Welt der Stadtmenschen und der Großen ansichtig zu werden, die in den Sagen und Märchen so oft geschildert wurde und von der er, auch dies war nur eine Sage oder ein Märchen oder noch weniger, wußte, daß sie einst, in einer Vorzeit, auch seine eigene Welt gewesen sei. Es war den Hirten Befehl zugegangen, für die Opfer des Festtages eine Last Butter an den Hof zu liefern, und Dasa gehörte zu seiner Freude zu den dreien, welche der Oberhirt für diesen Auftrag bestimmte.
Um die Butter abzuliefern, trafen sie am Vorabend bei Hofe ein, und der Brahmane Vasudeva nahm sie ihnen ab, denn er war es, der dem Opferdienste vorstand, doch erkannte er den Jüngling nicht. Mit großer Begierde nahmen alsdann die drei Hirten an dem Feste teil, sahen schon früh am Morgen unter des Brahmanen Leitung die Opfer beginnen und die goldglänzende Butter in Mengen von den Flammen gepackt und in himmelauflodernde Flamme verwandelt werden, hochauf ins Unendliche schlug das Geflacker und der fettgetränkte Rauch, den dreimal zehn Göttern angenehm. Sie sahen im Festzuge die Elefanten mit vergoldeten Dächern über den Plattformen, auf welchen die Reiter saßen, sahen den blumengeschmückten Königswagen und den jungen Rajah Nala und hörten die gewaltig schallende Paukenmusik. Es war alles sehr großartig und prangend und auch ein wenig lächerlich, wenigstens erschien es dem jungen Dasa so; er war betäubt und entzückt, ja berauscht von dem Lärm, von den Wagen und geschmückten Pferden, von all der Pracht und prahlerischen Verschwendung, war sehr entzückt von den Tänzerinnen, die dem Fürstenwagen voraustanzten, mit Gliedern schlank und zäh wie Lotosstengel, war erstaunt über die Größe und Schönheit der Stadt, und betrachtete dennoch und trotz alledem, mitten in der Berauschung und Freude, alles ein wenig mit dem nüchternen Sinn des Hirten, der den Städter im Grunde verachtet. Daran, daß eigentlich er selbst der Erstgeborene war, daß hier vor seinen Augen sein Stiefbruder Nala, an welchen ihm keine Erinnerung geblieben war, gesalbt, geweiht und gefeiert werde, daß eigentlich er selbst, Dasa, an dessen Stelle im blumengeschmückten Wagen hätte fahren sollen, dachte er nicht. Dagegen mißfiel ihm allerdings dieser junge Nala durchaus, er schien ihm dumm und böse zu sein in seiner Verwöhntheit und unerträglich eitel in seiner geschwollenen Selbstanbetung, gern hätte er diesem den Fürsten spielenden Jüngling einen Streich gespielt und eine Lehre erteilt, doch war dazu keine Gelegenheit, und rasch vergaß er es wieder über dem vielen, was zu sehen, zu hören, zu lachen, zu genießen war. Die Stadtfrauen waren hübsch und hatten kecke, aufregende Blicke, Bewegungen und Redensarten, die drei Hirten bekamen manches Wort zu hören, das ihnen noch lang in den Ohren klang. Die Worte wurden zwar mit einem Beiklang von Spott gerufen, denn es geht dem Städter mit dem Hirten ebenso wie dem Hirten mit dem Städter: einer verachtet den andern; aber trotzdem gefielen die schönen, starken, mit Milch und Käse genährten, das ganze Jahr fast immer unter freiem Himmel lebenden Jünglinge den Stadtfrauen sehr.
Als Dasa von diesem Fest zurückkehrte, war er ein Mann geworden, stellte den Mädchen nach und mußte manchen schweren Faust- und Ringkampf mit anderen Jünglingen bestehen. Da kamen sie wieder einmal in eine andere Gegend, eine Gegend mit flachen Weiden und manchen stehenden Wassern, die in Binsen und Bambus standen. Hier sah er ein Mädchen, Pravati mit Namen, und wurde von einer unsinnigen Liebe zu diesem schönen Weibe ergriffen. Sie war die Tochter eines Pächters, und Dasas Verliebtheit war so groß, daß er alles andere vergaß und hinwarf, um sie zu erlangen. Als die Hirten nach einiger Zeit die Gegend wieder verließen, hörte er nicht auf ihre Mahnungen und Ratschläge, sondern nahm Abschied von ihnen und vom Hirtenleben, das er so sehr geliebt hatte, wurde seßhaft und brachte es dazu, daß er Pravati zur Frau bekam. Er bestellte des Schwiegervaters Hirsefelder und Reisfelder, half in der Mühle und im Holz, baute seinem Weib eine Hütte aus Bambus und Lehm und hielt es darin verschlossen. Es muß eine gewaltige Macht sein, welche einen jungen Mann dazu bewegen kann, auf seine bisherigen Freuden und Kameraden und Gewohnheiten zu verzichten, sein Leben zu ändern und unter Fremden die nicht beneidenswerte Rolle des Schwiegersohnes zu übernehmen. So groß war die Schönheit Pravatis, so groß und verlockend war die Verheißung inniger Liebeslust, die von ihrem Gesicht und ihrer Gestalt ausstrahlte, daß Dasa für alles andre erblindete und sich diesem Weibe völlig hingab, und in der Tat empfand er in ihren Armen ein großes Glück. Von manchen Göttern und Heiligen erzählt man Geschichten, daß sie, von einer entzückenden Frau bezaubert, dieselbe tage-, monde- und jahrelang umarmt hielten und mit ihr verschmolzen blieben, ganz in Lust versunken, jeder anderen Verrichtung vergessend. So hätte auch Dasa sich sein Los und seine Liebe gewünscht. Indessen war ihm anderes beschieden, und sein Glück währte nicht lange. Es währte etwa ein Jahr, und auch diese Zeit war nicht von lauter Glück ausgefüllt, es blieb noch Raum für mancherlei, für lästige Ansprüche des Schwiegervaters, für Sticheleien von seiten der Schwäger, für Launen der Jungen Frau. Sooft er aber zu ihr sich aufs Lager begab, war dies alles vergessen und zu nichts geworden, so zauberhaft zog ihr Lächeln ihn an, so süß war es ihm, ihre schlanken Glieder zu streicheln, so mit tausend Blüten, Düften und Schatten blühte der Garten der Wollust an ihrem jungen Leibe.
Noch war das Glück kein ganzes Jahr alt geworden, da kam eines Tages Unruhe und Lärm in die Gegend. Es erschienen berittene Boten und meldeten den jungen Rajah an, es erschien mit Mannen, Pferden und Troß der junge Rajah selbst, Nala, um in der Gegend der Jagd obzuliegen, es wurden da und dort Zelte aufgeschlagen, man hörte Rosse schnauben und Hörner blasen. Dasa kümmerte sich nicht darum, er arbeitete im Felde, besorgte die Mühle und wich den Jägern und Hofleuten aus. Als er aber an einem dieser Tage in seine Hütte heimkehrte und sein Weib nicht darin fand, dem er jeden Ausgang in dieser Zeit aufs strengste verboten hatte, da spürte er einen Stich im Herzen und ahnte, daß sich Unglück über seinem Haupt ansammle. Er eilte zum Schwiegervater, auch da war Pravati nicht, und niemand wollte sie gesehen haben. Der bange Druck auf seinem Herzen wuchs. Er suchte den Kohlgarten, die Felder ab, er war einen Tag und zwei Tage zwischen seiner Hütte und der des Schwiegervaters unterwegs, lauerte im Acker, stieg in den Brunnen hinab, betete, rief ihren Namen, lockte, fluchte, suchte Fußspuren. Der jüngste seiner Schwäger, ein Knabe noch, verriet ihm endlich, Pravati sei beim Rajah, sie wohne in seinem Zelt, man habe sie auf seinem Pferd reiten sehen. Dasa umlauerte das Zeltlager Nalas, unsichtbar, er hatte die Schleuder bei sich, die er einst als Hirt gebraucht hatte. Sooft das Fürstenzelt, bei Tag oder Nacht, einen Augenblick unbewacht schien, pirschte er sich heran, aber jedesmal tauchten alsbald Wachen auf, und er mußte fliehen. Von einem Baume, in dessen Gezweig verborgen er auf das Lager niederblickte, sah er den Rajah, dessen Gesicht ihm schon von jenem Fest in der Stadt her bekannt und widerwärtig war, sah ihn zu Pferd steigen und ausreiten, und als er nach Stunden wiederkam, vom Pferd stieg und das Zelttuch zurückschlug, war es ein junges Weib, das Dasa im Zeltschatten sich bewegen und den Heimkehrenden begrüßen sah, und es fehlte wenig, so wäre er vom Baum gefallen, als er in diesem jungen Weibe Pravati, seine Frau, erkannte. Er hatte jetzt Gewißheit, und der Druck um sein Herz wurde stärker. War das Glück seiner Liebe mit Pravati groß gewesen, nicht minder groß, ja größer war nun das Leid, die Wut, das Gefühl von Verlust und Beleidigung. So ist es, wenn ein Mensch sein Liebesvermögen auf einen einzigen Gegenstand gesammelt hat; mit dessen Verlust stürzt ihm alles zusammen, und er steht arm zwischen Trümmern.
Einen Tag und eine Nacht irrte Dasa in den Gehölzen der Gegend umher, aus jeder kurzen Rast trieb den Ermüdeten das Elend seines Herzens wieder empor, er mußte laufen und sich rühren, es war ihm, als müsse er laufen und wandern bis an der Welt Ende und bis ans Ende seines Lebens, das seinen Wert und Glanz verloren hatte. Dennoch lief er nicht ins Weite und Unbekannte, sondern hielt sich immerzu in der Nähe seines Unglücks, umkreiste seine Hütte, die Mühle, die Äcker, das fürstliche Jagdzelt. Am Ende barg er sich wieder in den Bäumen überm Zelte, hockte und lauerte bitter und glühend wie ein hungerndes Raubtier im laubigen Versteck, bis der Augenblick kam, auf den er seine letzten Kräfte gespannt hielt, bis der Rajah vors Zelt trat. Da ließ er sich leise vom Ast gleiten, holte aus, schwang die Schleuder und traf mit dem Feldstein den Verhaßten in die Stirn, daß er hinstürzte und regungslos auf dem Rücken lag. Niemand schien zugegen; durch den Sturm von Wollust und Rachegenuß, der Dasas Sinne durchbrauste, drang einen Augenblick erschreckend und wunderlich eine tiefe Stille. Und noch ehe es um den Erschlagenen laut wurde und von Dienern zu wimmeln begann, war er im Gehölz und in der talwärts anschließenden Bambuswildnis verschwunden.
Während er vom Baum gesprungen war, während er im Rausch der Tat seine Schleuder gewirbelt und den Tod entsendet hatte, war ihm so gewesen, als lösche er auch sein eigenes Leben damit aus, als entließe er die letzte Kraft und werfe sich, mit dem tötenden Steine fliegend, selber in den Abgrund der Vernichtung, einverstanden mit dem Untergang, wenn nur der gehaßte Feind einen Augenblick vor ihm fiele. Nun aber, da der Tat jener unerwartete Augenblick der Stille antwortete, zog Lebensgier, von der er noch eben nichts gewußt, ihn vom offenen Abgrund zurück, nahm Urtrieb sich seiner Sinne und Glieder an, hieß ihn Wald und Bambusdickicht aufsuchen, befahl ihm zu fliehen und unsichtbar zu werden. Erst als er eine Zuflucht erreicht und der ersten Gefahr sich entzogen hatte, kam er zum Bewußtsein dessen, was mit ihm geschah. Indem er tief erschöpft zusammensank und um Atem rang, und indem in der Entkräftung der Tatrausch sich verlor und der Ernüchterung Raum gab, empfand er zuerst eine Enttäuschung und einen Widerwillen darüber, sich am Leben und entkommen zu sehen. Aber kaum hatte sein Atem sich beruhigt und der Schwindel der Erschöpfung sich gelegt, so wich dieses flaue und widrige Gefühl einem Trotz und Lebenswillen, und es kehrte nochmals die wilde Freude über seine Tat in sein Herz zurück.
Es wurde in Bälde lebendig in seiner Nähe, die Suche und Jagd nach dem Totschläger hatte begonnen, sie dauerte den ganzen Tag, und er entging ihr nur dadurch, daß er lautlos im Versteck verharrte, das der Tiger wegen niemand allzu tief durchwaten mochte. Er schlief ein weniges, lag wieder lauernd, kroch weiter, rastete aufs neue, war am dritten Tag nach der Tat schon jenseits der Hügelkette und wanderte unaufhaltsam weiter ins höhere Gebirg hinein.
Das heimatlose Leben führte ihn da- und dorthin, es machte ihn härter und gleichgültiger, auch klüger und resignierter, doch träumte er nachts immer wieder von Pravati und seinem einstmaligen Glück, oder was er nun so nannte, träumte viele Male auch von seiner Verfolgung und Flucht, schreckliche und herzbeklemmende Träume wie etwa diesen: daß er durch die Wälder fliehe, hinter sich mit Trommeln und Jagdhörnern die Verfolger, und daß er durch Wald und Sumpf, durch Dörnicht und über brechende morsche Brücken hinweg etwas trage, eine Last, einen Packen, etwas Eingewickeltes, Verhülltes, Unbekanntes, wovon er nur wußte, es sei kostbar und dürfe unter keinen Umständen aus den Händen gegeben werden, etwas Wertvolles und Gefährdetes, einen Schatz, etwas Gestohlenes vielleicht, gewickelt in ein Tuch, einen farbigen Stoff mit einem braunrot und blauen Muster, wie es das Festkleid Pravatis gehabt hatte – daß er also, mit diesem Packen, Raub oder Schatz beladen, unter Gefahren und Mühsalen fliehe und schleiche, unter tiefhängenden Ästen und überhängenden Felsen gebückt hindurch, an Schlangen vorbei und über schwindelnd schmale Stege über Flüssen voll von Krokodilen, daß er schließlich gehetzt und erschöpft stehenbleibe, daß er an den Knoten nestle, mit denen sein Packen verschnürt war, daß er sie einen um den andern löse und das Tuch entbreite, und daß der Schatz, den er nun herausnahm und in schaudernden Händen hielt, sein eigener Kopf sei.
Er lebte verborgen und auf Wanderung, die Menschen nicht eigentlich mehr fliehend, doch eher meidend. Und eines Tages führte die Wanderung ihn durch eine grasreiche Hügelgegend, die mutete ihn schön und heiter an und schien ihn zu begrüßen, als müsse er sie kennen: bald war es ein Wiesengrund, mit sanftwehender Grasblüte, bald war es eine Gruppe von Salweiden, die er erkannte und die ihn an die heitere und unschuldige Zeit gemahnte, da er von Liebe und Eifersucht, von Haß und Rache noch nichts gewußt hatte. Es war das Weideland, in dem er einst mit seinen Kameraden die Herde gehütet hatte, es war die heiterste Zeit seiner Jugend gewesen, aus fernen Tiefen der Unwiederbringlichkeit blickte sie zu ihm herüber. Eine süße Traurigkeit in seinem Herzen gab den Stimmen Antwort, die ihn hier begrüßten, dem fächelnden Wind im silbern wehenden Weidenbaume, dem frohen raschen Marschlied der kleinen Bäche, dem Gesang der Vögel und dem tiefen goldnen Brausen der Hummeln. Wie Zuflucht und Heimat klang und duftete es hier, noch nie hatte er, des schweifenden Hirtenlebens gewohnt, eine Gegend so als ihm zugehörig und heimatlich empfunden.
Von diesen Stimmen in seiner Seele begleitet und geführt, mit Gefühlen ähnlich denen eines Heimgekehrten, wandelte er durch das freundliche Land, seit schrecklichen Monaten zum erstenmal nicht als ein Fremdling, als ein Verfolgter, Flüchtiger und dem Tod Verschriebener, sondern bereiten Herzens, an nichts denkend, nichts begehrend, ganz der stillheitern Gegenwart und Nähe ergeben, empfangend, dankbar und ein wenig über sich selbst und über diesen neuen, ungewohnten, zum erstenmal und mit Entzücken erlebten Seelenzustand verwundert, über diese wunschlose Aufgeschlossenheit, diese Heiterkeit ohne Spannung, diese aufmerksame und dankbare Art betrachtenden Genießens. Es zog ihn über die grünen Weiden hin zum Walde, unter die Bäume, in die mit kleinen Sonnenflecken bestreute Dämmerung, und hier verstärkte sich jenes Gefühl von Wiederkehr und Heimat und führte ihn Wege, die seine Füße von selbst zu finden schienen, bis er durch eine Farnwildnis, einen dichten Kleinwald inmitten des großen Waldes, zu einer winzigen Hütte gelangte, und vor der Hütte an der Erde saß der regungslose Yogin, den er einst belauscht und dem er Milch gebracht hatte.
Wie erwachend blieb Dasa stehen. Hier war alles, wie es einst gewesen war, hier war keine Zeit vergangen, war nicht gemordet und gelitten worden; hier stand, so schien es, die Zeit und das Leben fest wie Kristall, gestillt und verewigt. Er betrachtete den Alten, und es kehrte in sein Herz jene Bewunderung, Liebe und Sehnsucht zurück, die er einst bei seinem ersten Anblick empfunden hatte. Er betrachtete die Hütte und dachte bei sich, daß es wohl nötig wäre, sie vor dem Anbruch der nächsten Regenzeit etwas auszubessern. Dann wagte er ein paar vorsichtige Schritte, trat ins Innere der Hütte und spähte, was sie enthalte; es war nicht viel, es war beinahe nichts: ein Lager aus Laub, eine Kürbisschale mit etwas Wasser darin und ein leerer Bastbeutel. Den Beutel nahm er und ging mit ihm davon, suchte im Walde nach Speise, brachte Früchte und süßes Baummark mit, dann ging er mit der Schale und füllte sie mit frischem Wasser. Nun war getan, was hier getan werden konnte. So wenig brauchte einer, um zu leben. Dasa kauerte sich auf die Erde und versank in Träumerei. Er war zufrieden mit diesem schweigenden Ruhen und Träumen im Walde, er war zufrieden mit sich selbst, mit der Stimme in seinem Innern, die ihn hierher geführt hatte, wo er schon als Jüngling einst etwas wie Friede, Glück und Heimat gespürt hatte.
So blieb er denn bei dem Schweigsamen. Er erneuerte dessen Laubstreu, suchte Speise für sie beide, besserte dann die alte Hütte aus und begann mit dem Bau einer zweiten, die er in geringer Entfernung für sich selber errichtete. Der Alte schien ihn zu dulden, doch war nicht eigentlich zu erkennen, ob er ihn überhaupt wahrgenommen habe. Wenn er aus seiner Versenkung aufstand, war es nur, um in die Hütte schlafen zu gehen, um einen Bissen zu essen oder einen kurzen Gang in den Wald zu tun. Dasa lebte neben dem Ehrwürdigen wie ein Diener in der Nähe eines Großen, oder eher noch wie ein kleines Haustier, ein zahmer Vogel oder etwa ein Mungo neben Menschen hinlebt, dienstbar und kaum bemerkt. Da er eine lange Zeit flüchtig und verborgen gelebt hatte, unsicher, schlechten Gewissens und stets auf Verfolgung gefaßt, tat das ruhige Leben, die mühelose Arbeit und die Nachbarschaft eines Menschen, der seiner gar nicht zu achten schien, für eine Weile sehr wohl, er schlief ohne Angstträume und vergaß für halbe und ganze Tage das, was geschehen war. An die Zukunft dachte er nicht, und wenn eine Sehnsucht oder ein Wunsch ihn erfüllte, so war es der, hier zu bleiben und von dem Yogin in das Geheimnis eines einsiedlerischen Lebens aufgenommen und eingeweiht, selber ein Yogin und des Yogitums und seiner stolzen Unbekümmertheit teilhaftig zu werden. Er hatte begonnen, des öfteren die Haltung des Ehrwürdigen nachzuahmen, gleich ihm mit gekreuzten Beinen regungslos zu sitzen, gleich ihm in eine unbekannte und überwirkliche Welt zu blicken und für das, was ihn umgab, unempfindlich zu werden. Dabei war er meistens recht bald ermüdet, hatte steife Glieder und Schmerzen im Rücken bekommen, war von Mücken belästigt oder von wunderlichen Empfindungen auf der Haut, von Jucken und Reizungen überfallen worden, welche ihn zwangen, sich wieder zu rühren, sich zu kratzen und am Ende wieder aufzustehen. Einige Male aber hatte er auch anderes empfunden, nämlich ein Leerwerden, Leichtwerden und Schweben, wie es einem etwa in manchen Träumen gelingt, wo man die Erde nur je und je ganz leicht berührt und sich sanft von ihr abstößt, um wieder gleich einer Wollflocke zu schweben. In diesen Augenblicken war ihm eine Ahnung davon aufgegangen, wie es sein müßte, dauernd so zu schweben, wie da der eigene Leib und die eigene Seele ihre Schwere ablegen und im Atem eines größeren, reineren, sonnenhaften Lebens mitschwingen müßten, erhoben und aufgesogen von einem Jenseits, einem Zeitlosen und Unwandelbaren. Doch waren es Augenblicke und Ahnungen geblieben. Und er dachte, wenn er enttäuscht aus solchen Augenblicken ins Altgewohnte zurückfiel, er müßte es dahin bringen, daß der Meister sein Lehrer würde, daß er ihn in seine Übungen und geheimen Künste einführte und auch ihn zu einem Yogin machte. Doch wie sollte das geschehen? Es schien nicht so, als werde der Alte ihn jemals mit seinen Augen wahrnehmen, als könnten jemals zwischen ihnen Worte gewechselt werden. Der Alte schien, wie er jenseits von Tag und Stunde, von Wald und Hütte war, auch jenseits der Worte zu sein.
Und doch sprach er eines Tages ein Wort. Es kam jetzt eine Zeit, in welcher Dasa Nacht für Nacht wieder träumte, verwirrend süß oft und oft verwirrend gräßlich, entweder von seinem Weibe Pravati oder von den Schrecken des Flüchtlingslebens. Und bei Tage machte er keine Fortschritte, hielt das Sitzen und Sichüben nicht lange aus, mußte an Weiber und Liebe denken, trieb sich viel im Walde herum. Es mochte die Witterung daran schuld sein, es waren schwüle Tage mit heißen Windstößen. Und nun war wieder solch ein schlechter Tag, die Mücken schwirrten, Dasa hatte in der Nacht wieder einen schweren, Angst und Druck hinterlassenden Traum gehabt, dessen Inhalt er zwar nicht mehr wußte, der ihm nun im Wachen aber wie ein kläglicher und eigentlich unerlaubter und tief beschämender Rückfall in frühere Zustände und Lebensstufen erschien. Den ganzen Tag schlich und hockte er finster und unruhig um die Hütte herum, spielte mit dieser und jener Arbeit, setzte sich auch mehrmals zur Versenkungsübung nieder, aber dann überfiel ihn jedesmal sofort eine fiebrige Unrast, es zuckte ihm in den Gliedern, krabbelte ihm wie Ameisen in den Füßen, brannte ihn im Nacken, er hielt es kaum für Augenblicke aus und blickte scheu und beschämt zum Alten hinüber, der in vollkommener Stellung hockte und dessen Gesicht mit nach innen gewendeten Augen in unantastbar stiller Heiterkeit schwebte wie ein Blumenhaupt.
Als nun an diesem Tage der Yogin sich erhob und zu seiner Hütte wendete, trat ihm Dasa, der lange auf den Augenblick gelauert hatte, in den Weg, und mit dem Mut des Geängstigten sprach er ihn an: »Ehrwürdiger,« sprach er, »verzeih, daß ich in deine Ruhe eingedrungen bin. Ich suche Frieden, ich suche Ruhe, ich möchte leben wie du und werden wie du. Sieh, ich bin noch jung, aber ich habe schon viel Leid kosten müssen, grausam hat das Schicksal mit mir gespielt. Ich war zum Fürsten geboren und wurde zu den Hirten verstoßen, ich wurde ein Hirt, wuchs heran, froh und kräftig wie ein junges Rind, unschuldig im Herzen. Dann gingen mir die Augen für die Frauen auf, und als ich die Schönste zu Gesicht bekam, habe ich mein Leben in ihren Dienst gestellt, ich wäre gestorben, wenn ich sie nicht bekommen hätte. Ich verließ meine Gefährten, die Hirten, ich warb um Pravati, ich bekam sie, ich wurde Schwiegersohn und diente, hart mußte ich arbeiten, aber Pravati war mein und liebte mich, oder ich glaubte doch, sie liebe mich, jeden Abend kehrte ich in ihre Arme zurück, lag an ihrem Herzen. Sieh, da kommt der Rajah in die Gegend, derselbe, dessentwegen ich einst als Kind vertrieben worden war, der kam und hat mir Pravati weggenommen, ich mußte sie in seinen Armen sehen. Es war der größte Schmerz, den ich erfahren habe, er hat mich und mein Leben ganz verwandelt. Ich habe den Rajah erschlagen, ich habe getötet, und habe das Leben des Verbrechers und Verfolgten geführt, alles war hinter mir her, keine Stunde war ich meines Lebens sicher, bis ich hierher geriet. Ich bin ein törichter Mensch, Ehrwürdiger, ich bin ein Totschläger, vielleicht wird man mich noch fangen und vierteilen. Ich mag dieses schreckliche Leben nicht mehr ertragen, ich möchte seiner ledig werden.«
Der Yogin hatte dem Ausbruch ruhig mit niedergeschlagenen Augen zugehört. Jetzt schlug er sie auf und richtete seinen Blick auf Dasas Gesicht, einen hellen, durchdringenden, beinah unerträglich festen, gesammelten und lichten Blick, und während er Dasas Gesicht betrachtete und seiner hastigen Erzählung nachdachte, verzog sein Mund sich langsam zu einem Lächeln und zu einem Lachen, mit lautlosem Lachen schüttelte er den Kopf und sagte lachend: »Maya! Maya!«
Ganz verwirrt und beschämt blieb Dasa stehen, der andere erging sich vor dem Imbiß ein wenig auf dem schmalen Pfad in den Farnen, gemessen und taktfest wandelte er auf und nieder, nach einigen hundert Schritten kam er zurück und ging in seine Hütte, und sein Gesicht war wieder wie immer, anderswohin gekehrt als zur Welt der Erscheinungen. Was war doch dies für ein Lachen gewesen, das dem armen Dasa aus diesem allezeit gleich unbewegten Antlitz geantwortet hatte! Lange hatte er daran zu sinnen. War es wohlwollend oder höhnend gewesen, dieses schreckliche Lachen im Augenblick von Dasas verzweifeltem Geständnis und Flehen, tröstlich oder verurteilend, göttlich oder dämonisch? War es nur das zynische Meckern des Alters gewesen, das nichts mehr ernst zu nehmen vermag, oder die Belustigung des Weisen über fremde Torheit? War es eine Ablehnung, ein Abschied, ein Fortschicken? Oder wollte es ein Rat sein, eine Aufforderung an Dasa, es ihm nachzutun und selber mitzulachen? Er konnte es nicht enträtseln. Noch spät in die Nacht hinein sann er diesem Gelächter nach, zu welchem sein Leben, sein Glück und Elend für diesen Alten geworden zu sein schien, seine Gedanken kauten an diesem Gelächter herum wie an einer harten Wurzel, die aber doch nach irgend etwas schmeckt und duftet. Und eben so kaute und sann und mühte er sich an diesem Wort, das der Alte so hell ausgerufen hatte, so heiter und unbegreiflich vergnügt hatte er es hervorgelacht: »Maya, Maya!« Was das Wort ungefähr meine, wußte er halb, halb ahnte er es, und auch die Art, wie der Lachende es ausgerufen hatte, schien einen Sinn erraten zu lassen. Maya, das war Dasas Leben, Dasas Jugend, Dasas süßes Glück und bitteres Elend, Maya war die schöne Pravati, Maya war die Liebe und ihre Lust, Maya das ganze Leben. Dasas Leben und aller Menschen Leben, alles war in dieses alten Yogin Augen Maya, war etwas wie eine Kinderei, ein Schauspiel, ein Theater, eine Einbildung, ein Nichts in bunter Haut, eine Seifenblase, war etwas, worüber man mit einem gewissen Entzücken lachen und was man zugleich verachten, keinesfalls aber ernst nehmen konnte.
War nun aber für den alten Yogin Dasas Leben mit jenem Gelächter und dem Wort Maya erledigt und abgetan, für Dasa selbst war es nicht so, und so sehr er wünschen mochte, selber ein lachender Yogin zu sein und in seinem eigenen Leben nichts als Maya zu erkennen, es war doch seit diesen unruhigen Tagen und Nächten alles wieder in ihm wach und lebendig, was er nach der Erschöpfung der Flüchtlingszeit eine Weile hier in seiner Zuflucht beinah vergessen zu haben schien. Äußerst gering erschien ihm die Hoffnung, daß er je die Yogakunst wirklich erlernen oder gar es dem Alten würde gleichtun können. Dann aber – was hatte dann sein Verweilen in diesem Wald noch für einen Sinn? Es war eine Zuflucht gewesen, er hatte hier ein wenig aufgeatmet und Kräfte gesammelt, war ein wenig zur Besinnung gekommen, auch dies war von Wert, es war schon viel. Und vielleicht war inzwischen draußen im Lande die Jagd nach dem Fürstenmörder aufgegeben worden, und er konnte ohne große Gefahr weiterwandern. Dies beschloß er zu tun, andern Tages wollte er aufbrechen, die Welt war groß, er konnte nicht immer hier im Schlupfwinkel bleiben. Der Entschluß gab ihm eine gewisse Ruhe.
Er hatte in der ersten Morgenfrühe aufbrechen wollen, aber als er nach einem langen Schlafe erwachte, war die Sonne schon am Himmel und hatte der Yogin schon seine Versenkung begonnen, und ohne Abschied mochte Dasa nicht gehen, auch hatte er noch ein Anliegen an ihn. So wartete er Stunde um Stunde, bis der Mann sich erhob, die Glieder reckte und auf und ab zu gehen begann. Da stellte er sich ihm in den Weg, machte Verbeugungen und ließ nicht nach, bis der Yogameister seinen Blick fragend auf ihn richtete. »Meister,« sprach er demütig, »ich ziehe meines Weges weiter, ich werde deine Ruhe nicht mehr stören. Aber noch dies eine Mal erlaube mir, Hochehrwürdiger, eine Bitte. Als ich dir mein Leben erzählte, hast du gelacht und hast »Maya« gerufen. Ich flehe dich an, laß mich etwas mehr über Maya wissen.«
Der Yogin wandte sich der Hütte zu, sein Blick befahl Dasa, ihm zu folgen. Der Alte griff nach der Wasserschale, reichte sie Dasa hin und hieß ihn seine Hände waschen. Gehorsam tat es Dasa. Dann goß der Meister den Wasserrest aus der Kürbisschale ins Farnkraut, hielt dem Jungen die leere Schüssel hin und befahl ihm, frisches Wasser zu holen. Dasa gehorchte und lief, und Abschiedsgefühle zuckten ihm im Herzen, da er zum letztenmal diesen kleinen Fußpfad zur Quelle ging, zum letztenmal die leichte Schale mit dem glatten, abgegriffenen Rande hinübertrug zu dem kleinen Wasserspiegel, in dem die Hirschzungen, die Wölbungen der Baumkronen und in versprengten lichten Punkten das süße Himmelsblau abgebildet standen, der nun beim Darüberbeugen zum letztenmal auch sein eigenes Gesicht in bräunlichem Dämmer abbildete. Er tauchte die Schale ins Wasser, gedankenvoll und langsam, er fühlte Unsicherheit und konnte nicht ins klare darüber kommen, warum er so Wunderliches empfinde, und warum es ihm, da er doch zu wandern entschlossen war, weh getan habe, daß der Alte ihn nicht eingeladen hatte, noch zu bleiben, vielleicht für immer zu bleiben.
Er kauerte am Rand der Quelle, nahm einen Schluck Wasser, erhob sich vorsichtig mit der Schale, um nichts zu verschütten, und wollte den kurzen Rückweg antreten, da wurde sein Ohr von einem Ton erreicht, der ihn entzückte und entsetzte, von einer Stimme, die er in manchen seiner Träume gehört und an die er manche wache Stunde in bitterster Sehnsucht gedacht hatte. Süß klang sie, süß, kindlich und verliebt lockte sie durch die Dämmerung des Waldes, daß ihm vor Schreck und Lust das Herz schauerte. Es war Pravatis, seiner Frau Stimme. »Dasa,« lockte sie. Ungläubig blickte er um sich, die Wasserschale noch in Händen, und siehe, zwischen den Stämmen tauchte sie auf, schlank und elastisch auf hohen Beinen, Pravati, die Geliebte, Unvergeßliche, Treulose. Er ließ die Schale fallen und lief ihr entgegen. Lächelnd und etwas verschämt stand sie vor ihm, aus den großen Rehaugen aulblickend, und nun aus der Nähe sah er auch, daß sie auf rotledernen Sandalen stand und sehr schöne und reiche Kleider am Leibe trug, einen Goldreifen am Arm und blitzende, farbige, kostbare Steine im schwarzen Haar. Er zuckte zurück. War sie denn noch immer eine Fürstendirne? Hatte er diesen Nala denn nicht erschlagen? Lief sie noch mit seinen Geschenken herum? Wie konnte sie, mit diesen Spangen und Steinen geschmückt, vor ihn treten und seinen Namen rufen?
Sie war aber schöner als je, und ehe er sie zur Rede stellen konnte, mußte er sie doch in die Arme nehmen, die Stirn in ihr Haar senken, ihr Gesicht zu sich empor biegen und ihren Mund küssen, und während er es tat, spürte er, daß alles zu ihm zurückgekehrt und wieder sein war, was er je besessen, das Glück, die Liebe, die Wollust, die Lebenslust, die Leidenschaft. Schon war er in all seinen Gedanken weit ab von diesem Walde und dem allen Einsiedler entfernt, schon war Wald, Einsiedelei, Meditation und Yoga zu nichts geworden und vergessen; auch an des Alten Wasserschale, die er ihm hätte bringen sollen, dachte er nicht mehr. Sie blieb bei der Quelle liegen, als er mit Pravati dem Rande des Waldes zustrebte. Und in aller Eile begann sie ihm zu erzählen, wie sie hierhergekommen und wie alles gegangen sei.
Erstaunlich war, was sie erzählte, erstaunlich, entzückend und märchenhaft, wie in ein Märchen lief Dasa in sein neues Leben hinein. Es war nicht nur Pravati wieder sein, es war nicht nur jener verhaßte Nala tot und die Verfolgung des Mörders längst eingestellt, es war außerdem Dasa, der zum Hirten gewordene einstige Fürstensohn, in der Stadt zum rechtmäßigen Erben und Fürsten erklärt worden, ein alter Hirt und ein alter Brahmane hatten die fast vergessene Geschichte von seiner Aussetzung wieder in Erinnerung und in aller Mund gebracht, und derselbe Mann, den man als den Mörder Nalas eine Weile überall gesucht hatte, um ihn zu foltern und umzubringen, wurde jetzt im ganzen Land noch viel eifriger gesucht, um zum Rajah eingesetzt zu werden und feierlich in die Stadt und den Palast seines Vaters einzuziehen. Es war wie ein Traum, und was dem Überraschten am besten gefiel, war der schöne Glücksfall, daß von allen den umherziehenden Sendboten gerade Pravati es gewesen war, die ihn gefunden und zuerst begrüßt hatte. Am Waldrande fand er Zelte stehen, es roch nach Rauch und Wildbret. Pravati wurde von ihrer Gefolgschaft laut begrüßt, und eine große Festlichkeit nahm alsbald ihren Anfang, als sie Dasa, ihren Gatten, zu erkennen gab. Ein Mann war da, der war Dasas Kamerad bei den Hirten gewesen, und er war es, der Pravati und das Gefolge hierher geführt hatte, an einen der Orte seines früheren Lebens. Der Mann lachte vor Vergnügen, als er Dasa erkannte, er lief auf ihn zu und hätte ihm wohl einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter gegeben oder ihn umarmt, aber jetzt war ja sein Kamerad ein Rajah geworden, mitten im Lauf hielt er wie gelähmt inne, schritt dann langsamer und ehrerbietig weiter und grüßte mit tiefer Verbeugung. Dasa hob ihn auf, umarmte ihn, nannte ihn zärtlich mit Namen und fragte, wie er ihn beschenken könne. Der Hirt wünschte sich ein Kuhkalb, und es wurden ihm deren drei zugesandt aus des Rajahs bester Zucht. Und es wurden dem neuen Fürsten immer neue Leute vorgeführt, Beamte, Oberjäger, Hofbrahmanen, er nahm ihre Begrüßungen entgegen, ein Mahl wurde aufgetragen, Musik von Trommeln, Zupfgeigen und Nasenflöten erscholl, und all diese Festlichkeit und Pracht erschien Dasa wie ein Traum; er konnte nicht richtig daran glauben, wirklich war für ihn vorerst nur Pravati, sein junges Weib, das er in seinen Armen hielt.
In kleinen Tagereisen näherte sich der Zug der Stadt, Läufer waren vorausgeschickt und verbreiteten die frohe Botschaft, daß der junge Rajah aufgefunden und im Anzuge begriffen sei, und als die Stadt sichtbar wurde, war sie schon voll vom Schall der Gongs und Trommeln, und es kam feierlich und weißgekleidet der Zug der Brahmanen ihm entgegen, an seiner Spitze der Nachfolger jenes Vasudeva, welcher einst, vor wohl zwanzig Jahren, Dasa zu den Hirten gesandt hatte und erst vor kurzem gestorben war. Sie begrüßten ihn, sangen Hymnen und hatten vor dem Palast, zu dem sie ihn führten, einige große Opferfeuer entzündet. Dasa wurde in sein Haus gebracht, neue Begrüßungen und Huldigungen, Segensund Willkommenssprüche empfingen ihn auch hier. Draußen feierte die Stadt bis in die Nacht ein Freudenfest.
Von zwei Brahmanen jeden Tag unterrichtet, lernte er in kurzer Zeit, was an Wissenschaften unentbehrlich schien, wohnte den Opfern bei, sprach Recht und übte sich in den ritterlichen und kriegerischen Künsten. Der Brahmane Gopala führte ihn in die Politik ein; er erzählte ihm, wie es um ihn, um sein Haus und dessen Rechte, um die Ansprüche seiner künftigen Söhne stehe und was für Feinde er habe. Da war nun vor allem die Mutter Nalas zu nennen, sie, welche einstmals den Prinzen Dasa seiner Rechte beraubt und ihm nach dem Leben getrachtet hatte, und welche jetzt in Dasa auch noch den Mörder ihres Sohnes hassen mußte. Sie war geflohen, hatte sich in den Schutz des Nachbarfürsten Govinda begeben und lebte in dessen Palast, und dieser Govinda und sein Haus waren von jeher Feinde und gefährlich, sie waren schon mit Dasas Voreltern im Krieg gelegen und erhoben Anspruch auf gewisse Teile seines Gebietes. Dagegen war der Nachbar im Süden, der Fürst von Gaipali, mit Dasas Vater befreundet gewesen und hatte den umgekommenen Nala nie leiden mögen; ihn zu besuchen, zu beschenken und zur nächsten Jagd einzuladen, war eine wichtige Pflicht.
Frau Pravati war in ihren adligen Stand schon völlig hineingewachsen, sie verstand es, als Fürstin aufzutreten, und sah in ihren schönen Gewändern und mit ihrem Schmuck ganz wunderbar aus, als wäre sie von nicht minder hoher Geburt als ihr Herr und Gatte. In glücklicher Liebe lebten sie Jahr um Jahr, und ihr Glück gab ihnen einen gewissen Glanz und Schimmer wie solchen, welche von den Göttern bevorzugt werden, daß das Volk sie verehrte und liebte. Und als ihm, nachdem er sehr lange vergeblich darauf gewartet hatte, nun Pravati einen schönen Sohn gebar, den er nach seinem eigenen Vater Ravana nannte, war sein Glück vollkommen, und was er besaß an Land und Macht, an Häusern und Ställen, Milchkammern, Rindvieh und Pferden, dem wurde in seinen Augen jetzt eine verdoppelte Bedeutung und Wichtigkeit, ein erhöhter Glanz und Wert zuteil: all dies Besitztum war schön und erfreulich gewesen, um Pravati zu umgeben, zu kleiden, zu schmücken und ihr zu huldigen, und war jetzt noch weit schöner, erfreulicher und wichtiger als Erbe und Zukunftsglück des Sohnes Ravana.
Hatte Pravati ihr Vergnügen hauptsächlich an Festen, Aufzügen, an Pracht und Üppigkeit in Kleidung, Schmuck und großer Dienerschaft, so waren Dasas bevorzugte Freuden die an seinem Garten, wo er seltene und kostbare Bäume und Blumen hatte pflanzen lassen, auch Papageien und andres buntes Gevögel angesiedelt hielt, das zu füttern und mit welchem sich zu unterhalten zu seinen täglichen Gewohnheiten gehörte. Daneben zog die Gelehrsamkeit ihn an, als dankbarer Schüler der Brahmanen lernte er viele Verse und Sprüche, Lese- und Schreibkunst, und hielt einen eigenen Schreiber, der die Zubereitung des Palmblattes zur Schreibrolle verstand und unter dessen zarten Händen eine kleine Bibliothek zu entstehen begann. Hier bei den Büchern, in einem kleinen kostbaren Räume mit Wänden aus edlem Holz, das ganz zu figurenreichen und zum Teil vergoldeten Bildwerken vom Leben der Götter ausgeschnitzt war, ließ er zuweilen eingeladene Brahmanen, die Auslese der Gelehrten und Denker unter den Priestern, miteinander über heilige Gegenstände disputieren, über die Weltschöpfung und die Maya des großen Vishnu, über die heiligen Veden, über die Kraft der Opfer und die noch größere Gewalt der Buße, durch welche ein sterblicher Mensch es dahin bringen konnte, daß die Götter aus Furcht vor ihm erzitterten. Jene Brahmanen, welche am besten geredet, disputiert und argumentiert hatten, erhielten stattliche Geschenke, mancher führte als Preis für eine siegreiche Disputation eine schöne Kuh hinweg, und es hatte zuweilen etwas zugleich Lächerliches und Rührendes, wenn die großen Gelehrten, welche noch eben die Sprüche der Veden aufgesagt und erläutert und sich in allen Himmeln und Weltmeeren ausgekannt hatten, stolz und gebläht mit ihren Ehrengaben abzogen oder ihretwegen etwa auch in eifersüchtigen Zank gerieten.
Überhaupt wollte dem Fürsten Dasa inmitten seiner Reichtümer, seines Glückes, seines Gartens, seiner Bücher zu manchen Zeiten alles und jedes, was zum Leben und Menschenwesen gehört, wunderlich und zweifelhaft erscheinen, rührend zugleich und lächerlich wie jene eitelweisen Brahmanen, hell zugleich und finster, begehrenswert zugleich und verachtenswert. Weidete er seinen Blick an den Lotosblumen auf den Teichen seines Gartens, an den glänzenden Farbenspielen im Gefieder seiner Pfauen, Fasane und Nashornvögel, an den vergoldeten Schnitzereien des Palastes, so konnten diese Dinge ihm manchmal wie göttlich erscheinen, wie durchglüht von ewigem Leben, und andere Male, ja gleichzeitig empfand er in ihnen etwas Unwirkliches, Unzuverlässiges, Fragwürdiges, eine Neigung zu Vergänglichkeit und Auflösung, eine Bereitschaft zum Zurücksinken ins Ungestaltete, ins Chaos. So wie er selbst, der Fürst Dasa, ein Prinz gewesen, ein Hirte geworden, zum Mörder und Vogelfreien hinabgesunken und endlich wieder zum Fürsten emporgestiegen war, unbekannt durch welche Mächte geleitet und veranlaßt, ungewiß des Morgen und Obermorgen, so enthielt das Mayaspiel des Lebens überall zugleich das Hohe und das Gemeine, die Ewigkeit und den Tod, die Größe und das Lächerliche. Sogar sie, die Geliebte, sogar die schöne Pravati war ihm einige Male für Augenblicke entzaubert und lächerlich erschienen, hatte allzu viele Ringe um die Arme, allzuviel Stolz und Triumph in den Augen, allzuviel Bemühen um Würde in ihrem Gang gehabt.
Lieber noch als sein Garten und seine Bücher war ihm Ravana, sein Söhnchen, die Erfüllung seiner Liebe und seines Daseins, Ziel seiner Zärtlichkeit und Sorge, ein zartes schönes Kind, ein echter Prinz, rehäugig wie die Mutter und zur Nachdenklichkeit und Träumerei neigend wie der Vater. Manches Mal, wenn dieser den Kleinen im Garten lang vor einem der Zierbäume stehen oder ihn auf einem Teppich kauern sah, in die Betrachtung eines Steines, eines geschnitzten Spielzeuges oder einer Vogelfeder vertieft, mit etwas emporgezogenen Brauen und stillen, etwas abwesend starrenden Augen, dann schien ihm, daß dieser Sohn ihm sehr ähnlich sei. Wie sehr er ihn liebte, das erkannte Dasa einst, als er ihn zum erstenmal für Ungewisse Zeit verlassen mußte.
Es war eines Tages nämlich ein Eilbote aus jenen Gegenden eingetroffen, wo sein Land an das Land Govindas, des Nachbarn, stieß, und hatte gemeldet, daß Leute des Govinda dort eingebrochen seien, Vieh geraubt und auch eine Anzahl Menschen gefangen und mit hinweggeführt hätten. Unverzüglich hatte Dasa sich bereitgemacht, hatte den Obersten der Leibwache, einige Dutzend Pferde und Leute mitgenommen und sich an die Verfolgung der Räuber gemacht; und damals, als er im Augenblick vor dem Davonreiten sein Söhnchen auf die Arme genommen und geküßt hatte, war die Liebe in seinem Herzen wie ein feuriger Schmerz emporgelodert. Und aus diesem feurigen Schmerz, dessen Gewalt ihn überraschte und wie eine Mahnung aus dem Unbekannten her berührte, war auch während des langen Rittes eine Erkenntnis, ein Verständnis geworden. Im Reiten nämlich beschäftigte ihn das Nachsinnen darüber, aus welcher Ursache er denn zu Rosse sitze und so streng und eilig ins Land hineinsprenge; welche Macht es denn eigentlich sei, die ihn zu solcher Tat und Bemühung zwinge. Er hatte nachgedacht und hatte erkannt, daß es ihm im Grunde seines Herzens nicht wichtig sei und nicht eben weh tue, wenn irgendwo an der Grenze ihm Vieh und Menschen geraubt wurden, daß der Diebstahl und die Beleidigung seiner Fürstenrechte nicht hinreichen würden, ihn zu Zorn und Tat zu entflammen, und daß es ihm gemäßer gewesen wäre, die Nachricht vom Viehraub mit einem mitleidigen Lächeln abzutun. Damit jedoch, das wußte er, hätte er dem Boten, der mit seiner Botschaft bis zur Erschöpfung gerannt war, bitter Unrecht getan, und nicht weniger den Menschen, welche beraubt worden, und jene, welche gefangen, weggeführt und aus ihrer Heimat und ihrem friedlichen Leben in Fremde und Sklaverei verschleppt worden waren. Ja, auch allen seinen anderen Untertanen, welchen kein Haar gekrümmt worden war, hätte er mit einem Verzicht auf kriegerische Rache Unrecht getan, sie hätten es schwer ertragen und nicht begriffen, daß ihr Fürst sein Land nicht besser beschütze, so daß keiner von ihnen, sollte einmal auch ihm Gewalttat geschehen, auf Rache und Hilfe hätte zählen dürfen. Er sah ein, es sei seine Pflicht, diesen Racheritt zu tun. Aber was ist Pflicht? Wie viele Pflichten gibt es, die wir oft und ohne jede Herzensregung verabsäumen! Woran lag es nun, daß diese Rachepflicht keine von den gleichgültigen war, daß er sie nicht verabsäumen konnte, daß er sie nicht nur lässig und mit halbem Herzen vollzog, sondern eifrig und mit Leidenschaft? Kaum war die Frage in ihm aufgestiegen, so hatte sein Herz schon Antwort gegeben, indem es nochmals von jenem Schmerz durchzuckt wurde wie beim Abschied von Ravana, dem Prinzen. Würde der Fürst, so erkannte er jetzt, sich Vieh und Leute rauben lassen, ohne Widerstand zu leisten, so würde Raub und Gewalttat von den Grenzen seines Landes her immer näherrücken, und zuletzt würde der Feind dicht vor ihm selbst stehen und würde ihn dort treffen, wo er des größten und bittersten Schmerzes fähig war: in seinem Sohne! Sie würden ihm den Sohn rauben, den Nachfolger, würden ihn rauben und töten, vielleicht unter Qualen, und dies wäre das Äußerste an Leid, was er je erfahren könnte, noch schlimmer, weit schlimmer als selbst Pravatis Tod. Und darum also ritt er so eifrig dahin und war ein so pflichttreuer Fürst. Er war es nicht aus Empfindlichkeit gegen Verlust an Vieh und Land, nicht aus Güte für seine Untertanen, nicht aus Ehrgeiz für seines Vaters Fürstennamen, er war es aus heftiger, schmerzlicher, unsinniger Liebe zu diesem Kinde, und aus heftiger, unsinniger Furcht vor dem Schmerz, den der Verlust dieses Kindes ihm bereiten würde.
So weit war er auf jenem Ritt mit seinen Einsichten gekommen. Übrigens war es ihm nicht gelungen, die Leute Govindas einzuholen und zu bestrafen, sie waren samt ihrem Raube entkommen, und um seinen festen Willen zu zeigen und seinen Mut zu beweisen, mußte er nun selbst über die Grenze brechen und dem Nachbarn ein Dorf beschädigen, einiges Vieh und einige Sklaven hinwegführen. Manche Tage war er ausgeblieben, auf dem siegreichen Heimritt aber hatte er sich wieder einem tiefen Nachdenken hingegeben und war sehr still und wie traurig nach Hause zurückgekehrt, denn im Nachdenken hatte er erkannt, wie fest und völlig ohne Hoffnung auf Entrinnen er mit seinem ganzen Wesen und Tun in einem tückischen Netz gefangen und eingeschnürt sei. Während seine Neigung zum Denken, sein Bedürfnis nach stiller Betrachtung und nach einem tatlosen und unschuldigen Leben beständig wuchs und wuchs, wuchs von der andern Seite her, aus der Liebe zu Ravana und aus der Angst und Sorge um ihn, um sein Leben und seine Zukunft, ganz ebenso der Zwang zu Tat und Verstrickung, aus der Zärtlichkeit wuchs Streit, aus der Liebe Krieg; schon hatte er, wenn auch nur um gerecht zu sein und zu strafen, eine Herde geraubt, ein Dorf in Todesangst gejagt und arme, unschuldige Menschen gewaltsam fortgeschleppt, und daraus würde natürlich wieder neue Rache und Gewalttat wachsen, und so immer weiter, bis sein ganzes Leben und sein ganzes Land nur noch Krieg und Gewalttat und Waffenlärm sein würde. Diese Einsicht oder Vision war es, die ihn bei jener Heimkehr so still gemacht und traurig hatte erscheinen lassen.
Und in der Tat gab der feindselige Nachbar keine Ruhe. Er wiederholte seine Einfälle und Raubzüge. Dasa mußte zu Strafe und Gegenwehr ausziehen und mußte, wenn der Feind sich ihm entzog, es dulden, daß seine Soldaten und Jäger dem Nachbarn neue Schäden zufügten. In der Hauptstadt sah man mehr und mehr Berittene und Bewaffnete, in manchen Grenzdörfern lagen jetzt ständig Soldaten zur Bewachung, kriegerische Beratungen und Vorbereitungen machten die Tage unruhig. Dasa vermochte nicht einzusehen, welchen Sinn und Nutzen der ewige Kleinkrieg haben möge, es tat ihm leid um die Leiden der Betroffenen, um das Leben der Getöteten, es tat ihm leid um seinen Garten und seine Bücher, die er mehr und mehr versäumen mußte, um den Frieden seiner Tage und seines Herzens. Er sprach mit Gopala, dem Brahmanen, häufig darüber und einige Male auch mit seiner Gattin Pravati. Man müßte, so sagte er, dahin streben, daß einer der angesehenen Nachbarfürsten als Schiedsrichter angerufen werde und Frieden stifte, und er für sein Teil werde gern darein willigen, etwa durch Nachgiebigkeit und Abtrennung einiger Weiden und Dörfer den Frieden herbeiführen zu helfen. Er war enttäuscht und etwas unwillig, als er sah, daß weder der Brahmane noch Pravati davon etwas wissen wollte.
Mit Pravati führte der Meinungsstreit hierüber zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung, ja zu einer Entzweiung. Eindringlich und beschwörend tat er ihr seine Gründe und Gedanken kund, sie aber empfand jedes Wort, als sei es nicht gegen den Krieg und das unnütze Morden, sondern einzig gegen ihre Person gerichtet. Es sei, so belehrte sie ihn in einer glühenden und wortreichen Rede, es sei ja gerade des Feindes Absicht, Dasas Gutmütigkeit und Friedensliebe (um nicht zu sagen, seine Angst vor dem Krieg) zu seinem Vorteil auszunutzen, er werde ihn dazu bringen, Frieden um Frieden zu schließen, und jeden mit kleinen Abtretungen an Gebiet und Volk zu bezahlen, und am Ende werde er keineswegs etwa zufrieden sein, sondern werde, sobald Dasa genügend geschwächt sei, zum offenen Krieg übergehen und ihm auch das Letzte noch rauben. Es gehe hier nicht um Herden und Dörfer, um Vorteile und Nachteile, sondern ums Ganze, es gehe um Bestand oder Vernichtung. Und wenn Dasa nicht wisse, was er seiner Würde, seinem Sohn und seinem Weibe schuldig sei, so müsse eben sie es ihn lehren. Ihre Augen flammten, ihre Stimme bebte, er hatte sie seit langem nie mehr so schön und leidenschaftlich gesehen, aber er empfand nur Trauer.
Inzwischen gingen die Grenzüberfälle und Friedensbrüche weiter, erst die große Regenzeit setzte ihnen vorläufig ein Ende. An Dasas Hofe aber gab es jetzt zwei Parteien. Die eine, die Friedenspartei, war ganz klein, außer Dasa selbst gehörten ihr nur wenige von den älteren Brahmanen an, gelehrte und in ihre Meditationen versponnene Männer. Die Kriegspartei aber, Pravatis und Gopalas Partei, hatte die Mehrzahl der Priester und alle Offiziere auf ihrer Seite. Man rüstete eifrig und wußte, daß drüben der feindliche Nachbar dasselbe tat. Der Knabe Ravana wurde vom Oberjäger im Bogenschießen unterrichtet, und seine Mutter nahm ihn zu jeder Truppenschau mit.
Manchmal gedachte zu jener Zeit Dasa des Waldes, in dem er einst als armer Flüchtling eine Weile gelebt hatte, und des weißhaarigen Alten, der dort als Einsiedler der Versenkung lebte. Manchmal gedachte er seiner und fühlte das Verlangen, ihn aufzusuchen, ihn wiederzusehen und seinen Rat zu hören. Doch wußte er nicht, ob der Alte noch lebe, noch ob er ihn anhören und ihm Rat geben würde, und lebte er auch noch wirklich und gäbe ihm Rat, so würde doch alles seinen Gang gehen und nichts daran zu ändern sein. Versenkung und Weisheit waren gute, waren edle Dinge, aber es schien, sie gediehen nur abseits, am Rande des Lebens, und wer im Strom des Lebens schwamm und mit seinen Wellen kämpfte, dessen Taten und Leiden hatten nichts mit der Weisheit zu tun, sie ergaben sich, waren Verhängnis, mußten getan und erlitten sein. Auch die Götter lebten nicht in ewigem Frieden und ewiger Weisheit, auch sie kannten Gefahr und Furcht, Kampf und Schlacht, er wußte es aus vielen Erzählungen. So ergab sich Dasa, stritt nicht mehr mit Pravati, ritt zur Truppenschau, sah den Krieg kommen, spürte ihn in aufreibenden nächtlichen Träumen voraus, und indem seine Gestalt magerer und sein Gesicht dunkler wurde, sah er das Glück und die Lust seines Lebens hinabwelken und erblassen. Es blieb nur die Liebe zu seinem Knaben, sie wuchs mit der Sorge, wuchs mit den Rüstungen und Truppenübungen, sie war die rote brennende Blume in seinem verödenden Garten. Er wunderte sich darüber, wieviel an Leere und Freudlosigkeit man ertragen, wie sehr man sich an Sorge und Unlust gewöhnen könne, und wunderte sich auch darüber, wie brennend und beherrschend in einem scheinbar leidenschaftslos gewordenen Herzen solch eine ängstliche und sorgenvolle Liebe blühen könne. War sein Leben vielleicht sinnlos, so war es doch nicht ohne Kern und Mitte, es drehte sich um die Liebe zum Sohn. Seinetwegen erhob er sich des Morgens vom Lager und brachte seinen Tag mit Beschäftigungen und Mühewaltungen hin, deren Ziel der Krieg und deren jede ihm zuwider war. Seinetwegen leitete er die Beratungen der Führer mit Geduld und stemmte sich den Beschlüssen der Mehrheit nur so weit entgegen, daß man wenigstens abwartete und sich nicht völlig unbesonnen ins Abenteuer stürzte.
Wie seine Lebensfreude, sein Garten, seine Bücher ihm allmählich fremd und untreu geworden waren, oder er ihnen, so ward ihm fremd und untreu auch die, die so manche Jahre das Glück und die Lust seines Lebens gewesen war. Mit der Politik hatte es begonnen, und damals, als sie ihm jene leidenschaftliche Rede hielt, in der Pravati seine Scheu vor Versündigung und seine Liebe zum Frieden beinah offen als Feigheit verhöhnte und mit geröteten Wangen in glühenden Worten von Fürstenehre, Heldentum und erlittener Schmach redete, damals hatte er betroffen und mit einem Gefühl von Schwindel plötzlich gefühlt und gesehen, wie weit seine Frau sich von ihm entfernt habe oder er von ihr. Und seitdem war die Kluft zwischen ihnen größer geworden und wuchs noch immer, ohne daß eines von ihnen etwas tat, um es zu hindern. Vielmehr: es war Dasa, dem es zugestanden hätte, etwas dergleichen zu tun, denn die Kluft war eigentlich nur ihm sichtbar, und sie wurde in seiner Vorstellung immer mehr zur Kluft aller Klüfte, zum Weitabgrund zwischen Mann und Weib, zwischen Ja und Nein, zwischen Seele und Leib. Wenn er zurück sann, so glaubte er alles völlig klar zu sehen: wie Pravati einst, die zauberisch Schöne, ihn verliebt gemacht und mit ihm gespielt hatte, bis er sich von seinen Kameraden und Freunden, den Hirten, und von seinem bisher so heiteren Hirtenleben schied und ihretwegen in der Fremde und Dienstbarkeit lebte, Schwiegersohn im Hause unguter Leute, die seine Verliebtheit ausnutzten, um ihn für sie arbeiten zu lassen. Dann war jener Nala erschienen, und sein Unglück hatte begonnen. Nala hatte sich seines Weibes bemächtigt, der reiche schmucke Rajah mit seinen schönen Kleidern und Zelten, seinen Pferden und Dienern hatte die arme, keines Prunkes gewohnte Frau verführt, das konnte ihm ja wenig Mühe gekostet haben. Aber – hätte er sie wohl wirklich so rasch und leicht verführen können, wenn sie im Innersten treu und züchtig gewesen wäre? Nun, der Rajah hatte sie also verführt, oder eben genommen, und hatte ihm den häßlichsten Schmerz angetan, den er bis dahin erlebt hatte. Er aber, Dasa, hatte Rache genommen, erschlagen hatte er den Dieb seines Glücks, das war ein Augenblick hohen Triumphes gewesen. Doch hatte er, kaum war die Tat geschehen, die Flucht antreten müssen; Tage, Wochen und Monate hatte er im Busch und den Binsen gelebt, vogelfrei, keinem Menschen trauend. Und was hatte Pravati in jener Zeit getan? Es war zwischen ihnen niemals viel die Rede davon gewesen. Jedenfalls: ihm nachgeflohen war sie nicht, ihn gesucht und gefunden hatte sie erst dann, als er seiner Geburt wegen zum Fürsten ausgerufen worden war und sie seiner bedurfte, um den Thron zu besteigen und den Palast zu beziehen. Da war sie erschienen, aus dem Walde und der Nachbarschaft des ehrwürdigen Einsiedlers hatte sie ihn hinweggeholt, man hatte ihn mit schönen Kleidern geschmückt und zum Rajah gemacht, und es war alles eitel Glanz und Glück gewesen – aber in Wirklichkeit: was hatte er damals verlassen, und was dafür eingetauscht? Eingetauscht hatte er den Glanz und die Pflichten des Fürsten, Pflichten, die anfangs leicht gewesen und seither immer schwerer und schwerer geworden waren, eingetauscht hatte er den Wiedergewinn der schönen Gattin, die süßen Liebesstunden mit ihr, und dann den Sohn, die Liebe zu ihm und die zunehmende Sorge um sein bedrohtes Leben und Glück, so daß jetzt der Krieg vor den Toren stand. Dies war es, was Pravati ihm zugebracht hatte, als sie ihn damals im Wald bei der Quelle entdeckte. Was aber hatte er dafür verlassen und hingegeben? Verlassen hatte er den Frieden des Waldes, einer frommen Einsamkeit, hingegeben hatte er die Nachbarschaft und das Vorbild eines heiligen Yogin, hingegeben die Hoffnung auf seine Schülerschaft und Nachfolge, auf die tiefe, strahlende, unerschütterliche Seelenruhe des Weisen, die Befreiung aus den Kämpfen und Leidenschaften des Lebens.
Verführt von Pravatis Schönheit, bestrickt vom Weib und angesteckt von ihrem Ehrgeiz, hatte er den Weg verlassen, auf welchem allein die Freiheit und der Friede gewonnen wird. So wollte seine Lebensgeschichte ihm heute erscheinen, und in der Tat ließ sie sich ganz leicht so deuten, es bedurfte nur weniger Vertuschungen und Weglassungen, um es so zu sehen. Weggelassen hatte er unter anderen den Umstand, daß er noch keineswegs jenes Einsiedlers Schüler, ja schon im Begriff gewesen war, ihn freiwillig wieder zu verlassen. So verschieben sich die Dinge leicht beim Blick nach rückwärts.
Ganz anders sah Pravati diese Dinge, obwohl sie weit weniger als ihr Gatte sich solchen Gedanken hingab. Über jenen Nala machte sie sich keine Gedanken. Dagegen war, wenn ihre Erinnerung sie nicht trog, sie allein es gewesen, welche Dasas Glück begründet und herbeigeführt, ihn wieder zum Rajah gemacht, ihn mit dem Sohn beschenkt, ihn mit Liebe und Glück überschüttet hatte, um ihn am Ende ihrer Größe nicht gewachsen, ihrer stolzen Pläne unwürdig zu finden. Denn ihr war es klar, daß der kommende Krieg zu nichts anderem führen konnte als zu Govindas Vernichtung und zur Verdoppelung ihrer Macht und ihres Besitzes. Statt sich dessen zu freuen und eifrigst daran mitzuarbeiten, sträubte sich aber Dasa, unfürstlich genug, wie ihr schien, gegen Krieg und Eroberung, und wäre am liebsten tatenlos bei seinen Blumen, Bäumen, Papageien und Büchern alt geworden. Da war Vishwamitra ein anderer Mann, der Oberbefehlshaber der Reiterei und nächst ihr selbst der glühendste Parteigänger und Werber für den baldigen Krieg und Sieg. Jeder Vergleich zwischen den beiden mußte zu seinen Gunsten ausfallen.
Dasa sah es wohl, wie sehr sein Weib sich mit diesem Vishwamitra befreundet hatte, wie sehr sie ihn bewunderte und sich von ihm bewundern ließ, diesem heiteren und tapferen, vielleicht etwas oberflächlichen, vielleicht auch nicht allzu klugen Offizier mit dem kräftigen Lachen, den schönen starken Zähnen und dem gepflegten Barte. Er sah es mit Bitterkeit und zugleich mit Verachtung, mit einer höhnischen Gleichgültigkeit, die er sich selber vortäuschte. Er spionierte nicht und begehrte nicht zu wissen, ob die Freundschaft dieser beiden die Grenzen des Erlaubten und Anständigen innehalte oder nicht. Er sah dieser Verliebtheit Pravatis in den hübschen Reiter, dieser ihrer Gebärde, mit der sie ihm vor dem allzu wenig heldischen Gatten den Vorzug gab, mit derselben äußerlich gleichgültigen, innen aber bitteren Gelasssenheit zu, mit welcher er sich gewöhnt hatte, alle Geschehnisse anzusehen. Ob dies nun eine Untreue und ein Verrat war, den die Gattin an ihm zu begehen entschlossen schien, oder nur ein Ausdruck ihrer Geringschätzung für Dasas Gesinnungen, es war einerlei, es war da und entwickelte sich und wuchs heran, wuchs ihm entgegen wie der Krieg und wie das Verhängnis, es gab dagegen kein Mittel und gab davor keine andere Haltung als die des Hinnehmens, des gelassenen Ertragens, das war nun einmal, statt des Angreifens und Eroberns, Dasas Art von Mannes- und von Heldentum.
Mochte nun Pravatis Bewunderung für den Reiterhauptmann oder die seine für sie, sich innerhalb des Gesitteten und Erlaubten halten oder nicht, in jedem Falle war Pravati, das verstand er, weniger schuldig als er selbst. Er, Dasa, der Denker und Zweifler, neigte zwar sehr dazu, die Schuld am Dahinschwinden seines Glückes bei ihr zu suchen oder sie doch mitverantwortlich dafür zu machen, daß er in all das hineingeraten und verstrickt worden war, in die Liebe, in den Ehrgeiz, in die Racheakte und Räubereien, ja er machte das Weib, die Liebe und die Wollust in seinen Gedanken verantwortlich für alles auf Erden, für den ganzen Tanz, die ganze Jagd der Leidenschaften und Begehrungen, des Ehebruchs, des Todes, des Mordes, des Krieges. Aber dabei wußte er sehr wohl, daß Pravati nicht schuldig und Ursache, sondern selbst Opfer sei, daß sie weder ihre Schönheit noch seine Liebe zu ihr selbst gemacht und zu verantworten habe, daß sie nur ein Stäubchen im Sonnenstrahl, eine Welle im Strome war, und daß es allein seine Sache gewesen wäre, dem Weib und der Liebe, dem Glückshunger und Ehrgeiz sich zu entziehen und entweder ein zufriedener Hirt unter Hirten zu bleiben oder auf dem geheimen Wege des Yoga das Unzulängliche in sich zu überwinden. Er hatte es versäumt, er hatte versagt, er war zum Großen nicht berufen oder hatte seiner Berufung nicht Treue gehalten, und sein Weib war am Ende im Recht, wenn sie einen Feigling in ihm sah. Dafür hatte er von ihr diesen Sohn bekommen, diesen schönen, zarten Knaben, um den ihm so bange war und dessen Dasein doch immer noch seinem Leben Sinn und Wert verlieh, ja ein großes Glück war, ein schmerzendes und banges Glück zwar, aber doch eben ein Glück, sein Glück. Dies Glück nun bezahlte er mit dem Weh und der Bitterkeit in seinem Herzen, mit der Bereitschaft zu Krieg und Tod, mit dem Bewußtsein, einem Verhängnis entgegenzugehen. Drüben in seinem Lande saß der Rajah Govinda, beraten und angefacht von der Mutter jenes erschlagenen Nala, jenes Verführers unguten Angedenkens, immer häufiger und frecher wurden Govindas Einbrüche und Herausforderungen; einzig ein Bündnis mit dem mächtigen Rajah von Gaipali hätte Dasa stark genug machen können, um Frieden und nachbarliche Verträge zu erzwingen. Aber dieser Rajah, obschon Dasa wohlgesinnt, war doch mit Govinda verwandt und hatte sich aufs höflichste jedem Versuche, ihn für ein solches Bündnis zu gewinnen, entzogen. Es gab kein Entweichen, keine Hoffnung auf Vernunft oder Menschlichkeit, das Verhängte kam näher und mußte erlitten werden. Beinahe sehnte nun Dasa selbst sich nach dem Kriege, nach dem Ausbruch der gesammelten Blitze und einer Beschleunigung der Geschehnisse, welchen ja doch nicht mehr vorzubeugen war. Er suchte nochmals den Fürsten von Gaipali auf, tauschte ergebnislose Artigkeiten mit ihm, drang im Rat auf Mäßigung und Geduld, aber er tat es längst ohne Hoffnung; im übrigen rüstete er. Der Meinungskampf im Rat ging jetzt einzig noch darum, ob man einen nächsten Einbruch des Feindes mit dem Einmarsch in dessen Land und mit dem Krieg beantworten oder den feindlichen Hauptangriff erwarten solle, damit immerhin jener vor dem Volk und aller Welt der Schuldige und Friedensbrecher bleibe.
Der Feind, um solche Fragen nicht bekümmert, machte dem Erwägen, Beraten und Zögern ein Ende und schlug eines Tages zu. Er inszenierte einen größeren Raubüberfall, welcher Dasa samt dem Reiterhauptmann und seinen besten Leuten schleunigst an die Grenze lockte, und während sie unterwegs waren, fiel er mit seiner Hauptmacht ins Land und unmittelbar in Dasas Stadt, nahm die Tore und belagerte den Palast. Als Dasa es erfuhr und alsbald umkehrte, wußte er seine Frau und seinen Sohn im bedrohten Palast eingeschlossen, in den Gassen aber blutige Kämpfe im Gang, und das Herz zog sich ihm in grimmigem Weh zusammen, wenn er der Seinen dachte und der Gefahren, in denen sie schwebten. Nun war er kein widerwilliger und vorsichtiger Kriegsherr mehr, er flammte auf in Schmerz und Wut, jagte mit seinen Leuten in wilder Eile heimwärts, fand die Schlacht durch alle Straßen wogen, hieb sich zum Palast durch, stellte den Feind und kämpfte wie ein Rasender, bis er mit der Dämmerung des blutigen Tages erschöpft und mit mehreren Wunden zusammenbrach.
Als er wieder zum Bewußtsein erwachte, fand er sich als Gefangenen, die Schlacht war verloren, Stadt und Palast waren in den Händen der Feinde. Gebunden wurde er vor Govinda gebracht, er begrüßte ihn spöttisch und führte ihn in ein Gemach; es war jenes Gemach mit den geschnitzten und vergoldeten Wänden und den Schriftrollen. Hier saß auf einem der Teppiche aufrecht und mit versteinertem Gesicht sein Weib Pravati, bewaffnete Wachen hinter ihr, und im Schöße hatte sie den Knaben liegen; wie eine gebrochene Blume lag die zarte Gestalt, tot, das Gesicht grau, das Gewand von Blut durchtränkt. Die Frau wandte sich nicht, als ihr Gatte hereingeführt wurde, sie sah ihn nicht an, sie starrte ohne Ausdruck auf den kleinen Toten; sie erschien Dasa sonderbar verändert, erst nach einer Weile merkte er, daß ihr Haar, das er vor Tagen noch tiefschwarz gekannt hatte, überall grau schimmerte. Schon lange Zeit mochte sie so sitzen, den Knaben auf dem Schoß, erstarrt, das Gesicht eine Maske.
»Ravana!« rief Dasa, »Ravana, mein Kind, meine Blume!« Er kniete nieder, sein Gesicht sank auf das Haupt des Toten; wie ein Betender kniete er vor der stummen Frau und dem Kinde, beide beklagend, beiden huldigend. Er roch den Blut- und Todesgeruch, vermischt mit dem Duft des Blumenöles, mit dem das Haar des Kindes gesalbt war. Mit erfrorenem Blick starrte Pravati auf sie beide hinab.
Es berührte ihn jemand an der Schulter, es war einer von Govindas Hauptleuten, der hieß ihn aufstehen und führte ihn hinweg. Er hatte kein Wort an Pravati gerichtet, sie keines an ihn.
Gebunden legte man ihn auf einen Wagen und brachte ihn nach der Stadt Govindas in einen Kerker, seine Fesseln wurden zum Teil gelöst, ein Soldat brachte einen Wasserkrug und stellte ihn auf den Steinboden, man ließ ihn allein, schloß und verriegelte die Tür. Eine Wunde an seiner Schulter brannte wie Feuer. Er tastete nach dem Wasserkrug und benetzte sich Hände und Gesicht. Auch trinken hätte er mögen, doch unterließ er es; er würde dann, so dachte er, rascher sterben. Wie lange würde das noch dauern, wie lange! Er sehnte sich nach dem Tode, wie seine trockene Kehle sich nach Wasser sehnte. Erst mit dem Tode würde die Folter in seinem Herzen ein Ende nehmen, erst dann würde das Bild der Mutter mit dem toten Sohn in ihm erlöschen. Aber mitten in aller Qual erbarmte sich seiner die Müdigkeit und Schwäche, er sank hin und schlummerte ein.
Indem er aus diesem kurzen Schlummer wieder empordämmerte, wollte er betäubt sich die Augen reiben, konnte es aber nicht; seine Hände waren beide schon beschäftigt, sie hielten etwas fest, und da er sich ermunterte und die Augen aufriß, waren keine Kerkermauern um ihn her, sondern grünes Licht floß hell und kräftig über Blattwerk und Moos, er blinzelte lange, das Licht traf ihn wie ein lautloser, aber heftiger Schlag, ein Gruseln und zuckender Schrecken ging ihm durch Nacken und Rücken, nochmals blinzelte er, verzog wie greinend das Gesicht und riß die Augen weit auf. Er stand in einem Walde und hielt in beiden Händen eine mit Wasser gefüllte Schale, zu seinen Füßen spiegelte braun und grün das Becken einer Quelle, drüben wußte er hinter dem Farndickicht die Hütte stehen und den Yogin warten, der ihn nach Wasser geschickt hatte, jenen, der so wunderlich gelacht und den er gebeten hatte, ihn etwas über Maya wissen zu lassen. Er hatte weder eine Schlacht noch einen Sohn verloren, er war weder Fürst noch Vater gewesen; wohl aber hatte der Yogin seinen Wunsch erfüllt und ihn über Maya belehrt: Palast und Garten, Bücherei und Vogelzucht, Fürstensorgen und Vaterliebe, Krieg und Eifersucht, Liebe zu Pravati und heftiges Mißtrauen gegen sie, alles war Nichts – nein, nicht Nichts, es war Maya gewesen! Dasa stand erschüttert, es liefen ihm Tränen über die Wangen, in seinen Händen zitterte und schwankte die Schale, die er soeben für den Einsiedler gefüllt hatte, es floß Wasser über den Rand und über seine Füße. Ihm war, als habe man ihm ein Glied abgeschnitten, etwas aus seinem Kopfe entfernt, es war Leere in ihm, plötzlich waren ihm gelebte lange Jahre, gehütete Schätze, genossene Freuden, erlittene Schmerzen, erduldete Angst, bis zur Todesnähe gekostete Verzweiflung wieder weggenommen, ausgelöscht und zu nichts geworden – und dennoch nicht zu nichts! Denn die Erinnerung war da, die Bilder waren in ihm geblieben, noch sah er Pravati sitzen, groß und starr, mit dem plötzlich ergrauten Haar, im Schoß lag ihr der Sohn, als habe sie selbst ihn erdrückt, wie eine Beute lag er, und seine Glieder hingen welk über ihre Knie hinab. O wie rasch, wie rasch und schauerlich, wie grausam, wie gründlich war er über Maya belehrt worden! Alles war ihm verschoben worden, viele Jahre voll von Erlebnissen schrumpften in Augenblicke zusammen, geträumt war alles, was eben noch drangvolle Wirklichkeit schien, geträumt war vielleicht alles jenes andre, was früher geschehen war, die Geschichten vom Fürstensohn Dasa, seinem Hirtenleben, seiner Heirat, seiner Rache an Nala, seiner Zuflucht beim Einsiedler; Bilder waren sie, wie man sie an einer geschnitzten Palastwand bewundern mag, wo Blumen, Sterne, Vögel, Affen und Götter zwischen Laubwerk zu sehen waren. Und war das, was er gerade jetzt erlebte und vor Augen hatte, dies Erwachen aus dem Fürsten- und Kriegs- und Kerkertum, dies Stehen bei der Quelle, diese Wasserschüssel, aus der er eben ein wenig verschüttet hatte, samt den Gedanken, die er sich da machte – war alles dies denn nicht am Ende aus demselben Stoff, war es nicht Traum, Blendwerk, Maya? Und was er künftig je noch erleben und mit Augen sehen und mit Händen tasten würde, bis zu seinem einstigen Tode – war es aus anderem Stoff, von anderer Art? Spiel und Schein war es, Schaum und Traum, Maya war es, das ganze schöne und grausige, entzückende und verzweifelte Bilderspiel des Lebens, mit seinen brennenden Wonnen, seinen brennenden Schmerzen.
Dasa stand noch immer wie betäubt und gelähmt. Wieder schwankte in seinen Händen die Schale, und Wasser floß nieder, klatschte kühl auf seine Zehen und verrann. Was sollte er tun? Die Schale wieder füllen, sie zum Yogin zurücktragen, sich von ihm auslachen lassen für alles, was er im Traum erlitten hatte? Es war nicht verlockend. Er ließ die Schale sinken, goß sie aus und warf sie ins Moos. Er setzte sich ins Grüne und begann ernstlich nachzudenken. Er hatte genug und übergenug von dieser Träumerei, von diesem dämonischen Flechtwerk von Erlebnissen, Freuden und Leiden, die einem das Herz erdrückten und das Blut stocken machten und dann plötzlich Maya waren und einen als Narren zurückließen, er hatte genug von allem, er begehrte nicht Frau noch Kind mehr, noch Thron noch Sieg noch Rache, nicht Glück und nicht Klugheit, nicht Macht und nicht Tugend. Er begehrte nichts als Ruhe, nichts als ein Ende, er wünschte nichts anderes, als dieses ewig sich drehende Rad, diese endlose Bilderschau zum Stehen zu bringen und auszulöschen. Er wünschte sich selbst zur Ruhe zu bringen und auszulöschen, so wie er es damals gewünscht hatte, als er in jener letzten Schlacht sich in die Feinde stürzte, um sich schlug und wieder geschlagen ward, Wunden austeilte und empfing, bis er zusammenbrach. Aber was dann? Dann gab es die Pause einer Ohnmacht, oder eines Schlummers, oder eines Todes. Und gleich darauf war man wieder wach, mußte die Ströme des Lebens in sein Herz und die furchtbare, schöne, schauerliche Bilderflut von neuem in seine Augen einlassen, endlos, unentrinnbar, bis zur nächsten Ohnmacht, bis zum nächsten Tode. Der war, vielleicht, eine Pause, eine kurze, winzige Rast, ein Aufatmen, aber dann ging es weiter, und man war wieder eine der tausend Figuren im wilden, berauschten, verzweifelten Tanz des Lebens. Ach, es gab kein Auslöschen, es nahm kein Ende.
Unrast trieb ihn wieder auf die Füße. Wenn es schon in diesem verfluchten Ringeltanz kein Ausruhen gab, wenn schon sein einziger, sehnlicher Wunsch unerfüllbar war, nun, so konnte er ebensogut seine Wasserschale wieder füllen und sie diesem alten Manne bringen, der es ihm befohlen hatte, obwohl er ihm ja eigentlich nichts zu befehlen hatte. Es war ein Dienst, den man von ihm verlangt hatte, es war ein Auftrag, man konnte ihm gehorchen und ihn ausführen, es war besser als zu sitzen und sich Methoden der Selbsttötung auszudenken, es war ja überhaupt Gehorchen und Dienen weit leichter und besser, weit unschuldiger und bekömmlicher als Herrschen und Verantworten, so viel wußte er. Gut, Dasa, nimm also die Schale, fülle sie hübsch mir Wasser und trage sie zu deinem Herrn hinüber!
Als er zur Hütte kam, empfing ihn der Meister mit einem sonderbaren Blick, einem leicht fragenden, halb mitleidigen, halb belustigten Blick des Einverständnisses, einem Blick, wie ihn etwa ein älterer Knabe für einen jüngeren hat, den er aus einem anstrengenden und etwas beschämenden Abenteuer, einer ihm auferlegten Mutprobe, kommen sieht. Dieser Hirtenprinz, dieser ihm zugelaufene arme Kerl, kam zwar bloß von der Quelle, hatte Wasser geholt und war keine Viertelstunde fortgewesen; aber er kam immerhin auch aus einem Kerker, hatte ein Weib, einen Sohn und ein Fürstentum verloren, hatte ein Menschenleben absolviert und einen Blick auf das rollende Rad getan. Vermutlich war ja dieser junge Mensch schon früher einmal oder einige Male geweckt worden und hatte einen Mundvoll Wirklichkeit geatmet, sonst wäre er nicht hierher gekommen und so lange geblieben; jetzt aber schien er richtig geweckt worden zu sein und reif für den Antritt des langen Weges. Es würde manches Jahr brauchen, um diesem jungen Menschen auch nur Haltung und Atmen richtig beizubringen.
Nur mit diesem Blick, der eine Spur von wohlwollender Teilnahme und die Andeutung einer zwischen ihnen entstandenen Beziehung enthielt, der Beziehung zwischen Meister und Schüler – nur mit diesem Blick vollzog der Yogin die Aufnahme des Schülers. Dieser Blick vertrieb die nutzlosen Gedanken aus des Schülers Kopf und nahm ihn in Zucht und Dienst. Mehr ist von Dasas Leben nicht zu erzählen, das übrige vollzog sich jenseits der Bilder und Geschichten. Er hat den Wald nicht mehr verlassen.